Das Haus Kölln. Große Hoffnung - Elke Becker - E-Book

Das Haus Kölln. Große Hoffnung E-Book

Elke Becker

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Beschreibung

Die Haferflocke erobert die deutschen Frühstückstische

Elmshorn 1912: Mit der Erfindung der Haferflocke hat Bertha Kölln Großes vollbracht. Unermüdlich hat ihre Familie daran gearbeitet, die neue Zutat massentauglich herzustellen. Da greift schließlich der Erste Weltkrieg nach dem verschlafenen kleinen Ort bei Hamburg und damit auch nach den Köllns. Doch die lassen sich weder von dieser Bedrohung noch von zahlreichen Unglücken in der Hafermühle unterkriegen. Als mit Else Voormann eine junge Frau aus Künstlerkreisen in die Unternehmerfamilie einheiratet, haben es beide Seiten nicht leicht: Ihr Mann Peter Claus Diedrich versteht die selbstbewusste, entschiedene Else nicht – Else wiederum traut ihrem Mann nicht über den Weg, verbringt er doch arg viel Zeit mit einer hübschen Schneiderin. Wieder heißt es für zwei sehr unterschiedliche Frauen: gegen- oder miteinander?

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DASBUCH

Elmshorn 1912: Mit der Erfindung der Haferflocke hat Bertha Kölln Großes vollbracht. Unermüdlich hat ihre Familie daran gearbeitet, die neue Zutat massentauglich herzustellen. Da greift schließlich der Erste Weltkrieg nach dem verschlafenen kleinen Ort bei Hamburg und damit auch nach den Köllns. Doch die lassen sich weder von dieser Bedrohung noch von zahlreichen Unglücken in der Hafermühle unterkriegen. Als mit Else Voormann eine junge Frau aus Künstlerkreisen in die Unternehmerfamilie einheiratet, haben es beide Seiten nicht leicht: Ihr Mann, Peter Claus Dietrich, versteht die selbstbewusste, entschiedene Else nicht – Else wiederum traut ihrem Mann nicht über den Weg, verbringt er doch arg viel Zeit mit einer hübschen Schneiderin. Wieder heißt es für zwei sehr unterschiedliche Frauen: gegen- oder miteinander?

DIEAUTORIN

Elke Becker wurde in Ulm geboren. Schon früh zog es sie in die Welt hinaus: Ihr Fernweh nach Meer und Abenteuer führte sie in zahlreiche Länder, bis sie 2005 auf Mallorca sesshaft wurde. Nie aus dem Sinn geht ihr der Hafen von Hamburg, der als eines der schönsten Tore zur Welt von unendlichen Möglichkeiten zeugt. Er fasziniert Elke Becker stets aufs Neue und lässt sie immer wieder neue Geschichten erträumen, die in dieser spannenden Region spielen. So unternimmt sie regelmäßig ausgiebige Recherchereisen in den wilden Norden, der einen besonderen Platz in ihrem Herzen hat.

ELKE BECKER

Das Haus Kölln

Große Hoffnung

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dies ist ein historischer Roman. Er basiert auf der Unternehmensgeschichte des Hauses Kölln. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden. Eine Zusammenarbeit mit dem Haus Kölln gab es nicht, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung. Die Verwendung des Firmennamens erfolgt also ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig-kennzeichnenden Gründen.

Originalausgabe 04/2024

Copyright © by Elke Becker

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: © t.mutzenbach design unter Verwendung von Motiven von Trevillion Images (Alexey Kazantsev, Ildiko Neer), Imago Images (Arkivi), Shutterstock.com (Kuzmina Aleksandra, suns07butterfly)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29632-2V001

www.heyne.de

1912

1

Die milde Septembersonne vertrieb die dunklen Schatten der Nacht in der Marsch und ließ die reifen Getreidefelder golden leuchten, die Erntehelfer schnitten mit den Sensen den Hafer und banden ihn in Garben. Bertha betrachtete zufrieden den Fortschritt, zusammen mit ihrem Mann Peter besuchte sie regelmäßig die Felder, es war zu einer lieben Gewohnheit geworden, die sie in den vergangenen vierzehn Jahren gepflegt hatten. Mit dem Erfolg der Haferflocken veränderte sich alles; selbst die negative Einstellung ihrer Schwiegermutter ihr gegenüber als Peters Ehefrau, was einem Wunder glich und zu einem harmonischen Miteinander führte. Einzig Peters angeschlagener Gesundheitszustand weckte Berthas Sorge. Aus diesem Grund reisten sie mit der Kutsche häufig in die Marsch. Seinen Lungen tat die frische Luft gut. Zu Beginn ihrer Ehe waren die Überlandfahrten eine Flucht vor Charlotte, nun kam es Bertha vor, als versuche sie, der voranschreitenden Lungenkrankheit ihres Mannes davonzufahren.

An Tagen wie diesen wirkte er kraftvoll wie in jungen Jahren, glücklich sah sie Peter an. »Es wird eine reiche Ernte.«

»Ja, wir können zufrieden sein.« Er legte seinen Arm um sie, reglos genossen sie die Nähe des anderen. »Claus macht sich blendend im Werk.«

»Lass uns dennoch zurückfahren, Marie hat für heute die Lieferung der Walzen zugesichert.« Noch immer stellte sich bei Bertha ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit ein, sobald sie der Haferflockenherstellung zusah, mit den neuen und handgefertigten Walzen würden sie noch feiner werden. »Außerdem möchte ich nachher einen Kuchen backen.«

Peter gab ihrem Vorarbeiter Herrmann die Anweisung, ihm nach seiner Rückkehr vom Feld Rapport zu erstatten, und mit einem Tippen an seinen Hut verabschiedete er sich von ihm.

Bertha saß neben Peter auf dem Kutschbock und blinzelte in die Sonne, die beiden Rappen zogen die Kutsche in gemächlichem Trab den Feldweg entlang in Richtung Elmshorn.

Schon von Weitem sah sie den hoch aufragenden Schornstein des Werks, der einzigartige Geruch nach gepresstem Getreide in der Luft intensivierte sich mit jedem Meter, den sie sich dem roten Backsteingebäude näherten, bis in weißen Lettern PETERKÖLLN ins Auge stach. Der Aufbau nach dem großen Brand stellte wie die Herstellung der Haferflocken einen Neuanfang dar, wie ihn sich Bertha in ihren kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Der Kauf der Wiesen an der Krückau erwies sich als Segen, obwohl der verschlammte Fluss bei Niedrigwasser an manchen Tagen unbefahrbar war.

Bei den Anlegestellen von einem Hafen zu sprechen, wäre übertrieben, dennoch erleichterte es den Transport der Lieferungen, zusätzlich hatte die große Brandkatastrophe sie als Eheleute fester zusammengeschweißt.

Die aufragenden Masten der Ewer und Schuten zeigten die angekommenen Getreidelieferungen aus Skandinavien und kündigten die Verladung der daraus entstehenden Grütze- und Haferflockenbestellungen an. Die Geschäfte liefen ausgezeichnet.

Vor dem neu gebauten Wohnhaus hielt Peter, half Bertha beim Absteigen und tippte sich gewohnheitsmäßig an den Hut. »Ich spanne ab.«

»Ich bereite in der Küche etwas vor, dann lass uns zusammen ins Werk gehen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und betrat ihr weitläufiges Heim. Der Hauptbereich ragte zwei Stockwerke in die Höhe, die Dachgauben verliehen dem mächtigen Klinkerbau etwas Leichtigkeit, und der angeschlossene Bürobereich verband das Wohnhaus mit dem Werk, somit konnten sie bei Regen trockenen Fußes ins Mühlenwerk hinüber. Alle Gebäude waren miteinander verbunden, und mit Recht handelte es sich bei dem Neuaufbau um Peters ganzen Stolz. Was er und seine Arbeiter in wenigen Monaten erbaut hatten, blieb Bertha auf ewig dankbar im Gedächtnis, seither zahlten sie mehr Stundenlohn an ihre Mitarbeiter, was zu großer Zufriedenheit führte und zusätzlich unnötige Streiks verhinderte.

Bertha ging in die Wohnküche, um die Zutaten für ihre Friesentorte herauszulegen, ihre Haushälterin rieb sich den unteren Rücken. »Moin, Irmgard, du sollst doch langsamer machen. Wo ist deine Hilfe?« Irmgard arbeitete mit weit über sechzig immer noch gerne Vollzeit, aber manche Arbeiten sollten Jüngere verrichten, wie das schwere Feuerholz in den Ofen zu schieben oder die vollen Säcke in den Vorratsschrank zu räumen.

