Das Haus Kölln. Wahres Glück - Elke Becker - E-Book

Das Haus Kölln. Wahres Glück E-Book

Elke Becker

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In der dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte stehen die Köllns zusammen

Elmshorn 1938: Geschäftlich sind die Köllns im Aufschwung. Als erste eingetragene Marke des Unternehmens setzen ihre blütenzarten Haferflocken neue Standards, die Produktpalette wächst. Politisch zieht eine Bedrohung herauf, als die NSDAP mehr und mehr Zuspruch in der deutschen Bevölkerung findet. Die Gefahr rückt immer näher und als Deutschland in den Krieg zieht, bangt Else um ihren Mann und ihre Söhne. Doch gerade in Krisenzeiten steht die Familie besonders eng zusammen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 436

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASBUCH

Elmshorn 1938: Geschäftlich sind die Köllns im Aufschwung. Als erste eingetragene Marke des Unternehmens setzen ihre blütenzarten Haferflocken neue Standards, die Produktpalette wächst. Politisch zieht eine Bedrohung herauf, als die NSDAP mehr und mehr Zuspruch in der deutschen Bevölkerung findet. Die Gefahr rückt immer näher, und als Deutschland in den Krieg zieht, bangt Else um ihren Mann und ihre Söhne. Doch gerade in Krisenzeiten steht die Familie besonders eng zusammen.

DIEAUTORIN

Elke Becker wurde in Ulm geboren. Schon früh zog es sie in die Welt hinaus: Ihr Fernweh nach Meer und Abenteuer führte sie in zahlreiche Länder, bis sie 2005 auf Mallorca sesshaft wurde. Nie aus dem Sinn geht ihr der Hafen von Hamburg, der als eines der schönsten Tore zur Welt von unendlichen Möglichkeiten zeugt. Er fasziniert Elke Becker stets aufs Neue und lässt sie immer wieder neue Geschichten erträumen, die in dieser spannenden Region spielen. So unternimmt sie regelmäßig ausgiebige Recherchereisen in den wilden Norden, der einen besonderen Platz in ihrem Herzen hat.

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 07/2024

Copyright © by Elke Becker

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: © t.mutzenbach design unter Verwendung von Motiven von Trevillion Images (Ildiko Neer), Imago Images (Arkivi), Shutterstock.com (Kuzmina Aleksandra, suns07butterfly)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29633-9V001

www.heyne.de

1937

1

Die milde Frühlingssonne schien vom Elmshorner Himmel, die Vögel zwitscherten lebhaft, und fast glaubte Else Kölln, die Welt sei ein friedlicher und hoffnungsfroher Ort. Doch seitdem die Hakenkreuzfahnen an vielen Häusern in der lauen Brise wehten und der Reichsadler in einem riesigen Banner von Dach zu Dach gespannt über die Königstraße wachte, schien der Frieden nur geborgt zu sein.

Auf dem Weg zu ihrer Schwägerin schlenderte Else an der Krückau entlang. Claus’ Schwester Helene hatte mit ihrem Mann Hannes Jülich vor vier Monaten die Konservenfabrik verkaufen müssen, nachdem der aufgerufene Judenboykott sie beinahe in den Ruin getrieben hatte. Die neuen Auflagen für den Export, der die Jülichs die letzten beiden Jahre über Wasser gehalten hatte, zerstörten auch diese Strategie. Im Deutschen Reich tätigte kaum jemand Geschäfte mit jüdischstämmigen Fabrikanten, und selbst das wenige lief heimlich über Strohmänner.

Die Menschen suchten ihr Glück im Ausland, weit weg von Nazideutschland, das ihr Leben immer mehr in ihren Freiheiten beschnitt. Jedes Jahr ließ sich die Regierung neue Restriktionen einfallen, um deren Rechte zu beschneiden, dabei waren ohnehin nur noch wenige übrig. Über Elses Lieblingsschriftsteller Thomas Mann durfte öffentlich kein Wort gesprochen werden, man hatte ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt und deklarierte ihn zum Landesfeind. Ihres Wissens nach lebte er inzwischen mit seiner Familie in der Schweiz, reiste aber häufig ins liberale Amerika. Vielleicht war Jazzmusik deshalb seit zwei Jahren im Radiofunk verboten, sie galt als undeutsch und verwerflich. Else mochte Louis Armstrong und Teddy Stauffer sowie andere Platten, die ihre Töchter aus Hamburg mit nach Hause brachten. Claus und sie hörten die Musik gerne, wenn sie auch nie dazu tanzten, das taten sie ausschließlich bei Walzer und Tango. Diese lebhaften Rhythmen gehörten der jungen Generation, trotzdem wollte Else wissen, womit sich ihre Töchter während ihrer Studienfreizeit in Hamburg beschäftigten. Solange es nur unerwünschte Musik war, blieb sie unbesorgt.

Vor Helenes Haus angekommen, klopfte sie an die Tür.

Ihre Schwägerin öffnete.

»Moin, wie geht es euch?«, grüßte Else.

Es musste für Hannes unendlich schwer gewesen sein, die Konservenfabrik seiner Familie zu verkaufen, um sie vor dem Ruin zu bewahren.

»Moin, Else, komm herein.« Helene gab den Weg ins Haus frei. »Lass uns besser drinnen sprechen, selbst die Wände haben heutzutage Ohren.«

»So schlimm?« Else trat ein und sah Helene ihre Sorgen an. »Was ist geschehen?«

»Hannes bekommt nirgendwo Arbeit, seit zwei Wochen sind unsere Dienstmädchen fort. Wir mussten sie entlassen.«

»Gab es Streit?« Else kannte die beiden Dienstboten viele Jahre, sie hatte sie für vernünftige Frauenzimmer gehalten.

»Nein, sie sind ungern gegangen.« Helene seufzte. »Für arische Mädchen sei es unzumutbar, in einem jüdischen Haushalt zu arbeiten, es würde ihre Gedanken vergiften und sie vom rechten Weg abbringen.«

»Vielmehr von der erwünschten rechten Gesinnung«, rutschte es Else heraus. »Du glaubst nicht, was Caroline mir erzählt hat.«

Helene ging vor ins Esszimmer, wo Kuchen und Kaffee bereitstanden, goss ein und sah sie auffordernd an.

»Seit Kurzem wird den Kindern in der Schule schon ab der ersten Unterrichtsstunde der Nationalsozialismus eingetrichtert, und was sie dort nicht aufgezwungen bekommen, das lernen sie in der Hitlerjugend.«

Helene zuckte unmerklich zusammen. »Caroline lässt das zu?«

»Nein, noch kann sie Erwin vom deutschen Jungvolk fernhalten, aber sie kann ihren Jungen schlecht aus der Schule nehmen.« Else nippte an ihrem Kaffee. »Ihr Bub wollte einen Drachen basteln, und Caroline schickte ihn hinüber zum Stern, weil er dort alles bekommen würde.« Immer noch fassungslos legte Else eine Pause ein.

»Und was ist daran besonders?«, wollte Helene wissen. »Es ist vernünftig, alles aus einer Hand zu kaufen, anstatt mehrere Geschäfte aufzusuchen.«

»Erwins Antwort.« Kopfschüttelnd suchte Else die genauen Worte des Jungen. »Er sagte, wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter. Das brachte ihm eine saftige Ohrfeige von seiner Mutter ein.«

»Die hatte er sich verdient«, gab Helene unumwunden Caroline recht.

»Allerdings ist das nicht alles.« Else würde ihrem Nachwuchs eine solche Frechheit ebenso wenig durchgehen lassen, aber bis auf Ernsthermann war keines ihrer Kinder diesen Unterrichtsmethoden ausgesetzt gewesen. »Während Erwin sich seine rote Wange rieb, fluchte er leise und meinte zu seiner Mutter wortwörtlich: Du wirst nie eine Volksgenossin, irgendwann landest du im KZ.«

»Das hat er nicht gesagt!«, presste Helene hervor. »Der kleine Hosenscheißer droht seiner Mutter mit Fuhlsbüttel?«

Else nickte. »Es wird kein gutes Ende nehmen, wenn wir unsere Kinder nicht vor diesen Erziehungsmethoden schützen.«

»Darum verlassen wir Elmshorn.« Helene stach in ihren Apfelkuchen, legte dann jedoch die Gabel ab. »Niemand gibt Hannes Arbeit, unsere Angestellten sind fort, was sollen wir hier?«

»Claus würde ihn einstellen, darf es aber nicht, sonst verlieren wir das Werk.« Else entwich ein Seufzer.

