Das Haus Kölln. Glänzende Zeiten - Elke Becker - E-Book
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Das Haus Kölln. Glänzende Zeiten E-Book

Elke Becker

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Beschreibung

Über ein halbes Jahrhundert lang kämpfen die Frauen der Familie Kölln – um ihre Existenz, um ihr Glück

Elmshorn 1886: Viel zu früh wird Charlotte Köllns Mann durch einen Arbeitsunfall aus dem Leben gerissen. Zeit für Trauer bleibt ihr nicht, die Kornmühle muss weiterbetrieben werden, sonst steht die Familie vor dem Ruin. Als Frau darf Charlotte weder Kredite aufnehmen noch offiziell die Geschäfte führen, doch davon lässt sie sich nicht aufhalten. Als ihr ältester Sohn die Arbeiterin Bertha heiraten will, ist Charlotte gar nicht begeistert. Sie bangt um den Status der Familie, den es zu erhalten gilt. Die beiden willensstarken Frauen müssen sich wohl oder übel miteinander arrangieren – und sie erkennen, dass sie alles bewältigen können, wenn sie zusammenstehen.

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DASBUCH

Der Auftakt der großen neuen Saga über die berühmte Haferflocken-Dynastie

Elmshorn 1886: Viel zu früh wird Charlotte Köllns Mann durch einen Arbeitsunfall aus dem Leben gerissen. Zeit für Trauer bleibt ihr nicht, die Kornmühle muss weiterbetrieben werden, sonst steht die Familie vor dem Ruin. Als Frau darf Charlotte weder Kredite aufnehmen noch offiziell die Geschäfte führen, doch davon lässt sie sich nicht aufhalten. Als ihr ältester Sohn die Arbeiterin Bertha heiraten will, ist Charlotte gar nicht begeistert. Sie bangt um den Status der Familie, den es zu erhalten gilt. Die beiden willensstarken Frauen müssen sich wohl oder übel miteinander arrangieren – und sie erkennen, dass sie alles bewältigen können, wenn sie zusammenstehen.

DIEAUTORIN

Elke Becker wurde in Ulm geboren. Schon früh zog es sie in die Welt hinaus: Ihr Fernweh nach Meer und Abenteuer führte sie in zahlreiche Länder, bis sie 2005 auf Mallorca sesshaft wurde. Nie aus dem Sinn geht ihr der Hafen von Hamburg, der als eines der schönsten Tore der Welt von unendlichen Möglichkeiten zeugt. Er fasziniert Elke Becker stets aufs Neue und lässt sie immer neue Geschichten erträumen, die in dieser spannenden Region spielen. So unternimmt sie regelmäßig ausgiebige Recherchereisen in den wilden Norden, der einen besonderen Platz in ihrem Herzen hat.

ELKE BECKER

Das Haus Kölln

Glänzende Zeiten

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dies ist ein historischer Roman. Er basiert auf der Unternehmensgeschichte des Hauses Kölln. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden. Eine Zusammenarbeit mit dem Haus Kölln gab es nicht, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung. Die Verwendung des Firmennamens erfolgt also ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig-kennzeichnenden Gründen.

Originalausgabe 01/2024

Copyright © by Elke Becker

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Covergestaltung: © t.mutzenbach design

unter Verwendung von Motiven von Richard Jenkins,

Imago Images (Arkivi), Shutterstock.com

(Kuzmina Aleksandra, suns07butterfly)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29631-5V004

www.heyne.de

1886

1

Die klirrende Novemberkälte der Marsch, gepaart mit den dichten Nebelfeldern der Krückau, kroch durch die Fensterritzen und in Charlottes Knochen. Sie sah hinaus auf den Weg. Die Bewohner von Elmshorn eilten mit hochgezogenen Schultern durch die matschigen Straßen. Wo blieb Ferdi? Rauch stieg aus dem Schlot der Grützmühle Kölln auf und vermischte sich mit dem schmutzigen Grau des Himmels.

Die Dampfmaschine, durch die Ferdis Vater das Pferdegespann ersetzt hatte, pfiff und ächzte schon drei Jahre, als wollte sie jeden Moment ihren Dienst verweigern. Charlotte rechnete täglich damit, keine aufsteigenden Wolken aus dem Kamin mehr zu erblicken. Die enorme Getreidelieferung aus Argentinien lagerte seit dem Vortag im Werk und musste rasch verarbeitet und verkauft werden. Der Gewinn sollte in moderne Maschinen fließen. Es standen dringende Investitionen an, wenn sie gegen das Mühlenwerk von Schlüter bestehen wollten.

Ihr Mann arbeitete hart.

Zu hart, wie Charlotte ihn mahnte, während er sich mit seinem Konkurrenten ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferte, wer die produktivere Grützmühle in Elmshorn betrieb. Dabei kamen sie beide zurecht. Ferdi wollte seinem Erstgeborenem bei der Übergabe des Mühlenwerks ein technisch auf dem Stand der Zeit befindliches Unternehmen übergeben, bevor er sich zur Ruhe setzte. Vor Kurzem hatte er die Mälzerei ausgebaut sowie das Bierbrauen für die lokalen Schankwirte hochgefahren, obwohl er vermehrt auf Kornhandel und Mastbetrieb setzte. Die additionalen Einnahmen sollten in die Modernisierung fließen. Die Fabrik wuchs rascher als die gemästeten Schweine oder die Anzahl der zunehmend bierdurstigen Kehlen der Elmshorner.

Futtermittel für Vieh besaßen sie im Überfluss. Schlachter Kleemann freute sich über die Schlachttiere, nachdem sich die Bewohner seit einigen Jahren mehr Fleisch leisten konnten. Auch auf ihrem Tisch stand nicht mehr nur sonntags ein Braten. Dank der Viehhaltung im hinteren Garten reicherten Wurstwaren und Fleischeintöpfe den Speiseplan im Hause Kölln an.

Mit dem Wachstum zeigten sich die Mängel der veralteten Maschinen der industriellen Kornverarbeitung, die Gerätschaften fielen regelmäßig aus. Letzten Monat mussten sie einen neuen Walzenstuhl anschaffen, und bis zur Lieferung mahlten sie mit den alten Mühlsteinen das Korn. Der zu hohe Schrotgehalt verdarb eine halbe Schiffsladung aus Russland. Erst in diesem Moment hatte Charlotte begriffen, wie vorteilhaft es war, auf moderne Industrialisierung zu setzen. Feineres Schrot bedeutete weniger Hülsen in den Mehlsäcken und somit längere Lagerung. Am Vortag hatten sie das ranzig schmeckende Weißmehl in die Krückau gekippt, um die Säcke wiederverwenden zu können, denn manuell waren solche Mengen an Getreide unmöglich zu verarbeiten. Der Fluss trug den Gegenwert einer brandneuen Dampfmaschine bis in die Elbe. Den Verlust wollte Ferdi nun hereinarbeiten.

Katharina kam die Straße entlang. Ihre Blicke trafen sich. Charlottes Tochter hob die Hand und zeigte auf ihren Weidenkorb. Seit ihre Älteste mit dem Konditor Wilhelm Schrader verheiratet war, kam sie oft den kurzen Weg über den Pfarrhof zum elterlichen Mühlenwerk und brachte unverkaufte Backwaren. Das Mehl bezogen die Schraders aus ihrer Kornmühle, dort hatten sich Katharina und Wilhelm auch näher kennengelernt.

Charlotte hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen.

»Ist Vater noch im Werk?«

»Allerdings, ich sorge mich um ihn.« Sie wies auf den gedeckten Tisch. »Inzwischen wird hier das Abendessen kalt. Deine Geschwister sind im Kirchenzentrum.« Der alljährliche Weihnachtsmarkt stand vor der Tür, und das ganze Dorf half bei der Organisation der Stände.

»Soll ich Vater einen Topfkuchen bringen?« Katharina stellte den Weidenkorb auf einen Stuhl. Seit einem Jahr war ihre zweiundzwanzigjährige Tochter verheiratet und führte dem jungen Schrader nicht nur den Haushalt, sondern auch das zugehörige Café der Konditorei.

Seither arbeitete Charlottes zweite Tochter Gertrud bei den Mehlwaagen in der Mühle. »Lieb von dir, aber geh ruhig.« Wilhelms Arbeitstage schienen noch länger als die von Charlottes Mann. Als Bäcker und Konditor begann Wilhelms Arbeit um zwei Uhr nachts, trotzdem unterstützte er Katharina bis zur Schließung der winzigen Kaffeestube in den frühen Abendstunden. »Kümmere dich um deinen Ehemann, sonst bekomme ich nie Enkelkinder.« Charlotte sehnte sich danach. Als ihre Kinder klein waren, konnten sie sich nur wenig leisten, der Aufbau des Werks stand an oberster Stelle, und sie wuchsen neben ihren Tagesaufgaben auf. Seit einigen Jahren hatten sie Personal, und Charlotte könnte ihre Enkel verwöhnen, Zeit mit ihnen verbringen, das nachholen, was sie bei ihren eigenen sechs Kindern verpasst hatte.

»Keine Sorge, ich werde dich bald zur Großmutter machen.« Ihre Tochter schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Aber stimmt schon, ich muss das Abendbrot zubereiten. Sag Papa herzliche Grüße.« Sie küsste Charlotte auf die Wange und verließ das Haus.

Im Korb fand Charlotte drei Laibe Roggenbrot und einen halben Topfkuchen. Sie schnitt ein Stück ab, gab es auf einen Teller und beschloss, ihrem Mann seinen Lieblingskuchen zu bringen.

Hinrich, Ernst und Marie kämen jeden Augenblick aus dem Pfarrheim zurück, sollte Ferdi es vorziehen weiterzuarbeiten, würde sie Gertrud im Werk abholen und mit den Kindern allein zu Abend essen und ihm eine Portion von Marie hinüberbringen lassen. Ferdi bekam seine Jüngste kaum noch zu Gesicht.

