Mehr als ein Traum - Marie Louise Fischer - E-Book
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Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Nach Jahren der Trauer und des Alleinseins findet die junge Witwe Julia Severin mit Johannes Herder endlich ein neues Glück. Der gut aussehende, um einige Jahre jüngere Mann vergöttert die attraktive Vierzigjährige und will sie unbedingt heiraten. Dem stellt sich jedoch Julias Tochter Roberta in den Weg. Blind vor Eifersucht versucht sie mit allen Mitteln, die Beziehung ihrer Mutter zu zerstören, um sie wieder ganz für sich allein zu haben. Als Roberta sich obendrein selbst in Johannes verliebt, bahnt sich eine Katastrophe an. Wird Julia an ihrer Liebe zu Johannes festhalten, damit diese mehr ist als nur ein Traum? Mit »Mehr als ein Traum« findet die »Julia Severin«-Trilogie von Marie Louise Fischer ihren Abschluss.

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Seitenzahl: 436

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Marie Louise Fischer

Mehr als ein Traum

Roman

Julia Severin war glücklich; sie fühlte sich so beschwingt und gelöst wie seit Langem nicht mehr. Das lag nicht daran, dass sie ein Glas Wein mehr als gewöhnlich getrunken hatte – es war ein festliches Abendessen gewesen –, sondern weil alle die Menschen um sie waren, die sie liebte.

Sie tanzte mit Ralph, ihrem großen Sohn, und seine grünen, dicht bewimperten Augen waren auf sie gerichtet mit jenem Ausdruck zärtlichen Spotts, den sie so gut an ihm kannte. Er bewegte sich geschmeidig und ein wenig lässig auf der Tanzfläche des Capt’n Cook, als lohne es sich nicht, sich anzustrengen. Dennoch machte er eine gute Figur, wie bei allem, was er tat. Sie selber hatte sich anfangs Mühe geben müssen, denn es war lange her, dass sie zuletzt getanzt hatte, aber bald hatte sie sich in den Rhythmus hineingefunden.

Die Musik der kleinen Band war sehr laut, so dass Ralph seinen Mund dicht an Julias Ohr bringen musste, als er sie fragte: »Amüsierst du dich?«

Sie mochte sich nicht anstrengen, um sich verständlich zu machen, deshalb nickte sie nur und strahlte ihn an.

»Du bist so jung«, sagte er.

Jetzt hatte sie doch Lust, ihm zu antworten. »Ich fühle mich jung!«

Er verstand sie nicht, schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich fühle mich jung!«, wiederholte sie mit größerer Lautstärke.

»Man sieht’s.«

Sie las ihm von den Lippen ab, was er sagte. Wie sehr sie ihn liebte, ihren großen Jungen mit den schräg stehenden Augen seines Vaters, dem braunen, leicht gelockten Haar und dem spöttischen Mund. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.

»Dein Freund …«, begann er, alles andere ging in einem Stakkato des Schlagzeugers unter.

»Ja?«, schrie sie zurück. »Was ist mit ihm?«

»Scheint sich auch zu amüsieren!« Mit einer raschen Wende brachte er seine Schwester Roberta und Johannes Herder in ihr Blickfeld.

Julia war sich jede Minute bewusst gewesen, dass sich die beiden auch auf der Tanzfläche bewegten, und das hatte ihr Glücksgefühl noch gesteigert. Aber jetzt erst sah sie zu ihnen hinüber. Sie tanzten ausgelassen miteinander, wilder als Ralph und sie, mit erhobenen Händen und extravaganten Drehungen.

»Ein schönes Paar!«, sagte Ralph in ihr Ohr.

Julia nickte lächelnd.

Robertas blonde Mähne flog ihr um den Kopf, ihre langen Beine federten vom Boden. In den letzten Monaten hatte sie den Rest ihres Babyspecks verloren und war rank und schlank geworden. Ihre Bewegungen wirkten zwar nicht graziös, sondern waren eher sportlich ambitioniert. Johannes Herder war kaum einen Kopf größer als sie; er tanzte mit Schwung, aber ohne sich zu verausgaben.

