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Leonie ist erfolgreich in ihrem Job: Sie saniert marode Firmen. Ein Privatleben hat sie nicht, denn Gefühle stehen ihrer Karriere nur im Weg. Völlig überraschend erbt sie von ihrer Tante eine Agrotourismus-Finca auf Mallorca. Das Problem: Dort wohnen vier rüstige Senioren. Sie managen das kleine Hotel zusammen mit dem attraktiven Niklas und haben lebenslanges Wohnrecht. Das passt Leonie so gar nicht, denn sie will aus der Finca ein Nobelhotel machen und es gewinnbringend verkaufen. Sie muss die Senioren loswerden - doch die Alten sind nicht so alt und wehrlos, wie Leonie denkt. Zu allem Überfluss lässt Niklas das Herz der taffen Karrierefrau höher schlagen, als ihr lieb ist ...
Mit diesem wunderschönen Sommerroman entführt die erfolgreiche Selfpublisherin Elke Becker uns auf die Lieblingsinsel der Deutschen: Mallorca.
Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 352
Leonie ist erfolgreich in ihrem Job: Sie saniert marode Firmen. Ein Privatleben hat sie nicht, denn Gefühle stehen ihrer Karriere nur im Weg. Völlig überraschend erbt sie von ihrer Tante eine Agrotourismus-Finca auf Mallorca. Das Problem: Dort wohnen vier rüstige Senioren. Sie managen das kleine Hotel zusammen mit dem attraktiven Niklas und haben lebenslanges Wohnrecht. Das passt Leonie so gar nicht, denn sie will aus der Finca ein Nobelhotel machen und es gewinnbringend verkaufen. Sie muss die Senioren loswerden – doch die Alten sind nicht so alt und wehrlos, wie Leonie denkt. Zu allem Überfluss lässt Niklas das Herz der taffen Karrierefrau höher schlagen, als ihr lieb ist …
Elke Becker wurde im schwäbischen Ulm geboren. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Südamerika und der Karibik zog es die Autorin wieder nach Europa. Auf Mallorca lebt sie seit 2005. Unter dem Namen J. J. Bidell veröffentlicht sie Fantasy-Romane.
ELKE BECKER
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Clarissa Czöppan
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Römisch
Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de
Unter Verwendung von Motiven © shutterstock.com/Iakov Filimonov und © iStock.com/shironosov
ISBN 978-3-7325-3937-6
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Leonie Maler lächelte zufrieden in die Menge und nickte dem klatschenden Publikum zu. Sie hatte es geschafft. Auch wenn es dieses Mal ein hartes Stück Arbeit gewesen war, diese marode Werbeagentur wieder auf Kurs zu bringen, war es ihr dennoch gelungen. Herr Graf kam auf sie zu, umarmte sie herzlich und gab ihr rechts und links ein Küsschen auf die Wange, bevor er ihr einen großen Blumenstrauß überreichte.
»Vielen Dank, Frau Maler, für Ihren unermüdlichen Einsatz«, bedankte er sich überschwänglich.
»Ich habe nur meinen Job gemacht«, spielte Leonie ihre Leistung herunter und ärgerte sich im selben Moment über ihre Aussage. Einem Mann wären diese Worte sicherlich nicht über die Lippen gekommen. Sie konnte sich die Aufträge sogar aussuchen, wenn es darum ging, strauchelnde Firmen wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Und so gab es keinen Grund, ihre eigene Leistung zu schmälern. »Für die Zukunft wünsche ich Ihnen und Ihrer Belegschaft alles Gute und viel Erfolg.« Leonie lächelte den Mitarbeitern zu, die ihr erneut Applaus spendeten.
Es war Zeit zu gehen.
Leonie drückte Herrn Graf nochmals die Hand und verschwand zum Seitenausgang der Festhalle. Ein Betriebsfest empfahl sie den Auftraggebern immer, sobald eine Firmensanierung erfolgreich gewesen war. Es war wichtig, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, nur dann stimmten auch die Leistungen.
An der Garderobe angekommen, legte sie den Blumenstrauß auf dem Tresen ab und gab der Garderobiere den Nummernabschnitt, um ihren Mantel wiederzubekommen.
Das Wetter war ungemütlich. Der frühe Dezemberabend war in ein trübes Licht getaucht und grauer Schneeregen fiel vom Himmel. Ohne ihren neuen Lieblingsmantel wäre sie in ihrem feinen Kostüm und den High Heels selbst die paar Schritte bis zu ihrem Mercedes Cabriolet halb erfroren. Die Dame reichte ihr den kamelfarbenen Kaschmirmantel und sie schlüpfte dankbar hinein. Selbst in der Vorhalle war es empfindlich kühl.
In weniger als einer Stunde würde sie gemütlich in ihrer Badewanne liegen und überlegen, welchen Auftrag sie als Nächstes annehmen sollte. Das marode Bauunternehmen in Düsseldorf? Oder die Firma für Trocknungsanlagen in München? Beide hatten Hilfe bitter nötig. Leonie würde danach entscheiden, wer die besseren Bilanzen vorzeigen konnte. Manchmal war es auch schlicht unmöglich, eine Firma vor der Insolvenz zu retten.
Den Kragen hochgestellt, trat sie hinaus in die Kälte. Der Wind zerrte an den Blütenblättern des Blumenstraußes, und instinktiv zog Leonie die Schultern nach oben.
»Blöde Schlampe«, hörte sie plötzlich jemanden rufen. Im selben Moment traf sie auch schon etwas am Hinterkopf.
»Du musst wohl mal wieder ordentlich durchgevögelt werden«, brüllte eine andere Stimme.
Obwohl Leonie den Kopf einzog, wurde sie an der Schläfe ein zweites Mal getroffen. Sie wischte sich über die feuchte Stelle.
Eier. Sie wurde mit Eiern beworfen! Mit eiligen Schritten ging sie auf ihren Wagen zu, öffnete die Verriegelung, doch bevor sie ins Innere flüchten konnte, wurde sie erneut getroffen.
Das war die Kehrseite ihres Berufs.
Kaum hatte sie den Wagen gestartet, hagelte es Tomaten und Eier auf ihr Auto. Sie ignorierte die fünf ehemaligen Angestellten, die am Straßenrand herumstanden und ihre Wut über deren Kündigung nun an ihr ausließen. Dabei konnte sie nichts dafür. Wenn sie eine Firma retten wollte, musste diese wieder effizient arbeiten, und dafür mussten zwangsläufig Leute entlassen werden. Ihre Aufgabe war es unter anderem, eine Liste zu erstellen, welche Stellen – und somit welche Mitarbeiter – sie für entbehrlich hielt. Fast immer folgten die Führungskräfte ihrer Empfehlung, doch natürlich hatten sie stets das letzte Wort. Warum man immer ihr die Schuld gab, obwohl die Chefs nur zu feige waren, eigene Entscheidungen zu treffen, würde sie nie verstehen.