»Ich habe sie entlassen.« Irmgard sah sie bedauernd an. »Sie war faul, dazu ungeschickt.« Sie wies auf eine zerbrochene Teekanne. »Die habe ich vierzehn Jahre ohne eine winzige Bruchstelle benutzt, und das Mädchen zerbricht sie am ersten Tag. Es tut mir leid, Bertha.«

Das Geschirr stammte zum Großteil aus Berthas Aussteuer und dem einzigen Besitztum, das sie den gierigen Flammen hatten entreißen können. Vielleicht war der passende Zeitpunkt gekommen, neues Tafelgeschirr zu kaufen, Charlotte hatte sich mit ihrem gutbürgerlichen Geschirr schwergetan, sich letztlich aber an das günstige Porzellan gewöhnt, natürlich war es kein feinstes Meißner, für den Anfang war es dennoch gut genug gewesen. »Über vergossene Milch zu lamentieren, bringt nichts. Ich werde mit Charlotte nach Hamburg reisen, dort kaufen wir das mit roten Rosen verzierte Teegeschirr von Meißner, sie musste lange darauf verzichten.«

»Da wird sie sich freuen.« Irmgard hob die Augenbrauen. »Aber worin serviere ich heute Abend den Tee?«

»Dir wird schon etwas einfallen.« Bertha holte Mehl, Eier, Salz, Zucker und Zimt und gab alle Zutaten auf den Tisch, bevor sie die Butter aus der Kühlung nahm, damit sie weich wurde. Die Sahne ließ sie bis zur Verarbeitung im Eisschrank, den sie seit vier Jahren besaßen. Der pure Luxus, denn Bertha musste nicht mehr in den unterirdischen Kühlkeller kriechen, sondern konnte bequem aus dem Eiskasten die gekühlten Speisen entnehmen. Der Eismann brachte jeden zweiten Tag Stangeneis und einen Eisblock, der über dem Speisefach angeordnet und mit einem Ablauf versehen war, der das Tauwasser aufnahm. »Lass uns nachher darüber sprechen, wen du dir als Hilfe vorstellst. Es sollte doch möglich sein, jemanden zu finden, mit dem du zufrieden bist. Das Armenhaus in der Friedensallee ist voll mit Mädchen, die Arbeit suchen.«

Irmgards Brummen verhieß eine gegenteilige Meinung.

»Ich sehe nach Peter, er wird die Pferde inzwischen abgeschirrt haben. Bis gleich.« Bertha verließ die Küche und trat vor die Haustür.

Ihre Schwägerin Marie kam mit flatternden Hosenbeinen auf ihrem Fahrrad angebraust. Bertha erinnerte sich gerne an Maries erste Fahrt durch die Königstraße vor dreizehn Jahren, sie hatte die Bilder lebhaft in Erinnerung. Einige feine Damen wedelten entrüstet mit ihren Taschentüchern vor ihren Gesichtern, um eine drohende Ohnmacht zu verhindern, eine warf sogar ein rohes Ei nach Marie, verfehlte sie jedoch. Wie schnell sich die Zeiten änderten. Inzwischen fuhren viele Frauen Fahrrad, auch Bertha, es war praktisch, obwohl Charlotte immer noch die Nase darüber rümpfte. »Moin, Marie, ich dachte, du bist schon drüben im Werk.«

»Die Walzen lagerten am Bahnhof, ich musste einen Fuhrmann finden, der sie anliefert.« Marie strich sich über die vom Wind zerzausten Haare. »Die sind fast doppelt so schwer wie die alten Marmorwalzen.«

Damit würde der Flockierstuhl ein noch feineres Ergebnis liefern. »Ich hole ein paar Männer aus der Produktion.«

»Gut, dann warte ich hier auf das Fuhrwerk.« Marie lehnte ihr Fahrrad an die Wand neben der Haustür und setzte sich auf die Treppenstufe.

Marie würde sich nicht mehr ändern, ihre Schwägerin verhielt sich immer noch wie mit zwanzig, dabei war sie inzwischen doppelt so alt und unverheiratet. Sie einzufangen stellte für jeden Mann ein erfolgloses Unterfangen dar, Marie trotzte der Ehe wie einem stürmischen Wind. John bemühte sich um sie seit ihrem Kennenlernen und hatte ihr inzwischen vier Anträge unterbreitet, doch Marie wollte ihre Freiheit behalten, sie für einen Mann aufzugeben, stand außer Frage. Seither entwickelte sie hochtechnische Apparate, reiste zum Missfallen von Charlotte nach London, mal in Johns Begleitung, mal allein. Vielleicht war Bertha aus diesem Grund aus der Schusslinie ihrer Schwiegermutter verschwunden. Bis auf Marie hatte Charlotte all ihre Kinder erfolgreich verheiratet, an ihrer Jüngsten biss sie sich die Zähne aus.

Im Lager angekommen, klatschte Bertha in die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich brauche zehn Mann. Wer hilft?«

Die Arbeiter stellten Getreidesäcke ab, wischten sich die Hände ab und kamen zu ihr. »Was steht an, Frau Kölln?«

»Die neuen Walzen müssen in die Fertigungsstraße gebracht und eingebaut werden.« Sie wies nach draußen. »Marie wird euch anleiten.«

Auf dem Hof begutachteten Peter und Marie die beiden Walzen. »Ausgezeichnete Qualität«, urteilte Peter und nickte seiner Schwester anerkennend zu.

»Das will ich meinen, obwohl du wie immer wegen des Preises meckerst, aber das ignoriere ich, ebenfalls wie immer.« Sie lachte und boxte Peter auf die Schulter. »Machen wir uns an die Arbeit«, wies sie die Männer an.

Die verrichteten das Abladen unter lautem Schnauben, ihre Gesichter röteten sich mit jedem Schritt, mit dem sie sich der Produktionsstraße näherten. Der Flockierstuhl sowie die ganze Straße der Haferflockenherstellung ruhten, die alten Walzen waren morgens ausgebaut und in ein Lager verbracht worden.

Marie gab klare Anweisungen, in welchem Winkel die Marmorwalze eingesetzt werden musste, die Enge der Maschine erschwerte das Einsetzen, dennoch gelang es bei der ersten Walze reibungslos, ebenso bei der zweiten Rolle.

Peter bedankte sich bei seinen Lohnarbeitern, während Marie die Schrauben festzog und alles auf Richtigkeit kontrollierte.

»Bereit?« Marie sah sie erwartungsvoll an, den Finger hatte sie auf den Startknopf der Produktionsstraße gelegt.

Berthas Magen verkrampfte sich vor Spannung, sie schluckte hart. »Ja.«

Peter nickte.

Marie drückte den roten Knopf, und die Dampfmaschine setzte sich schnaufend in Gang. Alle starrten auf die Zuführung der befeuchteten Haferkörner, bis diese nach endlosen Minuten in den Flockierstuhl fielen, um dort flach gedrückt zu werden. Den Rest erledigte der Trommelgrützeschneider. Schweigend verfolgten sie jeden Produktionsschritt der Straße, bis das Trockenband das Endergebnis der Sackabfüllung zuführte.

Bertha hielt die Hand über die Sacköffnung und ließ die Flocken hineinfallen. Der unverwechselbare Duft hüllte sie ein. Ohne zu kosten, wusste sie um die nochmals verfeinerte Qualität. »Das Ergebnis ist noch besser als erwartet.« Sie zeigte die Haferflocken Marie und Peter, beide nahmen sich einige Flocken und legten sie sich auf die Zunge. Bertha schüttete sich den Rest in den Mund, das feine, fast schon nussig anmutende Aroma breitete sich aus, genussvoll schloss sie die Augen. »Unglaublich, damit erobern wir die Welt!«

Peter zog sie in seine Arme. »Das haben wir dir zu verdanken.«

»Hey, ihr vergesst mich bei der ganzen Sache!« Das Lachen auf Maries Gesicht zeigte, wie sehr sie sich mit ihnen freute.

»Da hat dein Maschinenbaustudium ja doch einen Nutzen«, zog Peter sie auf. Marie arbeitete für verschiedene Firmen als technische Beraterin, dazu kam ihre Entwicklertätigkeit in der Rüstungsindustrie neuer Marineflotten.

»Mit mir werden sie das Flottenwettrüsten gegen England gewinnen.« Marie reckte das Kinn, bevor sie die Augen verdrehte. »Obwohl ich davon nichts halte.«

»Wenn du dein Wissen aus London hier anwendest und weiterentwickelst, endest du noch als Spionin«, scherzte Bertha.

Marie schob ihre Hände in die Hosentaschen. »Die Engländer sind unsere Freunde, schon vergessen?«

»Seit es auf dem Balkan brodelt, höre ich anderes von John.« Peter kontrollierte die Anlage erneut.