Jetzt fanden seine braunen, von Lachfältchen umzogenen Augen die Julias mit einem Blick voller Liebe. Über die Schulter von Roberta hinweg warf er ihr die Andeutung eines Kusses zu. Er sah gut aus: kräftig, männlich und selbstsicher, wie er war. Plötzlich überfiel Julia der Wunsch, mit ihm zu tanzen, mit dem Mann, den sie liebte, und nicht mit ihrem Sohn, der, wenn auch mit Anmut, nur seine Pflicht erfüllte. Sie musste sich zwingen, ihm wieder in die Augen zu sehen, aber sie spürte, dass ihr Ausdruck sich verändert hatte.

Auch über Ralphs Gesicht schien ein Schatten gefallen zu sein.

Im Augenblick, als die Musik verstummte, sagte er: »Gehn wir zurück?«

»Schon?« Julia gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen; sie hatte gehofft, die Partner wechseln zu können.

Ralph legte die Hand unter ihren Ellenbogen und führte sie entschlossen zum Rand der Tanzfläche. »Wir dürfen Albert nicht so lange allein lassen. Er ist empfindlich.«

Die Musik setzte wieder ein und enthob Julia einer Antwort. Sie musste sich gestehen, dass sie die Anwesenheit von Dr. Albert Klinger völlig vergessen hatte. Sein Dabeisein war nicht geplant gewesen. Ralph hatte ihn zum Essen ins Stardust mitgebracht. »Ein guter Freund«, hatte er ihn vorgestellt, »ihr wolltet ihn doch immer schon kennenlernen.« Das stimmte zwar, dennoch war sein Auftauchen an diesem Abend, an dem die kleine Familienfeier schon seit Langem geplant gewesen war, überraschend und ein wenig irritierend gewesen. Allerdings störte er dann nicht. Er gab sich ruhig, zurückhaltend, kultiviert, ein gut aussehender Mann Anfang der vierzig, mit zurückgehendem Haar, das seine schön gewölbte Stirn betonte, und einem gepflegten Schnauzbart. Julia wusste, dass Ralph ihm viel zu verdanken hatte. Dr. Klinger hatte ihm schon während der Lehrzeit die Möglichkeit geboten, das Jungenwohnheim zu verlassen und zu ihm in seine Villa in München-Grünwald zu ziehen. Deshalb war sie ihm gegenüber besonders freundlich und bemüht, ihr Befremden über die Beziehung der beiden Männer zu überspielen.

Erst jetzt, als Ralph sie wieder in die kleine Nische zurück dirigierte, in der sie Platz gefunden hatten, störte es sie, auf den ungebetenen Gast Rücksicht nehmen zu müssen. Sie hätte noch stundenlang weitertanzen können.

Er stand auf, als sie an den runden Tisch zurückkamen, obwohl er durchaus nicht rücken musste. Ein Mann mit glänzenden Manieren, wie Julia schon mehr als einmal an diesem Abend festgestellt hatte. Vielleicht war er mit dem maßgeschneiderten Anzug, mit Weste, Seidenhemd und Krawatte ein wenig zu elegant für Capt’n Cook, einen »Tanzschuppen«, wie die jungen Leute das Lokal nannten. Aber das konnte man ihm als Inhaber eines Modeateliers und mehrerer Herrenausstattungsgeschäfte durchaus verzeihen.

Auch Ralph trug ein maßgeschneidertes Hemd, in seiner Lieblingsfarbe Grün, aber weder Jacke noch Krawatte, sondern darüber nur einen grauen, großkarierten Pullunder. Julia hatte für den Abend ein braunes Wollkleid gewählt, darauf trug sie den Korallenschmuck, den sie während ihrer letzten Reise mit Roberta auf Mykonos gekauft hatte. Da draußen klirrende Kälte herrschte, hatte sie Stiefel angezogen, was sie selber nicht als ganz passend empfand.