Obwohl Anfeindungen üblicherweise dazugehörten, dämpfte der Angriff ihre gute Laune. Nach einem Auftrag vor zwei Jahren hatten die ehemaligen Mitarbeiter nach der Firmenfeier selbst vor ihrem damaligen Freund, der sie nur zur Feier begleitet hatte, nicht zurückgeschreckt. Er hatte den Angreifern mit einer Anzeige gedroht, doch Leonie hielt nichts davon, den gekündigten Angestellten noch weitere Schwierigkeiten zu bereiten. Sie brauchten ein Ventil für ihre Wut, und das fanden sie offenbar, indem sie ihr vor die Füße spuckten, ihr mit Fäusten drohten oder eben mit Eiern warfen.
Die Anfeindungen und ihr aufreibender Job hatten sie vor zwei Jahren letztlich auch die Beziehung mit David gekostet. Meist war sie über mehrere Monate hinweg in einer Firma tätig, und die vielen Ortswechsel sowie die enorme Arbeitsbelastung hatten ihr kaum Zeit gelassen, darüber nachzudenken, eine eigene Familie zu gründen. David war nun seit vier Monaten verheiratet und seine Frau bereits im dritten Monat schwanger. Er hatte den Traum von einer Familie gehabt, und dieser hatte sich nun erfüllt.
Und was war ihr Traum? Sie liebte ihren Job, wenn er auch hart war. Die Entlassungsgespräche zu führen zum Beispiel. Aber zu sehen, wie eine Firma wieder konkurrenzfähig wurde und die anderen Arbeitsplätze erhalten blieben, ließ sie die unangenehmen Seiten aushalten. Optimierung und Wertsteigerung: Das waren ihre Kompetenzen. Und wer sie wegen ihres zierlichen Äußeren unterschätzte, revidierte seine Meinung sehr schnell.
Doch das hatte seinen Preis: Einsamkeit.
Und wenn dieses Gefühl überhandnahm, haderte sie zeitweise mit ihrem Job und auch mit ihren Eltern, für die nur Leistung zählte. Die vielen Reisen und die endlosen Arbeitsstunden hatten bisher noch jede Beziehung scheitern lassen. Immer wieder stellte sie sich die Frage, ob es an ihrem Job lag oder sie nur den falschen Männern begegnete. Frauen mussten schließlich auch oft wegen des Jobs ihres Partners zurückstecken. Doch sobald eine Frau mehr verdiente oder häufiger verreiste als ihr Lebensgefährte, wurde das über kurz oder lang zum Problem.
Der Schneeregen war nun in Schnee übergegangen. Eine zarte Puderzuckerschicht bedeckte die parkenden Autos am Straßenrand. Der Heckantrieb ihres Wagens war für diese Witterungsverhältnisse nicht ideal, aber die nächsten beiden Tage würde sie sowieso zu Hause bleiben und sich neu sortieren. Der Feierabendverkehr beanspruchte bei diesem Wetter ihre volle Aufmerksamkeit. Offenbar fuhren immer noch viele mit Sommerreifen auf den Straßen. Als vor ihr ein Wagen leicht ins Schleudern geriet, konnte sie gerade noch rechtzeitig reagieren und einen Zusammenstoß verhindern. Erleichtert fuhr sie den Mercedes wenig später in die Tiefgarage und stieg aus.
Ihre Aktentasche in der linken und den Blumenstrauß in der rechten Hand betrat sie den Fahrstuhl. Mit dem Ellbogen drückte sie den Etagenknopf. Vor vier Jahren hatte sie sich das Penthouse am Sachsenhäuser Ufer gekauft. Die Aussicht auf die Frankfurter Skyline war atemberaubend. Bald würde die Beleuchtung der Straßen und der Häuser angehen und alles in ein wundervoll glitzerndes Lichtermeer verwandeln, das sich im Main spiegelte.
Im Flur legte sie Aktentasche und Strauß auf das Beistelltischchen.
Ein Blick in den Spiegel aber genügte, um ihre Stimmung zu verschlechtern. Von dem Hochgefühl des Erfolgs, die Werbeagentur vor der Insolvenz gerettet zu haben, war nicht mehr viel übrig.
Aus ihrem blonden Haar zog sie die Überreste einer Eierschale. Der Mantel wies Tomaten- und Eierflecken auf. Seufzend hängte sie das teure Stück auf einen Bügel an der Garderobe. Sie würde ihn in die Reinigung bringen müssen.
In der Wohnung war alles still. An Tagen wie diesen vermisste sie es, dass jemand sie zu Hause begrüßte, selbst wenn es nur eine Katze gewesen wäre. Doch alleinstehend und mit ihrem Beruf würde selbst eine Katze vor ihr Reißaus nehmen.
In der Küche goss sie sich ein Glas Rotwein ein. Damit ausgestattet ging sie ins Badezimmer, um die Wanne einzulassen. Der Badezusatz mit Mandelmilch verströmte einen feinen Geruch nach Frühling.
Wenig später glitt sie in das warme Wasser, tauchte mit dem Kopf unter und seufzte erneut, als sie wieder an die Oberfläche kam und sich den Schaum aus dem Gesicht wischte. Wenn niemand mit ihr ihren Erfolg feierte, würde sie das eben allein tun. Sie hob ihr Weinglas. »Prost, Leonie, das war wieder saubere Arbeit!« Dann trank sie das Glas halb leer und stellte es auf dem Wannenrand ab, wo auch ihr Handy lag.
In zwei Tagen musste sie eine Entscheidung getroffen haben, welchen der angebotenen Jobs sie annehmen wollte. Diese Art von Job wurde stets sehr kurzfristig vergeben, und ausnahmsweise hatte sie länger für ihren letzten Auftrag benötigt, als sie einkalkuliert hatte. Einer der Jobs war in München, das wäre im Winter bestimmt schön. Weihnachtsmärkte, die Innenstadt romantisch beleuchtet, tolle Boutiquen, edle Restaurants. Leonie träumte sich davon und wurde jäh vom Klingeln des Handys aus ihren Tagträumen gerissen. »Leonie Maler«, meldete sie sich.
»Hier ist Rike Fallada.«
Leonie überlegte. Kannte sie jemand mit diesem Namen?
»Rike, du erinnerst dich?«
»Tut mir leid. Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.« Sie hatte keinen blassen Schimmer. Den Namen hatte sie irgendwann mal gehört, aber das musste Jahre her sein.
»Rike, aus Mallorca. Ich bin die beste Freundin deiner Großtante Elisabeth.«
»Ach Rike, ja, jetzt. Verzeih, ich habe viel um die Ohren und ständig mit neuen Namen zu tun, da habe ich dich nicht gleich zuordnen können.« Was wollte Rike von ihr? Sie hatten zuletzt vor über zwanzig Jahren miteinander gesprochen. »Wie kommst du zu meiner Handynummer?«
»Deine Homepage im Internet«, sagte Rike und lachte. »Ich bin zwar alt, aber nicht so alt.«
»Oh, Entschuldigung.« Leonie wunderte sich dennoch über diesen Anruf. »Also, was kann ich für dich tun?« Ihre Niedergeschlagenheit ließ sie direkt zum Punkt kommen, sie hatte an diesem Tag schon genug Zeit mit Small Talk verbracht.