»Du triffst dich mit John?« Marie beobachtete ihren Bruder. »Schmiedet ihr gemeinsame Pläne für eine Hochzeit? Das könnt ihr getrost sein lassen.«

»Wir treffen uns manchmal in Hamburg, wenn ich dort zu tun habe.« Peter ließ sie kurz allein zurück, um einen der Vorarbeiter zu instruieren. »Das hier muss überwacht werden, zumindest die ersten Tage.«

Bertha wandte sich an Marie. »Du liebst ihn doch.«

»Ist das ein Grund zu heiraten und all meine Rechte aufzugeben?« Marie schüttelte den Kopf, was ihre ondulierten Locken hüpfen ließ. »Daran ändert auch dieses Gerede von einem drohenden Krieg nichts, seit Jahren bekämpfen sie sich auf dem Balkan. Was hat das Deutsche Reich damit zu tun?«

Bertha seufzte. Peter sprach selten davon, dennoch spürte sie seine Befürchtungen, wenn das Thema auf die Verbrüderung Russlands mit den Balkanstaaten kam, wenngleich ihre Geschäftspartner überzeugt waren, dass Russland das Osmanische Reich zum Ziel auserkoren hatte. »Du bist dir sehr sicher?«

Marie sah Peter kommen. »Sicher ist höchstens ein leckeres Abendessen, da Irmgard kocht.«

Bertha ärgerte sich nie über die Neckereien zu ihren Kochkünsten, an die Peter vermutlich selbst als Mann heranreichen würde. »Wenn du Nachtisch haben möchtest, hüte besser deine Zunge.«

»Wunderbar!« Marie klatschte begeistert in die Hände. »Ich fürchtete schon, den müsste ich mir im Café Schrader abholen.«

Das Backen für ihre Schwägerin hatte Bertha vor einigen Jahren aufgegeben. Wilhelm hatte die Backstube erweitert und einen zusätzlichen Konditor eingestellt, der ebenfalls sein Handwerk verstand, was Bertha entlastete.

»Ich gehe ins Büro«, verabschiedete sich Peter.

Marie hob zum Abschied die Hand. »Und ich besuche Margarete, der letzte Artikel aus ihrer Feder ist überaus provokant geraten; vielleicht schaue ich noch bei Luisa vorbei, wir haben uns lange nicht gesehen.«

Merte Groth hatte die Druckerei längst ihrer Tochter Margarete übergeben, die seit Jahren das Elmshorner Tageblatt herausbrachte und in manchen Ausgaben selbst einen Beitrag verfasste. Den Großteil übernahm jedoch ihr Mann Theodor Schmutzler, der nach seinem Journalistikstudium Margarete geheiratet und die Geschäfte übernommen hatte. Peters Bruder Ernst hatte aus Enttäuschung eine Fabrikantentochter aus Hamburg geehelicht und schien inzwischen glücklich mit seiner Wahl zu sein, nachdem Margarete ihn abgewiesen hatte.

Bertha ging in die Küche und hing in ihren Gedanken fest, während sie den Kuchen buk. In einer Woche würden sie die Hochzeit ihrer Tochter Emma mit Hans Knecht im großen Saal der Brauerei Möhring feiern. Um die Zukunft ihrer Ältesten brauchte sich Bertha nicht zu sorgen, die Eheschließung mit dem Lederfabrikanten würde ihr und ihrer Familie ein sorgenfreies Auskommen bescheren.

Vielmehr sorgte sie sich um Helene, ihre Jüngste. Seit sie vergangenes Jahr nach einem Praktikum in Betriebswirtschaft aus Hamburg zurückgekehrt war, schien sie völlig verändert, ihr Interesse am Kaufmannssohn Jülich erkaltete zusehends, so sehr sich der Mann um sie bemühte. Mit ihm hätte auch Helene einen solventen Ehemann an ihrer Seite. Bertha seufzte. »Besser, ich rede noch mal mit ihr.«

»Wie bitte?«, hakte Irmgard nach.

»Oh, ich werde wohl schrullig.« Bertha lachte über sich selbst. »Ich überlege, mit Helene ein ernstes Wort zu sprechen, jahrelang war sie verliebt in Hannes Jülich, und seit ihrer Rückkehr schenkt sie ihm kein Gehör mehr.«

»Vielleicht hat sie in Hamburg einen anderen Herrn kennengelernt und favorisiert ihn?« Irmgard schälte die Kartoffeln weiter. »So etwas kommt vor.«

»Nach all den Jahren? Schon als junges Mädchen hat sie für ihn geschwärmt, bis er sie letztes Jahr als Frau wahrgenommen hat.« Bertha schüttelte den Kopf, überlegte aber dennoch, was es mit der Veränderung von Helene auf sich haben könnte. Ihre Tochter blickte verträumt aus dem Fenster oder saß im Kaminsessel und sah in ein Buch, ohne die Seiten umzublättern. Bertha schrieb dieses Verhalten irrtümlich ihrer Jugendliebe Hannes zu, doch was, wenn es anders wäre? Fast schon wütend schlug sie die Sahne steif.

»Manche Dinge ändern sich.« Irmgard wies auf den Ofen. »Wann kann ich ihn benutzen?«

Bertha sah nach dem Teig. »Er ist fertig.« Sie zog die Springform aus dem Rohr, in das Irmgard umgehend den Braten schob.

Irmgards Worte spukten Bertha durch den Kopf wie ein Nebelgespenst durch die Marsch. Hatte ihre Tochter Geheimnisse vor ihr? Würde Helene mit ihr sprechen, ihr von dem Mann erzählen? Davon war sie bisher überzeugt gewesen, aber nun? Niemals drängte sie ihre Töchter zu irgendeiner Verbindung, noch vor dem Abendessen wollte sie mit ihr reden, zudem trieb sie die Neugierde auf Else Voormann um, Claus’ zukünftige Frau. Als Ausrede für das Hinauszögern einer offiziellen Vorstellung schob er immer die lange Fahrt aus Hamburg vor, so langsam verstand sie die Sorge, die Charlotte früher wegen Bertha umgetrieben hatte. Der neue Mühleninhaber benötigte eine Ehefrau von Format an seiner Seite, die ihm den Rücken freihielt und auf die er sich verlassen konnte. War Else Voormann diese Frau?

Bertha trat einen Schritt von der fertigen Friesentorte zurück, selbst in Gedanken versunken, gelang ihr dieses Meisterwerk. Warum nur konnte sie diese Leichtigkeit im Kochen nicht finden?

Der Blick auf die Uhr kündigte das anstehende Abendessen an. Wie jeden Abend zog sie sich dafür um, auch das gehörte inzwischen zu ihrer Routine.

Den Tisch hatte Irmgard gedeckt, glücklicherweise zog sie ein Mädchen aus der Nachbarschaft als neue Hilfe in Betracht. Irmgard musste langsamer treten, es sollte ihr nicht so ergehen wie Anselm, ihrem langjährigen Vorarbeiter, der sich den Rücken krumm arbeitete, ohne zu murren, bis Peter nichts weiter blieb, als ihn in die Rente zu zwingen, die er nur noch wenige Monate genießen konnte. Denselben Fehler bei Irmgard zu wiederholen, wollte sie tunlichst vermeiden.

»Wo ist Helene?«, fragte sie Emma und küsste ihre ältere Tochter auf den Haaransatz.

»Sie wird schon kommen, aus Hamburg zurück ist sie jedenfalls.« Emma trug das Haar in der neuesten Mode, einen Seitenscheitel und ondulierte Locken, ganz nach ihrem großen Vorbild, ihrer Tante Marie. Berthas Töchter bewunderten ihre unabhängige Tante, die die Konventionen brach und ihr Leben nach ihrer Fasson gestaltete. Als Mädchen hatten sie Maries Geschichten gebannt gelauscht, während Charlotte die Erlebnisse ihrer Tochter mit strenger Miene kommentierte. Irgendwie haderte Charlotte immer noch schwer mit den unkonventionellen Entscheidungen ihrer Jüngsten.

»Prima, ich bin noch pünktlich.« Marie betrat in einem zitronengelben Kleid das Esszimmer. »Ich soll euch von Margarete und Theo grüßen.«

»Hast du Merte auch gesehen?« Charlotte betrachtete zufrieden Maries damenhafte Aufmachung.

Bertha amüsierte diese Miene, offenbar hatte ihre Schwiegermutter damit gerechnet, Marie selbst zum Nachtmahl nach dem ereignisreichen Tag in ihren Fahrrad-Pumphosen sehen zu müssen.

»Nein, tut mir leid.« Marie begrüßte ihre Mutter und ihre Nichte Emma.

Peter kam in Begleitung von Helene. »Moin, wie schön, alle mal wieder an einem Tisch zu haben.« Er wandte sich an Helene. »Sag Irmgard Bescheid, und hilf ihr beim Auftragen.«

»Ist gut, übrigens brauchen wir ein weiteres Gedeck.«

Bertha zog die Augenbrauen hoch. »Du hast einen Gast?« Hoffnungsvoll dachte sie an Hannes.