Am Eingang des Werktors hörte Charlotte aufgeregtes Geschrei, das sogar das Getöse der Kolbendampfmaschine übertönte. Seit immer mehr dieser mörderischen Gerätschaften für reicheren Ertrag sorgten, hielt sich Charlotte nur ungern im Mühlenwerk auf. Der ohrenbetäubende Lärm der scheppernden Walzen und Räder bereitete ihr Kopfschmerzen. Der Vorarbeiter rannte auf sie zu, starrte sie an und verharrte augenblicklich. »Frau Kölln, zu Ihnen wollte ich.«

»Anselm, was ist denn?« Die schreckgeweiteten Augen versetzten Charlotte in Panik. »Nun rede doch.«

»Peter.« Anselm wies zur Dampfmaschine, die schnaufend ihr Werk verrichtete. »Er ist mit dem Hemdsärmel in die Antriebswelle geraten.«

Charlotte ließ den Teller fallen, raffte ihren Rock bis ans Knie und lief in den hinteren Bereich des Mühlenwerks. Eine Menschentraube drückte sich dicht aneinander und glotzte in eine Richtung. Mit den Ellbogen kämpfte sich Charlotte nach vorn. »Ferdi!« Ihr Ehemann lag reglos vor ihr, sein Hemd blutgetränkt, der linke Ärmel zerfetzt. Dort, wo Ferdis Arm festgewachsen sein sollte, rann Blut aus dem Oberarmstumpf. Ein Arbeiter presste einen Jutesack auf die Wunde. Vergeblich.

Der Blick ihres Mannes brach, als Charlotte sich neben ihn warf und ihm über das lichte Haar strich. Sie hörte weder die Maschinen noch das Geschrei der Mitarbeiter, sah nur ihn, ihren Ferdi, den sie nun leblos in ihren Armen wiegte. Sie schüttelte ihn, bis starke Hände sie auf die Beine zogen. Anselm hielt sie fest. »Frau Kölln, Sie können nichts mehr für Peter tun.«

Peter Ferdinand durfte nicht tot sein. Völlig unmöglich. Das Abendessen wartete auf ihn. Ein kräftiges Malzbier, damit er die Nachtschicht anweisen konnte, bevor er zu ihr ins Bett kroch und bis Sonnenaufgang schlief.

»Er ist tot.«

Diese drei Worte sickerten in Charlottes Bewusstsein wie Ferdis Blut in das am Boden liegende Mehl. Sie hörte erneut den Krach der Maschinen und einen gellenden Schrei, der ihrer Kehle entwich. »Herrmann, lauf zur Konditorei Schrader, hol Katharina. Sie muss sich um ihre Mutter kümmern.« Anselm blickte finster in die Runde. »Ihr anderen geht an die Arbeit! Verstanden? Ihr werdet nicht fürs Herumstehen bezahlt!«

Augenblicklich begaben sich alle an ihre Arbeitsplätze. Zurück blieben Anselm, Charlotte und Ferdi, der in seinem Blut lag, das sich als rotbrauner Brei mit dem Getreidemehl vermischte. »Frau Kölln, ich begleite Sie hinüber und sorge hier für alles.«

Wie eine kraftlose Greisin ließ sich Charlotte von ihrem Vorarbeiter ins benachbarte Wohnhaus bringen. Sie setzte sich an den gedeckten Esstisch, an dem Anselm so manches Gespräch mit Peter geführt hatte. Er eilte zielsicher zur Anrichte neben der hohen Standuhr. Das Mahagoniholz schimmerte rötlich im Schein des Kronleuchters. Mit einer angebrochenen Flasche vom Möhringschen Korn kam er wieder und füllte eines der auf dem Tisch stehenden Wassergläser. »Hier, trinken Sie, zur Beruhigung.« Er ging zurück zur Standuhr und hielt sie an.

»Ich bin ruhig.« Charlotte kippte den scharfen Schnaps dennoch hinunter. »Wie soll es nur weitergehen?« Dieser Gedanke hämmerte schmerzhaft in ihrem Kopf. Wie sollte sie ihre Kinder durchbringen? Das Schulgeld bezahlen? Die Mühle leiten? Ihr Ältester konnte unmöglich schon das Werk übernehmen. Peter Albert studierte in Pinneberg Handelslehre. Charlotte dachte rational, schob ihre Trauer beiseite, für Emotionen blieb im Moment keine Zeit. Panik ergriff sie. »Der Kredit ist noch nicht bewilligt.« Sie würden das Mühlenwerk verlieren, ihre Töchter die Mitgift. Ferdi hatte den Antrag mit den Einnahmen aus dem Verkauf der letzten Lieferung flankieren wollen, sein Tod würde die Bankiers abhalten, neue Darlehen zu gewähren.

Anselm goss sich selbst ein. »Seien Sie unbesorgt. Peter ist in zwei Jahren mit dem Studium fertig. Bis dahin halte ich mit Ihnen das Werk am Laufen. Lassen Sie Peter holen. Er muss sich jetzt regelmäßig hier aufhalten, damit er anschließend die Bankiers überzeugen kann.«

»Danke, Anselm.« Das Angebot tat ihr wohl. Dennoch teilte sie Anselms Zuversicht nicht. Ihr ältester Sohn liebte die schöngeistigen Dinge. Theater, Literatur, Musik. Alles, was das nahe Hamburg bot, während in Elmshorn hart gearbeitet wurde. Peter fehlte es an Ernsthaftigkeit, das wusste sie. Seine Leistungen an der Universität bewiesen sein kaufmännisches Talent, aber es mangelte ihm an der notwendigen Reife. »Entsende Herrmann zu ihm.«

»Ich schicke einen der Arbeiter nach Pinneberg. Herrmann brauche ich im Werk.« Er kippte den klaren Korn hinunter. »Vorher soll er Priester Wagner informieren.«

»Das wird Gertrud übernehmen, sobald wir bereit sind.« Charlotte wollte nicht, dass ihre Kinder von einem Mühlenarbeiter vom Tod ihres Vaters erfuhren, das wäre unvermeidlich, wenn sie den Priester holte. »Hol Merte Groth. Sie wird mir mit meinem Mann helfen.« Er musste gewaschen und aufgebahrt werden. »Bringt Ferdi in die Küche. Wir schieben die beiden Tische zusammen.« Alle außer ihr nannten ihn Peter, ihr kam es merkwürdig vor, ihren Ehemann so zu nennen wie ihren Schwiegervater und später sogar ihren erstgeborenen Sohn, daher wählte sie Peters zweiten Vornamen Ferdinand.

Anselm nickte. Schweigend verließ er das Haus und ließ Charlotte zurück. Sie goss sich noch einen Möhringer ein.

Wut keimte in ihr auf.

Wie konnte Ferdi sie nur mit dem Mühlenwerk alleinlassen? Warum hatte er nicht besser auf sich aufgepasst? Unzählige Male hatte sie ihn gebeten, mehr zu schlafen, weniger zu arbeiten, sich etwas zu schonen, um genau das zu vermeiden.

Vergeblich.

Von einem Tag auf den anderen und in der schwierigsten Zeit musste sie sich nun um das Werk kümmern. Eventuell wüsste Merte Rat, ihr Ehemann war Anfang letzten Jahres nach einer langen Krankheit verstorben. Seither leitete sie die Druckerei mit der angeschlossenen Buchhandlung mit einigen Mitarbeitern. Wie sehr hatte Charlotte ihre beste Freundin um den Verlust bedauert, und nun blieb sie ebenso hilflos mit fünf unversorgten Kindern zurück.

Die Tür zum Esszimmer flog auf. »Oh, Mutter! Wie konnte das geschehen?« Katharina eilte zu ihr, kniete vor ihr nieder und umfasste ihre Hände.

»Die verfluchte Dampfmaschine. Das alte Ding hat gestreikt, und dein Vater hat einen Fehler begangen.« Charlottes Wut wechselte zu Verzweiflung, ihre Tochter verwirrt vor sich auf dem Boden kauern zu sehen, schnitt ihr ins Herz.

»Ich ziehe nach Hause. Du brauchst Hilfe.« Katharina sah entmutigt zu ihr hoch. »Jetzt, wo Gertrud im Werk das Korn abwiegt.«

»Wir haben Irmgard und zwei Dienstmädchen, und wir werden zurechtkommen.« Charlotte wollte vor ihrer Ältesten keine Schwäche zeigen. »Wo steckt Gertrud überhaupt?« Sie stand auf und zog Katharina mit auf die Beine. »Ich habe sie in der Mühle nicht gesehen.«

»Wenn sie vorn im Laden das Getreide verkauft, weiß sie es noch gar nicht.« Katharina verlor jegliche Gesichtsfarbe. »Ich hole sie.«

An der Eingangstür trafen sie auf Anselm und Herrmann, die Peters schlaffen Körper trugen. Aus Katharinas Kehle entwich ein spitzer Schrei, bevor sie sich die Faust auf den Mund drückte und ins Werk hinübereilte.

»Bringt ihn in die Küche.« Charlotte öffnete die Türen und rückte zwei Tische zusammen. »Legt ihn hier ab.« Irmgard war nach der Zubereitung des Abendessens gegangen, ebenso die Dienstmädchen.

Charlotte bedankte sich und schickte die beiden Männer zurück in die Halle. Mit wackeligen Knien zog sie einen Stuhl heran. »So hätte es nicht enden dürfen.« Sie griff seine rechte Hand, streichelte sie. Die Wut auf seine Unachtsamkeit verpuffte und machte einer kurzen Trauer Platz. »Ich habe dich geliebt, das weißt du. Und ich weiß, was du von mir in dieser Situation erwartest.« Eine einsame Träne stahl sich über ihre linke Wange. Sie zog seine Hand an ihre Brust. »Wie soll ich das nur schaffen?« Behutsam küsste sie seinen Handrücken. »Ohne dich? Peter Albert ist noch nicht so weit, er hätte deine Anleitung gebraucht, damit er zu dem Mann wird, der für die Leitung nötig ist.«

Schritte drangen zu ihr. Charlotte küsste erneut Ferdis Hand, bevor sie sie auf seinem Brustkorb bettete, ihre Tränen trocknete und ihren Seelenschmerz zurückdrängte. Sie musste Stärke demonstrieren. Für ihre Familie. Für das Mühlenwerk. Ein Blick auf ihren Ehemann mahnte sie, die Kinder von der Küche fernzuhalten. Sie sollten ihren Vater gewaschen und in seinem Sonntagsanzug sehen, nicht blutverschmiert, mit wirrem Haar in besudelter Arbeitskleidung. Ferdis rechter Schuh fehlte, wie Charlotte auffiel.