»Das weiß ich doch«, gab Helene zu. »Mein Bruder ist einer der wenigen, der immer noch nicht der Partei angehört, mehr Widerstand ist in diesen Zeiten unmöglich.«

Elses Kinder waren ohne Beitritt in die Hitlerjugendgruppen aufgewachsen, auch ihr zwölfjähriges Nesthäkchen Ernsthermann blieb zu Hause, obwohl er gerne wie seine Freunde beim Deutschen Jungvolk gewesen wäre, anstatt die Nachmittage des Mittwochs und des Samstags allein zu verbringen. Es gab für ihn weder Sommerlager noch die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft. Helene war mit einem Juden verheiratet, ihre Tochter Elisabeth in einen verliebt, was Else um den nächtlichen Schlaf brachte, da für die beiden keine Zukunft existierte. Wie könnte sie die Ideologie Hitlers goutieren? »Wohin geht ihr?«

»Nach Kopenhagen zu Marie und John, sie besorgen uns eine Wohnung und Arbeit, in Dänemark kann man ordentlich leben.«

Else konnte die Entscheidung nachvollziehen. »Könnt ihr Noah Lehmann mitnehmen? Seine Familie ist vor einem Jahr nach New York ausgewandert, er ist wegen Lissy hiergeblieben, Noah hat hier weder Arbeit noch Verwandte.«

»Wenn er uns begleiten möchte, ist er willkommen.« Helene goss ihnen Kaffee nach. »Ich zweifle allerdings daran, da er in diesen Zeiten sogar seine Familie für Lissy hat gehen lassen.«

Mit diesen Zweifeln stand Helene nicht alleine da. Else musste den jungen Mann überzeugen, Noah stellte mit dieser Entscheidung weit mehr als nur seine berufliche Zukunft aufs Spiel. »Wann fahrt ihr?«

»In drei Tagen. Wir nehmen nur das Wichtigste mit, den Rest verkaufen wir zusammen mit dem Haus. Das Preisangebot ist gut. Wir werden uns mit dem Geld und dem Erlös aus der Firma in Dänemark ein neues Leben aufbauen.« Helene wirkte trotz ihrer kräftigen Stimme und den Plänen unglücklich. »Uns bleibt keine Wahl, wir müssen es für Alma tun.« Die Elfjährige war seit letztem Jahr vom Schulunterricht ausgeschlossen, weil Helene eine Scheidung von Hannes ablehnte. Mit dieser Art der Bestrafung wollten die Nazis Helenes Willen brechen, seither unterrichtete sie das Mädchen zu Hause. »Es ist die richtige Entscheidung.« Helene seufzte. »Wie hat es nur so weit kommen können?«

»Die NSDAP macht ihre Gesetze, wie sie will, schon bei der letzten Wahl ging es unehrlich zu, das wissen alle, die gegen Hitler gestimmt haben.« Else wusste von ihrer Schwägerin Emma, wie die Auszählung stattgefunden hatte. Jeder ungültig ausgefüllte Stimmzettel galt als Zustimmung zum Regime. Die jüdische Bevölkerung verlor schon zuvor ihr Stimmrecht, und alle in Schutzhaft genommenen Gegner wurden verpflichtet, für Hitler zu stimmen, oder sie standen der Aussicht auf viele Jahre im KZ gegenüber. »Die Regierung lenkt von den eigentlichen Problemen ab, das sagt Claus, und ich fürchte, er hat recht.«

»Wie auch immer, wir kommen morgen bei euch vorbei, um uns zu verabschieden.« Helene ließ ihren Apfelkuchen unberührt.

Else aß das letzte Stückchen und stellte das Geschirr zusammen. »Jetzt besuche ich Noah Lehmann, um mit ihm zu sprechen, er muss gehen, für Lissy.«

»Viel Glück.« Helene stand auf. »Falls du Marie schreiben willst, nehme ich gerne einen Brief mit.«

»Danke, aber wir telefonieren häufig«, lehnte Else das Angebot ab. »Kommt morgen zum Abendessen, Claus wird sich freuen, ich lade die ganze Familie für euer Abschiedsessen zu uns ein.«

»Gerne, das erspart mir das Kochen«, meinte Helene mit einem traurigen Lächeln.

Else überlegte auf dem Weg zu Noah Lehmann, ob sie ihrer Tochter von diesem Gespräch erzählen sollte, und entschied sich dagegen.

Noah wohnte in einer winzigen Wohnung in der Schulstraße. Else klopfte an seine Tür, er öffnete einen kleinen Spalt, bis er Else erkannte. »Frau Kölln, wie geht es Ihnen? Was führt Sie zu mir?«

»Das sollten wir drinnen besprechen«, schlug Else vor.

»Natürlich, entschuldigen Sie.« Noah öffnete die Tür und ließ sie eintreten.

»Ich komme gleich zum Punkt«, begann Else, obwohl ihr die ganze Angelegenheit unangenehm war. »Meine Schwägerin Helene zieht mit ihrer Familie nach Dänemark zu ihrer Tante Marie und deren Mann. Ich möchte dich bitten, sie zu begleiten, bis es in Deutschland wieder ruhiger wird.«

Noahs Gesicht zeigte keine Regung.

»Eure Verbindung hat im Moment wenig Zukunft, sosehr ich mir es für euch wünschen würde.«

Er ließ die Schultern hängen, was Else ins Herz schnitt. Sie kannte ihn als fleißigen und ehrenhaften Mann. »Du findest keine Arbeit, geh nach Dänemark und gib Lissy frei.« Else fielen diese Worte schwer. »Wenn eure Liebe groß genug ist, wird sie eine Trennung überleben, bis ihr in Frieden leben könnt. Hier ist es unmöglich, das weißt du.«

Er schlurfte wie ein alter, gebrochener Mann voran in das kleine Wohnzimmer, wo er sich auf einen Zweisitzer sinken ließ. »Sie haben ja recht, es ist uns verboten zu heiraten, und eine Ehe würde Lissy in ständigen Gewissenskonflikt bringen. Unsere Kinder hätten keine Zukunft.«

»Dann begleitest du Helene und Hannes?« Elses Hoffnung schien sich zu erfüllen. »Ihr könnt telefonieren und schreiben, Lissy kann euch besuchen, immerhin wohnt ein Teil unserer Familie in Kopenhagen. Gebt euch Zeit. Irgendwann findet sich eine Lösung.«

Noahs Stirn runzelte sich, er schien mit sich zu ringen. »Ich werde gehen, ich sehe inzwischen keinen Ausweg mehr. In Kopenhagen werde ich mir eine Zukunft aufbauen und Lissy nachholen, wenn sie mich dann noch will.«

»Das wird sie«, wollte Else ihm Hoffnung schenken, obgleich sie hoffte, ihre Tochter würde diesen patenten jungen Mann vergessen und ihr Leben weniger kompliziert gestalten. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Selbstverständlich.« Er sah Else neugierig an.

»Sag Lissy nichts von unserem Gespräch, sie würde es mir übel nehmen und nur noch mehr unter der Trennung leiden.« Sie kannte ihre sensible Tochter, sie würde Else die Schuld für Noahs Abreise geben, obwohl es für ihn ein Weg in eine freie Zukunft darstellte. Marie würde ihm eine gute Stelle besorgen, immerhin war er studierter Kaufmann.

»Versprochen. Wann fahren Helene und Hannes?« Noah stand vom Sofa auf.

»In drei Tagen, schaffst du das zeitlich?« Else ging auf die Wohnungstür zu.

Noah lächelte. »Bis auf meine Kleidung gehört mir hier nichts, und die passt in zwei Koffer.«

Else rang sich ein Lächeln ab, es tat ihr leid, ihn zur Abreise zu drängen, doch es wäre das Beste für alle Beteiligten.

»Darf ich mich von Lissy verabschieden?«

Das Treffen zwischen den beiden musste heimlich stattfinden, sonst waren Anfeindungen unvermeidlich. »Seid bitte vorsichtig.«

»Ich passe auf«, gab Noah zu bedenken. »Ich würde Lissy niemals in Gefahr bringen.«

»Das weiß ich.« Sie reichte ihm die Hand. »Alles Gute, Noah, und danke. Auf Wiedersehen.« Den Abschiedsgruß meinte sie ehrlich, sie hoffte, den patenten Mann irgendwann wieder in Elmshorn zu sehen.

Nickend schüttelte er ihre Hand, Noah verstand ihre Beweggründe, das sah sie an seinem Blick. »Auf Wiedersehen, Frau Kölln.«

Else verließ die Wohnung, spazierte gedankenverloren den Flamweg hinunter, bog in die Marktstraße ein, überquerte den Alten Markt und schlenderte in die Königstraße, um auf dem Rückweg ins Mühlenwerk im Café Schrader einen Kuchen zu erstehen.