»Nein, Clausi bringt Else Voormann mit, sie werden jeden Moment eintreffen, Peter zeigt ihr das Werk.«

Summend verließ Helene den Raum, was Berthas Misstrauen noch steigerte, die Veränderung bei ihrer Tochter wirkte zu gravierend, um nur eine Laune zu sein. Bis vor ein paar Wochen wäre sie zähneknirschend der Aufforderung ihres Vaters nachgekommen, darum würde sie sich später kümmern. Rasch holte sie ein Gedeck aus der Esszimmer-Vitrine. »Ausgerechnet, wenn wir unvorbereitet sind.«

Peter lächelte schief. »Immerhin bringt er Fräulein Voormann mit, das wünschst du dir schon lange.«

Charlotte unterdrückte ein Husten. »Damit sind wir zu zweit.« Ihre Schwiegermutter veränderte sich nur unmerklich, noch immer besaß sie straffe Gesichtszüge und eine schlanke Figur, nur das ergraute Haar und tiefe Falten verrieten Charlottes Alter, altersmilde wurde sie dennoch nicht. »Eine Künstlerin.«

Es handelte sich nur um zwei Worte, sie hätten bewundernd klingen können, Bertha erkannte jedoch den abfälligen Ton in ihrer Stimme. »Sie entwirft Kleidung und ist Malerin. Was ist verkehrt daran?« Bertha musste das entkräften, obwohl Charlotte nur die gleichen Befürchtungen hegte wie sie selbst, dennoch hasste sie diesen Standesdünkel.

Marie lachte. »Mutter war mit dir unzufrieden, sie wird es auch mit Else sein, dabei seid ihr beide patente Frauen.«

»Du hast sie getroffen?« Bertha fühlte sich gekränkt.

»Nur kurz, in Hamburg, wir sind uns in einer Ausstellung begegnet.« Marie nahm die Serviette auf und legte sie auf den Schoß. »Wenn Clausi unpünktlich kommt, hat er das Nachsehen. Ich bin hungrig und werde nicht warten.«

»Nenn ihn bitte Claus«, bat Peter, obwohl Bertha ihren Sohn an manchen Tagen selbst bei seinem Kosenamen rief. »Er ist dreiundzwanzig und soll im Werk sein Ansehen ausbauen.«

»Nun gut, dann eben mein erwachsener Neffe Claus«, lenkte Marie mit einem Augenzwinkern ein.

Die Tür schwang auf und Claus trat ein, an seiner Seite eine hochgewachsene Dame in eleganter Kleidung und mit feinen Gesichtszügen. Ihre Frisur trug sie so modisch wie Marie, der Blondton leuchtete im Licht fast golden, ihre dunkelblauen Augen sahen unsicher von einem zum anderen. »Mutter, Vater, ich habe Else zum Abendessen gebeten, entschuldigt die Überraschung. Ihr Bruder hat in Elmshorn zu tun, so kann er sie morgen nach der Übernachtung im Gasthof zurück nach Hamburg begleiten. Es schien mir eine günstige Gelegenheit.«

»Das ist es«, ergriff Peter das Wort, er reichte Else Voormann die Hand. »Willkommen in unserem Heim.«

»Ich danke Ihnen für die freundliche Begrüßung.«

Peter führte sie durch den Raum. »Meine Frau Bertha, meine Mutter Charlotte sowie Emma, Claus’ Schwester.« Er wies auf Marie. »Marie kennen Sie bereits, wie ich eben gehört habe.«

Else begrüßte jeden mit einem festen Händedruck. »Wenn ich ungelegen komme, begleite ich meinen Bruder im Gasthof zum Abendessen, ich möchte keine Umstände bereiten.«

Claus zeigte auf das Gedeck neben seinem Platz. »Das tust du nicht, nimm bitte Platz.«

Irmgard betrat das Esszimmer, in beiden Händen trug sie Schüsseln mit Gemüse und Kartoffeln, Helene brachte den aufgeschnittenen Braten und die Soße. »Wie schön, ihr seid schon hier.«

Helene stellte die Platte ab und platzierte die Sauciere vor Berthas Teller, an ihrer rechten Hand funkelte ein Ring. »Was ist das?«

»Ein Ring.« Helene klang leichthin. »Genauer gesagt, mein Ehering.«

»Dein Ehering?« Charlottes Stimme überschlug sich. »Wie kommt der an deinen Finger?«

»Das wüsste ich auch gerne.« Berthas Körper glühte wie bei hohem Fieber.

Selbst Marie verstummte.

»Du hast Ferdi geheiratet?«, rief ihre Schwester Emma überrascht. »Ohne mir Bescheid zu sagen?«

Claus sah Else Voormann entschuldigend an.

»Ohne dir etwas zu sagen?« Bertha fixierte ihre älteste Tochter. »Du wusstest von ihren Plänen?« Ihr Blick wanderte zu Helene. »Ich frage dich ein letztes Mal, was macht dieser Ring an deiner Hand?« Bertha kannte die Wahrheit, hoffte dennoch auf einen Irrtum.

»Ich habe heute Vormittag Ferdinand Göttsch geheiratet.« Helene funkelte sie angriffslustig an. »Und wisst ihr, warum ich niemandem etwas gesagt habe? Ihr hättet Ferdi nie akzeptiert und mir alles kaputt gemacht.«

Bertha glaubte sich verhört zu haben. »Du hast es nicht mal versucht! Wie kannst du uns das antun?«

Charlotte lachte spöttisch. »Ganz die Tochter der Mutter.«

»Noch ein Wort, Mutter, und ich vergesse mich«, drohte Peter und sprang Bertha zur Seite. »Setzt euch jetzt alle, und du, Helene, erklärst, was das soll. Man kann so eine Ehe auch annullieren lassen.«

»Das stimmt, ausgezeichnete Idee.« Selbst Charlotte schien sich zu beruhigen. »Wir machen das Ganze rückgängig.«

Helene saß steif auf ihrem Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust. »Versucht es erst gar nicht, ich werde niemals einer Annullierung zustimmen.«

»Du wirst tun, was wir dir sagen, Fräulein.« Peter starrte seine Tochter an. »Zuerst erzählst du, wie es dazu gekommen ist. Hat er dich in Schwierigkeiten gebracht?«

»Er ist ein Ehrenmann.« Helene warf ihm einen wütenden Blick zu.

Erleichtert sah er zu Bertha. »Weshalb dann die Eile?«

»Ferdi ist in der Marine und wird ab morgen für mehrere Monate fort sein, er hatte Angst, mich an einen anderen zu verlieren. Ist das nicht romantisch?«

Irmgard zog sich schrittweise zurück, verließ leise den Raum und schloss die Tür hinter sich.

»Romantisch?« Charlotte schüttelte den Kopf. »Irrsinnig ist es! Du zerstörst den Ruf der Familie!«

»Nun lasst sie ausreden«, bat Marie, die Helene zu Hilfe kam. »Ihr könnt sie ja immer noch enterben und ihr die Mitgift streichen.«

Keiner lachte über Maries Scherz, die Situation war zu ernst, Bertha atmete tief durch. »Fräulein Voormann, es tut mir leid, mir fehlen die Worte.«

Elses Gesicht wirkte wie eine steinerne Maske, Claus legte seine Hand auf die ihre. »Normalerweise ist es hier sehr harmonisch.«

»Ich liebe ihn.« Helene sah Bertha flehend an. »Ihr habt immer nur von Hannes gesprochen, mich zu ihm gedrängt, ich wusste keinen Ausweg.«

»Du hättest mit mir reden können.« Die Kränkung nagte an ihrem Herzen. »War ich jemals hart zu dir?«

Helene verneinte. »Du nicht, aber Großmutter, sie hätte es niemals zugelassen.«

Charlotte zuckte kurz zusammen, bis sie ihre Fassung zurückerlangte. »Was habe ich damit zu tun?«

»Dein ewiges Gerede, wer eine gute Partie ist und wer ein Taugenichts, als ob es nichts dazwischen gäbe.« Helenes Stimme zitterte. »Du hättest es verboten.«

»Zweifelsohne.« Charlotte wandte sich an Bertha. »Da siehst du, wohin deine verweichlichte Erziehung führt, deine Kinder machen, was sie wollen. Der Mühlenerbe schleppt eine brotlose Künstlerin ins Haus, und deine Tochter heiratet heimlich einen armen Schlucker.«

»Entschuldige dich auf der Stelle, Großmutter.« Claus sprang auf. »Ich verbiete dir, so über Else zu sprechen.«

Selbst Peter sah seine Mutter warnend an, was Bertha ihm hoch anrechnete, an diesem Tisch wiederholte sich die Szenerie ihrer eigenen Vorstellung bei der Kölln-Familie vor vielen Jahren. Niemals hätte Bertha das für möglich gehalten. »Else, entschuldige, du bist hier herzlich willkommen, meine Schwiegermutter hat sehr antiquierte Ansichten.«

Claus warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Da das nun geklärt ist, können wir endlich essen? Irmgards Braten wird kalt, und das wäre eine Schande.«

Ihr Sohn versuchte die Situation vor seinem Gast zu retten, was Bertha verstand und goutierte. Der Anstand gebot, diese Dinge innerhalb der Familie zu besprechen. »Bedient euch«, bat sie und goss sich ein Glas Wein ein, um ihre Nerven zu beruhigen.