An der Küchentür begegnete sie ihren Töchtern. Charlotte drückte sich durch den Türspalt und verschloss die Tür hinter sich. »Wir müssen die Spiegel abhängen. Hört ihr. Bleibt der Küche fern.«

Gemeinsam begaben sie sich an die Arbeit.

Gertruds Gesicht leuchtete rot verschwollen, und Tränen rannen ihr die Wangen hinab. »Wie konnte ich nichts bemerken?«

Charlotte schloss sie in die Arme. »Du warst mit Kunden beschäftigt, wie es dein Vater von dir erwartet hat.« Sie streichelte ihren Rücken. »Morgen geht alles seinen gewohnten Gang. Auch das wäre sein Wunsch.«

Gertrud schniefte und wischte sich über die Nase. »Das stimmt.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Vater wollte das Werk ausbauen.« Unsicher sah sie zu ihrer Mutter. »Wie soll das gehen?«

»Wir schaffen es zusammen, ich komme nach Hause.« Katharina reckte kämpferisch das Kinn.

Ihre Zuversicht verlieh Charlotte die Stärke, das Angebot abzulehnen. »Du kümmerst dich um das Café Schrader und um Wilhelm. Er braucht eine tüchtige Ehefrau an der Seite.«

»Aber, Mutter, er wird es verstehen.« Auf Katharinas Gesicht zeigte sich ihr innerer Kampf. Sie wusste, wie sehr Wilhelm auf ihre Unterstützung angewiesen war, andererseits wollte sie ihre Familie nicht im Stich lassen.

»Wir haben Anselm und Herrmann.« Charlotte überlegte. »Zudem kann ich eine Gouvernante für Marie einstellen, bis sie alt genug ist, das Lyzeum in Hamburg zu besuchen. Bis dahin kümmere ich mich mit Anselms Hilfe um die Werksbelange.« Für ihre Jüngste wünschte sie sich eine ebenso gute Ausbildung wie für Katharina und Gertrud, die beide das Abitur absolviert hatten. Hinrich und Ernst besuchten das Gymnasium in Elmshorn, Mädchen waren dort nicht zugelassen. Nach der höheren Töchterschule am Probstenfeld blieb ihnen nur ein Internat in der Schweiz oder in Hamburg. Hinrich befand sich in seinem Abschlussjahr.

Im Wohnzimmer heizte Katharina den Kamin an, Charlotte hielt die Wanduhr an. Der Türklopfer kündete neuen Besuch an. Sie ging zur Haustür. »Merte!« Sie warf sich in die ausgebreiteten Arme ihrer Freundin. »Danke fürs Kommen.«

»Es tut mir unendlich leid.«

Die feste Umarmung tröstete Charlotte.

»Wie kann ich dir helfen?« Sie umschlang sie und strich ihr über den Rücken.

»Komm aus der Kälte.« Charlotte löste sich und zog Merte mit sich in den Eingangsbereich, die Tür fiel knallend ins Schloss. »Ich muss ihn waschen und anziehen, bevor ihn die Kinder sehen.«

»Wo ist Peter?«

»In der Küche.«

Nach zwanzigjähriger Freundschaft verstanden sich die beiden Frauen ohne viele Worte.

Charlotte schickte Merte in die Küche, eilte ins Schlafzimmer und holte Ferdis Sonntagsanzug, die dazugehörige Krawatte, Schuhe und Strümpfe. Ob sie ihm seine Taschenuhr anlegen sollte? Sie nahm sie mit.

Auf dem Rückweg hielt sie am Wohnzimmer. »Wenn eure Geschwister kommen, kümmert euch um sie. Merte und ich bereiten Vater für die Aufbahrung vor. Katharina, richte bitte den Gesinderaum her.«

»Mache ich. Gertrud soll Priester Wagner holen und es den anderen sagen.«

Gertrud schlurfte zur Garderobe und zog sich den dicken Wollmantel an. »Bin gleich wieder zurück.«

»Danke.« Stolz betrachtete Charlotte ihre großen Mädchen, trotz der Trauer stützten sie die Familie. »Schaffst du es allein?«

»Kümmere du dich um Vater.« Gertrud eilte aus dem Haus.

Charlotte sah ihr hinterher, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Katharina ging die Treppe nach oben zum Wäscheraum. Ob es ihnen gelänge, das Werk zwei Jahre am Laufen zu halten?

Merte goss heißes Wasser in eine Blechschüssel, als Charlotte die Küche betrat. »Ich konnte mich auf den Tod von Johannes vorbereiten. Diese Gnade blieb dir verwehrt.«

»Hat er dich in seine Geschäfte eingewiesen?«

»Ja, ich konnte viel von ihm lernen, denn was Entscheidungen angeht, musst du deine weibliche Seite vergessen und hart wie ein Mann agieren. Das ist mir sehr schwergefallen.«

Gemeinsam begaben sie sich an die traurige Arbeit.

»Johannes hätte die Musikalienabteilung weniger ausgebaut, als ich es mit Margarete getan habe. Der Erfolg gibt uns recht. Zuerst war die Geschäftsführung eine Last, doch nach und nach lernte ich die Vorzüge kennen. Johannes hat meine Ideen oft als Hirngespinste abgetan, wie die Erweiterung des Angebots der Notenblätter.«

Je länger Merte erzählte, wie sie es geschafft hatte, den Betrieb nicht nur am Laufen zu halten, sondern ihn dazu erfolgreich auszubauen, desto zuversichtlicher wurde Charlotte, es auch zu schaffen. Es galt den Betrieb zwei Jahre aufrechtzuerhalten. Merte und sie waren aus demselben Holz geschnitzt. »Unterstützt du mich? Ich weiß, du hast zu tun und seit Johannes’ Tod nur selten Zeit für eine Tasse Kaffee im Café Schrader …«

»Natürlich! Welche Frage?« Merte schloss die Knöpfe des blütenweißen Hemds; den Stumpf hatten sie fest abgebunden. »Ohne dich wäre ich damals verloren gewesen.«

Gemeinsam zogen sie Ferdi den Gehrock an.

Viel hatte Charlotte nicht für ihre Freundin tun können, außer Margarete und Theodor zu versorgen. Ob sechs Kinder oder acht, die Arbeit blieb dieselbe, und sie verstanden sich gut. »Du übertreibst. Es war schön, deine Kinder hier zu haben. Ich glaube, Ernst schwärmt für Margarete.«

»Margarete ist zwölf, die schwärmt für Pferde und Klavierspielen.« Merte goss die Waschschüssel aus. »Ob man eine Druckerei oder eine Getreidemühle führt, wird ein großer Unterschied sein.«

»Man muss geschickt Gewinne einfahren, das haben beide Geschäfte gemeinsam.« Trotzdem gab sie ihrer Freundin insgeheim recht. »Im kaufmännischen Bereich und bei der Mitarbeiterführung werde ich mich mit dir beraten. Ich bin unsicher, ob sie mich als Arbeitgeber akzeptieren, bis Peter übernehmen kann. Anselm hat seine Hilfe angeboten.«

»Euer Vorarbeiter ist seit zwanzig Jahren im Betrieb. Er wird seine Arbeit behalten wollen und dir schon deshalb helfen, bis dein Sohn übernimmt.« Merte kannte Charlottes Sorge um ihren Ältesten. »Er ist fast zweiundzwanzig, da sollte er doch so weit sein.«

»Er nimmt das Leben zu leicht. Bisher konnte er das.« Charlotte hielt die Taschenuhr in die Höhe. »Soll ich sie ihm mit auf den Weg geben oder Peter vermachen?«

»Wenn du sie deinem Mann anlegst, wird dich halb Elmshorn dafür verurteilen, ihn zu sehr herausgeputzt zu haben.« Merte lachte trocken. »Du kennst die Bräuche.«

Ihr Ehemann hatte seine Taschenuhr geliebt. Nach seiner ersten erfolgreichen Erweiterung hatte er sie sich gegönnt und nur sonntags und an Feiertagen getragen. Vielleicht wäre es für ihren Sohn eine herausfordernde Verpflichtung, das Werk des Vaters fortzuführen, wenn er sie erbte. »Ich werde sie Peter schenken.«

»Gut. Ich fürchtete schon, du brüskierst nochmals als Rebellin der Stadt.«

»Die Rolle spiele ich äußerst selten.« Sie erinnerte sich lebhaft, wie sie ihren Vater überredet hatte, sie schießen zu lehren. Jedes Jahr hatte sie beim Schützenverein um Aufnahme gebeten, jedes Jahr blieb sie ihr verwehrt, obwohl sie zielsicherer schoss und es auch beweisen konnte. Beim alljährlichen Schützenfest vor über fünfundzwanzig Jahren hatte sie Peter Ferdinand Kölln zur Seite geschoben, ihre Flinte angelegt und auf die Zielscheibe geschossen. Kein Mann erzielte ein besseres Ergebnis. Trotzdem versagte man ihr den Titel der Schützenkönigin. Peter Ferdinand hatte Charlottes Verhalten nachhaltig beeindruckt, er machte ihr den Hof und bat sie wenige Wochen später, seine Frau zu werden. Der Schützenverein hingegen blieb ihr verschlossen. »Aber du hast recht, ich sollte die Elmshorner nicht unnötig provozieren. Es wird reichen, wenn ich den Betrieb leite.«

Nachdem Ferdi vorbereitet war, begab sich Merte hinüber ins Werk, um Anselm und Herrmann mit der Aufbahrung zu betrauen. Charlotte sah ihr dankbar über den Hof nach, bevor sie sich abwandte und ins Wohnzimmer ging. Das Treffen wegen des bevorstehenden Weihnachtsmarktes war vorüber, und die Kinder wie auch Priester Wagner saßen in einem Kreis in den bequemen Sesseln um den Kamin. Priester Wagner sah hoch, als Charlotte den Raum betrat.