Schon von Weitem dröhnten ihr aufgebrachte Stimmen entgegen, Fenster gingen auf, neugierige Einwohner sahen aus den oberen Stockwerken auf die Straße hinunter, die durch eine Menschenmenge verstopft wurde. Else fragte sich, an welchem armen Kerl die Meute ihr Mütchen kühlte, Gründe fanden sich in diesen Zeiten noch rascher als einen der ungehobelten Braunröcke.

Caroline rannte auf Else zu. »Es ist Claus«, rief sie, »ein paar Nazis aus eurem Werk werfen ihm Volksverrat vor, sie schleifen ihn durch die Stadt, er wird bespuckt und beschimpft, als wäre ein Urteil längst gefallen.«

»Claus?« Else glaubte an einen Irrtum. »Aber warum? Mein Mann hält sich aus der Politik heraus, das wissen alle.«

»Vermutlich deshalb.«

Else streckte sich, entdeckte ihn, ein Ärmel seiner Anzugjacke war zerrissen, die Haare standen ihm wirr vom Kopf. Sie kannte die Männer, die ihn schubsten. Langjährige Mitarbeiter, die noch länger Mitglied in der NSDAP waren und entsprechend in der Stadt gefürchtet wurden. Else hatte keine Angst vor ihnen, sie kämpfte sich durch die Menschentraube, die sich langsam in Richtung Holstenstraße bewegte. »Friedhelm Schmied, was soll das?«

Friedhelm sah Else mit einem kalten Lächeln an. »Frau Kölln, gehen Sie uns aus dem Weg!«

Grob schob er sie beiseite.

Sie wehrte sich.

»Ihr Mann ist ein Verräter, er hat Petersen zum Schichtleiter ernannt, einen SPDler, der schon längst nach Fuhlsbüttel gehört.«

»Ludwig Petersen arbeitet gut und zuverlässig«, widersprach Else ihrem Arbeiter. »Wie kannst du es wagen, deinen Arbeitgeber anzugreifen?« Claus und Else wechselten einen intensiven Blick, trotzdem ließ sich Else von ihrem Mann nicht wortlos zurückdrängen. »Du hättest nur selbst gerne den Posten, dabei weiß jeder, wie faul du bist.«

Friedhelms Augen verwandelten sich zu schmalen Schlitzen. »Die Gestapo wird mir recht geben, Claus Kölln ist ein Judenfreund und Volksverräter.« Er spuckte ihr vor die Füße und schob sie beiseite. »Er wird seine Strafe bekommen, dafür sorgen wir, nicht wahr, Männer?«

Zustimmendes Gejohle mischte sich zu den Zwischenrufen, Claus Kölln unverzüglich freizulassen. Die aufgepeitschte Meute gewann gegen diejenigen, die zwar Widerspruch gaben, sich aber aktiv zurückhielten.

Caroline schirmte Else ab, die sich erneut zu Claus vorkämpfen wollte, sie musste ihrem Mann beistehen. »Es wird sich alles klären, Else, pack ein paar Sachen für ihn und lass uns zur Polizeiwache gehen, falls er über Nacht bleiben muss.«

»So ein Verhalten hat Konsequenzen.« Wütend ob der Dreistigkeit ihrer Arbeiter, Friedhelm Schmied allen voran, blieb sie auf der Straße zurück. Else würde sich um seine Entlassung kümmern, eine plausible Begründung würde ihr schon einfallen.

»Komm, mach dir keine Sorgen, viele tragen heutzutage eine unendlich tiefe Wut in sich, die Beschimpfungen haben nichts mit Claus zu tun.«

Die Meinung teilte Else keinesfalls, viele Parteiführer wussten, dass Helene mit einem Juden verheiratet war und Claus den Beitritt in die NSDAP verweigerte, was immer wieder zu Hetze gegen ihn führte. Linientreue wurde erwartet und oftmals mit aller Härte durchgesetzt, bisher hatte der Status eines Mühlenwerksinhabers Claus davor geschützt. Gerne gesehen war diese Einstellung bei den Braunhemden allerdings nicht, dennoch würden sie es nicht wagen, ihm etwas anzutun, davon war Else überzeugt.

»Morgen ist er wieder frei«, sagte Caroline, die offenbar denselben Gedanken hegte.

»Wir gehen gleich auf die Wache«, bestimmte Else, »ich will Claus mitnehmen, und zwar heute noch.«

»Ich begleite dich«, bot Caroline an. »Gib mir einen Moment, ich sperre rasch meinen Blumenladen zu.«

Else brauchte die Zeit, um ihre Nerven zu beruhigen. Die Ereignisse hatten sie völlig überrascht, niemals hätte sie mit einem Aufstand innerhalb des Mühlenwerkes gerechnet. Die meisten Arbeiter standen seit Jahren im Lohn des Kölln-Werks, der Großteil sogar in zweiter Generation. Nach dem Weltkrieg hatten sie viele Frauen in den Fertigungsstraßen behalten, nachdem ihre Männer im Krieg geblieben waren und sie zusehen mussten, ihre Familie durchzubringen, auch deren Söhne und Töchter arbeiteten inzwischen für sie. Friedhelm Schmied war kein gebürtiger Elmshorner, der Aufrührer war erst vor zehn Jahren in die Stadt gezogen, hatte sich aber in der Partei einen Namen gemacht. Ihn zu entlassen würde kein leichtes Unterfangen werden, dennoch wollte sie diesen Mann aus dem Werk entfernen, er störte den Betrieb und setzte Claus einem beträchtlichen Risiko aus. Man sagte ihm eine Freundschaft zum Chef einer der Leibstandarten der Schutzstaffel nach. Wilhelm Grezesch – wer ihn zum Feind hatte, musste sich in Acht nehmen.

Caroline klemmte ihre Handtasche unter den Arm. »Ich bin so weit.«

»Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich Angst um Claus.« Elses Magen rebellierte, sie lehnte sich an eine Hauswand und atmete tief ein und aus, beinahe hätte sie Helenes Apfelkuchen auf die Straße erbrochen.

»Du sorgst dich grundlos, das wirst du sehen«, sprach Caroline ihr Mut zu. »Bist du bereit?«

Es blieb ihr keine Wahl, also nickte sie. »Lass uns Claus holen.«

Die Menschenmenge vor der Polizeiwache in der Adolf-Hitler-Straße hatte sich inzwischen zerstreut, ungehindert betraten Else und Caroline das dunkle Backsteingebäude. »Ich möchte zu meinem Mann, Claus Kölln.«

»Das geht nicht, er wartet in einer Zelle auf seine Vernehmung.«

Else kannte den jungen Uniformierten nicht, breitbeinig stellte sich der Kerl in seinen Breecheshosen und glänzenden Schaftstiefeln vor sie, der schwarze Binder aus Kunstseide saß korrekt über seinem Braunhemd. »Was wird ihm vorgeworfen?«

»Bevorzugung von kriminellen Subjekten gegenüber arischen Kämpfern, man sollte Ihrem Mann das Hemd herunterreißen, so viel Schande bringt er über die Stadt!«

Else schnappte nach Luft. »Mein Ehemann bevorzugt niemanden, er befördert den Mann, der gut arbeitet, ohne jedwede politische Motivation.«

»Er ist immer noch kein Parteimitglied, also ist er ein Klassenfeind.« Spöttisch sah er Else an. »Es würde kaum verwundern, wenn er die SPD unterstützt.«

»Mein Mann ist unpolitisch«, hielt sie dagegen. »Ich bestehe auf seiner unverzüglichen Freilassung!«

»Soso, die Frau Kölln besteht darauf.« Ein polterndes Lachen entwich seiner Kehle. »Ihr Mann kommt in Schutzhaft und wird ins Polizeigefängnis überstellt, um sich für seine Taten zu verantworten. In Fuhlsbüttel bringt man ihm dann schon Gemeinschaftssinn bei.«

Else zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Sie bringen ihn ins Kola-Fu? Mit welcher Berechtigung?«

»Nun ja, bis zu seiner Verhandlung muss er ja irgendwo untergebracht werden, er muss vor sich selbst geschützt werden, und seine Gesinnung ist gefährlich.« Er beugte sich vertraulich vor. »Sie könnten Ihr schönes Werk verlieren, ist Ihnen das bewusst?«

»Das wird ein Nachspiel für Sie haben!« Else ließ sich seinen Namen geben und verließ mit Caroline die Wachstube. »Was für eine Frechheit! Ich werde unseren Anwalt anrufen, er wird einen guten Strafverteidiger kennen, der Claus umgehend aus der Haft holt.«

Die blasse Gesichtshaut Carolines zeigte Else, wie sehr ihre Freundin die Geschehnisse verstörten. »Schrecklich, was sie grundlos tun können.« Caroline beugte sich zu ihr hinüber. »Mein Junge hat recht, sie sperren alle mit einer anderen Meinung als Volksverräter ein.«

»Das hätte ich nie für möglich gehalten«, gab Else zu. »Helene und Hannes ziehen nach Dänemark, sie nehmen Noah mit, Lissy wird toben.«

»Sie wird ihn verstehen, Noah kann jeden Tag wegen einer irrwitzigen Begründung nach Fuhlsbüttel gebracht werden«, gab Caroline zu bedenken. »Wenn ich etwas für euch tun kann, lass es mich wissen.«

»Danke, Line.« Else verabschiedete sich von ihr, eilte nach Hause und rief ihren Anwalt in Hamburg an, damit er sich um Claus’ sofortige Freilassung kümmerte.