Peter legte erst seiner Mutter vor, bevor er Bertha und Else die Bratenscheiben großzügig auf die Teller verteilte, anschließend reichte er Claus das Vorlegebesteck. »Guten Appetit.« Er widmete sich schweigend seiner Mahlzeit.

Marie sprach mit Else über eine Hamburger Ausstellung, Emma mischte sich ebenfalls ins Gespräch, das an Bertha vorbeizog wie eine lärmende Dampflok beim Ausfahren aus dem Elmshorner Bahnhof. Sie wusste kaum, wie sie das Abendessen mit Contenance hinter sich brachte, einzig die missbilligenden Blicke ihrer Schwiegermutter bemerkte sie, als trüge Bertha die Schuld an Helenes Handlungsweise.

Claus verabschiedete sich mit Else unmittelbar nach dem Abendessen, ohne noch wie sonst üblich in die Bibliothek zu wechseln. »Fräulein Voormann«, begann Bertha, »ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen unter glücklicheren Umständen.«

»Danke, gleichfalls.« Else reichte ihr die Hand. »Und nennen Sie mich Else, auf Wiedersehen, Frau Kölln.« Sie schenkte Bertha ein freundliches Lächeln und ging an Claus’ Arm über das Firmengelände zum Hauptausgang.

»Helene! Wir sprechen uns in der Bibliothek!« Diese Aufforderung konnte ihre Tochter unmöglich überhören.

Bertha setzte sich in einen Ohrensessel am Kamin, griff nach der Karaffe, die auf dem Beistelltisch stand, und goss sich einen schottischen Whisky ein.

Helene betrat mit gerecktem Kinn das Zimmer.

»Setz dich.« Bertha nippte an dem goldfarbenen Getränk. »Ich erwarte eine Entschuldigung sowie eine ausführliche Erklärung. Offenbar wusste Emma davon.«

»Es tut mir leid, Mutter, ich wusste keinen anderen Ausweg.« Tränen schimmerten in Helenes Augen, ihre Kampfeshaltung versank mit ihr im Sessel.

»Das macht mich traurig.« Nur wegen ein paar Tränen würde Bertha ihrer Tochter dieses Benehmen nicht verzeihen. »Dein Misstrauen kränkt mich, als ob ich mit deiner Großmutter gesprochen hätte. Mit deinem Vater, das schon, aber er ist ein verständiger Mann. Warum also?«

»Es ging alles so schnell.« Sie schniefte und rieb sich mit dem Handrücken undamenhaft die Nase. »Wir haben uns während meines Praktikums kennengelernt, John hat mich in eine Werft mitgenommen, dort habe ich Ferdi getroffen, schon beim ersten Blick auf ihn war es um mich geschehen.«

»John Taylor?« Was hatte Maries Dauergeliebter mit der Sache zu tun? »Er war in Hamburg?«

»Er hatte einen Termin mit einem der Reeder, und Marie bat ihn, mich zu interessanten Terminen mitzunehmen, sie arbeitet ja oft für die Reedereien.« Helene beruhigte sich und legte die Hände in den Schoß. »Du selbst hast mir das Praktikum in der Speicherstadt nur unter Maries Aufsicht erlaubt.«

»Weil ich annahm, es wäre hilfreich, andere Kontore kennenzulernen, zu sehen, wie die Kaufleute dort arbeiten.« Obwohl keine ihrer Töchter das Mühlenwerk übernehmen würde, legte sie großen Wert auf die Ausbildung ihrer Mädchen. Unter der Obhut von Marie wohnte Helene mit ihr in Hamburg. »Erzähl weiter.«

»Wenn du Ferdinand kennen würdest … er ist so weltmännisch, gewandt und höflich. Die Art, wie er mir den Hof machte, hat mich verzaubert.« Helenes Augen leuchteten glücklich.

»Wenn er so ist, wie du ihn beschreibst, warum hat er versäumt, bei uns um deine Hand anzuhalten, wie es ein Herr tut?«

»Ich habe es ihm verboten.« Sie presste die Lippen aufeinander, bevor sie seufzte. »Ihr hättet abgelehnt, das weiß ich.«

Da lag ihre Tochter vermutlich richtig. »Möglich.«

»Mutter, er besitzt wenig und fährt zur See, um anschließend in einer Werft als Schiffsbauer anzufangen, er ist gut in dem, was er tut, und wir werden unser Auskommen haben. Ich lebe hier, wenn ihr es erlaubt, bis er eine Festanstellung in einer großen Werft hat.« Ihre Begeisterung kannte keine Grenzen. »John und Marie werden ihn empfehlen, er wird Erfolg haben.«

Im Grunde wünschte Bertha ihren Töchtern eine Liebesehe, dieses Glück ließ sich nicht durch einen höheren Stand erkaufen. »Wie habt ihr heiraten können? Du bist zu jung.«

»Ich habe im Rathaus gelogen.«

Bertha sah ihrer Tochter fest in die Augen. »Ihr hättet mit der Hochzeit warten müssen.«

»Ferdi war so verzweifelt, er wusste von Hannes und seinen Avancen, ich wollte ihm mit der Hochzeit meine Liebe beweisen und ihm zeigen, wie wenig mir am Status einer Fabrikantenfrau liegt.« Helene rutschte vom Sessel, kniete vor ihr nieder und ergriff ihre Hände. »Verzeih mir, Mutter, aber was hätte ich tun sollen? Ich liebe ihn!«

Der flehende Blick ihrer Tochter und wie sie vor ihr kniete, um ihren Segen zu erhalten, ließen jeden Groll in Berthas Herzen zusammenschmelzen. »Ich möchte nur dein Glück, und wenn dieser Ferdinand Göttsch dein Glück ist, dann soll es mir recht sein.«

»Danke, Mutter.« Helene warf sich in ihre Arme. »Sprichst du mit Vater und Großmutter?«

»Ich spreche mit Vater und er mit deiner Großmutter.« Peter konnte bei Charlotte mehr ausrichten als Bertha, daran hatte sich nach all den Jahren nichts geändert. Zuerst wollte sie jedoch von Marie mehr über diesen jungen Mann erfahren.

2

Marie öffnete die Haustür und sog kräftig die milde Nachtluft in die Lunge. Auf diesen Abend hätte sie getrost verzichtet, Helenes Offenbarung würde Bertha gegen sie aufbringen, so viel stand fest. Hinter sich hörte sie ein Geräusch, die Tür zur Bibliothek schwang auf, und Helene eilte nach oben ins Obergeschoss.

»Marie, warte bitte.« Bertha wirkte keineswegs böse auf sie. »Ich möchte kurz mit dir sprechen.«

Sie schloss die Tür, betrat die Bibliothek und tat ihrer Schwägerin den Gefallen. »Nur, wenn du mir auch einen Whisky anbietest.«

»Du kannst meinen haben, ich habe nur einmal daran genippt.« Bertha schob ihr das Glas hin.

»Bevor du etwas sagst, diese Heirat war auch für mich eine Überraschung.« Sie trank einen kräftigen Schluck, der Whisky rann warm ihre Kehle hinunter. »Helene hat mir versprochen, mit euch zu reden, das hat sie offensichtlich unterlassen.«

»Charlotte ist hartherzig, das wissen wir beide, sie achtet sehr auf den Stand, obwohl sich die Zeiten ändern, aber mir hätte sich Helene anvertrauen müssen.« Bertha sah sie unglücklich an.

»Oft ist eine Liebe mit Geheimnissen doch viel aufregender, sie wollte das für sich genießen, ohne Widerstände zu bekämpfen, und die hätte es gegeben.« Marie mochte Bertha gerne, aber in manchen Situationen ähnelte sie Charlotte mehr, als ihrer Schwägerin lieb war.