»Schon genug?«, fragte Dr. Klinger und rückte ihr den Stuhl zurecht.

»Ralph hatte keine Lust mehr«, sagte sie ehrlich.

»Ja, diese Jugend … eine lasche Generation!«

»Unterschätz uns nicht!«, gab Ralph zurück. »Wir haben die Zukunft noch vor uns!«

Julia begriff, dass Ralph es ernst meinte. Was er ihr vorhin auf der Tanzfläche gesagt hatte, waren nichts als Schmeicheleien gewesen, Worte, von denen er wusste, dass sie sie gerne hörte. In Wirklichkeit waren Dr. Albert Klinger und sie für ihn alte Leute. Jung waren nur er und Roberta. Wie mochte er Johannes Herder einordnen? Nicht mehr so jung wie er, aber – daraus hatte er nie ein Hehl gemacht – viel zu jung für sie.

Unwillkürlich warf Julia einen Blick auf Dr. Klingers Hände. Sie waren sehr gepflegt, mit sorgfältig manikürten Nägeln, aber stark hervortretenden Adern. Es waren alte Hände. Sie verglich sie mit den eigenen, glatten kleinen »Pfoten«, wie Johannes Herder sie liebevoll zu nennen pflegte – nein, so alt war sie denn doch noch nicht.

Sie nahm einen durstigen Zug aus ihrem Glas mit dem Longdrink, in dem das Eis längst geschmolzen war, lehnte aber die Zigarette, die Dr. Klinger ihr anbot, dankend ab. Die beiden Herren rauchten. Julia war froh, dass die dröhnende Musik zu einer Unterhaltung nicht gerade animierte. So konnte sie einfach dasitzen und ihre Tochter und Johannes Herder beobachten – für das gut gewachsene Gogo-Girl im Bikini, das sich, von Scheinwerfern angestrahlt, auf einer kleinen Empore verrenkte, hatte sie keinen Blick. Das Ambiente des Lokals – viel Mahagoni und Messing, diffuses Licht – gefiel ihr, wenn auch die Musik für ihren Geschmack weniger aufdringlich hätte sein dürfen. Voller Stolz sah sie ihrem Freund und ihrer Tochter beim Tanzen zu. Die beiden könnten wirklich Vater und Tochter sein, dachte sie, wenn Johannes Herder auch ein sehr junger Vater gewesen wäre. Es schien sogar, als hätten sie sich im Partner-Look gekleidet. Aber Julia wusste, dass es Zufall war. Johannes hatte seine Jacke ausgezogen und tanzte im am Hals offenen blauen Hemd und grauer Flanellhose; Roberta trug einen weiten grauen Rock und eine blaue Hemdbluse, die so weit aufgeknöpft war, dass man den Ansatz ihres festen jungen Busens sehen konnte. Beide wirkten mitreißend in ihrer Ausgelassenheit.

»Ich bin so froh!«, sagte Julia aus tiefstem Herzen.

Ralph beugte sich zu ihr. »Was hast du gesagt?«

»Dass ich froh bin!«

»Wie schön für dich.«

»Sei nicht so blasiert!«

Er äußerte sich nicht.

Julia hatte das Gefühl, sich verständlich machen zu müssen. »Ist es nicht wundervoll, dass die beiden sich jetzt so gut verstehen?«

»Du bist instinktlos!«, gab er zurück.

Schockiert sah sie ihn an.

Er hielt es nicht für nötig, eine Erklärung abzugeben; seine Augen waren verschleiert, und das spöttische, wissende Lächeln um seine Lippen war wie angefroren.

»Dass du einem immer die Freude verderben musst«, sagte sie hilflos.

Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, das ihn gleich viel jungenhafter machte. »Arme, kleine Julia!« Er tätschelte ihre Hand.

»You will never be alone …«, tönte der Sänger wieder und wieder auf dem Podium, das Mikrophon dicht an den Lippen. Dann endete das Lied mit einem Crescendo der Instrumente, und die Musiker verließen ihre Plätze.