»Mein Beileid, Frau Kölln.« Er wies auf ihre Kinder. »Unsere Gebete und Gespräche spenden Trost.«

Marie sah das anders, sie weinte und schniefte hemmungslos, ihr schmächtiger Körper wurde durchgeschüttelt. Charlotte eilte zu ihr und schloss sie in die Arme. »Weine, solange dir danach ist.« Sie suchte den Blick ihrer Söhne Hinrich und Ernst. Hinrich schien sich mit seinen siebzehn Jahren zu alt für Tränen zu fühlen. In Ernsts Augen schimmerte es feucht, wobei er mit sich kämpfte, die Tränen zu unterdrücken. »Danke für Ihr Kommen, Priester Wagner.«

»In so einer schweren Stunde benötigen Sie Beistand. Ist der junge Peter auf dem Weg nach Hause?«

Charlotte bejahte seine Frage. »In eineinhalb Jahren hat er seinen Abschluss.« Den Rest ihrer Sorge behielt sie für sich. »Haben Sie Weihwasser und eine Totenkerze mitgebracht? Anselm und Herrmann bringen meinen Mann ins Aufbahrungszimmer.« Sie wandte sich an Katharina. »Du hast es wundervoll hergerichtet.«

»Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«

Marie schüttelte ein weiterer Heulkrampf durch. »Papa wollte mit mir am Wochenende in die Marsch, zur Entenjagd.«

»Er hat sich sehr auf den Ausflug mit dir gefreut.« Charlotte vermochte ihr keinen Trost zu spenden. Wie sollte sie auch? Die Kinder mussten lernen, mit dem Verlust zu leben. Ihre Leidenschaft zum Schießen hatte Charlotte ihrer Jüngsten vererbt. Nach einigen Trauertagen würde es besser werden. Erträglicher. Zumindest hoffte sie das für ihre Familie.

Es rumpelte in der Vorhalle.

Katharina sprang aus dem Sessel. »Ich kümmere mich.«

Priester Wagner erhob sich ebenfalls. »Ich segne den Raum, dann könnt ihr zu eurem Vater.«

»Peter kommt aus Pinneberg, habe ich das richtig verstanden?« Hinrich stand auf und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Er muss seinen Abschluss in Hamburg vorziehen, und ich helfe dir so lange im Werk.«

Charlotte begrüßte die Einsatzfreude ihres Sohnes. »Du musst ein ausgezeichnetes Abitur schreiben, um wie dein Bruder zu studieren. Damit hilfst du mir sehr.« Das Studium vorzeitig abzuschließen wäre unmöglich, dazu hatte Peter es bisher zu leichtgenommen.

»Ich bin siebzehn und kann anpacken. Anselm wird mich anleiten.« Den Dickkopf hatte Hinrich von seinem Vater geerbt.

»Tu, worum ich dich bitte.«

Er kickte mit dem rechten Fuß einen unsichtbaren Stein von den Holzdielen, um seinen Unmut über die Ablehnung seines Angebots zu unterstreichen.

»Es wird ohne dich gehen. Ich kenne mich mit den Bestellungen und der Waage aus.« Gertrud stieß sich von der Wand beim Kamin ab und pilgerte im Raum auf und ab. »Der Verkauf läuft ab morgen normal weiter.«

»Nur, wie lange noch?« Hinrich runzelte die Stirn. »Du bist mit Wilhelm Schlüter verlobt, und die Hochzeit soll im Frühjahr stattfinden. Was ist dann?«

»Dann verschieben wir sie, bis Peter seinen Abschluss hat. Außerdem ist eine Hochzeitsfeier so kurz nach Vaters Tod ungehörig.«

»Streitet euch bitte nicht.« Stolz erfüllte Charlotte. Ihre Kinder übernahmen Verantwortung, dabei war es an ihr, die Familie aus dieser Krise zu führen. »Lasst uns alles in Ruhe besprechen, sobald Peter hier ist.«

Marie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort und löste sich aus der Umarmung. »Kann ich zu Papa?«

Charlotte wollte ablehnen, entdeckte jedoch Merte im Türrahmen des Wohnzimmers. »Priester Wagner hat ausgesegnet.« Sie lächelte aufmunternd. »Ihr könnt zu eurem Vater.«

Schweigend begaben sie sich in den hergerichteten Gesinderaum. Charlotte folgte ihren Kindern. Merte legte eine Hand auf ihre Schulter und drehte sie zu sich. »Ich lass euch allein.« Sie küsste Charlotte zum Abschied auf die Wange. »Oder soll ich hierbleiben?«

»Danke, du hast mehr als genug getan. Geh zu deinen Kindern, sie werden hungrig sein.« Charlotte fiel die verpasste Mahlzeit ein. »Nimm unser Abendessen mit.« In Anbetracht der Umstände war ihr der Appetit gründlich vergangen.

»Meine Haushälterin hat gekocht. Esst nachher zusammen, ihr müsst bei Kräften bleiben.« Geräuschlos zog sich Merte zurück. Ein Klacken der Haustür kündete davon, dass sie das Haus verlassen hatte.

Kerzenlicht erfüllte den Raum. Das gesalbte Kreuz auf Ferdis Stirn leuchtete glänzend. In der intakten Hand hielt er seinen Rosenkranz. Der linke Ärmel war dezent eingeklappt, fast bemerkte man das Fehlen des Arms nicht.

»Lasst uns beten.« Priester Wagner stimmte ein Totengebet an.

In Charlottes Gebet mischte sich die Frage, warum Gott ihren Mann viel zu früh zu sich geholt hatte. Warum er ihre Familie prüfte. Eine Antwort erhielt sie nicht.

Wider Erwarten aßen sie das Abendbrot. Inzwischen musste es nach Mitternacht sein. »Peter wird morgen mit dem Morgenzug kommen.« Zumindest hoffte sie das. Charlotte musste dringend mit ihrem Sohn das weitere Vorgehen besprechen.

Nach der späten Mahlzeit gingen sie in ihre Zimmer. Der Tag steckte allen schwer in den Knochen. Charlotte legte sich ins Bett, zog das Kopfkissen ihres Mannes zu sich und roch daran. Der vertraute Geruch schenkte ihr Trost und gnädigen Schlaf.

Ein Geräusch an der Tür weckte sie vor dem Morgengrauen. Aufgeschreckt zog sie sich ihren Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln und eilte nach unten. Im Eingangsbereich stand ein Mann. »Peter?«

»Mutter? Ich wollte dich nicht wecken.« Er schaltete das Licht ein. »Ich habe den ersten Zug genommen. Mein Mitbewohner wird mich an der Universität entschuldigen. Was ist geschehen?«

»Lass uns in die Küche gehen.« Charlotte schlurfte verschlafen voraus. »Gut, dass du hier bist. So können wir allein sprechen.«

Während sie einen Tee aufbrühte, erzählte sie, wie sein Vater ums Leben gekommen war. »Du musst Anselm mit der Schiffsladung aus Argentinien helfen und dich von ihm unterweisen lassen. Wir haben schon die halbe Russlandlieferung wegen einer ausgefallenen Walze verloren. Kannst du die Abschlussprüfung vorziehen?«

Peter pustete in seine Tasse. »Nein. Ich würde sie nicht bestehen. Haben wir das Geld für die Modernisierung erhalten?« Nachdenklich sah er hoch.

»Nein, dein Vater wollte die Zahlen inklusive des Verkaufs des Mehls aus der Ladung vorlegen.« Charlotte sah den abwägenden Gesichtsausdruck ihres Sohnes.

Er zweifelte.

Ihr erging es ebenso. »Ich muss das Werk am Laufen halten. Anselm wird mir zur Seite stehen.« Sie suchte seinen Blick. »Du musst künftig mehr lernen. Du wirst hier gebraucht.«

Peter ließ den Kopf hängen. »Das wird mein Studium gefährden.«

»Nur, wenn du dich ablenken lässt.« Charlotte kannte seine Vorliebe für Theater und Galerien. »Wir müssen es schaffen, bis du deinen Abschluss hast und die Banken dir Kredit gewähren.« Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Hoffentlich funktionieren die Maschinen so lange.«

Gemeinsam gingen sie hinüber ins Mühlenwerk. Anselm saß in seinem Büro, vertieft in Papiere. »Moin, Anselm.« Peter betrat den Raum und sah sich um.

Jeden Moment erwartete Charlotte, ihren Mann um die Ecke biegen zu sehen.