»Du hast vermutlich recht.« Bertha lehnte sich im Sessel zurück. »Erzähl mir von ihm.«

»Ferdinand ist ein patenter Mann, achtundzwanzig, Marine-Offizier und ehrgeizig mit einem großen Technikverständnis.« Marie mochte den jungen Mann, er würde seinen Weg machen. »Er kommt aus dem Gängeviertel, hat sich bis zum Offizier hochgearbeitet, das schaffen nur wenige.«

Bertha nickte zaghaft. »Ihr werdet ihm einen guten Posten bei einer der Werften besorgen? Stimmt das?«

Marie lächelte. »Er wird keine Empfehlung benötigen, aber sie natürlich bekommen. Ferdinand vergöttert Helene, fast zu sehr, wenn du mich fragst, sie wird ihm auf der Nase herumtanzen.«

»Wie du John.« Ein amüsiertes Lächeln umspielte Berthas Mund. »Wann erhörst du ihn endlich? Mir tut er leid.«

»Das ist unnötig, wir leben wie Mann und Frau zusammen, es fehlt nur der Ehering, und den lasse ich mir nicht anstecken.« Sie wollte sich auf keinen Fall, wie ihre Freundinnen, dem Willen eines Mannes unterwerfen. Wenn sie John heiratete und er ihr aus welchen Gründen auch immer verbot zu arbeiten, würde sie, obwohl sie in den Werften hoch angesehen war, niemand mehr beschäftigen. Das Risiko scheute sie. »Zudem streiten wir wie Eheleute. Warum sollte ich etwas ändern?«

»Weil es ihn quält?« Bertha nahm ihr Glas und nippte am Whisky. »Warum sonst würde er dir immer wieder einen Antrag machen?«

Marie überlegte nur kurz. »Weißt du, es ist inzwischen ein Spiel zwischen uns geworden, er fragt, weil er weiß, dass ich ablehne. Es läuft gut zwischen uns, warum sollten wir etwas ändern? Außerdem läge ich auf dem Meeresgrund, wenn ich auf John gehört hätte.«

»Was meinst du?«

»John hat mich auf die Titanic eingeladen, er wollte nach unserer Heirat die Hochzeitsreise nach New York machen und glaubte, die Jungfernfahrt der Titanic wäre gerade gut genug dafür.« Sie dachte mit Grauen daran. »Er sagte, ohne Hochzeit keine Fahrt auf dem schönsten Schiff der Welt.«

»Das hast du mir nie erzählt!« Bertha schlug sich die Hand vor den Mund. »Wie schrecklich!«

»Es ist ja nicht eingetroffen, aber daran sehe ich, wie gut meine eigenen Entscheidungen mir stehen.« Ihr gruselte bei dem Gedanken, wie dieses stolze Schiff im April gesunken war und wie viele Menschenleben es gekostet hatte, weil einige Verantwortliche es zu eilig hatten und zu wenig Rettungsboote zur Verfügung standen. Das änderte sie gerade. Marie arbeitete mit anderen Technikern daran, möglichst viele Boote ohne Komfortverlust auf Kreuzfahrtschiffen anbringen zu können. »Ich hätte es vermutlich überlebt, aber John? Viele Männer aus der ersten Klasse sind dort gestorben.«

»Er verdankt dir sein Leben.«

Marie grinste. »Was er nie zugeben würde.«

Bertha schien zu überlegen. »Was wäre, wenn du schwanger wirst?«

»Nach all den Jahren?« Der Gedanke war unsinnig. »Johns Ziegenpeter blieb unbehandelt, was unfruchtbar machen kann, das hat Luisa mir bestätigt. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit in meinem Alter eher gering.«

»Gut, dann ist das kein Argument.« Bertha legte den Kopf schief. »Solange es euch gut damit geht.«

»Das tut es.« Marie sah auf die Uhr und leerte ihr Glas. »Ich gehe noch eine Runde spazieren, begleitest du mich?«

»Ein anderes Mal gerne, nun werde ich mit Peter sprechen.« Bertha erhob sich und zwinkerte ihr zu. »Mein Mann soll das Gespräch mit eurer Mutter führen.«

»So hat jeder seine Aufgaben.« Marie lachte, stand auf, und gemeinsam verließen sie die Bibliothek. »Das regelt sich schon. Ferdinand ist ein feiner Kerl, ihr werdet ihn mögen.«

Marie trat aus dem Haus, ging über das Gelände der Mühlenwerke und spazierte an der Krückau entlang. Der Vollmond schimmerte silbern auf dem Wasser, und die vertäuten Schiffe wirkten wie gemalt im diffusen Licht. Die Takelagen klirrten leise, und die Seile knarzten – Geräusche, die Marie gerne hörte. Überhaupt könnte ihr Leben kaum schöner sein. Sie hatte einen zuverlässigen Mann an ihrer Seite, der sie liebte und den sie wiederliebte, beruflich schätzte man sie, und die Marine fragte jeden Monat an, ob sie an einer Weiterentwicklung der U-Boot-Flotte interessiert wäre. Noch lehnte sie das Angebot der Werft ab, aber mit jeder Anfrage erhöhte sich das gebotene Einkommen, bald würde sie kaum widerstehen können, obwohl sie eine Gegnerin des aktuellen Wettrüstens gegen England war. Es war irrsinnig und für keine Seite zu gewinnen. England wollte mit seiner Flotte so stark sein wie die Weltseemächte des Deutschen Reichs und Russlands zusammen, wobei der deutsche Tirpitz-Plan vorsah, im Reich anzahlmäßig mindestens siebenundsechzig Prozent der englischen Seeflotte zu haben. Da Tirpitz’ Ziel keine Aufklärungsschiffe, sondern Großkampfschiffe waren, machte dieser Umstand die Engländer nervös, obwohl es keinen Grund für Feindschaften gab.

John erzählte ihr häufiger von Gesprächen in London, wo gemunkelt wurde, Winston Churchill würde zum Krieg gegen Deutschland rüsten und Allianzen mit anderen Ländern schmieden, was Marie kaum glauben konnte, wenn sie an die Abendgalas in Berlin und Hamburg dachte, wo Deutsche und Engländer zusammen tranken, Geschäfte abschlossen und sich amüsierten. Dennoch beschäftigte sie dieser Gedanke fortwährend. Der Krieg auf dem Balkan war eine Sache, die schon seit Jahren brodelte, man lebte im übrigen Europa damit, wie man mit vielen Umständen seinen Frieden schloss, wenn man sie nicht ändern konnte. Warum sollte es zum Krieg gegen England kommen?

Russland hatte sich mit Serbien und Bulgarien verbrüdert und streckte mithilfe einer weiteren Verbrüderung mit Griechenland und Montenegro seine gierigen Finger nach dem Osmanischen Reich aus, nicht nach dem Deutschen. Dennoch beschäftigte sich Marie zwischenzeitlich bald mehr damit als mit der Erkämpfung des Frauenwahlrechts.

Johns Sorgen wegen eines möglichen innereuropäischen Kriegs hielt sie vor ihrer Familie geheim, es war zu früh, irgendwelche Befürchtungen zu äußern, nur weil John in London die Flöhe husten hörte.

Der Spaziergang ermüdete Marie, vielleicht lag es auch an ihren trüben Gedanken. Nachdem die Walzen angeliefert und verbaut worden waren und die Maschinen bisher störungsfrei liefen, wurde es Zeit, nach Hamburg zurückzukehren. Gemächlichen Schritts schlenderte sie zurück, um sich schlafen zu legen, sie wollte am kommenden Morgen den ersten Zug nehmen und freute sich auf John.

Im Anschluss an eine geruhsame Nacht verabschiedete sie sich nach einem raschen Frühstück von ihrer Familie. Peter und Claus befanden sich bereits bei der Arbeit, Emma saß verschlafen in der Küche, während von Helene jede Spur fehlte. Die erholte sich offenbar vom vorigen Abend. Sie umarmte Bertha und begab sich zum Bahnhof.

Dort drängten sich die Bewohner trotz der frühen Stunde, Marie sah sich nach bekannten Gesichtern um und entdeckte Else Voormann und ihren Bruder Otto. Marie stieg im selben Waggon ein, gegenüber saß niemand auf der Bank. »Darf ich? Oder haben Sie noch genug von gestern?« Sie lächelte sie aufmunternd an.

Otto wies auf den freien Platz und wünschte ihr einen guten Morgen. »Wie ich hörte, gab es einen Zwischenfall? Ich hoffe, Ihre Familie hat sich davon erholt.«

»Ja, wobei meine Mutter schwer damit zu kämpfen hat, doch das ist zweitrangig, sie ist Kummer mit einer ungehorsamen Tochter gewöhnt.« Marie zwinkerte Else zu, die den Wink verstand.

»Fräulein Kölln, Sie sind erfolgreich im Beruf, und haben einen Verlobten, weshalb sollte sich Ihre Mutter grämen?« Elses dunkelblaue Augen blitzten vergnügt.

»Verlobter ist übertrieben, fürchte ich.« Marie lehnte sich im Sitz zurück. »Nennen Sie mich bitte Marie, wir werden bald eine Familie sein.«

»Sehr gerne, von Familienbanden zu sprechen, ist jedoch etwas verfrüht, fürchte ich.« Else reichte ihr die Hand. »Else.« Sie wies auf ihren Bruder. »Und das ist Otto.«

»Ich hoffe, du vergibst unserer Familie den gestrigen Abend.« Marie zupfte an ihrem rechten Handschuh. »Laste das nicht Claus an, er trägt keine Schuld.«

»Ich weiß.« Else zog einen Zeichenblock hervor. »Längst verziehen. Ich würde liebend gerne die Fahrt über mit dir plaudern, aber ich habe einige Entwürfe fertigzustellen und wollte die Zugfahrt dazu nutzen, sei mir bitte nicht böse.«

»Natürlich nicht.« Neugierig sah Marie Else bei der Arbeit zu. Mit Buntstiften füllte sie skizzierte Abendkleider aus, um dem Gegenüber mehr Vorstellungskraft zu schenken, wie so ein Kleid an einem echten Menschen aussehen könnte. Bis die Zugfahrt endete, hatte Else sieben Entwürfe vervollständigt, was Marie nachhaltig beeindruckte. Die Abendroben wirkten fast lebendig, so detailliert waren sie illustriert. Marie wies auf ein flaschengrünes Kleid. »Das würde mir für mich gefallen.«

»Es würde dir ausgezeichnet stehen. Wenn es gefertigt wird, lass ich es dich wissen.« Else klappte ihren Zeichenblock zu und erhob sich, als der Zug im Hamburger Bahnhof einfuhr. »Ich würde es gerne an dir sehen.«

Otto Voormann tippte an seinen Hut. »Auf Wiedersehen, Marie.«

»Auf Wiedersehen.«

Am Bahnsteig trennten sich ihre Wege.