Die plötzliche Stille, bevor während der Pause ein Tonband eingelegt wurde, war wie ein Atemholen.

Hand in Hand liefen Roberta und Johannes von der Tanzfläche und zu ihrem Tisch zurück.

Robertas Wangen glühten, und die blauen Augen glänzten; sie strich sich eine Welle ihres Haars aus der Stirn. »Puh, das war was!«, verkündete sie. »Ich hab einen Durst!« Sie griff noch im Stehen nach ihrem Glas.

»Warte noch!«, sagte Johannes und hielt ihr Handgelenk fest. »Ich habe Champagner bestellt.«

»Champagner!«, wiederholte Roberta beeindruckt. »Oh!« Gehorsam ließ sie die Hand sinken.

»Findest du nicht, dass du übertreibst?«, fragte Ralph kühl.

»Überhaupt nicht. Wir müssen doch miteinander anstoßen.«

»Auf unsere glückliche kleine Familie?«

»Auf unsere Verlobung!«

Das kam für Julia nicht überraschend. Sie hatten ausgemacht, den Kindern an diesem Abend ihre Verlobung bekanntzugeben, nicht, weil sie wirklich heiraten wollten – so weit war Julia noch nicht –, sondern um ihrer Verbindung endlich einen offiziellen Charakter zu geben. – Roberta war blass geworden und ließ sich in einen der rundlehnigen kleinen Sessel sinken, als hätten ihre Beine den Dienst versagt.

»Wer mit wem?«, fragte Ralph spöttisch.

»Was für eine Frage!« Johannes Herder legte Julia die Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihr herab. »Julia und ich.«

Die Maske des überlegenen, welterfahrenen Zynikers war von Ralphs Gesicht wie weggewischt. »Ihr seid verrückt!«, stieß er heiser hervor.

»Nein«, sagte Roberta verzweifelt, »nein, das dürft ihr nicht! Hans, das darfst du nicht tun!«

Johannes Herder blickte von Ralph zu ihr. »Ich verstehe nicht, was ihr dagegen habt. Wir sind doch Freunde geworden …«

Ralph sprang auf. »Ich scheiße auf deine Freundschaft!«

Dr. Klinger zuckte zusammen. »Ralph, bitte, doch nicht so vulgär!«

»Warum soll ich nicht ehrlich sein?« Ralph wies mit dem Zeigefinger anklagend auf Johannes Herder. »Dieser Mensch hat sich in meine Familie eingeschlichen! Er tut so, als läge ihm was an uns … dabei will er doch nur…«

Dr. Klinger unterbrach ihn. »Genug.« Er stand auf. »Ich hasse öffentliche Szenen. Wir wollen gehen.«

»Ich möchte nur wissen«, sagte Johannes Herder, jetzt auch aufgebracht, »woher du das Recht nimmst, eine solche Lippe zu riskieren, Ralph … Ausgerechnet du, der sich die letzten Jahre verdammt wenig um seine Mutter gekümmert hat.«

»Hat sie sich etwa bei dir beklagt?«

»Das war nicht nötig, weil die Situation offensichtlich ist.«

Dr. Klinger packte Ralph bei der Schulter. »Komm, gehen wir. Das alles führt doch zu nichts.« Er verbeugte sich vor Julia. »Verzeihen Sie dem Jungen. Es ist nicht seine Schuld, dass dieser schöne Abend verdorben wurde.« Er verbeugte sich auch in die Richtung von Roberta und Johannes Herder. »Gute Nacht.« – Ralph ließ sich von ihm aus der Nische führen wie ein dressierter Hund, der nicht mehr wagt, seinen Instinkten zu folgen.

»Tut mir leid«, sagte Johannes Herder, »ich ahnte nicht, dass er sich so aufregen würde.«

Champagner und frische Gläser wurden gebracht. Der Kellner entkorkte geschickt die Flasche, schenkte ein und stellte sie in einen Kübel mit Eis.