2

Der herrliche Sonnentag verlor seinen Reiz und verdunkelte Maries Stimmung wie die dunklen Wolken, die sich über Deutschland zusammenbrauten. Sie hängte den Telefonhörer auf die Gabel. Im Hintergrund hörte sie aus dem Grammofon den unverkennbaren Klang von Louis Armstrongs Trompetenspiel. Die Fassungslosigkeit, die sie im Laufe des Telefonats mit Else erfasst hatte, hielt sie so fest umklammert wie ein geschmiedeter Eisenring ein morsches Holzfass. Offenbar reichte es den Nazis nicht mehr, die Juden aus allen öffentlichen Bereichen auszugrenzen, ihnen trotz erfolgreichen Studiums die Zulassungen für Medizin oder Recht vorzuenthalten sowie ihre literarische Stimme zu ersticken, nun gingen sie selbst auf unpolitische Mitbürger los. Seit drei Tagen saß ihr Neffe in sogenannter Schutzhaft, der Anwalt konnte nur hilflos zusehen und bis zur Verhandlung wenig unternehmen. Claus’ Mitgliedschaft bei den Stahlhelmen schützte ihn nicht länger ausreichend vor politischer Verfolgung.

John saß im Wohnzimmer, rauchte eine Zigarette und las in der Tageszeitung. »Und? Was gibt es Neues von Claus?«

»Nichts, Else und Bertha werden verrückt vor Sorge.« Marie setzte sich zu ihm an den Tisch. »In ein paar Stunden kommen Helene und Hannes. Wo hast du die Schlüssel für ihre Wohnung deponiert?«

»Sie liegen in der Glasschale im Flur.« John faltete die Tageszeitung zusammen. »Was sollen wir mit Noah Lehmann anstellen? Bleibt er in Kopenhagen, oder reist er weiter zu seiner Familie nach Amerika?«

»Das fragen wir ihn besser persönlich.« Die Mitteilung, einen weiteren Landesflüchtling unterbringen zu müssen, stellte kein Problem dar, die Wirtschaft in Dänemark florierte, und deutsche Kräfte galten unabhängig von ihrer Religion als fachkundige und zuverlässige Arbeiter.

Maries Neffe saß seit drei Tagen grundlos in Schutzhaft, während die Nazis trotz des Versailler Vertrags die Werften mit dem Bau von Kriegsschiffen beauftragten und gegen geltende Gesetze verstießen. Bei Blohm und Voss lief die Admiral Hipper als erster großer Kreuzer vom Stapel. Sie befand sich für Manöverübungen in der Ostsee, wenig später folgte das Passagierschiff Wilhelm Gustloff. Auch bei Maries früherem Arbeitgeber, der Vulkan-Werft, die nun unter neuem Namen erneut die Marineflotte aufstockte, liefen die Geschäfte. Die Nazis unterwanderten ohne Repressalien die militärischen Punkte des Versailler Vertrags und bauten ungehindert eine Kriegsflotte auf, entsprechend blühte die Hamburger Wirtschaft.

Marie beriet seit fünf Jahren keine Firmen mehr, hielt sich aber dennoch auf dem Laufenden, sie genoss ihren Ruhestand in Kopenhagen mit John zusammen, der mit siebenundsechzig Lenzen nur noch selten als Firmenberater tätig war. John nutzte seit zwei Jahren vermehrt seine geschäftlichen Verbindungen, wenn Freunde und Familie Deutschland den Rücken kehrten, um den dortigen Umständen zu entgehen.

»Hitler ist ein charismatischer Politiker«, sagte John plötzlich. »Er schiebt erfolgreich die Schuld der Inflation auf eine Randgruppe, um sich keine politische Mitschuld eingestehen zu müssen.«

»Ich kümmere mich um das Mittagessen«, wechselte Marie das Thema, dabei gab sie ihm im Stillen recht. Die Entwicklung in ihrer Heimat stand im Widerspruch zu allem, woran Marie glaubte und wofür sie gekämpft hatte. Statt frei in seinen Entscheidungen zu sein, beschnitt die Nazi-Politik das tägliche Leben im ganzen Land, ob für Frauen oder Männer, selbst Kinder wurden nach den Wünschen ihres Landesführers zu folgsamen Marionetten geformt. Seit diesem Jahr mussten Frauen vor dem Studium einen sechsmonatigen Arbeitsdienst ableisten.

Marie schnitt das frische Gemüse in kleine Stücke, gab es zum angebratenen Fleisch und löschte das Ganze mit einem kräftigen Rotwein ab, bevor sie den Topf mit einem Deckel abdeckte.

Bei den regelmäßigen Telefonaten erfuhr Marie, was in Elmshorn und Hamburg vor sich ging. Elses Töchter Magdalena und Berta wohnten während ihres Studiums in Maries Wohnung am Alten Wall, beide scherten sich nicht um Politik, schwärmten für Jazz und Swing, vergnügten sich und genossen ihr Leben, bevor sie das Berufsleben zu mehr Ernsthaftigkeit verpflichtete. Marie freute sich über diese Unbefangenheit und die kleine Revolution gegen die deutschen Zwänge. Amüsiert schob Else die wilden Wesenszüge ihrer beiden Töchter auf die Verwandtschaft mit Marie. Vielleicht besaßen ihre Großnichten tatsächlich ähnliche Züge.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken, sie schaltete den Herd aus, ging zur Wohnungstür und öffnete.

Helene lächelte sie an. »Wir waren schneller als erwartet.«

Marie schloss ihre Nichte in die Arme. »Kommt rein«, forderte sie. Hannes sah müde aus, und Alma versteckte sich hinter ihren Großeltern, die auf dem Treppenabsatz warteten und höflich grüßten. »Sie müssen die Eltern von Hannes sein«, begrüßte sie das Ehepaar in Maries und Johns Alter. »Vermutlich habe ich Sie auf der Hochzeit gesehen, ich bin manchmal mit Gesichtern etwas vergesslich, entschuldigen Sie.«

»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, beschwichtigte Hannes’ Mutter und reichte Marie die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, wir sind Ihnen sehr dankbar.«

»Ach, das ist nichts«, wiegelte Marie ab und winkte sie in die Wohnung, bis nur noch ein junger Mann im Treppenhaus stand. »Sie sind bestimmt Noah Lehmann, herzlich willkommen«, sie reichte ihm die Hand. »Wie geht es Lissy?«

»Sie wäre am liebsten mitgekommen, aber ich konnte es ihr ausreden.« Der groß gewachsene Mann sah niedergeschlagen aus. »Mit etwas Glück kann sie bald nachkommen.«

»Jetzt kommen Sie erst mal herein, der Rest findet sich schon.« Marie schloss hinter ihm die Tür. Seiner Aussage nach wollte er in Kopenhagen bleiben und Lissy nachholen.

John unterhielt sich lautstark mit Hannes. »Ihr werdet hungrig sein.«

Maries Fleischtopf bräuchte noch einige Stunden, nachdem sie erst deutlich später mit ihren Besuchern gerechnet hatte. »Lasst uns in das Eckrestaurant gehen, ich nehme euren Wohnungsschlüssel mit, dann können wir euch beim Ausladen des Autos helfen.« Marie wandte sich an Noah Lehmann. »Sie schlafen vorerst in unserem Gästezimmer.«

»Ich will Ihnen keine Umstände bereiten und gehe in ein Hotel.«

Noah Lehmann gefiel Marie, er schien ein patenter junger Mann zu sein. »Sie sind unser Gast«, lehnte sie sein Angebot ab. »Sie müssen uns von Lissy und Elmshorn erzählen, machen Sie uns die Freude.« Damit hoffte Marie, ihn umstimmen zu können.

John mischte sich ins Gespräch. »Wir haben Platz, ein Hotel wäre reine Geldverschwendung.«

»Danke«, gab Noah nach.