»Schätzchen, es fällt mir schwer, dir die schlechte Nachricht am Telefon sagen zu müssen. Deine Tante ist vorgestern gestorben. Ein Herzinfarkt. Sie ist direkt nach einem Ausritt auf ihrer Finca zusammengebrochen. Es war nichts mehr zu machen.«
Tante Lisbeth war tot? Sie horchte in sich hinein. Ja, sie hatte in ihrer Kindheit die Ferien bei ihr verbracht, aber der Kontakt war schon lange abgebrochen. »Das tut mir leid«, sagte sie formell, ohne echte Trauer zu verspüren. Lisbeth hatte sie früher beeindruckt mit ihrer unkonventionellen Art. Egal was die Menschen von ihrer Tante erwarteten, sie tat das Gegenteil. Während die anderen heirateten und eine Familie gründeten, reiste Lisbeth durch die Welt und scherte sich nicht darum, ob es sich gehörte, alleine, ohne Ehemann, zu verreisen. Sie hatte immer gesagt, es gäbe keinen Grund, einen Mann gleich zu heiraten. Später dann hatte sie dieses Verhalten ihrer Großtante eher als verschroben und merkwürdig empfunden. Leonie war als Großnichte die letzte direkte Verwandte von Lisbeth, bis auf Leonies Eltern. »Muss ich etwas tun? Die Beisetzung organisieren?«
Für einen Moment war es still in der Leitung. »Das ist bereits alles geklärt. Wir hatten eine Abmachung, und die werden wir einhalten. Sobald das Wetter gut ist, wollen wir sie beerdigen.«
»Gutes Wetter?«, fragte Leonie verwundert. Es war gerade mal Anfang Dezember.
»Ja, sie wollte eingeäschert werden. Das machen wir selbstverständlich schon übermorgen«, sprach Rike weiter. »Aber wenn du für die Beisetzung der Urne einen Wunschtermin hast, sag Bescheid. Wir können uns da ganz nach dir richten. Und natürlich dem Wetter.«
Leonie hatte keine Lust, länger darüber nachzudenken, was Rike wohl mit diesen Andeutungen meinte.
Auch wenn es lästig wäre, dafür nach Mallorca zu reisen: Ihre Tante hatte es verdient, dass wenigstens noch eine bekannte Menschenseele bei der Beerdigung anwesend war. Bestimmt würde Elisabeths beste Freundin Rike ebenfalls da sein, aber sonst? Lisbeth war eine alte Frau gewesen und hatte vermutlich nur wenige Freunde gehabt, da sie als Deutsche außerhalb des kleinen mallorquinischen Dorfs Son Servera gelebt hatte. Da gebot es schon der Anstand hinzufliegen – zumal Leonies Eltern keinesfalls hingehen würden. Der Kontakt zwischen Lisbeth und ihnen war lange abgebrochen, und sie hatten sich im Streit getrennt. Die genauen Hintergründe kannte Leonie nicht. Sie wusste nur, dass es eines Tages mit Leonies Mallorca-Sommern vorbei gewesen war. Damals hatte sie das sehr bedauert. »Ich muss das in meinem Kalender prüfen. Kann ich dir nachher Bescheid geben?«
»Natürlich. Morgen erfahre ich auch, wann die Testamentseröffnung sein wird. Da solltest du ebenfalls anwesend sein. Schließlich ist deine Familie die einzige Verwandtschaft, die Elisabeth noch hatte.«
»Testamentseröffnung?«, fragte Leonie. Sie hatte geglaubt, Lisbeth wäre unvermögend, um nicht zu sagen verschuldet. So hatten es ihre Eltern zumindest dargestellt. Es hatte stets so geklungen, als stünde die Finca kurz vor der Zwangsversteigerung. »Gehört das nicht alles der Bank?«
Rike lachte. »Komm her und finde es heraus.«
Als ob sie die Zeit dazu hätte! Wobei? Noch hatte sie keinen Job angenommen. Daher könnte sie sicherlich einen späteren Starttermin vereinbaren. »Okay. Sag mir Bescheid, und ich buche entsprechend einen Flug. Wenn wir die Beerdigung und die Testamentseröffnung zeitnah abwickeln könnten, wäre ich dir sehr dankbar.«
»Was ist nur mit diesem Mädchen los?«, wetterte Rike Fallada los. »Kaum ein Wort des Bedauerns. Es kommt mir so vor, als wäre Elisabeths Tod dieser Göre nur lästig.«
»Ja, es ist ja auch eine bodenlose Frechheit von Elisabeth, einfach ohne Rücksprache mit ihrer Nichte zu sterben.« Greta Huber ließ den Farbpinsel sinken und schüttelte den Kopf. Mit der Hand fuhr sie sich durch die dunkelblond gefärbten Haare ihres Bobs und hinterließ einen kleinen Farbklecks darin.
»Ach Greta«, sagte Rike seufzend. »Ich weiß ja auch nicht, was aus dem Mädchen geworden ist. Sie hat die Sommer auf der Finca damals geliebt!«
»Darum kam sie auch nie wieder hierher, um ihre Tante zu besuchen.« Greta nahm erneut mit dem Pinsel Farbe von der Farbpalette auf und malte einige Striche auf die Leinwand. »Denkst du, wir müssen jetzt ausziehen?«
Erschrocken zuckte Rike zusammen. Der Gedanke, dass Leonie sie vor die Tür setzen könnte, war ihr überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Diese Finca war ihr Zuhause. Und Friedrich und Hans? Die fühlten sich, genau wie Greta, ebenfalls seit über sechs Jahren auf diesem Fleckchen Erde heimisch. Elisabeth hatte es ihnen aber auch leicht gemacht mit ihrem grandiosen Arrangement: Gemeinsam kümmerten sie sich um das Anwesen und die Gäste. Und im Winter, wenn nur wenig Betrieb herrschte, saßen sie wie in einer Rentner-WG zusammen vor dem wärmenden Kamin und genossen die Gesellschaft der anderen. Oftmals bis spät in die Nacht. Im Alter brauchte man nicht mehr so viel Schlaf.
»Das könnte durchaus passieren«, gab Rike nach einer kurzen Pause zu bedenken. »Das hier alles war Elisabeths Besitz, und den erbt nun vermutlich Leonie.« Rike seufzte laut auf.