»Trinken wir!«, sagte Johannes Herder. »Los, Robsy, du warst doch eben noch so durstig.«

Roberta wollte nicht, aber sie war wirklich durstig, und so trank sie doch, wenn auch mit einer Miene des Widerwillens. »Das kannst du nicht tun, Hans!«, sagte sie, und als sie ihn ansah, schwammen ihre Augen in Tränen. »Du kannst es nicht!«

»Wir wollen nicht mehr darüber reden«, sagte Julia, »das Ganze war eine unausgegorene Idee.«

»Da hast du es, wie sie darüber denkt!«, rief Roberta.

Er sah Julia an. »Ist das deine wirkliche Meinung?«

»Frag mich das bitte nicht jetzt und nicht hier.«

Aus den Lautsprechern ertönte ein Blues, die Musik schwoll an und trug die leidenschaftliche, herzzerreißende Stimme von Diana Ross in den Raum.

Johannes Herder hatte Mühe, das Band zu übertönen. »Wir haben noch gar nicht miteinander getanzt, Julia! Möchtest du?«

Sie sah ihre Tochter an, aus deren Gesicht alle Freude gewichen war, und es erschien ihr falsch, sie jetzt allein zu lassen. Aber ihre Sehnsucht nach Liebe war stärker. Sie ließ sich von Johannes Herder hochziehen, und als sie sich dann, an seine Brust geschmiegt, im gleichen zärtlichen Rhythmus mit ihm bewegte, überkam sie der Wunsch, alle und alles hinter sich zu lassen – Roberta und Ralph, ihr Haus in Bad Eysing, ihr Ehrenamt im Verkehrsverein, ihre Freundinnen. Nichts mehr schien ihr einen Wert zu haben außer dem Ziel, für immer mit ihm zusammenzubleiben. Es war ihr, als könnte sie bis in alle Ewigkeit so zärtlich mit ihm weitertanzen. Sie spürte, dass auch er ähnlich empfand wie sie.

Aber sie war nicht mehr jung genug, Pflichten einfach abzuschütteln, als bestünden sie gar nicht – das war ein Talent, das sie tatsächlich nie besessen hatte.

Etwas in ihr zwang sie, die Augen zu öffnen, den Blick zu heben und nach Roberta Ausschau zu halten.

Die Nische, in der sie eben noch miteinander gesessen hatten, war leer.

»Sie ist fort!« Julia war entsetzt.

Er verstand sie nicht sogleich und neigte sein Ohr näher zu ihr hin. »Was ist?«

Sie blieb so plötzlich stehen, dass er ins Stolpern geriet und ihr auf die Zehen trat. »Robsy!«, rief Julia. »Sie ist verschwunden!«

Ein anderes Paar prallte gegen sie.

Julia nahm sich nicht die Zeit, sich zu entschuldigen, sondern riss sich von Johannes Herder los und bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden, wobei sie notwendigerweise Schultern und Ellbogen einsetzen musste.

Er holte sie ein, als sie den Rand der Tanzfläche erreicht hatte. »Reg dich nicht auf! Sie wird für kleine Mädchen sein!«

Julia rannte zum Ausgang und erreichte ihre Tochter gerade noch, als sie das Lokal verlassen wollte. »Robsy!«, rief sie ein wenig zu laut, denn sie hatte nicht berechnet, dass die Musik hier nur gedämpft zu hören war. »Bist du verrückt!« Sie packte Roberta beim Arm.

»Lass mich!«, fauchte das Mädchen.

»Ohne Mantel!«

»Hans hat die Garderobenmarken«, maulte Roberta; in ihrer Stimme klang Selbstmitleid, denn sie hatte sich bei dem Gedanken, in Rock und Bluse in die Winternacht hinauszustürmen, nicht gerade wohl gefühlt.