Auf seinen Stock gestützt, holte John seine Anzugjacke. »Lasst uns essen gehen und das Wiedersehen feiern.« Zu Beginn ihrer Hochzeitsreise war John zusammen mit ihr in Elmshorn gewesen. Er hatte Helene und Hannes auf deren Hochzeit getroffen, seither weigerte er sich beharrlich, noch mal ins Deutsche Reich zu reisen, die Stimmung schlug ihm auf den Magen und sein Gemüt. Dieses Unwohlsein hatte sich schon beim Ausbruch des Weltkriegs gezeigt. Marie hatte die Produktionsstraße für die neuen Haushaltsverpackungen der Kölln-Flocken entworfen, seither gab es für sie im Reich nichts mehr zu tun. Den Kontakt zu ihrer Familie hielt sie per Telefon, was freilich kein Vergleich mit einem Besuch darstellte.

Zunächst verliefen die Gespräche bei Tisch zurückhaltend, bis sich alle in der gemütlichen Runde wohlfühlten und die Anstrengung der Reise von ihnen abfiel.

»Es ist eine Schande, was in unserem Land geschieht«, ereiferte sich Hannes Jülich. »Erst machen sie mir das Geschäft kaputt, um es dann weit unter Preis aufzukaufen. Am liebsten hätte ich die Fabrik in Brand gesetzt.«

»So ergeht es vielen«, stimmte Noah Lehmann zu. »Irgendwie hat Vater die Zeichen frühzeitig erkannt und noch mit großem Gewinn verkauft, heute würden sie für die Konservenfabrik weniger als die Hälfte bekommen; natürlich begründet mit der schlechten Auftragslage.« Fast schon wütend schnitt er sich ein Stück vom Braten ab.

»Sei nicht so streng, Noah«, wandte Hannes ein. »Die NSDAP erstarkt, viele sehen nur die Punkte, die sich in ihrem Leben verbessern.« Er sah zu seiner Frau. »Sieh dir Helenes Schwester Emma an, sie ist kein Nazi, trotzdem sind ihre Töchter mit Nazis verheiratet und ihr Kleiner ist in der HJ.«

»Weil Walter es so will«, wandte Helene ein.

Hannes trank einen Schluck Bier. »So einfach ist es nicht, die Partei bietet viele Vorteile, und die überlagern die leichten Bauchschmerzen, ob es richtig ist, was sie tun. Nun kaufen manche billig Geschäfte, in denen sie früher höchstens höhere Angestellte gewesen waren. Der eigene Tisch will reich gedeckt sein.«

»Das ist niederträchtig«, wandte Marie ein, der bei dieser Betrachtungsweise der Appetit verging. »Selbst verblendete wie Georg Duckwitz haben erkannt, was schiefläuft.«

»Duckwitz?«, hakte Helene nach. »Den Namen habe ich noch nie gehört. Wer ist das?«

»Duckwitz arbeitet seit 1928 für Kaffee HAG als Leiter der Niederlassung in Kopenhagen. Er war zuerst von Hitlers Ideen begeistert, ja geradezu vernarrt«, führte John aus. »Er war als Skandinavienreferent für die NSDAP tätig. Erst nachdem Hitler Ernst Röhm und andere Führungskräfte, die ihm im Weg waren, ermorden ließ, wandte er sich von Hitler ab.«

»Duckwitz ist nun im Reedereigeschäft.« Marie kannte den Mann sehr gut, er betreute die Hamburg-Amerika-Linie. »Er ist noch Parteimitglied, aber mehr, weil er keine Wahl hat als aus Überzeugung.«

»Hitler hat Angst vor einflussreichen Menschen wie Thomas Mann, sie können ihm gefährlich werden«, bestätigte Hannes Jülich. »Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn, und wer dies lautstark mitteilt, muss um sein Leben fürchten.«

Für einen Moment herrschte Schweigen am Tisch.

»Hier seid ihr in Sicherheit, bis nach Dänemark reicht Hitlers Arm nicht«, versuchte Marie die niedergedrückte Stimmung aufzulösen. »Erzähl mir von Lissy«, bat sie Noah Lehmann. »Wie geht es ihr und der restlichen Familie?«

Noah lächelte. »Sie sind alle wohlauf, wenngleich in großer Sorge wegen Claus’ Verhaftung. Niemand weiß, wie lange sie ihn in Fuhlsbüttel festhalten.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wisst ihr, mein Vater hat im Krieg gedient, er hat das Eiserne Kreuz erhalten, weil eine Kugel ihm die Schulter ruinierte. Nur ein paar Jahre später wird er wie ein Lump vertrieben.«

John legte seine Hand auf den Arm des jungen Mannes. »Niemand versteht die Beweggründe, es lohnt nicht, darüber nachzudenken, sie sind verblendet.«

Noah suchte Johns Blick. »Warum hält sie keiner auf?«

Diese Frage stellte sich Marie regelmäßig, eine einleuchtende Antwort fiel ihr jedoch beim besten Willen nicht ein.

3

Vom Bier beschwipst schlenderte Berta Kölln über den Hamburger Rathausplatz auf dem Weg nach Hause, sie summte ein Lied von Teddy Stauffer. In ihren Gedanken sah sie sich am Samstagabend auf seinem Konzert im Café Heinze zu seinen fantastischen Jazzklängen tanzen.

Hoffentlich hatte ihre Schwester Karten bekommen, sonst würden sie vor dem Café Heinze auf der Lauer liegen wie zwei hungrige Katzen auf dem Altonaer Fischmarkt bei der Aussicht auf einen saftigen Matjeshering.

Der Herbstwind trieb jede Menge trockenes Laub vor sich her. Es wirbelte um die eigene Achse wie ein Kreisel, bevor der launische Wind die Richtung änderte und die Blätter auseinanderwehte. Die mächtigen Hakenkreuzflaggen flatterten am Fahnenmast. Seit der Großveranstaltung im April, die im Licht von Tausenden Fackeln auf dem Platz stattgefunden hatte, zierten die Balkonstürze im ersten Stock Hakenkreuzfahnen. Fast wirkten sie wie eine Bordüre, die das ganze Gebäude säumte wie ein Samtband den Rock eines Abendkleides. Berta hatte die Veranstaltung frühzeitig verlassen, obwohl das Spektakel, das Hitler veranstaltete, auch sie beeindruckt hatte.

Der Zufall wehte Berta vor einen Stürmerkasten, genervt betrachtete sie die hetzerische Schlagzeile: »Kauft nicht beim Juden« und »DIEJUDENSINDUNSERUNGLÜCK«, zeitgleich fiel ihr der Eimer weiße Farbe ein, den sie mit einem Pinsel in einem Jutesack bei sich trug.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Mit den richtigen Pinselstrichen konnte sie die Sätze richtigstellen. Verstohlen sah sich Berta um.

Bei diesem stürmischen Wetter hielt sich niemand an dieser kleinen Straßenecke auf. Hastig zog sie den Malerpinsel heraus, öffnete den Farbeimer und tauchte die Spitze ein. Zehn Sekunden später steckte alles wieder in ihrer Tasche. Sie trat einen Schritt zurück und lächelte. »Kauft beim Juden« stand nun dort, darunter »DIEJUDENSINDUNSERGLÜCK«. Zufrieden mit ihrem Werk, eilte sie in den Alten Wall, stürmte die Treppenstufen hoch und betrat die Wohnung, die ihnen ihre Großtante Marie überlassen hatte.

Wohlige Wärme empfing sie, dazu der Geruch nach gebratenen Würsten. »Ich bin zu Hause!« Sie streifte die Schuhe ab, hängte den Mantel auf und ging zu Magdalena in die Küche. »Hast du für mich mitgekocht?«

»Hast du die Farbe?«, fragte ihre Schwester, die um Bertas Vergesslichkeit wusste. »Wenn ja, habe ich für dich mitgekocht.«

»Sie hat eine ausgezeichnete Deckkraft«, scherzte Berta. »Ich musste sie am Stürmerkasten an der Ecke ausprobieren.«

Magdalena sah sie fragend an. »Was hast du dieses Mal angestellt?«

»Nur etwas richtiggestellt.« Berta überhörte den besorgten Tonfall, aber sie konnte unmöglich anders handeln, ihre älteste Schwester Lissy saß in Elmshorn und weinte sich die Augen aus dem Kopf, seitdem Noah nach Dänemark zu Marie geflohen war. Lissy kam sie nicht mehr in Hamburg besuchen und verkroch sich zu Hause. »Hast du die Karten für Teddy Stauffer bekommen?«

Magdalena nahm die Würste aus der Pfanne und brachte sie auf zwei Tellern mit Brot zum Küchentisch, eine Schüssel mit Kartoffelsalat stand darauf. »Ja, arbeitest du morgen?«

»Muss ich«, bestätigte Berta. Jeden Samstag sowie an zwei Nachmittagen die Woche half sie Annelise im Blumenladen, um sich zum Studium etwas Geld dazuzuverdienen. Ihr Vater zahlte zwar die Studiengebühren und die Lebensmittel, doch für ihre privaten Vergnügungen musste sie arbeiten, daran hatten ihre Eltern keinen Zweifel gelassen. »Wie sollte ich dir sonst das Geld für die Karten geben?«

»Du könntest acht Wochen meinen Treppenputzdienst übernehmen«, feixte Magdalena und biss in ein Würstchen.