Marie ging vom neuen Hauptbahnhof die Mönckebergstraße entlang, um zu ihrer Wohnung am Alten Wall zu gelangen. Auf dem Weg kaufte sie frische Backwaren, ihr Magen knurrte. Wenn John das Haus schon verlassen hatte, würde sie sich, ohne eine Tasse Tee zuzubereiten, über die Leckereien hermachen. Der Eingang zur Wohnung lag neben einem mit Fassadenpfeilern gestützten Arkadeneingang der darunter liegenden Parfümerie, ihr Zuhause befand sich im ersten Geschoss über dem Verkaufsbereich des Geschäfts. Marie liebte den Blick aus den oberen Etagen durch die Rundbögen auf die im Renaissancestil errichteten Nachbarhäuser, die die Bauten der Straße charakterisierten. Johns schwarzer Benz Landaulet parkte davor.

Eilig stieg Marie die Treppenstufen hinauf, schloss die Tür auf und hörte Geklapper in der Küche. »Schön, dass du noch hier bist!«, rief sie aus. Eine Kanne frisch gebrühter Tee stand auf dem Tisch, dazu eine Tasse. »Ich habe Frühstück mitgebracht.«

»Damit kommst du zum perfekten Zeitpunkt, der Brotkasten ist leer, ich wäre mit knurrendem Magen in die Werft gefahren.« John kam auf sie zu, zog sie in seine Arme und küsste sie zur Begrüßung. »Du hast mir gefehlt.«

»Du mir auch.« Marie kuschelte sich an ihn und genoss den innigen Augenblick.

»Wie war es zu Hause in Elmshorn? Hat mit den Walzen alles geklappt?« John hielt sie fest und stützte sein Kinn auf ihren Kopf. »Wobei du vermutlich wieder mehr Ärger mit deiner Familie hattest als mit der Arbeit im Mühlenwerk.« Aus seiner Brust erklang sein dunkles Lachen. »Liege ich richtig?«

Marie löste sich von ihm. »Es war einiges geboten, lass uns frühstücken und ich erzähle dir davon.«

John holte ein zweites Teegedeck und zwei Teller und setzte sich zu ihr an den Tisch, während Marie die Franzbrötchen auspackte und ihm von ihrem Besuch erzählte. »Wusstest du von der heimlichen Hochzeit?«

John leckte sich die zuckrigen Finger ab. »Dann hätte ich dich vorgewarnt. Ich wusste nur von Ferdis Abreise nach Norwegen und ahnte, wie schwer seine Abwesenheit Helene treffen würde. Als ich sie zuletzt zusammen gesehen habe, hatten sie ausnahmslos Augen füreinander.«

»Ihre Verliebtheit habe ich bemerkt.« Marie riss ein Franzbrötchen auseinander und schob sich ein Stück in den Mund.

»Deiner Meinung nach kein Grund zum Heiraten, für die beiden offenbar durchaus.«

Er neckte sie immer wieder in diesem Punkt, spielerisch zwar, doch ein Fünkchen Wahrheit steckte dennoch darin.

»Liebe verlangt keinen Ehering.«

»Die Etikette schon.« John goss beiden Tee nach.

Marie leckte sich über die Lippen. »Deshalb wird es Zeit, die verstaubten Konventionen zu ändern. Frauen arbeiten, leisten so viel wie Männer, werden aber schlechter bezahlt. Die Wahl ist ihnen verboten, sie müssen mit den Entscheidungen der Männer leben und im Kriegsfalle den Tod ihrer Söhne betrauern. Das ist rückständig, und du weißt das.« Mit einem Seufzer bremste sie ihren Redefluss. »Tut mir leid, ich bin zu Hause, bei dir, und nicht auf einer Veranstaltung, um weitere Frauen im Kampf für das Wahlrecht zu mobilisieren.«

»An manchen Tagen machst du dir selbst das Leben schwer, weißt du das?« John stellte die leeren Teller und seine Tasse in die Spüle. »Auf der Anrichte liegt ein Brief der Reichsmarine für dich.«

»Ein neues Angebot?« Das käme ihr ungelegen, da sie keine Entscheidung treffen mochte. Bisher nahm sie nur einzelne Projekte an, was ihrer Arbeitsweise sehr entgegenkam. Die Marine bot eine Vollzeitstelle, dazu in der Rüstung. Sie schob die Brösel auf dem Tisch zusammen und strich sie in ihre Hand.

»Mach den Umschlag auf, ich warte.« John zog sich seine Anzugjacke an, schloss seine Aktentasche und lehnte sich an den Türrahmen zum Flur.

Marie kippte die Brösel in den Mülleimer und ging zur Anrichte, der Brief lehnte an einem Kerzenständer. Mit dem Finger schlitzte sie den Umschlag auf, zog das Anschreiben heraus und las. Es handelte sich um ein Angebot, ein überaus großzügiges. »Ich könnte nachverhandeln.« Sie reichte ihm das Schreiben. »Zudem steht es mir frei, jederzeit zu kündigen, das sagst du zumindest.« Nachdenklich sah sie John an. Bisher stand sie zu ihren Entscheidungen, aus diesem Grund zögerte sie es hinaus. »Wenn ich annehme, wird es deine Stellung beeinflussen, du arbeitest für die Briten in diesem Bereich.«

»Seit wann kümmert dich das?« John reichte ihr den Brief. »Du solltest es akzeptieren, es ist zu gut, um es auszuschlagen.«

»Die Engländer werden uns meiden, und die Einladungen werden ausbleiben.« Durch ihren Ehrgeiz wollte Marie keinesfalls John schaden, zudem genoss sie die Abendveranstaltungen und die Reisen ins lebhafte Berlin.

John lächelte sie breit an. »Sie müssen es ja nicht erfahren, oder?«

Aus ihrer Kehle erklang ein schallendes Lachen. »Du bist unglaublich, weißt du das?«

»Ja, ich weiß.«

»Und eingebildet bist du auch!« Sie küsste ihn zum Abschied. »Ich liebe dich.«

»Und ich rate dir, das Angebot nachzuverhandeln und anzunehmen, da warten spannende Aufgaben auf dich.«

»Am besten gehe ich sie gleich an, wir sehen uns heute Abend.« Marie zog ihre Fahrradkleidung an, nahm das Rad und trug es hinunter auf die Straße. Sie fuhr den Rödingsmarkt entlang, überquerte die Binnenhafenbrücke am Baumwall und pedalierte bis zu den Landungsbrücken, wo sie mit einem Schiff zum Werfthafen übersetzte. Die ganze Zeit überlegte sie, ob sie im Begriff war, einen Fehler zu begehen, den sie mit ihrer Freiheit bezahlte. Das Fährschiff legte neben der Werft von Blohm & Voss an. Sie passierte den Kuhwärderhafen, den Kaiser-Wilhem-Hafen und fuhr am Ellerholz- und Oderhafen entlang, bis die Vulkanwerft vor ihr auftauchte. Insgesamt hatte sie für die Strecke unter einer Stunde gebraucht, obwohl sie auf das Schiff hatte warten müssen. Die metallenen Klopfgeräusche, die aus den Hallen zu ihr drangen, und der Blick auf den Alten Hafen der Norderelbe lockten sie weit mehr, als sie es sollten. Stählerne Kräne ragten auf dem Dock der Werft in den Himmel, und die hoch aufragenden Lagerhäuser beeindruckten Marie wie bei jedem Werftbesuch.

Die Vulkanwerft war ihr bisher unbekannt. Der Blick auf die gegenüber im Alten Hafen liegenden Großmaster weckte selbst in Marie ein wenig Fernweh. Über ihr kreischten Möwen, überall herrschte reges Treiben, es roch nach Meer und Aufbruch in eine neue Zeit.

Zögerlich stand Marie vor dem Eingangstor. Viel wusste sie nicht über das Unternehmen, nur dass Kaiser Wilhelm die Werft vor drei Jahren höchstpersönlich eingeweiht hatte. Sie stellte ihr Rad am Empfang ab und meldete ihren Besuch beim Portier, der sie irritiert ansah, aber tat wie geheißen. Er schickte einen Burschen los, während Marie sich umsah, sie sah zwei Helgen, auf denen augenscheinlich ein Passagierschiff und ein Linienschiff entstanden, Elbseitig befand sich ein weiteres Schwimmdock.