»Du bist hier. Das ist gut.« Anselm zeigte auf die Unterlagen. »Wir sollten uns zusammensetzen. Ich kann das Werk halten, brauche dazu aber eure Unterstützung. Es werden Entscheidungen über das Mühlenwerk zu treffen sein. Das ist nicht meine Aufgabe.«

»Wie sieht es aus?« Charlotte zog sich einen Hocker heran und setzte sich. »Ferdi hatte Erweiterungspläne.«

»Die müssen wir zurückstellen.« Anselm sah bedauernd auf die Papiere. »Ihr Mann wollte neue Maschinen und Land kaufen, um selbst Hafer anzubauen. Dazu wären weitere Kredite notwendig.« Er reichte die Schriftstücke an Peter. »Sie werden dir ohne Abschluss und ohne Garantien keinen gewähren.«

»Dessen bin ich mir bewusst.« Peter prüfte die Unterlagen. »Gewagt, aber zukunftsorientiert.« Ein Anflug von Trauer erschien in seinen Augen. »Vater wollte mir ein modernisiertes Werk übergeben.«

Charlotte stimmte ihm zu. »Du solltest unbesorgt an die Arbeit gehen.«

»Wir müssen es betreiben, wie es jetzt ist, bis du einen Kredit bekommst.« Anselm deutete auf die Werkshalle. »Solange keine großen Maschinen ausfallen, ist es machbar.« Anselm zögerte. »Ihre Frau Mutter muss Bestellungen ausführen, Verträge schließen, während Sie in Pinneberg sind. Oftmals ist eine rasche Reaktion vonnöten.«

»Mutter, schaffst du das?«

Das traute sich Charlotte zu. »Ich habe sechs Kinder großgezogen, da werde ich wohl eine Unterschrift unter einen Vertrag setzen können.« Sie musste sich auf Anselms Urteil verlassen. Zu wenig kannte sie sich mit dem Werksablauf aus, es blieb ihr jedoch keine Wahl, als Anselm zu vertrauen. »Du wirst die Semesterferien arbeiten und die Vorlesungen am Montag oder Freitag ausfallen lassen, um mit Anselm zusammenzuarbeiten.«

Ihr Sohn schwieg. Ein stiller Protest, dennoch würde er ihrem Wunsch entsprechen. »Was muss jetzt entschieden werden? Ich kann höchstens zwei Tage bleiben.«

»Ich werde alles bis heute Abend zusammenstellen.« Anselm wies auf mehrere Aktenstapel. »Die Zukunftspläne lege ich in den Schrank. Im Moment haben andere Dinge als der Werksausbau Priorität, wenn Sie mir diese Einschätzung erlauben.«

»Natürlich, Anselm.« Peter stand auf. »Wir erwarten dich um neunzehn Uhr zum Essen. Im Anschluss arbeiten wir die Unterlagen durch.« Er sah zu ihr. »Einverstanden?«

Nichts sprach gegen Anselms Teilnahme am Abendessen. Tagsüber müsste sie sowieso die Trauergäste empfangen. Viele Bewohner der Stadt würden Ferdi die letzte Ehre erweisen wollen, bevor er unter die Erde kam.

Somit verbrachte Charlotte den Tag damit, sich von den Einwohnern ihr Beileid aussprechen zu lassen. Es kostete sie übermenschliche Kraft, Haltung zu bewahren und mit den Besuchern zu sprechen. Das Mut machende Zureden der Besucher verstärkte ihre Sorge, wie sie zwei Jahre das Mühlenwerk leiten sollte, der alte Schlüter bot sogar eine Übernahme an. Nichts lag ihr ferner, als Ferdis größtem Mitbewerber ihr Werk zu überlassen. Er meinte es freundlich, das sprach für ihn. Trotzdem empfände Charlotte einen Verkauf als Verrat an ihrem Mann und ihrem Sohn.

Endlich ging der letzte Trauergast.

In fünfzehn Minuten würde Irmgard das Abendessen servieren. Sie hatte sich bereit erklärt, zusammen mit den Dienstmädchen die nächsten Tage die Gäste zu versorgen und länger im Haushalt zu arbeiten. Charlotte entzündete eine Kerze und setzte sich wieder neben Ferdi. »Nun wird sich zeigen, ob du die richtige Frau geheiratet hast.«

Die Flamme flackerte, als wolle ihr verstorbener Gatte ihr eine Antwort geben. Charlotte lächelte, obwohl sie wusste, woher das Flackern kam. Eine Windbö drang durch die Ritzen des undichten Fensterrahmens, dennoch wertete sie es als positives Zeichen.

Das Essen verlief in gedrückter Stimmung. Die Kinder verabschiedeten sich im Anschluss in ihre Zimmer. Charlottes schwarze Trauerkleidung verscheuchte sie augenscheinlich.

Das Kaminfeuer im Wohnzimmer loderte. Trotzdem spürte Charlotte keine Wärme in sich, sie fröstelte, wie bereits den ganzen Tag.

Anselm breitete auf dem Wohnzimmertisch einige Unterlagen aus. Geduldig erklärte er ihnen die Zusammenhänge, was an Geldern hereinkam, die Höhe der Ausgaben, was an monatlichem Kredit an die Bank und an Löhnen gezahlt werden musste.

Bei den Summen schwindelte es Charlotte.

»Hier sind die anstehenden Bestellungen.« Er tippte auf einen Stapel. »Die Grundlage sind diese Aufträge unserer Kunden.« Ein dickes Buch lag aufgeschlagen vor ihnen.

»Können wir Rücklagen bilden?« Peter erfasste den Inhalt der Papiere deutlich schneller als Charlotte. »Wenn wir uns keine neuen Maschinen leisten können, muss Geld für Reparaturen vorhanden sein.«

»Es bleibt wenig.« Anselm rieb sich seinen Kinnbart. »Vieles können Herrmann und ich instand halten. Zur Not müssen wir den Müller Schlüter um Unterstützung bitten.«

»Er hat angeboten, das Mühlenwerk zu kaufen.«

Anselm sprang auf die Beine. »Sie wollen verkaufen?«

Peter hob beschwichtigend die Hand. »Niemand will das. Mutter?«

»Nein.« Charlotte sank auf das flaschengrüne Samtsofa. »Es könnte aber sein, dass er uns im Ernstfall seine Hilfe verweigert.«

»Dann darf es keinen Ernstfall geben.« Anselm setzte sich wieder. »Solange alles bleibt, wie es ist, wird es funktionieren. Leider müssen wir die Großbestellung aus Bremen stornieren. Für die Abwicklung hätten wir die neuen Maschinen gebraucht.« Anselm reichte Peter eine Auftragsmappe. »Deshalb wollte Ihr Vater erweitern.«

»Das wirft uns zurück.« Peter überreichte die Mappe Charlotte.

Selbst ohne Vorkenntnis erkannte sie, wie sehr die Ablehnung dieser Bestellung finanziell schmerzte. »Es hilft keinem, darüber zu lamentieren.« Ihre Kampflust war geweckt. »Wir schaffen es ohne diesen Auftrag.«

1888

2

Bertha schlug mit dem Schneebesen kräftig die Sahne. Die Böden der Friesentorte standen bereit. Bisher ging ihr alles reibungslos von der Hand, trotz der wachsamen Blicke ihres Konditormeisters. Der Guss über den abgetropften Kirschen kühlte ab. Sie war das Schlagen von Sahne oder Buttercreme inzwischen gewohnt. Irgendwann besäße sie ihre eigene Bäckerei, darauf arbeitete sie mit jedem Schwung aus ihrem Handgelenk hin. Nach weiteren Schlägen drehte sie die Schüssel, um zu sehen, ob die Sahne steif blieb. Sie strich sie auf die Kirschen, die sie auf dem mit Kirschsaft beträufelten Tortenboden platziert hatte. Vorsichtig hob sie den zweiten Boden auf die Schichten und siebte Puderzucker darüber. Stolz durchflutete sie. Dieses Mal gelang ihr die Friesentorte, keine Kirsche purzelte heraus, die Schlagsahne hielt. Der Boden sah weich und saftig aus.

»Fräulein Peterson, du bist fertig.« Meister Wilke trat hinzu, betrachtete das Ergebnis und grunzte zufrieden. Sein weißer Kittel spannte über seinem gewaltigen Bauch.

»Das bin ich.« Bertha blickte ihn neugierig an. Normalerweise nannte er sie beim Vornamen, nur in Prüfungsmomenten benutzte er ihren Familiennamen, wobei er sie weiterhin duzte, was Bertha nicht störte. »Was sagen Sie?«

»Ich hole meine Frau.« Wilke schenkte ihr ein Lächeln. »Wenn sie schmeckt, wie sie aussieht, fällt die Zubereitung dieser Torte künftig in dein Aufgabengebiet.«

Wilkes Ehefrau galt als schwierig, sobald es sich um die Friesentorte drehte, das wusste sie vom Lehrmädchen aus dem dritten Lehrjahr. Während des Ausbildungsjahrs war Bertha das Erstellen von Kaiser Wilhelms Lieblingstorte verboten. Die Herstellung stellte die Abschlussarbeit nach dem zweiten Jahr dar. Agathe misslang sie, sooft sie es auch versuchte.

Bertha liebte das Backen, ob Brote, Kuchen oder außergewöhnliche Tortenkreationen, dafür fand sie keine Begeisterung am Kochen, und niemals würde ihr ein Sonntagsbraten gelingen. Ihre Mutter fragte regelmäßig, wie das möglich sei, da sich beide Tätigkeiten ähnelten, und bat sie am Sonntag in die Küche, mit bedauernswertem Ergebnis.

»Ausgezeichnet.« Agathe war unbemerkt neben sie getreten. »Da findet selbst die alte Wilke keinen Grund zu meckern.«

Bertha lächelte. »Ich hoffe, du behältst recht.« Schritte näherten sich, Bertha legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. »Kein Wort mehr.«

Agathe schüttelte den Kopf.

Meister Wilke trat ein, gefolgt von seiner kreidebleichen Ehefrau. »Der Kaiser ist gestorben, unmöglich, heute diese Torte zu bewerten.«

»Kaiser Wilhelm hätte Verständnis für die widrigen Umstände.« Er nahm ihr die Zeitung ab. »Ob sich Friedrich III lange hält? Man sagt, er sei erkrankt. Irgendetwas am Hals.«

»Wilhelm II wäre besser, er ist voller Tatendrang. Unser Reich braucht einen Kaiser, der das Land voranbringt.« Frau Wilke seufzte und besah sich die Torte von allen Seiten. »Die sieht erfreulich ordentlich aus, nichts zusammengefallen.« Mit hochgezogener Augenbraue sah sie zu Agathe. »Nimm dir ein Beispiel daran, du bist ein Jahr weiter.« Sie griff das Messer und schnitt sie an.

Bertha hielt den Atem an. Das Kuchenstück ließ sich problemlos als makelloses Tortenstück herausziehen.

»Fest genug ist die Masse.« Sie stach mit einer Gabel ab. »Hoffentlich ist der Boden nicht pappig.« Sie schob sich ein Stück in den Mund.