Greta grunzte unglücklich. »Dann sollten wir uns nach einem guten Zuhause für die Tiere umsehen.«
»Nicht nur für die Tiere.«
***
Friedrich Bartsch hatte ungewollt die Unterhaltung mitgehört. Elisabeth hatte selten über ihre Großnichte gesprochen, aber die wenigen Male, die sie ihm von ihr erzählt hatte, zeichneten ein ganz anderes Bild als das, welches ihm dieser Wortwechsel nun vermittelt hatte.
Die Zeit veränderte die Menschen.
Alle.
Er selbst war das beste Beispiel dafür. »Wir haben versprochen, kein Trübsal zu blasen«, mischte er sich in das Gespräch ein.
»Tu ich das? Ich male, falls dir das entgangen ist.« Greta hielt den Pinsel in die Luft.
»Wann wollen wir sie beisetzen?«
Rike ließ sich auf den Küchenstuhl sinken. »Sobald wir wissen, wann Leonie kommt. Elisabeth wollte sie dabeihaben.«
Friedrich warf einen Blick auf das Bild, an dem Greta arbeitete, und lächelte. Es war schon zu erkennen, dass es erneut eine friedliche Landschaft darstellen würde. Greta betrachtete zwar immer wieder durch das große Küchenfenster den Gebirgszug, aber offenbar nur, um die Umrisse der Bergkette präzise festzuhalten. Von den dunklen Wolken, die sich hinter den Berggipfeln auftürmten, konnte er zumindest momentan nichts auf dem Gemälde entdecken.
Seit Elisabeths Tod regnete es täglich. Ihm kam es fast so vor, als würde auch Mallorca bedauern, dass Elisabeth nun die Insel verlassen hatte. Ihn kostete es jedenfalls Mühe, nicht in trübsinnige Stimmung zu verfallen. Aber sie alle hatten sich an einem feuchtfröhlichen Abend das Versprechen gegeben, keine Trauer aufkommen zu lassen, sondern sich allein an die glücklichen Momente zu erinnern. Und davon gab es reichlich. Elisabeths großes Herz hatte sie auf dieser Finca zusammengeführt. Jeder verdankte ihr sein persönliches Glück – Friedrich sogar noch bedeutend mehr als die anderen. Sein alter Freund Hans hatte natürlich auch seinen Teil zu Friedrichs Glück beigetragen. Elisabeth hätte es Karma genannt.
Der verrückte Hans war nach dem Verkauf seiner Steuerkanzlei für acht Wochen nach Mallorca gereist, um seine neue Freiheit zu genießen. Wenig später hatte er Friedrich eine Postkarte geschrieben und behauptet, er habe das Paradies gefunden und nicht vor, es so schnell wieder zu verlassen.
Da sie seit mehr als dreißig Jahren eng miteinander befreundet waren und sein Freund klagte, wie sehr ihm ein guter Schachpartner fehle, hatte Friedrich kurzerhand seinen Koffer gepackt und war ins Flugzeug gestiegen. Ein Jahr zuvor hatte er seine Anwaltskanzlei an seinen Sohn übergeben. Es gab also keinen Grund für ihn, im verregneten Deutschland hocken zu bleiben, wenn er mit seinem besten Freund bei einem guten Glas Wein in der Wintersonne sitzen und Schach spielen konnte.
Vom ersten Tag an wusste Friedrich eines genau: Hans hatte nicht zu viel versprochen.
Friedrich hatte nach seiner Scheidung nicht mehr daran geglaubt, sich nochmals zu verlieben; bis er Elisabeth begegnet war. Diese unkonventionelle Frau hatte innerhalb von zwei Wochen sein Herz erobert, und nachdem er in Deutschland nichts weiter zu tun gehabt hatte, war er eben, wie auch Hans, in dem Fincahotel geblieben. Als Dauergast. Die beste Entscheidung seines Lebens. Fast acht glückliche Jahre waren ihm mit Elisabeth vergönnt gewesen und alle hatten gewusst, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen würde. Der Tod gehörte ab einem gewissen Alter einfach dazu. Und sie hatte einen schönen Tod gehabt.
Nach einem gemeinsamen Ausritt über die mallorquinischen Felder hatten sie im Stall gestanden, um die Pferde abzusatteln. Seine Elisabeth war plötzlich in sich zusammengesackt. Er hatte sie noch auffangen können, doch bereits eine Minute später war sie in seinen Armen gestorben. Elisabeths Herz hatte ohne Vorwarnung aufgehört zu schlagen.
Bei jedem Atemzug, den Friedrich tat, dachte er an Elisabeth. Die Vorstellung, vielleicht aus diesem Haus ausziehen zu müssen, war ihm unerträglich. Wie musste Rike sich wohl fühlen? Sie und Elisabeth waren seit Jahrzehnten gemeinsam durch dick und dünn gegangen.
»Morgen um zehn fahren wir ins Krematorium«, verkündete Hans, als er die Küche betrat und unsicher in die Runde blickte. »Ist noch jemand gestorben? Euren Mienen nach zu urteilen, könnte man es fast meinen.«
Friedrich zuckte kurz zusammen, bevor er sich zu einem Grinsen hinreißen ließ. Hans und seine derben Sprüche. Greta hatte eine Schwäche dafür. Rike fand solche Kommentare pietätlos, und Elisabeth? Die hätte vermutlich schallend gelacht.
»Wir machen uns nur Sorgen, wie es hier ohne Elisabeth weitergehen soll.« Greta steckte den Farbpinsel in das Wasserglas neben ihrer Staffelei. »In drei Wochen ist Weihnachten.«
»Und das sollten wir wie gewohnt feiern«, schlug Hans vor. »Elisabeth nähme es uns sehr übel, wenn wir das Haus nicht herrichten und Weihnachten dieses Jahr ausfallen lassen würden.«
»Elisabeth wird egal sein, ob wir eine fette Gans auf dem Tisch stehen haben«, wandte Rike ein. »Sie hat sowieso nichts mehr davon.«
»Aber wir«, sagte Hans bestimmt. »Und ich liebe Gans mit Rotkohl und Klößen.«
Leonie hatte sich von beiden Firmen Bedenkzeit erbeten. Zuerst musste sie diese leidigen Besitzverhältnisse auf Mallorca klären. Und vermutlich würde sie das Haus erst auf Vordermann bringen müssen, bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte, einen Makler mit dem Verkauf zu beauftragen. Aber dazu gab es ja Dienstleister.
Die Immobilienpreise waren hoch, jedoch nur, wenn auch die Lage und die Ausstattung stimmten. So weit hatte sie sich schon informiert. Doch wie sie ohne Spanischkenntnisse vernünftige Handwerker finden sollte, war ihr schleierhaft. Und dass sie kein Haus in tadellosem Zustand zu erwarten hatte, setzte sie bei Lisbeths Lebensstil voraus. Vielleicht könnte Rike ihr behilflich sein? Es lebten schließlich viele Deutsche auf der Insel.
Die Maschine landete pünktlich um 9 Uhr morgens, und Rike hatte versprochen, dass ein Fahrer sie abholen käme.