»Träum weiter.« Berta setzte sich an den Tisch, ihr Magen knurrte laut. »Ich habe Dick getroffen.« Dick hieß eigentlich Karl, aber er besaß nicht nur bei Namen ein Faible für die britische Lebensart. Er trug sein Haar bis an den Hemdkragen, Karojacketts und einen Schlips im Windsorknoten, den er nur lockerte, wenn es auf der Tanzfläche mit ihm durchging. Da warf er sogar seinen teuren Eden Hat mit der hochgebogenen Krempe achtlos auf den Tresen. Karl kannte alle Jazzplatten, besuchte Konzerte und behandelte nach Praxisschluss auf eigene Rechnung jüdische Patienten, die aufgrund der Bestimmungen keinen deutschen Arzt aufsuchen durften. Berta schwärmte für ihn. Sie ließ sich von seinem Mut und von seiner verrückten Art zu tanzen anstecken. »Er war auf dem Weg in den Trichter, zuvor hat er mich auf ein Bier eingeladen.«

»Kommt er zum Konzert?«

»Das lässt er sich keinesfalls entgehen! Er will Teddy ansprechen und ihn bitten, sich seine Sachen anzuhören.« Berta liebte Karls Musik, sein Saxofonspiel besaß eine eigene Klangfarbe, jeden Sonntag spielte er im Alsterpavillon, wo sie ihm und seiner Band regelmäßig zuhörte. Daran änderten auch die Hetzplakate der Nazis nichts, die sie in Großformat in den Stürmerkästen aufhängten und einen schwarzen Saxofonspieler mit einem Judenstern am Revier zeigten, dessen Swing sie entartet nannten. Früher hatte sie moderne Frauen so bezeichnet, das wusste sie von Caroline, denn deren Mutter hatten sie damals so genannt, weil sie Pharmazie studieren wollte. Über beides spottete Berta mit ihren Freunden, und anschließend drehten sie die Musik lauter.

»Diese Woche sollen Verdunkelungsübungen stattfinden, hast du davon gehört?« Magdalena biss in ihr Brot.

»Man könnte glauben, Hitler bereitet uns auf einen Krieg vor.« Berta verdrückte ihr letztes Stück Wurst. »Erst der verpflichtende Militärdienst, dazu marschieren die meisten in unserem Alter im Gleichschritt, als gäbe es einen Preis dafür zu gewinnen. Am schlimmsten finde ich ja die Nichtskönner, die spielen sich auf, verpetzen ihre Kollegen, nur um selbst besser dazustehen.« Berta störte der rigorose Kurzhaarschnitt, den die Männer ihres Alters sogar nach ihrer Mitgliedschaft in der Hitlerjugend trugen, er beraubte sie jeglicher Individualität.

»Deine Swing-Boys sehen auch aus wie eine Kopie ihrer Vorbilder«, spottete Magdalena. »Etwas mehr Mut in ihrer Kleiderwahl könnten sie schon zeigen.« Sie zwinkerte Berta zu. »Mit der Times unter dem Arm würde man sie trotzdem noch erkennen.«

Seitdem Magdalena ausgefallene Kleidung für Frauen und Männer entwarf, versuchte sie, ihre gewagten Modelle bei Bertas Freunden anzubringen. »Wann bekomme ich meine Hosen?«

»Die kriegst du nur, wenn du sie auch trägst.« Magdalena suchte ihren Blick. »Tagsüber, nicht nur abends in einem Jazzclub.«

»Zweifelst du etwa daran?« Marlene Dietrich war Bertas Vorbild, ihr Kleidungsstil war der Inbegriff von freier Entfaltung. »Ich trage sie mit einem Herrenhemd und einer langen Perlenkette.«

»Gut, morgen ist sie fertig, das Hemd besorgst du dir selbst. Die Hose ist schiefergrau, der Schlag ist breiter als der bei den Amerikanern, dazu noch ausgestellte Hosenbeine.« Sie grinste Berta amüsiert an. »Ich begleite dich in einem neuen Kleid.«

»Wer ist hier der Feigling?« Berta gähnte herzhaft. »Was sagt Mutter zu deinen Entwürfen?«

Magdalena stellte das Geschirr zusammen. »Sie kennt nur die Kleider, Hosen würde sie uns niemals erlauben.«

»Wenn du dich da nicht irrst«, entgegnete Berta, ließ Wasser in die Spüle laufen und begann mit dem Abwasch. Vor etwa einem Jahr hatte Louise Köhncke ihr die Geschichte zur damaligen Geschäftseröffnung von Elses Boutique erzählt. Else hatte den Laden mit dem Geld ihrer Eltern und gegen den Willen von Bertas Vater eröffnet und sich damit den gültigen Konventionen widersetzt. Seither sah Berta ihre Mutter mit anderen Augen. »Wie es Vater wohl geht?«, sprach sie ihren nächsten Gedanken laut aus.

»Er wird bald frei sein, sie können ihn nicht ewig grundlos in Fuhlsbüttel einsperren«, mutmaßte Magdalena. »Ich gehe morgen zu ihm.«

»Ich würde dich begleiten, aber ich muss zur Arbeit.« Einmal die Woche versuchten sie, ihren Vater zu besuchen, meist wurden sie abgewiesen, einzeln gelang es ihnen häufiger.

»Hoffentlich kann ich zu ihm, er wird immer schmaler.« Magdalena trocknete die Teller ab und räumte sie in den Küchenschrank. »Ich glaube, unsere Essenslieferungen kommen nicht bei ihm an.«

»Da würde zu ihnen passen«, schimpfte Berta. »Er ist nun schon seit Monaten dort.«

»Sie wollen ihn weichkochen«, mutmaßte Magdalena, worin Berta ihr insgeheim recht gab.

»Ich bin müde.« Gähnend wischte sie die Spüle aus und strich sich eine lose Haarsträhne zurück. »Schlaf gut.«

»Du auch«, Magdalena wies ins Wohnzimmer, wo ihre Nähmaschine stand. »Ich muss noch ein paar Stunden arbeiten, sonst werden deine Hosen bis morgen nicht fertig.«

Lachend küsste Berta ihre Schwester auf die Wange. »Wegen mir musst du keine Nachtschicht einlegen, ich kann warten.«

»Diese Hose muss bei einem Teddy-Stauffer-Konzert eingeweiht werden, es werden alle dort sein!« Mit einem Augenzwinkern verschwand sie im Nebenraum.

Den Ehrgeiz, ihre eigene Mode zu entwerfen, musste Magdalena von ihrer Mutter geerbt haben, Bertas rebellische Ader schoben alle aus ihrer Familie auf die Verwandtschaft mit ihrer Großtante, die sie leider nur aus Erzählungen kannte. Was man sich von Marie erzählte, hatte aber auffallende Ähnlichkeit mit ihr. Vielleicht fühlte sie sich deshalb so heimisch in dieser Wohnung am Alten Wall. An manchen Tagen saß sie am Fenster und sah auf die Straße hinunter, die sich im Laufe der Zeit kaum verändert hatte. Wie war das Leben in Hamburg während der Kriegsjahre abgelaufen? Nur wenige Geschichten kannte sie aus ihrer Geburtszeit, es musste eine schlimme Zeit gewesen sein. Berta genügten die Verdunkelungsübungen mit dem alles durchdringenden Sirenengeheul. Sie kuschelte sich in das Bett, das sie sich mit Magdalena teilte, das leise Surren der Nähmaschine schickte sie auf unmittelbarem Weg ins Land der Träume.

Aus diesen riss sie das Klingeln des Weckers, müde suchte sie den Hebel zum Ausschalten. Magdalena grunzte leise, bevor sie sich die Decke über die Ohren zog und weiterschlief.

Lautlos schlüpfte Berta aus dem Bett, nahm die am Vorabend herausgelegte Kleidung mit ins Badezimmer und machte sich fertig für den Tag, der sie nach einer Tasse Kaffee auf den Blumenmarkt führte. Die Straßen lagen in nächtlicher Dunkelheit, der kalte Herbstwind rüttelte an den wenigen Blättern, die noch an den Ästen festhielten und dem drohenden Winter trotzten.