Erst als Frau Wilke den Kopf schief legte und anerkennend nickte, stieß Bertha die angehaltene Luft aus. »Was hast du in die Sahne gemischt? Ich schmecke Vanille, aber da ist noch anderes.«

»Außer Vanille gehört nichts hinein«, widersprach Meister Wilke. »Gib her.« Er griff nach dem Teller und kostete die Torte. »Stimmt. Was ist das?«

Frau Wilke lächelte. »So schmeckt sie mir weit besser. Eindeutig. Was ist das für ein Geschmack?«

Bei ihrem letzten Probebacken war Bertha Zimt in den Zucker für den Guss gefallen. Sie hatte ihn trotzdem verwendet, weil sie keinen Kirschsaft übrig gehabt hatte. Die sanfte Zimtnote hatte Bertha augenblicklich überzeugt. Sie suchte den Blick des Meisters.

Er aß einen weiteren Bissen. »Du hast Zimt hineingemischt? Wie bist du darauf gekommen?«

»Ich probiere gerne.« Das stimmte, in dem Fall verschwieg sie die Wahrheit, um in Zukunft mehr ausprobieren zu dürfen.

»Ausgezeichnet, ich würde sagen, wir bieten die Torte künftig unter dem Namen Kaisertorte an. Damit unterscheiden wir uns von allen Konditoreien nicht nur im Geschmack, sondern auch in der Namensgebung.« Er klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. »Du wirst eine herausragende Konditorin.«

Frau Wilke warf Agathe einen vernichtenden Blick zu. Erfreulicherweise enthielt sie sich eines Kommentars. »Ich hoffe, du bleibst nach der Ausbildung bei uns.«

»Gerne.« Allerdings nur so lange, bis sie ein eigenes Geschäft eröffnen konnte. Wann ihr das gelänge, stand auf einem anderen Blatt. Ihre alleinerziehende Mutter mühte sich mit zwei Stellen ab, um ausreichend Essen auf den Tisch zu bringen. Sie waren arm wie die sprichwörtlichen Kirchenmäuse. Darüber hinaus war einer Frau die Gründung einer Firma verboten. Ein Mann müsste seinen Namen geben, um eine Konditorei zu führen, zusätzlich benötigte sie einen Meistertitel.

Vielleicht glückte ihr dieses Unterfangen mit Peter. Seit dem Tod seines Vaters machte er sich rar, inzwischen zweifelte sie daran, von Peter einen Antrag zu erhalten. Deshalb sparte sie jeden Pfennig, um es notfalls ohne ihn zu einem eigenen Geschäft zu bringen. Keinesfalls wollte sie wie ihre Mutter enden, sich abrackern und dennoch zu wenig verdienen. Sie wünschte sich ein sorgenfreies Leben für sich und ihre Kinder.

»Bedient euch«, bot Meister Wilke an. »Ab morgen kommt die Torte in die Auslage.«

Damit war Berthas Zukunft im Kleinen gesichert. Das Schicksal meinte es gut mit ihr, Peter schien der geeignete Ehemann für ihre Pläne. Sie liebte ihn seit ihrer ersten Begegnung. In einem Jahr wäre sie mit ihrer Ausbildung fertig, und dann zöge sie zu ihm nach Elmshorn. Nach nichts sehnte sie sich mehr, als Peter zu heiraten. Noch studierte er an der Universität, lernte bis spät in die Nacht, und die Wochenenden fuhr er ins Mühlenwerk. An diesem Abend führte Peter sie zum Abendessen aus, er hatte einen Tisch im Ratskeller reserviert.

Meister Wilke ging zurück in den Verkaufsraum, sperrte den Laden ab und wünschte Agathe und Bertha einen schönen Feierabend. Agathe kostete Berthas Meisterstück. »Das schaffe ich nie.«

»Eines Tages schaffst du das.« So wie Peter ihr Mut zusprach, versuchte sie, ihrer Kollegin Mut zu schenken. »Es gibt viele Torten. Es muss ja nicht die Friesentorte sein.«

»Deine Zuversicht möchte ich haben.« Sie schob das letzte Stück in den Mund. »Ich werde trotzdem eine Anstellung finden.«

»Ganz bestimmt.« Bertha sah auf die Uhr. »Ich muss los.«

»Peter?« Agathe sah sie schmachtend an. »Du hast großes Glück.«

»Du weißt ja, je mehr man übt, desto mehr Glück hat man.« Bertha band sich die Schürze ab. »Ich backe mein Leben lang, entsprechend habe ich einen Vorsprung.«

»Und einen Fabrikantensohn.« Agathe hängte ihren Kittel an den Haken. »Dieses Glück habe ich nie.« Beide zogen sie ihre Wollmäntel an und verließen die Backstube durch die Hintertür. Ein kühler Wind blies durch die Gasse. »Bis morgen!«

»Ja, bis morgen.« Bertha summte auf dem Nachhauseweg die Melodie ihres Lieblingslieds der Moldau. Sie betrat das ärmliche Haus ihrer Kindheit, das ihr mit jedem Jahr winziger erschien.

»Wie ist es gelaufen?« Berthas Mutter trocknete die Hände an ihrer Schürze ab. »Wenn ich dich ansehe, lief es gut.«

»Ich bin künftig für die Friesentorte zuständig.« Sie fiel ihr um den Hals. »Die Variante mit dem Zimt schmeckt ihnen. Der Meister nennt sie Kaisertorte. Das habe ich dir und Peter zu verdanken! Ihr habt mir Mut zugesprochen, es zu probieren.« Sie hatte einige Stücke zur Verkostung nach Hause gebracht, als sie den besonderen Geschmack bemerkt hatte. »Jetzt muss ich mich fertig machen, Peter wartet!«

»Wird Zeit, dass er dir einen Antrag macht.«

»Stimmt.« Bertha ging zur Waschschüssel und zog sich um. Auf Peter lastete viel Druck, dennoch suchte er Wege, sie zu sehen, was ihre Zweifel an manchen Tagen zerstreute.

Peter stand vor dem Ratskeller. »Da bist du ja. Hast du bestanden?« Er breitet die Arme aus.

Die letzten Schritte lief Bertha auf ihn zu, fiel in seine Umarmung und küsste ihn. »Ja.«

Er wirbelte sie um die eigene Achse. »Das wusste ich.«

»Wie läuft es bei dir?« Bertha sorgte sich, im Gegensatz zu früher besuchte Peter mittlerweile weder Ausstellungen noch Konzerte oder Theatervorstellungen. Er lernte nur und reiste nach Elmshorn, von wo er müde zurückkam. »Muss ich mir Sorgen um dich machen?«

»Nein. Seit Vaters Tod lastet große Verantwortung auf mir.« Er reichte ihr den Arm, und sie hakte sich ein. »Ich darf Mutter nicht enttäuschen.«

»Das verstehe ich.« Seitdem ihr Vater verstorben war, kümmerte sie sich um ihre Mutter, obwohl die behauptete, allein zurechtzukommen. Bis auf das Kochen nahm sie ihr den gesamten Haushalt ab.

Sie betraten das Lokal. Ein Kellner brachte sie zum Tisch. Die weißen Damasttischdecken und das edle Porzellan beeindruckten Bertha. Die Kristallgläser funkelten im Kronleuchterschein. »Schlichter wäre auch in Ordnung gewesen.« Seine Großzügigkeit beschämte sie regelmäßig.

»Nicht heute.« Er rückte ihr den Stuhl zurecht. »Lass uns deinen Erfolg feiern.«

Trotz der zur Schau getragenen Fröhlichkeit bemerkte Bertha eine Veränderung an Peter. »Wann ist deine Abschlussprüfung?«

»Wie geplant, im Juni.« Er setzte sich ihr gegenüber und gab für beide die Bestellung auf. Eine Flasche Rotwein, zwei Portionen Rinderbraten mit Klößen und Kraut, zum Nachtisch einen Napfkuchen mit Sahne.

Bertha hätte ein günstigeres Gericht gewählt, und Peter wusste das. Darum bestellte er für sie mit. »Ich bin vorbereitet und habe alle Unterlagen durchgearbeitet. Meine Professoren unterstützen mich, ich werde nächste Woche nach Elmshorn ziehen, zur Prüfung nach Hamburg reisen, bei dir in Pinneberg einen Stopp einlegen und weiterreisen.«

»So bald?« Für einen Moment verschlug es Bertha den Appetit. Bis dahin waren es drei Monate. Dann schalt sie sich eine alberne Gans, er würde sie nicht vergessen. »Ich schreibe dir jede Woche.«

»Und ich antworte dir auf jeden Brief.« Er schenkte ihr ein warmes Lächeln. Die Grübchen in seinen Wangen ließen ihn wie einen Lausbuben wirken, wäre nicht der sorgenvolle Blick, der manchmal sein Gesicht überschattete. Sein blondes Haar trug er an diesem Tag streng zurückgekämmt. Ihr Peter veränderte sich, er schien ernster, nur die markanten Gesichtszüge und sein einnehmendes Lächeln blieben gleich.

Während des gesamten Abends spann Peter Zukunftspläne für das Mühlenwerk, sobald er das Geld aus dem Kredit bekäme. Er berichtete, welche Maschinen er anschaffen wollte, von den neuen Grundstücken in der Marsch, dass er für die Bewirtschaftung fünf Arbeiter benötigte und wie viele Getreidelieferungen aus Übersee nach Elmshorn unterwegs waren. Von dem Düngemittel Guano, das aus dem fernen Peru kam, oder dem Salpeter aus Chile, um die neuen Felder zu düngen und zu bestellen. Von allem erzählte er, als würde er diese Länder kennen. Seine Begeisterung steckte Bertha an. Erstaunen erfüllte sie über seine Freude an der Tätigkeit im Werk, vergessen schienen Theater und Galeriebesuche, selbst ihre Rolle in seinem Leben blieb unerwähnt. Irgendwann wollte sie ihn danach fragen. Aber nicht jetzt, wo er so viel um die Ohren und keinen Kopf für eine Hochzeit hatte. »Mein Bruder Hinrich ist mir eine große Hilfe. Vermutlich werden wir das Mühlenwerk zu zweit führen.«

»Will er nicht studieren?« Es erschien Bertha ungewöhnlich, wenn ein Mann von Stand kein Studium absolvierte, während Peters Schwestern das Abitur ablegten. Bertha hätte gerne die Reifeprüfung abgelegt, jedoch fehlte es am Schulgeld, wie es immer an Geld in ihrem Zuhause mangelte.