Der Laufbursche kehrte zurück. »Herr Dresselmann erwartet das Fräulein.«

»Dann bring es rasch zum Chef, bevor er dir die Ohren langzieht.« Der Arbeiter tippte sich dienstbeflissen an seine Mütze. »Ich achte auf Ihr Rad.«

»Danke.« Marie folgte dem Burschen. Auf dem Weg zum Bürogebäude entdeckte sie ein weiteres Schwimmdock. »Was baut ihr auf dieser Helge?«

»Den Imperator, die HAPAG hat ihn in Auftrag gegeben, er ist größer als die Titanic.« Die Augen des Burschen leuchteten vor Begeisterung. »Das Passagierschiff ist fast fertig, auf der anderen Helge entsteht die SMS Großer Kurfürst, ein prächtiges Großlinienschiff.«

Das bezeichnete nichts anderes als ein mächtiges Kampfschiff, Marie kamen Zweifel, ob sie an diesen Kriegsschiffen arbeiten wollte. Sich intensiv mit solchen Schiffen zu beschäftigen, bedeutete zeitgleich, sich mit dem Krieg zu befassen, denn genau dafür wurden sie gebaut. Der Laufbursche brachte sie zu einer Sekretärin. »Hier ist Fräulein Kölln, Sie waren vorher leider nicht an Ihrem Platz, also habe ich bei Herrn Dresselmann persönlich nachgefragt, er erwartet das Fräulein.«

Die hübsche Brünette musterte Marie irritiert. »Wir suchen keine Sekretärin.« Ihr Blick blieb an Maries Fahrradkleidung hängen, bevor sie wieder aufsah. »Bedauere, Sie haben den Weg umsonst gemacht.«

Marie war im Begriff, ihr das Schreiben vor die Nase zu halten, ließ es jedoch, denn die Frau dachte in den Konventionen, die Marie niederzureißen versuchte. »Ich bin Maschinentechnikerin, Herr Dresselmann bat um ein Gespräch mit mir, nicht andersherum.«

Die Brünette riss die Augen auf, sprang auf die Beine und stöckelte in ihrem Bleistiftrock zur Verbindungstür zu Dresselmanns Büro, klopfte an, steckte den Kopf durch die Tür und kündigte den Besuch an.

»Worauf warten Sie? Bringen Sie Fräulein Kölln zu mir!«

Dienstfertig öffnete sie die Tür. »Herr Dresselmann erwartet Sie, bitte treten Sie ein.«

»Danke.« Marie spürte den Blick der Frau auf sich ruhen, die sie eintreten ließ und anschließend die Tür schloss.

»Fräulein Kölln, ich hatte nicht mehr damit gerechnet, Sie hier zu sehen.« Herr Dresselmann kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Herzlich willkommen in der Vulkan-Werft, bitte setzen Sie sich. Darf ich Ihnen einen Tee oder einen Kaffee bringen lassen?«

»Ein Wasser wäre großartig, wie Sie sehen, bin ich mit dem Rad gekommen und offen gestanden etwas durstig.« Marie setzte sich und überschlug die Beine.

Dresselmann öffnete die Bürotür, bestellte und nahm ihr gegenüber Platz. »Was hat Ihre Meinung geändert?«

»Die Neugierde. Warum möchten Sie mich anstellen? Eine Frau? In einer Männerdomäne?« Die Frage beschäftigte Marie seit dem ersten Angebot. »Immerhin müssten Ihre Ingenieure meine Ideen berücksichtigen, das fällt vielen Männern schwer.«

»Meine Angestellten unterliegen meinem Kommando, wenn ich viel von Ihren Fähigkeiten und Ihrer Meinung halte, dann werden es meine Mitarbeiter ebenfalls tun.«

Interessante Formulierung, Marie wertete es als positives Zeichen, dass Dresselmann seine Herren an die Kandare nahm und gegebenenfalls zurückpfiff. Das kannte sie auch aus anderen Betrieben, dort allerdings arbeitete sie nur wenige Wochen, bis das vorliegende Problem gelöst war. »Warum bieten Sie mir eine Festanstellung?«

»Weil wir für die Kaiserliche Marine vermehrt Aufträge erhalten, wir sollen die modernsten und besten U-Boote bauen, die das Reich je gesehen hat. Sie sind dafür bekannt, mit frischen Ideen Lösungen zu finden, die andere Techniker gar nicht erst in Erwägung ziehen.« Dresselmann legte seine Finger aneinander und beugte sich vertraulich vor. »Sie würden für den Kaiser arbeiten, es geht um unser Land.«

Mit diesen Phrasen konnte Dresselmann sie nicht einwickeln, vielmehr packte sie die Neugierde, ob er tatsächlich so offen für ihre Lösungsvorschläge wäre. »Meine Ideen funktionieren oft, aber nicht immer.«

»Dessen bin ich mir bewusst.«

Marie überlegte, welche Vorteile es für sie brächte, in einer der angesehensten Werften eine Anstellung zu haben. »Ich würde auf flexible Arbeitszeiten bestehen, das bedeutet, wenn ein Problem vorliegt, dass ich zwei Tage durcharbeite, sollte es notwendig sein.«

»Das klingt plausibel.«

»Zudem verliere ich meine bisherigen Kunden, was mir finanzielle Einbußen beschert.« Nun pokerte Marie. Ob er auch darauf einstieg?

Die Sekretärin öffnete die Tür, brachte ein Tablett mit Tee, Wasser und Gebäck und verließ geräuschlos das Büro.

Marie lehnte sich zurück.

Erst zögerte Dresselmann, doch dann überwand er sich, das Wasser aus der Karaffe in die Gläser zu schenken. Er reichte es ihr, bevor er den Tee eingoss. »Bitte, bedienen Sie sich«, bat er mit Blick auf das feine Gebäck.

Marie leerte das Glas Wasser und griff nach einem Gebäckstück, sie schindete Zeit, ließ Dresselmann ihre Worte überdenken. Als er nach einem Stück immer noch schwieg, nahm sie ein weiteres. Marie knabberte daran, als würde sie das Gespräch langweilen, dabei waren ihre Nerven zum Zerreißen angespannt. Der erste Keks rumorte in ihrem Magen, glücklicherweise geräuschlos.

»Gut«, sagte er nach mehreren Minuten. »Ich erhöhe das Angebot um ein Viertel.«

Nachdenklich legte sie den Kopf schief, einige Sekunden später antwortete sie: »Ein Drittel, und nach vier Monaten sprechen wir erneut über die Bezahlung.«

Dresselmann verschluckte sich am Gebäckstück, in das er im selben Moment gebissen hatte, bevor er hustend loslachte. »Sie sind ein harter Verhandlungspartner. Wenn ich Ihnen das zugestehe, bitte ich Sie um absolute Verschwiegenheit, was Ihr Einkommen anbelangt.«

In Maries Inneren brannte ein Feuerwerk ab. Das bedeutete, er würde ihr mehr zahlen als ihren männlichen Kollegen. »Dann sind wir uns einig.«

»Wann können Sie anfangen?« Dresselmann stand auf und reichte ihr die Hand. »Die Verträge lasse ich Ihnen per Boten bringen.«

Marie schlug ein. »Ich muss noch Aufträge abarbeiten, ich melde mich, sobald ich ein Datum abschätzen kann.«

»Hauptsache Sie unterschreiben bei mir.« Dresselmann strahlte über das ganze Gesicht. »Der Kaiser wird staunen, wenn er hört, dass seine U-Boote mit der Hilfe einer Frau gebaut werden.«

»Dann lassen Sie es ihn erst wissen, nachdem ich bei Ihnen angefangen habe.« Marie jubilierte. Mit Dresselmann würde sie auskommen, und solange sie ihn an ihrer Seite hatte, bekäme sie in der Werft keine Probleme.

»Ich bringe Sie zur Pforte.« Dresselmann ging voraus, erklärte Marie etwas zu den Schwimmdocks, zeigte ihr das Großlinienschiff und brachte sie zum Ausgang.

Die neuen Aufgaben, die bald vor ihr lagen, würden ihr Wissen ausbauen, und die Neugierde auf die riesigen Motoren ließen ihren Körper vor Aufregung kribbeln. Marie fuhr zu einer Freundin. Sie platzte vor Stolz. Allein zu Hause auf Johns Rückkehr zu warten, um ihm von den erfolgreichen Verhandlungen zu berichten, würde ihr schwerfallen.

3

Else Voormann saß neben Claus in der Elektrodroschke auf dem Weg zum neuen Hamburger Elbtunnel, schon lange wollten sie dieses Meisterwerk der Technik besichtigen. Zur offiziellen Einweihung im September hatten sie sich noch nicht gekannt, und sie selbst hatte bisher keine Notwendigkeit gesehen, den Tunnel zu durchschreiten, da sie in den Hafengebieten südlich der Elbe nichts zu erledigen hatte.