Berta schlug den Mantelkragen hoch und erledigte die Einkäufe. Obwohl sie eine Nachteule war, liebte sie diese quirligen Stunden auf dem Markt, wo der herrliche Blütenduft alle anderen Stadtgerüche überlagerte, dazu schlief der Großteil der Hamburger noch. Nur die Gewerbetreibenden tummelten sich auf den unterschiedlichen Märkten, um die besten Angebote zu ergattern.

Die Lieferung würde nur kurz nach Berta in Carolines Blumengeschäft eintreffen. In der Mönckebergstraße angekommen, sah sie aus der Ferne das Ladenlicht. Ein streunender Hund huschte über die Straße. Berta drückte die Türklinke hinunter, und das übliche Klingeln der Ladentür erklang. »Moin, Annelise, du bist früh dran.«

»Caroline kommt heute mit dem ersten Zug, da wollte ich den Laden hergerichtet haben.« Annelise befüllte die Blumeneimer mit frischem Wasser.

»Die Lieferung kommt gleich.« Berta hängte ihren Mantel ins Hinterzimmer. »Der Laden sieht immer ordentlich aus.« Sie half ihr, die Eimer zu befüllen.

»Ich bin dennoch jedes Mal nervös«, gab Annelise zu.

Seit Caroline einen zweiten Laden in der Hansestadt eröffnet hatte, leitete Annelise das Geschäft. Nur kurz darauf hatte sie einen Hamburger Hafenarbeiter geheiratet und ein Neugeborenes mit ihm, seither fürchtete sie, ihr Glück könnte sich in Luft auflösen. »Völlig grundlos, Caroline weiß, wie gut du bist, die Zahlen sprechen doch eine eindeutige Sprache.«

»Ja, trotzdem arbeite ich weniger hart, seitdem ich Fritz habe und er im Hinterzimmer aufwächst.« Annelise lachte. »Wo gibt es denn so was?«

»Deshalb hast du ja mich«, scherzte Berta. »Und ich kann das Geld gut gebrauchen.« Der Blumenlieferant fuhr vor. »Ich kümmere mich darum.«

Mit wenigen Handgriffen verfrachtete Berta die Schnittblumen in die gefüllten Eimer, Annelise bezahlte den Lieferanten und betrachtete die Ware. »Du hast eine schöne Auswahl getroffen.«

Berta lachte über das Lob. »Nach einem halben Jahr weiß ich, welche Blumen du für das Wochenende willst.«

»Nimm das Lob trotzdem an«, bat Annelise und wischte sich die Hände an ihrer Schürze trocken.

Die Ladentür schwang auf. Caroline hielt eine Papiertüte hoch. »Frisch aus dem Schrader, Zeit für ein Frühstück, Else lässt euch schön grüßen!«

Berta lachte. »Mutter glaubt also weiterhin, dass es in Hamburg keine Rundstücke oder Franzbrötchen gibt?«

»Keine so guten wie die aus dem Schrader.« Caroline legte die Tüte auf den Tresen und zog sich den Mantel aus. »Damit hat sie übrigens vollkommen recht.«

»Ich koche Kaffee.« Berta verschwand im hinteren Bereich des Ladens.

Sie hörte Caroline und Annelise Geschäftliches besprechen, Fritz greinte ein wenig, doch als Berta die Wiege anstieß, gluckste der Junge zufrieden und lächelte. »Du Süßer, du wirst mal allen Mädchen den Kopf verdrehen.« Sie kitzelte ihn am Bauch.

Mit einem Tablett bestückt kehrte Berta zurück in den Verkaufsraum und stellte die Kaffeetassen samt Kanne auf den Tresen. »Danke, Berta, gibt es inzwischen Neuigkeiten von deinem Vater? Ich wollte deine Mutter mit einer Nachfrage verschonen.«

»Magdalena besucht ihn heute, wenn man sie zu ihm lässt.« Berta seufzte. »Irgendwann müssen sie ihn gehen lassen, er hat nichts Unrechtes getan.«

»Das hat Emil auch nicht, trotzdem verhören sie ihn regelmäßig, ob er Geschäfte mit Otto Oppenheim tätigt, als ob das möglich wäre. Wie es aussieht, wird Emils jüdischer Großcousin samt dem kleinen Rudolf auswandern. Emil hat nur Ruhe, weil sein Großvater als Kind eines zum Evangelismus konvertierten Juden geboren wurde, sonst würden sie uns auch drangsalieren.« Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Er kann nichts für seine Verwandten tun, außer die Schiffspassage zu finanzieren und ihnen eine kleine Starthilfe mitzugeben, sollten sie ihr Erbe nicht rechtzeitig antreten können, um sich damit einen Neustart zu ermöglichen. Es wird gemunkelt, dass Exiljuden bald von der Erbfolge ausgeschlossen werden und die Besitztümer dem Reich zugesprochen werden.«

»Was für eine Schweinerei!«, rutschte es Berta unkontrolliert heraus.

»Sei weniger impulsiv«, mahnte Caroline. »Das könnte dich in Gefahr bringen.«

Das wusste Berta, dennoch konnte sie kaum an sich halten. »Ich versuche es.«

»Lasst uns frühstücken.« Caroline holte die Gebäckstücke aus der Tüte und goss den Kaffee ein. »Wir können die Welt nur im Kleinen ändern, da hilft uns kein hungriger Magen.«

Berta nahm sich ein Franzbrötchen, biss hinein und schloss für einen Augenblick genussvoll die Augen. »Heute Abend werde ich wie Marlene Dietrich Hosen tragen.« Da fiel ihr ein, dass sie noch ein weißes Herrenhemd benötigte. »Außer, du hast meine Lohnzahlung vergessen.«

»Die habe ich dabei.« Caroline nestelte in ihrer Handtasche und holte ein Kuvert heraus. »Bitte schön.« Sie reichte Annelise einen zweiten Umschlag.

»Großartig«, schwärmte Berta, verdrückte die letzte Ecke ihres Teilchens und leckte sich die Finger ab. »Du rettest mir damit das Leben.«

»Die Übertreibungen der Jugend.« Dennoch konnte man Carolines Freude über Bertas Begeisterung nur unschwer übersehen. »Und du wagst dich tatsächlich in Hosen auf die Straße?«

»Ja«, wobei sie ein wenig Herzklopfen bei dem Gedanken daran hatte. Sollte sie einer Gestapogruppe begegnen, könnte sie Ärger bekommen. »Teddy Stauffer spielt heute im Heinze.«

»Das ist natürlich ein triftiger Grund aufzufallen«, wandte Annelise lachend ein. »So kann dein Dick mit dir angeben.«

»Er ist nicht mein Dick«, widersprach Berta und hoffte, nicht zu erröten. »Wir sind Freunde.«

Caroline lachte. »Ja, das habe ich von Emil und mir auch gedacht, und sieh an, wo es uns hingeführt hat.«

Insgeheim freute sich Berta darüber, obwohl sie unsicher blieb, wie Dick zu ihr stand, aber das würde sie herausfinden, vielleicht ja schon an diesem Abend. »Mich führt es vorerst ins Café Heinze.«

Der restliche Arbeitstag verging rasch. In einem Geschäft drei Häuser weiter erstand sie ein weißes Herrenhemd, damit war sie für den Abend gerüstet. Nervosität ergriff sie auf dem Weg in ihre Wohnung, oben angekommen, hörte sie die Nähmaschine rattern, Berta öffnete die Tür und trat ein. »Wehe, du bist nicht fertig, ich habe mir ein Hemd gekauft.«

»Ich habe nur noch eine kleine Änderung am Saum vorgenommen, mir gefällt es mit einer doppelten Naht besser.« Magdalena schnitt den Faden ab und reichte ihr die Hose. »Jetzt will ich wissen, wie sie sitzt.«

Berta warf ihren Mantel auf das Sofa, ihr Kleid folgte, eilig schlüpfte sie hinein und schloss den Hosenknopf, bevor sie ins Schlafzimmer ging und sich vor den Spiegel stellte. »Sie passt.« Ihre langen Beine kamen prächtig zur Geltung, ebenso ihre schmale Hüfte, die Hose saß perfekt. »Lenchen, du bist die Beste!«

Magdalena stand mit stolzem Gesichtsausdruck im Türrahmen. »Und du machst Marlene Konkurrenz.« Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Du musst sie nicht anziehen, das weißt du, oder?«

Berta überlegte nur einen Wimpernschlag. »Natürlich werde ich sie tragen, wo denkst du hin!« Freudige Erregung ergriff sie. »Und jetzt lass uns fertig machen, sonst kommen wir zu spät. Hast du Vater gesehen?«

»Sie haben mich fortgeschickt, ich versuche es morgen noch mal.«

Die Sorge um ihren Vater drückte Berta ein wenig auf die Stimmung. Das Tragen der Hose sah sie als moralische Unterstützung der Werte, die ihre Familie pflegte, und wenn die Gestapo sie wegen Männerhosen ein paar Tage wegsperrte, dann würde sie das durchstehen.