»Das habe ich ihm geraten, aber er ist stur.« Peter verspeiste den letzten Bissen des Nachtischs. »Deine Kuchen sind besser.«

Sein Kompliment zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen, und sie unterdrückte den Impuls, ihm zu sagen, dass sie als seine Frau jeden Tag für ihn backen würde. »Lieb von dir.«

»Es ist die volle Wahrheit.« Peter bestellte die Rechnung. »Ich bringe dich nach Hause, es ist spät.«

Dennoch wäre Bertha mit Vergnügen länger mit Peter zusammengesessen. Die Uhr im Ratskeller schlug zehnmal, in fünf Stunden stünde sie in der Backstube. Sie gab Peter recht, obwohl es sie schmerzte, da seine Abreise bevorstand.

Berthas Tage vergingen im Einheitsbrei der Regelmäßigkeit. Torten und Süßwaren backen, dazwischen wieder unterschiedliche Brotwaren. Nur am Sonntag hatte sie einen freien Tag. Ihr letzter Tag mit Peter.

Am frühen Morgen holte Peter sie ab, um mit ihr zu frühstücken und anschließend eine Kunstausstellung in Hamburg zu bestaunen. Am Nachmittag stand der Besuch eines Klavierkonzerts auf dem Programm. Es schien, als wolle Peter Abschied von Hamburg und Pinneberg nehmen. Abschied von ihr. Deshalb gestaltete er den Tag abwechslungsreich. In der Begleitung von Freunden blieben ernste Gespräche aus. Peter küsste sie vor ihrer Haustür. »Du bist so ruhig. Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich bin betrübt wegen deiner Abreise.« Bertha wandte den Blick ab, sie wollte ihren Kummer vor ihm verheimlichen.

»Unsere Trennung ist nur für kurze Zeit.« Er hob ihr Kinn an, um ihr in die Augen zu sehen. »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Aus diesem Grund bin ich ja traurig, aber ich verstehe dich. Du musst gehen. Sorge dich nicht um mich. Ich komme zurecht.«

»Daran hege ich keine Zweifel.« Er küsste sie erneut. »Der Zug fährt in dreißig Minuten, ich muss los.«

»Gute Reise.« Sie drückte Peter an sich, bevor sie sich löste und im Haus verschwand. Mit dem Rücken lehnte sie sich ans Türblatt, wo sie verharrte und gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte.

Vergeblich.

Eine Erkenntnis von Abschied kroch ihre Kehle hoch wie der scharfe Geschmack von Bartmanns selbst gebranntem Magenbitter. In ihrem Herzen wehrte sich alles gegen den Gedanken, er könne sie vergessen.

3

Die letzte Prüfunglag hinter Luisa. Nur noch zwei Wochen, dann hätte sie auch dieses Schuljahr absolviert. Verträumt sah sie in den blauen Himmel, der vor ihrem Klassenzimmerfenster ins Freie lockte, während sie hier herumsaß und stickte. Dies hasste sie fast so sehr wie den Hauswirtschaftsunterricht. Ihre Lehrerin drängte Luisa täglich, sich mehr Mühe mit ihren Arbeiten zu geben. Zugegeben, die Stickarbeiten waren einigermaßen ansehnlich, die Häkelarbeiten blieben Materialverschwendung. »Fräulein Knauer, träumen Sie mit offenen Augen?«

»Nein, Fräulein Schneider. Ich überlege, ob ich für den nächsten Stich die Garnfarbe wechseln muss oder erst beim darauffolgenden.« Unschuldig sah sie zu ihrer Stickarbeit. »Ich glaube, ich sollte wechseln.«

Käte neben ihr kicherte. Ihre Freundin wusste, wie wenig Luisa die Fächer mochte. Im Grunde verabscheute sie alle Unterrichtsstunden, in denen es darum ging, sie zu einem sittsamen, bescheidenen und sanftmütigen Wesen zu formen, dessen höchstes Ziel es darstellte, mit Fleiß, Geduld und Geschick einem Mann den Haushalt zu führen. Jeden Tag wurde sie mit diesen Benimmregeln indoktriniert. Luisa war neidisch auf ihre männlichen Mitschüler, die alles durften, was Luisa sich wünschte. Beim Sport hieß es, er sei für Frauen ungesund und mache unfruchtbar, Zeichnen verwirre den weiblichen Geist, für den die Naturwissenschaften und die höhere Mathematik als zu kompliziert galten. Dabei konnte Luisa all das, wie sie samstags in der Apotheke ihres Vaters regelmäßig unter Beweis stellte. Als Kind war sie auf Bäume geklettert und hatte jeden Jungen beim Wettrennen geschlagen. Das sollte plötzlich alles unmöglich sein, weil es in der Schule unterrichtet wurde?

Luisa wechselte die Garnfarbe und fädelte einen grünen Faden ein, um die nächsten Stiche vorzunehmen. Sie spielte ihre Rolle als höhere Tochter, da sie früh gelernt hatte, was Widerstand bedeutete. Schläge, Nachsitzen und schlechte Noten. Besser sie benahm sich und ließ die Zeit nutzlos verstreichen, bis sie in einem Jahr ihr Abitur in der Tasche hatte. Luisa träumte davon, nach Dänemark zu gehen, um dort Pharmazie zu studieren, nachdem es ihr in Deutschland verboten war.

»Du bist unkonzentriert.« Fräulein Schneider sah sie tadelnd an. »Was soll nur aus dir werden? So wird dich kein Mann heiraten. Du sollst ihm Gesellschafterin sein, ihm ein gemütliches Heim schenken und Kinder. Was willst du tun, solange du auf seine Heimkehr wartest?«

Jedenfalls nicht sticken, lag es Luisa auf der Zunge. »Ich werde mir mehr Mühe geben. Gleich ab Montag.« Luisa schenkte ihrer Lehrerin ein gewinnendes Lächeln.

»Ach, Luisa Knauer, wenn ich nur daran glauben könnte.« Sie ging weiter zu Käte, lobte deren Arbeit und klatschte anschließend in die Hände. »Ihr könnt nach Hause gehen. Wir sehen uns Montag.« Sie wandte sich an Luisa. »Dieses Mal pünktlich.«

»Versprochen.« Luisa konnte nur den ersten Zug nach Pinneberg nehmen, wenn er Verspätung hatte, kam eben auch sie zu spät. Dennoch versprach sie es, wie sie ihrer Lehrerin jede Woche leere Versprechen gab.

Luisa sprang auf, legte ihre Stickarbeit in den dafür vorgesehenen Kasten und eilte grußlos davon. Nur ohne Verzögerung erwischte sie den Zug nach Elmshorn, andernfalls müsste sie zwei Stunden auf den nächsten warten. Sie hörte noch Käte rufen, doch konnte sie sich unmöglich von ihr aufhalten lassen.

»Wenig damenhaft.« Frau Kölln stand am Bahnsteig. »Eine junge Dame schreitet, rennen überlassen wir den Arbeiterkindern.«

»Ich muss den Zug erreichen. Wenn mich die Lehrerin fünf Minuten früher aus dem Unterricht entließe, würde ich gehen, wie es sich schickt.« Luisa wollte keinesfalls Frau Kölln gegen sich aufbringen. Sie schwärmte für ihren Sohn Hinrich. Seit Kurzem schien er auch sie zu bemerken, was ihr Herz schneller schlagen ließ, sobald sie ihn ansah.

Der Bahnhofsvorsteher öffnete die Türen.

»Nach Ihnen, Frau Kölln«, überließ sie ihr den Vortritt.

Zufrieden quittierte Frau Kölln diese Geste. »Immerhin weißt du, was sich geziemt.« Sie runzelte die Stirn. »Bist du nicht die Tochter vom Apotheker Knauer?«

»Die bin ich. Er erwartet mich. Seit Mutters Tod benötigt er meine Hilfe in der Apotheke.« Das war geflunkert, er kam sehr gut ohne ihre Unterstützung zurecht. Luisa sehnte sich nach ihrer Arbeit und wollte noch an diesem Tag nachsehen, welche Kräuter sie am Sonntag sammeln sollte, was fehlte und ob sie weitere Kräutertees zusammenstellen musste. Außerdem half sie ihrem Vater, abends die Salben zusammenzumischen, die die Patienten am darauffolgenden Tag abholten.

Luisas Antwort blieb von Frau Kölln unkommentiert, und sie betrat den Waggon. Ein Herr ließ Luisa den Vortritt. Sie setzte sich in eine Reihe hinter Frau Kölln. Was hätte sie auch mit ihr besprechen sollen?

Eine Stunde später erreichten sie den Bahnhof Elmshorn. Luisa stieg am hinteren Ausgang aus dem Waggon und rannte in die Königstraße zur Apotheke. An der Tür verabschiedete sich Hannelore Schlüter. »Moin«, grüßte Luisa und schloss die Tür hinter der Kundin. »Moin, Vater. Wie läuft es?«

»Du bist schon hier? Bist du wieder gerannt?« Er schüttelte den Kopf. »Irgendwann geschieht noch ein Unglück.«

»Ach was. Du glaubst doch selbst nicht daran.« Luisa küsste ihn auf die Wange und eilte in das Hinterzimmer, um ihre Schultasche abzustellen. »Ich komme gerade rechtzeitig, wie ich sehe.«

»Du solltest dich mehr auf dein Abitur konzentrieren, als mir zu helfen.« Den liebevollen Ton nahm Luisa durchaus wahr.