Julia begriff, dass es ihr nur deshalb gelungen war, sie noch abzufangen. »Warten wir auf ihn«, sagte sie, »er muss noch zahlen.«

»Ich will ihn nicht mehr sehen!«

»Ich bitte dich, sei nicht kindisch.«

»Meinst du, es wäre angenehm gewesen, euch zuschauen zu müssen? Du hast dich richtiggehend an ihn geklammert.«

»Ich liebe ihn, Roberta.«

»Das ist doch kein Grund, ein öffentliches Schauspiel zu geben!«

Julia schwieg, denn es wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein waren. Das Fräulein hinter der Garderobe machte zwar ein freundliches, ausdrucksloses Gesicht, musste aber dennoch jedes Wort mitbekommen haben. Wahrscheinlich amüsierte sie sich über diese Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter.

»Der bleibt aber lange«, sagte Roberta nach einer Weile.

»Wollen wir nicht lieber doch wieder hineingehen und nach ihm suchen? Vielleicht ist er aufgehalten worden, vielleicht hat er Bekannte getroffen, vielleicht …«

»Ich laufe ihm nicht nach!«

»Aber, Robsy, das verlangt ja niemand. Wir brauchen nur die Marken.«

»Dann geh du doch.«

»Damit du mir wieder wegläufst?«

»Ich werd schon nicht«, behauptete Roberta mürrisch. Julia seufzte. »Wenn ich mich nur auf dich verlassen könnte!«

Unwillkürlich fiel ihr Blick auf den großen, mit Messing gerahmten Spiegel neben der Garderobe, der den ankommenden Gästen dazu dienen sollte, ihren Aufzug zu überprüfen. Jetzt sah sie sich darin und hinter sich ihre große Tochter, die sie fast um einen Kopf überragte. Sie kam sich winzig gegen Roberta vor, und tatsächlich war sie schmaler und zierlicher als das breitschultrige Mädchen. Blond, rosig und blauäugig hatte sie neben ihr etwas von einem Riesenbaby an sich, und Julia fühlte sich plötzlich sehr alt. Noch gab es keine grauen Fäden in ihrem braunen, naturgelockten Haar, das sie immer noch kurz geschnitten trug, aber um ihre runden, braunen, weit auseinanderstehenden Augen hatten sich die ersten Fältchen gebildet. Für diesen Abend hatte sie, anders als sonst, reichlich Make-up aufgetragen, Wimperntusche, goldene Lidschatten und einen korallenroten Lippenstift. Jetzt kam ihr das albern vor. Als hätte sie sich jünger machen wollen, als sie war, oder auch nur schöner! Wozu? Noch in diesem Jahr würde sie vierzig werden, und keine Schminke der Welt konnte etwas daran ändern.

Wieder einmal mehr fragte sie sich, ob es einen Sinn hatte, für die Liebe zu einem Mann zu kämpfen, der drei Jahre jünger war als sie selber. Hatten Ralph und Roberta nicht vielleicht doch recht? Konnte es denn gutgehen?

Aber wie immer kam sie zu der gleichen Antwort. Sie hatte keine Wahl. Sie liebte Johannes Herder und würde ihn lieben, solange es dauerte. Er war die größte Liebe ihres Lebens und wahrscheinlich ihre letzte. Sie war bereit, das Ende hinzunehmen, wenn seine Gefühle für sie verlöschen würden, aber sie würde die Beziehung nicht abbrechen oder aufgeben aus Gründen, die nichts mit ihnen beiden selber zu tun hatten.

»Du findest dich wohl sehr schön«, sagte Roberta in ihre Gedanken hinein.

»Wie kommst du darauf?«

»Weil du dich so lange anstarrst.«

»Ich stelle nur fest, dass ich mich ein bisschen zu stark angestrichen habe.«

»Wenn du das nur einsiehst«, sagte Roberta, die selber reichlich Gebrauch von allen nur denkbaren Verschönerungskünsten gemacht hatte; sogar falsche Wimpern hatte sie sich angeklebt.

Julia musste lächeln. Sie selber hatte sich angemalt, um jünger auszusehen, Roberta, um älter zu wirken – wie lächerlich das alles doch war.