Der Himmel über Palma war stahlblau, und laut Pilot sollten es an diesem Tag zwanzig Grad werden. Leonie warf sich ihren chemisch gereinigten Kaschmirmantel über den Arm und ließ sich durch die Gänge des Flughafens zum Gepäckband treiben. Die Halle war überheizt und die Luft stickig. Kurz überlegte sie, ihre Kostümjacke ebenfalls auszuziehen, entschied sich jedoch dagegen, da sie bereits den Mantel über dem Arm trug.
Wenig später zog sie ihren kleinen Koffer vom Rollband. Als sie die anderen Reisenden betrachtete, bemerkte sie, dass sie in ihrem Businesskostüm und den Pumps etwas overdressed wirkte. Doch für den Termin beim Notar würde sie damit passend gekleidet sein.
Mit suchendem Blick trat sie in die Ankunftshalle hinaus. Nur vereinzelt standen Menschen vor der Absperrung. Ein groß gewachsener Mann mit grauem Haar und vornehmen Gesichtszügen fiel ihr auf. In gepflegten Wellen umschmeichelten seine Locken die immer noch klaren Gesichtskonturen. Markantes Kinn, volle Lippen, gerade Nase, schlanker Körper. Für sein Alter war dieser Mann noch äußerst attraktiv. Und er kam direkt auf sie zu. »Leonie Maler?«
»Ja«, bestätigte Leonie.
Der Fremde lächelte charmant und reichte ihr die Hand. »Ich bin Friedrich Bartsch. Für heute Ihr Chauffeur. Hatten Sie einen angenehmen Flug?«
»Danke.« Sie bemerkte den festen Händedruck. »Wie haben Sie mich erkannt?«
»Das war nicht schwer.« Friedrich machte eine ausladende Handbewegung, antwortete aber nicht auf ihre Frage. »Soll ich Ihnen den Koffer abnehmen?«
»Das geht schon«, lehnte sie ab. »Sind Sie ein Bekannter meiner Tante?«
»Ja, wir kannten uns sogar sehr gut.« Friedrich ging voran und drehte sich nach ihr um. Als er sah, dass Leonie zurückblieb, verlangsamte er höflich sein Tempo. Der Mann sah nicht nur attraktiv aus, er schien auch Manieren zu haben. Eilig folgte Leonie ihm. Der eng geschnittene Rock ließ keine großen Schritte zu.
»Und Sie? Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?« Hörte Leonie da einen sarkastischen Unterton? Hatte sie ihn doch falsch eingeschätzt? Die Frage erschien ihr unhöflich.
Leonie war peinlich berührt. »Bedauerlicherweise ist das schon über zwanzig Jahre her.«
»Eine lange Zeit.«
Schweigend überquerten sie das Gelände, gingen zum Parkhaus, und auch die ersten Minuten herrschte im Wagen eine unangenehme Spannung.
»Warum sind Sie nie wieder auf die Insel gekommen? Sie haben doch früher immer Ihren Urlaub hier verbracht, hat Elisabeth mir zumindest erzählt«, fragte Friedrich.
Überrascht sah Leonie ihn an. »Schwer zu erklären. Es kam wohl das Leben dazwischen.« Selbst in ihren Ohren hörte sich das nach einer lahmen Ausrede an. Nach einem kurzen Aufbäumen gegen das veranlasste Kontaktverbot ihrer Eltern waren ihre Großtante und Mallorca einfach in Vergessenheit geraten. Als Erwachsene hätte sie zwar nicht mehr auf ihre Eltern hören müssen, aber dann hatten ihre Prioritäten auf Studium und Karriere gelegen. Aber sie hatte keine Lust, das einem völlig Fremden zu erzählen. Über Tante Lisbeth sprach bei den Familientreffen niemand, und wenn doch, dann nur in einem sehr negativen Sinn. Da hieß es: Sie habe ihr Leben vergeudet. Nichts aus sich gemacht. Nichts hinterlassen. Keinen Mann, keine Kinder, nur egoistisch sich selbst und ihr Leben im Blick gehabt. Und ihre Anrufe, die sie wohl zu Beginn noch getätigt hatte, seien nur ein Ausdruck ihrer Einsamkeit gewesen, die sie selbst verschuldet habe. Und wenn man ausschließlich solche Sätze zu hören bekam, glaubte man es irgendwann, ohne die Gegenseite anzuhören.
»Wie standen Sie eigentlich genau zu meiner Tante? Waren Sie Nachbarn?« Es wunderte Leonie ein wenig, von einem Mann abgeholt zu werden, der ihre Tante offenbar doch gut gekannt hatte. Enge Beziehungen hatte sie bei deren Lebensstil nicht erwartet.
Friedrich verließ hinter Manacor die Autobahn und bog auf die Landstraße in Richtung Son Servera ein. »So könnte man es auch nennen.«
Die Erinnerung an diese Region flammte langsam wieder in ihr auf. Selbst jetzt im Winter standen Schafherden auf abgezäunten Grundstücken unter noch kahlen Mandelbäumen. Felder mit knorrigen Olivenbäumen zogen an ihr vorüber, und die rote Erde ließ die Landschaft verträumt und malerisch wirken.
Leonie versuchte, sich an den Weg zu erinnern. Es gelang ihr nicht. Zu viel Zeit war seither vergangen.
Ein Schild wies den Weg zu einem Fincahotel namens La Añorada. Die Umgebung kam ihr plötzlich nun doch vertraut vor. Die kleine Bergkette, auf die sie zufuhren, weckte Erinnerungen. Noch wenige Meter, und sie könnte einen Blick auf das Meer erhaschen.
Als die Finca vor ihr auftauchte, erinnerte sie kaum noch an das Gebäude in Leonies Erinnerung. Die damals noch jungen Bäume und Palmen waren in den Himmel gewachsen und beschatteten Bereiche des Hauses. Auch die Größe der Finca überraschte sie.
»Hat Tante Lisbeth angebaut?«
»Schon vor über zehn Jahren. Sie hat ein kleines Hotel daraus gemacht«, erklärte Friedrich und stellte das Auto auf dem Schotterparkplatz ab. Ein romantisch angelegter Weg mit eingelassenen Natursteinen führte zum Haupthaus. Der liebevoll gestaltete Garten zeigte, wie rüstig ihre Tante noch gewesen sein musste. Im Pool schwammen zwar einige Blätter, doch immerhin gab es einen, und das Wasser war klar.
»Ein Hotel?« Verwundert stieg Leonie aus. »Rike hat gar nichts davon erzählt.«
»Es ist das, was man hier Agroturismo nennt«, erklärte Friedrich. »Das Gemüse und viele Sorten Obst kommen direkt aus dem Garten. Es gibt Hühner, Pferde, Ziegen, Katzen und Esel. Dazu noch Enten und Gänse. Ach ja, und die Pfauen.«
»Ein Bauernhof?« Irritiert zog Leonie die Oberlippe nach oben.