»Ach, Vater, was nützt mir ein ausgezeichnetes Abitur, wenn ich nicht studieren darf. Ich habe alles von dir gelernt und wäre eine hervorragende Apothekerin.« Sie schob ihre Unterlippe vor. »Lass mich nach Dänemark.«

»Wen habe ich da nur großgezogen?« Er schloss die Apotheke ab und kam in das Hinterzimmer zu den unzähligen Tiegeln und Gefäßen. »Du sprichst kein Dänisch. Wie soll das funktionieren?«

»Es ist ungerecht, du weißt das. Dänisch kann ich lernen.« Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden. »Ich will unsere Apotheke übernehmen. Du hast keinen Nachfolger außer mir.«

»Dann wirst du wohl einen Apotheker heiraten müssen, oder ich verkaufe sie.« Ein gequälter Zug erschien in seinen Augen.

»Wo soll ich einen Apotheker hernehmen?« Luisa schnaubte unwillig. »Wir sind bis auf den alten Behm die Einzigen in Elmshorn, und seine Söhne sind bereits verheiratet.« Zudem interessierte sie weder der eine noch der andere, sie schwärmte für Hinrich Kölln.

Ihr Vater seufzte. »Lass uns mit der Arbeit beginnen. Sonst laufen uns die Kunden fort, und wir schließen vor der Zeit.«

Es musste eine Lösung geben. Für Luisa galt es nur, sie zu finden. Bis dahin rührte sie Arnikasalbe an und mischte Bachblüten mit Melisse für Frau Roepstaff für einen Sud zum Einschlafen. Eine weitere Mischung erstellte sie aus Thymian, Salbei und Rosmarin für Familie Hell, deren Kinder an trockenem Husten litten. Auf Heilkräuter verstand sie sich. Gemeinsam mit ihrer verstorbenen Mutter hatte sie den Kräutergarten hinter ihrer Apotheke von Kindesbeinen an gepflegt. Trotzdem kannte sie sich auch mit den pharmazeutischen Medikamenten aus. Bis auf die Schulstunden hatte sie jede Minute hier oder im Gärtchen zugebracht, neue Kräutermischungen probiert und die Naturheilmittel an die Elmshorner verkauft. Mit Erfolg. Natürlich glaubten die Bewohner, ihr Vater würde alles mischen, und sie würde ihnen das Produkt nur aushändigen. Keinesfalls traute man einem Mädchen ein solches Unterfangen zu.

Die Bronzeglocken der Kirchturmuhr schlugen acht Mal, Zeit fürs Abendbrot. Sie waren vorbereitet für den kommenden Arbeitstag.

Schon morgens ging es hoch her. Mehrere Elmshorner klagten in der Apotheke über Halsschmerzen und Fieber, statt einen Arzt aufzusuchen, wobei der meist nichts anderes anriet als Luisas Vater. Gegen Mittag neigten sich die Mischungen dem Ende zu. Eilig vermengte Luisa die notwendigen Kräuter, mischte Schafgarbe, Holunderblüten, Weidenrinde, Lindenblüten und Kamille zum Thymian und Salbei, damit sich der Husten beruhigte und das Fieber sank. Dazu empfahlen sie Wadenwickel. Offenbar grassierte eine Sommergrippe. »Wir müssen Trockenkräuter in Hamburg bestellen, unsere gehen in einer Woche aus. So schnell können wir die frischen Kräuter aus dem Gärtchen nicht trocknen.«

»Ich gehe zur Post und gebe ein Fernschreiben auf.« Ihr Vater sah auf die Uhr. »Wir haben noch eine Stunde Zeit.«

»Ich übernehme das. Und man sagt heute Telegramm, nicht Fernschreiben.« Luisa lachte. »Immerhin nennst du es nicht mehr Depesche.«

»Es ist alles dasselbe«, verteidigte er sich und wandte sich seinem Apothekerschrank zu.

In den letzten zwanzig Jahren hatte sich sehr viel verändert, und manchmal kam es Luisa vor, als käme ihr Vater mit der raschen Entwicklung kaum mit. Trotzdem amüsierten sie sich zusammen auf seine Kosten. Luisa nahm einen Bleistift und ein Papier, notierte, was fehlte, und spazierte zum Postamt in westliche Richtung, um die telegrafische Bestellung aufzugeben.

Das alte Pastorat hatte dem Neubau des Kaiserlichen Postamts weichen müssen. Luisa betrat die Post und stellte sich in die Schlange der Wartenden. Hinter sich hörte sie eine bekannte Stimme. Hinrich Kölln. Ein Kribbeln kroch ihre Wirbelsäule hoch, sie widerstand dem Impuls, sich umzudrehen.

»Luisa, was kann ich heute für dich tun?« Emil Ulrich wandte sich an sie.

»Eine Bestellung nach Hamburg ins Kontor von Lüdtke.« Sie reichte ihm das Papier. »Mit dem Vermerk: eilig.«

»In wenigen Wochen wird der erste Abschnitt der neuen Speicherstadt eingeweiht. Werdet ihr euch das ansehen?« Herr Ulrich sah sie fragend an. »Lüdtke soll einen großen Speicher dort haben, die Bilder, die ich davon gesehen habe, sind beeindruckend.«

Luisa kannte Bildaufnahmen aus der Zeitung. In wenigen Jahren hatten die Hamburger eine Kontorlandschaft in neugotischer Backsteinarchitektur im Hafen erschaffen. Über die Fleete konnten die Schiffe bis an die Lagerhäuser heranfahren. Die Speicher standen auf Tausenden Eichenpfählen, und an den jeweiligen Hausgiebeln zog man über eine Seilwinde die Waren auf die unterschiedlichen Holzböden. »Das wäre ein Abenteuer, aber bisher liegt uns keine Einladung vor.«

»Die kommt, bald habt ihr sie in der Post. Ich setze alles auf die Monatsrechnung?« Er nahm das Blatt an sich und verschwand in einem Hinterzimmer. Bevor er die Tür schloss, drehte er sich zu ihr um. »Sonst noch was?«

»Heute nicht, danke, Herr Ulrich.« Luisa atmete tief ein, wandte sich um und ging an der Schlange der Wartenden vorüber.

Hinrich Kölln stoppte sie mit ausgestrecktem Arm. »Moin, Luisa. Wie geht es dir?«

»Gut.« Luisa hatte darauf gehofft. »Und dir?«

»Die Abiturprüfungen habe ich geschafft.« Stolz sah er sie an. »Jetzt werde ich Partner im Mühlenwerk, um Peter zu unterstützen.«

»Ich wünschte, ich wäre auch schon so weit.« Irritiert sah sie ihm in die Augen. »Und dein Studium? Was ist damit?«

»Das lasse ich sausen.«

»Ernsthaft?« Wie konnte er nur? »Ich würde alles geben, um zur Uni zu gehen.« So groß die Überraschung über sein Verhalten war, sie konnte ihn verstehen. Er trug die Verantwortung für das Werk. Und wenn sein Bruder ihn brauchte, half die Familie zusammen.

»Du? Auf der Universität?« Überrascht hielt er ihren Blick. »Lehrerin kannst du auch ohne Uniabschluss werden. Es gibt spezielle Schulen dafür. Katharina wollte das, bevor sie sich entschied, Wilhelm Schrader zu heiraten.«

»Du Neandertaler!« Erbost trat sie einen Schritt zurück. »Ich will Pharmazie studieren! Warum glauben alle Männer, Frauen taugen nur zur Kindergärtnerin oder Lehrerin?«

»Luisa, ich wollte dich keinesfalls beleidigen.« Hinrich sah sie belustigt an. »Es ist nur sehr unweiblich. Willst du unverheiratet bleiben?«

»Wenn das der Preis ist, ja!« Hinrich Kölln machte sich über sie lustig. Diesem rückständigen Kerl würde sie es zeigen. Unweiblich? Zum Schützenfest würde sie sich herausputzen. Nein, morgen schon, zur Messe. Dem würde sie beweisen, wie weiblich sie war. »Schönen Tag noch!«

Sie spürte seine Blicke in ihrem Rücken, unterdrückte den Impuls sich umzudrehen und stolzierte aus dem Postamt. Dieser bornierte Hornochse!

Den restlichen Tag half sie ihrem Vater in der Apotheke. Halb Elmshorn schien trotz des sonnigen Sommerwetters krank zu sein, so etwas hatte Luisa bisher nicht erlebt. Im Herbst oder im Winter, das ja, jedoch für die Sommermonate war eine solche Welle außergewöhnlich. Trotzdem reifte ein Plan in ihr heran.

Luisa ging zur Schlachterei Schmidt, die traditionell samstags schlachtete. Der metallische Blutgeruch wehte ihr vor dem Ladeneingang entgegen.

Herr Schmidt packte ihr Schweinepfoten und Schwänze ein, das Schweineblut füllte er in ihre Blechkanne. »Schwarzsauer, da wird sich dein Vater freuen.«

Davon war sie überzeugt. In der Wohnung, die im ersten Stock über der Apotheke lag, verkochte sie alles mit Essig, Lorbeer, Pfefferkörnern, Zwiebeln und Nelken. Einen Rest Wurzelgemüse gab sie ebenfalls hinzu.

Bald zog der verlockende Duft nach Schwarzsauer durch die Stube. Luisa deckte den Tisch und wartete auf ihren Vater.

Die Tür fiel ins Schloss. Ihr Vater betrat die Küche. Den weißen Kittel zog er aus und warf ihn zur Wäsche in den Korb neben dem Vorratsschrank. »Worum willst du mich bitten?«

»Wie kommst du darauf?« Verwundert sah sie ihn an und versuchte sich an einer unschuldigen Miene. Er hatte sie durchschaut.

»Du magst das Gericht nicht sonderlich.« Er zeigte auf den Brotkorb. »Man sieht es am vielen Brot, das du nur eintauchst.«

»Erwischt.« Sie stellte den Topf auf das Holzbrett auf dem Tisch und schöpfte ihm den Teller voll. »Ich möchte etwas vorbringen.«

Er setzte sich. »Nach dem Essen, einverstanden?«

Luisa nickte, obwohl es ihr auf der Zunge brannte, ihm ihren Vorschlag zu unterbreiten.