Endlich erschien Johannes Herder. »Was steht ihr hier rum? Ich warte auf euch.«

»Du hast die Marken!«, erinnerte ihn Roberta heftig.

»Ihr wollt doch nicht etwa schon gehen?«

»Ich ganz bestimmt!« Roberta entriss ihm die Garderobenmarke, die er aus einer seiner Taschen gefischt hatte, und zeigte sie vor.

»Es ist der Lammfellmantel.«

»Aber, Robsy! Ich habe doch gerade erst den Champagner bestellt!«

»Gieß ihn dir über den Kopf!«

Julia stand unschlüssig zwischen den beiden. »Also, Robsy, wirklich, ich finde auch …«

»Du kannst ja bleiben, wenn du noch Lust hast!«, fauchte das Mädchen.

»Selbstverständlich bleibt deine Mutter!«, erklärte er.

Roberta riss ihren Mantel an sich. »Na dann … noch viel Spaß, ihr beiden!«

Ein junger Mann im schwarzen Anzug eilte herbei, half ihr in den Mantel, schlug den schweren, in schwarzes Leder gefassten Vorhang zurück und öffnete ihr die Tür zur Occamstraße.

Julia machte einen Schritt, als wollte sie ihr folgen.

»Aber, Hans, wir können doch nicht …«

»Selbstverständlich können wir! Oder willst du dich bis an dein Lebensende von ihr tyrannisieren lassen?«

»Natürlich nicht, aber …«

»Dann komm!« Er nahm die Garderobenmarke wieder an sich, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zurück.

»Sie war so … so verstört!«, sagte Julia hilflos.

»Sie ist immer verstört, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht. Aber sie wird sich schon wieder beruhigen.«

»Aber was wird sie jetzt tun?«

»Erst einmal Dampf ablassen und dann in die Pension zurückgehen. Was denn sonst?«

»Ich weiß nicht, Hans …«

»Aber ich! Hör endlich auf, über Robsy nachzugrübeln. Sie ist fast erwachsen und kann sehr gut auf sich selber aufpassen. Denk lieber an mich. An mich und an dich! Es ist unser Abend!«

»Ja, Hans«, sagte sie, »du hast ja recht.« Aber sie spürte, dass nichts ihre gute Stimmung zurückbringen würde.

Als Roberta auf die Straße hinausgetreten war, hätte ein Windstoß sie fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Es war eine frostklirrende Nacht, und sie erschauerte, obwohl sie den Kragen hochgeschlagen und die Fäuste tief in die Taschen gesteckt hatte.

Ein Taxi fuhr langsam vorbei, aber sie dachte nicht daran, es anzuhalten. Auf keinen Fall wollte sie jetzt brav in die Pension zurückkehren und darauf warten, dass ihre Mutter kam – falls sie überhaupt kommen würde! Wahrscheinlich würde sie ja den Krach zum Anlass nehmen, um bei Johannes Herder zu übernachten, wie sie es immer tat, wenn man sie aus den Augen ließ.

Schrecklich, dachte Roberta, wie kann man nur so sein! Und das in ihrem Alter! Einfach degoutant. Bestimmt hängt sie ihm längst zum Hals heraus. Aber warum kann er das nicht zugeben? Warum muss er auch noch mit dieser lächerlichen Verlobung kommen?

Sie fühlte sich verraten und sehr hilflos. Was konnte sie nur tun? Wieder ausreißen, wie sie es im vergangenen Jahr getan hatte? Es war ihr ziemlich dreckig gegangen, damals, nachdem ihr das Geld ausgegangen war und man ihr das Mofa geklaut hatte, und genutzt hatte es auch nichts. Julia war nicht einmal nach Holland gefahren, um sie abzuholen, wie man es von einer liebenden Mutter hätte erwarten können. Stattdessen hatte sie sie per Schub nach München zurückbringen lassen, und dann hatten sie sie beide zusammen in Empfang genommen, Julia und Johannes Herder, in schöner Eintracht, die weisen Erwachsenen das ungezogene kleine Mädchen.