»Ja, hier macht man Urlaub auf dem Bauernhof. Wobei Ihre Tante einige Zimmer dauervermietet hat. Es soll Menschen geben, die mögen den Geruch von intakter Natur.« Friedrich ging um das Haus herum. »Dort hinten sind die Tiere und auf der Rückseite des Gebäudes die Gemüsebeete.«
»Aha, und Sie wohnen auch hier?«, mutmaßte Leonie.
»Seit fast acht Jahren.« Friedrich betrat eine kleine Terrasse und öffnete die Tür zur Küche. Am Küchentisch saßen mehrere Personen.
»Bitte, treten Sie ein«, bat Friedrich.
»Rike?«, fragte Leonie, die keine Ahnung hatte, wer von den beiden alten Frauen die Freundin ihrer Tante war.
Eine zierliche Person erhob sich. Das dunkle Haar trug sie kurz, und ihre braunen Augen funkelten lebhaft. »Wow, ich verkneife mir den Spruch, dass du groß geworden bist.«
Leonie reichte Rike die Hand, doch die zog sie in ihre Arme und drückte sie an sich. »Na, wir sind ja beinahe Familie.«
Ihr Körper versteifte sich automatisch. Rike ließ sie los und trat mit sichtlich enttäuschtem Gesichtsausdruck einen Schritt zurück.
Verunsichert streckte Leonie den Rücken durch. Ein untersetzter Mann mit Glatze stand auf. Seine blauen Augen waren beeindruckend intensiv. »Ich bin Hans Hinterberger«, stellte er sich vor und zerquetschte fast ihre Hand, die sie ihm zur Begrüßung reichte.
»Und ich bin Greta Huber.«
Leonie gab auch ihr die Hand. Da sich überall auf dem Blaumann der Frau Farbkleckse befanden, überprüfte Leonie direkt ihre Finger, um sicherzugehen, dass diese Frau ihr das teure Kostüm nicht verdarb.
»Leonie Maler. Aber das wissen Sie ja bereits.« Etwas unschlüssig stand sie in der gemütlichen Wohnküche.
Ein großer Kamin war für ein kuscheliges Feuer vorbereitet und würde abends eine wohlige Wärme verbreiten. Früher hatte sie oft die Abende vor dem Kamin auf einer Decke liegend verbracht und sich von ihrer Tante eine Geschichte erzählen lassen. Sie ließ ihren Blick schweifen. Auf dem Kaminsims thronte eine geschmacklose Dose mit einem Motiv von Meer und Sandstrand, in dem sich Fußspuren sanft verloren. Vor dem offenen Kamin waren einige Schaukelstühle gruppiert, und ein kleiner quadratischer Tisch mit zwei Ohrensesseln stand dort. Diese Möbelstücke kannte sie nicht. Der Raum war fast so groß wie Leonies Wohn- und Esszimmer samt der offenen Küche. Eine wuchtige Tür ließ einen Blick in die angrenzende Bibliothek zu. Ob die Kinderbücher noch dort in den unteren Regalen standen?
»Setz dich doch«, sagte Rike. »Soll ich dir einen Kaffee machen? Du könntest dich in der Zwischenzeit umziehen. Greta wird dir dein Zimmer zeigen.«
»Umziehen? Wozu?« Irritiert sah sie in die Runde. Die anderen sollten sich besser für den offiziellen Notartermin etwas passender kleiden. Friedrich, der sie abgeholt hatte, steckte in Jeans und einem weißen Hemd, das er am Hals offen und an den Armen hochgekrempelt trug. Rike war in einen schicken lavendelfarbenen Hausanzug gekleidet, und über Hans’ Bauch spannte ein hellgelber Rollkragenpullover, dazu trug er eine braune Hose.
»Ach, ich dachte, du kommst direkt von der Arbeit.« Rike zog die Schultern hoch. »Aber wenn du dich so wohlfühlst …«
Greta stand auf. »Setz dich doch. Ich werde mich aber etwas frisch machen. Denn so gehe ich nicht vor die Tür.«
Leonie setzte sich an den Küchentisch. Es war eine merkwürdige Truppe, die sie hier vor sich sah. Von Luxus hielten sie offenbar nichts. Schon auf den ersten Blick hatte sie gesehen, dass an dem Haus viel zu renovieren war. Eine Heizung schien es nicht zu geben. Und sie konnte auch keine Klimaschächte entdecken. Wenn sie für das Hotel einen lukrativen Preis erzielen wollte, würde sie vorher einen ordentlichen Batzen Geld in die Hand nehmen müssen. Aber sie war überzeugt, dass es lohnenswert wäre. Das Haus in diesem Zustand einem Investor zu verkaufen würde kein gutes Ergebnis bringen. Besser sie suchte einen ambitionierten Junghotelier mit dem notwendigen Kleingeld.
Rike stellte ihr einen großen Kaffeepott auf den Tisch. Anschließend holte sie Milch und Zucker.
»Birkengold werdet ihr vermutlich nicht haben, oder?«
»Birkengold?« Rike schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur Birkenwein. Er wird aus den Blättern hergestellt. Der ist ganz schön stark und soll auch gegen Impotenz helfen.«
Hans grinste. »Ja, die Russen wissen schon, was gut ist.«
»Gibt es vielleicht Süßstoff?«
Rike lachte. »Ist Birkengold auch so ein künstliches Mittel?«
»Nein«, setzte Leonie an, sich an einer Antwort zu versuchen. Friedrich unterbrach sie und schob ihr den Zuckerbecher zu.
»Wir halten wenig von diesem chemischen Zeug. Das ist nicht gut für dich, und wenn du körperlich genug arbeitest, was hier auf den Feldern normal ist, setzt es auch nicht an.«
Leonies Blick wanderte zu Hans und dessen gewölbtem Bauch. Sie hielt eine Erklärung zu dem natürlichen Süßstoff Xylit für sinnlos, zumal sie nichts über den exakten Herstellungsprozess dieses Zuckerersatzes wusste. Für die kurze Zeit ihres Besuchs würde sie eben normalen Zucker nehmen, und in spätestens drei Tagen war sie hier sowieso wieder weg.
»Danke, Friedrich, nenn mich nur faul! Dabei weißt du genau, dass ich mit meinem Rücken und der Arthritis nicht mehr aufs Feld kann.« Hans verschränkte die Arme auf dem Bauch und zog ein beleidigtes Gesicht.
»Na, wenn der Schuh passt …«, neckte ihn Greta, die eben wieder zur Tür hereinkam.
Leonie beobachtete den Schlagabtausch mit Argwohn. Die Anwesenden mussten alle um die siebzig Jahre alt sein. Was spielte da das Aussehen noch für eine Rolle? Sie verrührte stirnrunzelnd den Zucker in der Tasse und nippte daran. Ihr letzter Kaffee mit echtem Rohrzucker lag schon lange zurück. Doch sie musste sich eingestehen, der Geschmack war viel besser.