Ihr akkurat onduliertes blondes Haar verwandelte sie mit den Fingern in ein geordnetes Chaos, letztlich stand sie in Hosen und Hemd vor dem Spiegel, drei Knöpfe ließ Berta offen, die lange Perlenkette baumelte ihr bis zum Bauchnabel. »Fehlt nur noch eine Zigarrenspitze.«

Magdalena trug ein enges Kleid mit kurzem Rock, wie es in der Swing-Bewegung üblich war. »Dazu müsstest du anfangen zu rauchen«, sagte sie prustend. »Ich bewundere dich für deinen Mut.«

»Es ist dein Entwurf, und ich lasse es jeden wissen, ob er fragt oder nur schaut.« Berta streckte Magdalena übermütig die Zunge raus.

Obwohl Bertas Mantel bis Mitte Wade reichte, erntete sie in der Straßenbahn auf dem Weg ins Café Heinze neugierige Blicke, einige Frauen tuschelten miteinander, zwei Männer sahen sie grimmig an, woraufhin sie nur das Kinn reckte und provozierend Blickkontakt suchte.

Einer der Männer spuckte vor Berta aus. »Eine Schande.«

»Entartete Lesbe«, zischte ihr sein Begleiter zu.

»Ach, haltet die Klappe, ihr habt ja die Hosen voll, nur weil eine Frau welche trägt!« So leicht ließ sich Berta auf keinen Fall verunsichern.

»Verschwindet und stänkert woanders herum«, sprang Magdalena ihr zu Hilfe. »Was schaut ihr so?«, wandte sie sich an die drei Frauen in ihrem Waggon.

»Wenn Sie so herumlaufen, brauchen Sie sich nicht zu wundern«, schimpfte eine, sah anschließend jedoch weg.

An den Landungsbrücken stiegen sie aus, Magdalena hängte sich bei ihr ein. »Wir hätten Dick und seine Freunde bitten sollen, uns abzuholen.«

»Das wäre feige«, widersprach Berta, verstand aber den Gedankengang.

Zu Beginn der Reeperbahn erhellte die grell leuchtende Lichtsäule den Nachthimmel über dem Kiez und lockte ins Innere. Im Hintergrund ragte am Millerntorplatz das Hamburger Konzerthaus mit seinem Kuppeldach auf. Das auf dem Platz gegenüberliegende Trichter besaß ebenfalls eine gewaltige Kuppel mit Leuchtreklame und war kostspieliger als das Heinze mit der verschnörkelten Fassade.

Über den Platz spazierten einige Männer in ihrem Alter in vornehmlich britisch anmutender Kleidung, die Frauen trugen Kleider, deren Röcke knapp oberhalb des Knies endeten. Augenblicklich fühlte sich Berta wohler und unter Gleichgesinnten, die sich zu Jazz und Swing amüsieren wollten. Ein Schaukasten kündigte die Teddy-Stauffer-Band an. Karl stand am Eingang und unterhielt sich mit seinen Bandkollegen. »Da ist Dick.« Berta zog ihre Schwester mit sich.

»Swing Heil«, grüßte sie die Gruppe.

»Swing Heil, Berta.« Karl tippte sich an seine Melone. »Moin, Magdalena, lasst uns aus der Kälte verschwinden.«

Sie zeigten ihre Karten, und der Türsteher ließ sie ein. »Mal sehen, ob wir alle an den reservierten Tisch passen.«

Karl sprach mit einem Kellner, der nickte, ging voran und führte sie zu einem runden Tisch neben der Tanzfläche. Buddy, der im echten Leben Hans hieß, zog zwei Stühle vom Nachbartisch heran, und so fanden sie alle einen freien Platz, wobei Dick dafür sorgte, dass Berta neben ihm saß.

Sie zog den Mantel aus.

»Da brat mir einer einen Storch!« Karl pfiff anerkennend durch die Zähne. »Du bist die mutigste Frau, die ich kenne! Wo hast du diese Hosen her?«

Hans und die anderen drei spendeten Applaus.

»Woher wohl? Von meiner Schwester!« Berta klatschte vergnügt in die Hände, drehte sich um die eigene Achse und machte einen Knicks. »Ich finde, mir stehen Hosen ausgezeichnet.«

»Allerdings«, meinte Karl anerkennend. »Die mutigen Kölln-Schwestern, da muss ich heute nachlegen und Teddy ansprechen. Begleitest du mich?«

Für eine Sekunde verschlug es Berta die Sprache. »Wäre nicht Buddy die bessere Wahl?«

»Du siehst in Hosen weit attraktiver aus«, scherzte er und sah zu seinem Freund. »Nichts für ungut, Buddy, aber das musst du selbst zugeben!«

Die restliche Band johlte.

»Dann ist es beschlossene Sache?«, insistierte Karl.

»Einverstanden«, gab Berta nach.

»Prima, dafür gebe ich euch einen aus.« Karl winkte den Kellner zu sich und bestellte drei Flaschen Rotwein.

»Sag mal, Magdalena, was hältst du davon, für uns Kleidung zu nähen? In den Geschäften ist das recht kostspielig«, schlug Buddy vor.

Dicks Band trug fast identische Sachen. Die dunklen Mäntel mit weißem Cachenez lagen über den hohen Stuhllehnen, wo auch die allseits zur Ausstattung gehörigen Regenschirme hingen. Nur die Glencheckanzüge waren abwechselnd kariert oder einfarbig dunkel, dazu Homburgerhüte und blaue Polohemden mit weißem Binder, passend zum Mantel.

»Du meinst, ich soll eure Bühnenkleidung nähen?«, fragte Magdalena.

»Wenn du es dir zutraust?«, provozierte Karl.

Berta warf Magdalena einen warnenden Blick zu, so leicht sollte sie sich nicht von ihm herausfordern lassen.

»Natürlich, wenn du mich entsprechend dafür bezahlst«, konterte Magdalena, die Bertas Warnung verstanden hatte.

»Wir werden im Alsterpavillon gut bezahlt, keine Sorge«, entgegnete Karl.

Die Band betrat die Bühne, Applaus brandete auf, einige pfiffen lautstark zur Begrüßung. Schon beim ersten Lied verwandelte sich das Café Heinze in einen brodelnden Kessel. Karl zog Berta auf die Beine und sie hotteten ab, was ihre Körper hergaben. Berta erfasste die pure Lebensfreude. Ausgelassen tanzte jeder mit jedem, Männer, Frauen, Berta zusammen mit Hans und Karl, es gab kein Halten mehr, bis sie in der Pause erschöpft auf die Stühle zurücksanken und Berta zwei Gläser Wein gegen den Durst trank. »Wann willst du mit Teddy sprechen?«

»Jetzt wäre eine gute Möglichkeit, wollen wir?« Er reichte ihr die Hand, und sie folgte ihm, nach einem Augenzwinkern zu ihrer Schwester.

Mutig schritt er voran, an der Tür zur Garderobe klopfte er dreimal an. Der Trompeter der Band öffnete. »Ja? Autogramme geben wir erst später.«

»Ich möchte mit Teddy sprechen, ich bin ein Kollege.«

Das stimmte im weitesten Sinne, nur war Karl im Vergleich zu Teddy ein Freizeitmusiker, was Berta nur in ihren Gedanken klarstellte.

»Kommt herein.« Der Trompeter gab den Weg frei. »Besuch für dich, Teddy.«

»Wer seid ihr?« Teddy betrachtete Bertas Erscheinung und zog die linke Augenbraue hoch.

»Ich bin Dick und das ist … Betty«, stellte Karl sie vor.

In diesem Moment erhielt Berta ihren Swingnamen.

»Ihr habt einen guten Style, was kann ich für euch tun?« Teddy trank an einem Wasser.

»Meine Band und ich spielen morgen im Alsterpavillon, und ich wollte dich und deine Leute dazu einladen.«

Berta hörte das leichte Zittern in seiner Stimme, doch sie kannte ihn, im Gegensatz zu Teddy.

Karl räusperte sich. »Nur falls ihr Zeit habt.«

»Ist diese junge Dame auch anwesend?« Teddy flirtete mit Berta.

»Sie und ihre Schwester«, behauptete Karl, ohne Rücksprache mit ihr oder Magdalena zu halten.

Berta ließ ihn gewähren, es war wichtig für ihn, also würde sie dort sein.

»Zu welcher Uhrzeit spielt ihr?«