Friedrichs Handy klingelte. »Oh, das Notariatsbüro.« Er nahm das Gespräch an.
Leonie hörte aus dem Telefonat heraus, dass etwas passiert sein musste. Die anderen Anwesenden beugten sich über den Tisch zu Friedrich hinüber, als könnten sie so hören, was gesprochen wurde. »Okay, sag ihm gute Besserung, und wir vereinbaren einen neuen Termin.«
»Was?«, fragte Rike. Auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecken.
»Joan hatte einen Unfall. Mit dem Auto. Er ist im Krankenhaus, und der Termin muss verschoben werden«, erklärte Friedrich in knappen Worten. Zeitgleich hob er beschwichtigend die Hand. »Er hat sich nur den Arm gebrochen. Aber heute wird das nichts mehr.«
»Mist«, fluchte Leonie und sah erschrocken hoch. »Entschuldigung. Ist dieser Joan ein Freund von euch?«
Rike schüttelte fassungslos den Kopf. »Ein wenig Mitgefühl wäre schon angebracht.«
»Ein wenig?«, meckerte Friedrich los. »Ich überlege gerade, ob wir sie wirklich mit rausnehmen sollen.«
»Wir könnten sie dort über Bord werfen«, schlug Hans vor und nickte bekräftigend.
»Ich sagte doch schon, dass es mir leidtut«, entschuldigte sich Leonie und griff verlegen nach ihrer Kaffeetasse. Vielleicht sollte sie sich besser etwas in Acht nehmen, bis dieses leidige Thema abgeschlossen war. Alte Leute waren einfach übersensibel. »Aber wieso ›über Bord‹?«, wollte Leonie dann doch wissen.
»Das erfährst du morgen«, sagte Friedrich bestimmt. »Wenn wir dich überhaupt dabeihaben wollen.«
Rike zog eine Augenbraue hoch. »Friedrich, lass das Mädchen in Ruhe.«
»Nur zu gerne.« Friedrich kniff die Augen zusammen. »Aber nur fürs Protokoll. Sie hat angefangen. Viel Spaß mit dieser Eiskönigin. Ich gehe jetzt Gemüse ernten, damit Hans auch was zum Kochen hat. Wer von euch kümmert sich um die Hühnchen?«
»Ihr schlachtet doch nicht selbst?« Entsetzt ließ Leonie die Tasse sinken. »Dann bin ich ab heute Vegetarierin.«
Hans grinste breit. »Und was denkt Madame, woher das Hühnchen stammt, dass sie sonst immer im Delikatessengeschäft kauft?«
Rike fing ebenfalls den belustigten Blick ihrer Freunde auf und unterdrückte ein Lachen. »Großstädter. Da landet das Fleisch auf wundersame Weise ohne Tierleid im Supermarkt. Da sind wir Landmenschen schon richtige Ungeheuer. Wahrscheinlich denkst du auch nicht darüber nach, wie der Strom aus der Steckdose kommt.« Dann sah sie zu Friedrich. »Ich ziehe mir nur kurz was anderes an und helfe dir dann draußen.«
»Und ich kümmere mich um die Hühnchen«, erklärte Greta und ging auf den Hof hinaus.
Hans beugte sich zu Leonie hinüber. »Tja, und was machen wir zwei Hübschen?«
»Gar nichts«, knurrte Leonie. »Sie zeigen mir bitte mein Zimmer. Internet gibt es hier doch, oder?«
»Möglich wäre es«, zog Hans sie noch weiter auf.
Leonie ließ die Tasse auf dem Tisch stehen, erhob sich und schnappte ihren Koffer. »Wenn Sie nun die Güte hätten.«
Hans ging voraus. Er durchquerte das großzügige Esszimmer und das angrenzende Lesezimmer. Offenbar legte man keinen Wert auf ein gemütliches Wohnzimmer. Und einen Fernseher sah sie auch nicht.
Leonie folgte ihm über die knarzenden Stufen in den ersten Stock. Es roch ein wenig muffig, und sie fröstelte plötzlich. Es schien auf der Nordseite des Hauses deutlich kühler zu sein.
Hans öffnete eine angelehnte Tür und machte ihr Platz wie ein Hotelpage. »Bitte schön. Einen angenehmen Aufenthalt wünsche ich.«
»Danke.« Obwohl er so freundlich tat, wurde Leonie das Gefühl nicht los, dass sie es hier mit verschrobenen alten Menschen zu tun hatte.
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, sah Leonie sich in dem Zimmer um. Ein Doppelbett mit dicker Daunendecke beherrschte den Raum. Auf der Bettdecke lag eine getigerte Katze, die müde den Kopf hob und sie anblinzelte.
»Na du, suchst du auch einen Zufluchtsort?«, flüsterte Leonie, ging auf die Katze zu und streichelte ihr kurz über das Fell.
Unter dem Fenster stand ein kleiner Schreibtisch. Gerade groß genug, um ihren Laptop abzustellen. Sie packte ihn aus und suchte nach einer Steckdose. Als sie eine hinter dem Vorhang entdeckte, war sie unschlüssig, ob sie das teure Gerät wirklich an dieses wackelige Ding anschließen sollte oder ob sie damit ihrem Laptop direkt den Todesstoß versetzen würde.
Der in die Wand eingelassene Schrank mit dunklen Holztüren und die sichtbaren Deckenbalken verliehen dem Raum Gemütlichkeit. Dennoch war es im Zimmer kühl. Leonie trat ans Fenster, öffnete es und ließ die noch warme Luft hinein. Die nahe gelegene Hügelkette schuf ein traumhaftes Panorama. Ja, es war schön hier, wenn man auf die Annehmlichkeiten der modernen Welt verzichten konnte.
Sie zog die Schuhe aus und legte sich auf das Bett. Der Stubentiger stand auf, streckte sich ausgiebig und rollte sich erneut auf dem Kopfkissen zusammen. Leonie lächelte und ließ die Katze gewähren. Das Kissen würde sie später einfach umdrehen.
Für einen Moment schloss sie die Augen und wünschte sich zurück in ihr Penthouse, in ihre gewohnte Umgebung mit Badewanne und Heizung. Einfach nach Hause, wo sie nicht auf jedes Wort achten musste, das sie sagte. Die Ruhe lullte sie ein. Bis Gelächter durch das offene Fenster ins Innere des Raums drang.
Neugierig geworden stand Leonie auf, um nachzusehen, was draußen vor sich ging.
Greta und Friedrich lachten lauthals. »Und sie glaubt wirklich, wir schlachten die Hühner selbst«, prustete Greta. »Ausgerechnet ich, wo ich keiner Fliege etwas antun kann.«
»Sag Pep nachher einen schönen Gruß, wenn du die vorbestellten Hühner abholst«, vernahm sie Friedrichs Stimme. »Ich bin gespannt, ob sie heute Abend tatsächlich kein Hühnchen isst.«
Leonie schnappte nach Luft und schloss wütend das Fenster.
***
»Stadtmenschen werden uns wohl nie verstehen«, sagte Friedrich. »Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich zu Beginn schon auch einiges von meinem gewohnten Komfort vermisst. Das hat sich jedoch schnell gelegt.«
»Ja, und mit den richtigen Menschen umgeben zu sein ist eben bedeutend wichtiger als dieser ganze Luxuskram.« Greta zeigte auf das vor ihnen liegende Bergpanorama. »Und was brauche ich Satellitenfernsehen, wenn ich diese Natur vor dem Fenster habe?« Mit einem Seufzen ließ sie sich auf ein Bänkchen fallen. »Mal was anderes. Was hältst du von dem Mädchen? Immerhin warst du am längsten mit ihr zusammen.«
»Schwer zu sagen.« Friedrich überlegte kurz. »Sie wirkt kühl und beherrscht. Und ob sich hinter dieser Fassade der erfolgreichen Geschäftsfrau noch ein Mensch mit Herz verbirgt?« Er dachte an ihre erste Begegnung und zuckte die Schultern. Mit nur einem Blick hatte er gewusst, dass die streng wirkende Frau, die aus der Gepäckhalle getreten war, Leonie sein musste. Hübsch war sie mit ihrem hochgesteckten Blondschopf. Offen getragen könnte sie mit diesem Haar den Männern den Kopf verdrehen, würde sie nicht so kühl und abweisend wirken. Und ihre Figur wäre der Blickfang am Strand, wenn sie ihm persönlich auch zu schlank war. »Weißt du, ich hole ja oft Leute vom Flughafen ab. Die meisten strahlen über das ganze Gesicht, wenn ich sie im herrlichen Sonnenschein zu uns bringe. Mir selbst geht ja regelmäßig das Herz auf, wenn ich die Schafherden unter den Bäumen entdecke. Da suche ich sofort nach dem Schwarzen, das ja in jeder Familie vorkommt.«
»Und Leonie? Der Winter in Deutschland ist doch schrecklich nass und kalt. Hat sie das milde Wetter überhaupt nicht wahrgenommen?« Greta verschränkte die Arme vor der Brust. Die steile Stirnfalte zeigte Friedrich, wie es dahinter arbeitete.
Die milde Wintersonne zauberte jedem ein Lächeln ins Gesicht. Gerade bei den Touristen war das stets allzu offensichtlich. Man tauchte nach etwa zwei Stunden Flug in eine völlig andere Welt ein. Die Insel hatte ein eigenes Licht. Mal war es grell, mal verträumt, aber immer war es besonders. Das sagte auch Greta. Und die musste es als Malerin schließlich wissen.
»Gar nicht. Sie hat zwar aus dem Fenster gesehen, aber ob sie die Umgebung wirklich wahrgenommen hat? Mir kam es nicht so vor.«
»Hm«, kommentierte Greta, drückte sich von der Bank hoch. »Hoffentlich bringt sie hier nicht alles durcheinander.«
Am nächsten Morgen saßen Rike, Greta und Friedrich bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch, während Hans Rühreier mit Tomaten, Zwiebeln und Schinken in der Pfanne brutzelte.
»Mich wundert wirklich, wie ein junger Mensch so verstockt sein kann«, meinte Greta.
Leonie hatte schweigend zu Abend gegessen und sich dann direkt wieder auf ihr Zimmer zurückgezogen. Das war Rike auch aufgefallen.
»Und noch mehr erstaunt mich, dass sie tatsächlich was von dem Hühnchen verputzt hat«, schob Greta mit einem Grinsen hinterher.
»Mich beunruhigt das alles.« Friedrich blickte seine Freunde ernst an. »Es sieht schlimm aus. Wenn sie bleibt, wird es hier ungemütlich, und sollte sie verkaufen, wird man uns vor die Tür setzen.«
Rike stand auf und holte das Besteck. Dieselben Gedanken hatten sie die ganze Nacht über nicht schlafen lassen. »Wir können nichts tun.« Missmutig stopfte sie zwei Scheiben Brot in den Toaster. »Vermutlich ist unsere schöne Zeit hier vorbei. So wie sie uns ansieht, wirft sie uns raus, sobald ihr Name in der Escritura steht.«
»Und wenn wir den Notar bestechen, damit er sich Zeit lässt?«, schlug Hans vor, ohne von der Pfanne aufzublicken.
»Das ist auch nur ein Aufschub. Nach Weihnachten fliegen wir spätestens raus.« Rike legte den Toast in den Brotkorb und röstete weitere Scheiben. »Wir müssen uns überlegen, ob wir zusammenbleiben wollen. Ich habe die ganze Nacht darüber gegrübelt, und mir ist keine vernünftige Lösung eingefallen.«
Hans fegte fast die Bratpfanne vom Gasherd. »Spinnst du! Das ist doch gar keine Frage!« Er schob die Pfanne zurück auf den Herd. »Oder sieht das jemand von euch anders?«
Friedrich seufzte. »Ohne Elisabeth und dieses Haus ist es nicht mehr dasselbe.«
»Stimmt«, gab Greta ihm recht. »Aber allein wohnen ist auch keine Option für mich.«
Das Knarzen der Treppenstufen ließ sie verstummen. Rike stellte den Brotkorb auf den Tisch und setzte sich. Auch wenn sie nun nicht weiter über dieses Thema sprechen konnten, führte kein Weg daran vorbei, das Gespräch bald wieder aufzunehmen.
Leonie erschien am Frühstückstisch. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Liebes«, begrüßte Rike sie. Die anderen murmelten ebenfalls einen Gruß. Rike bemerkte Friedrichs taxierenden Blick. Leonie trug das Haar wieder zu einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengesteckt. Das schwarze Kostüm wirkte in dieser gemütlichen Finca so deplatziert wie Gelsenkirchener Barock in einer stylischen Luxusvilla in erster Meereslinie. »In zwei Stunden verabschieden wir Elisabeth. Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber Trauerkleidung hat sie sich dafür nicht gewünscht. Zieh bitte etwas Fröhliches an, um den Wunsch deiner Tante zu respektieren.« Rike würde nicht zulassen, dass diese verstockte Frau sich Elisabeths Wünschen widersetzte.
Leonie glaubte, sich verhört zu haben. »Bunt zu einer Bestattung?« Sie sah entsetzt in die Runde. »Ich habe nur die beiden Kostüme eingepackt.«
»Leih dir was von Greta«, schlug Friedrich vor. »Ihr habt in etwa die gleiche Größe.«
»Was?« Sie sollte Altfrauenkleider tragen? »Auf gar keinen Fall!«
»Dann kommst du nicht mit«, sagte Friedrich bestimmt. »Wir haben Elisabeth versprochen, alles wie vereinbart zu gestalten. Auch unsere Freunde aus dem Dorf werden sich daran halten.«