Zum Kotzen, dachte Roberta, das alles ist doch einfach zum Kotzen!

Aber in der Erinnerung schienen die Schatten jenes Abenteuers nicht mehr ganz so dunkel, und die heiteren Episoden überwogen. Sie hatte es falsch angefangen, das war das ganze Pech, sie war noch zu unerfahren gewesen. Diesmal würde sie sich nicht mehr hereinlegen lassen, und sie würde länger, viel länger fortbleiben, damit Julia einen wirklichen Schreck bekam.

Wenn es bloß nicht so kalt wäre! Wer konnte schon bei solcher Eiseskälte lostrampen. Dazu fehlte ihr einfach der Nerv. Obwohl Julia es verdient hätte und Johannes Herder noch mehr. Seine Verlobung zu verkünden, so eine Gemeinheit! Und das, ohne jede Vorwarnung, einfach so, als sei es eine Selbstverständlichkeit.

Roberta hörte Schritte hinter sich. Na endlich!, dachte sie. Da sind sie ja! – Sofort trabte sie schneller, um es ihren vermeintlichen Verfolgern schwerzumachen, sie einzuholen.

Doch dann, nach einem kurzen Schwall von Gelächter und Musik, verhallten die Schritte. Irritiert blieb Roberta stehen und drehte sich endlich um. Niemand folgte ihr. Sie musste erkennen, dass sie sich getäuscht hatte. Nicht Julia und Hans waren es gewesen, die hinter ihr hergegangen waren, sondern ein paar Fremde, die inzwischen in einem der vielen Lokale verschwunden waren.

Wahrscheinlich tanzten Hans und Julia noch quietschvergnügt und eng umschlungen im Capt’n Cook und dachten gar nicht mehr an sie, Roberta, die mutterseelenallein durch das nächtliche Schwabing lief. Sie sah sich um. Zwischen den Laternen war es dunkel, aber die Neonreklamen flimmerten, aus zahlreichen Fenstern fielen Lichtstreifen auf das Pflaster, und wenn eine Tür geöffnet wurde, drang immer wieder Musik in die Stille der Nacht. Plötzlich überkam Roberta Lust, die Gelegenheit zu nutzen und etwas zu unternehmen, natürlich mit dem Hintergedanken, sich an Julia und Hans zu rächen; wie, das wusste sie noch nicht genau.

Gleich neben ihr führten ein paar Stufen in ein Kellerlokal. Roberta stieg die Treppe hinab und trat ein. Auch hier gab es hinter der Tür einen schweren Vorhang, der die Winterluft abhalten sollte, und in dem sie sich fast verfing. Drinnen war es warm und so rauchig, dass sie die Augen aufreißen musste, um sich zurechtzufinden. Alle Tische waren besetzt, dennoch wurde kaum geredet und wenn doch, dann nur sehr gedämpft. Das Publikum, zumeist junge Leute, lauschte einer Jazzband, die im Hintergrund des niedrigen Gewölbes hingegeben musizierte. An der Bar waren noch zwei Plätze frei. Roberta knöpfte ihren Mantel auf – eine Garderobe schien es nicht zu geben – und schwang sich auf einen der Hocker.

Ohne eine Bestellung abzuwarten, schob ihr der Mann hinter der Bar ein großes Glas mit Cola zu, in dem eine Zitronenscheibe schwamm, und ein kleines mit einer hellen Flüssigkeit. »Coke mit Rum«, sagte er und hielt ihr die geöffnete Linke hin. »Zwanzig!«

»Was?«, fragte Roberta, die nicht verstand.

»Demark.«

Roberta schien das zwar reichlich teuer, aber sie zahlte.

Ein junger Mann auf dem Barhocker neben ihr hatte sich zu ihr umgedreht und warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Bist wohl fremd hier?«

Roberta zuckte die Achseln. »Man kann nicht überall gewesen sein.«

»Auch wieder wahr.«

Sie schnupperte an dem kleinen Glas.

»Ist Rum«, erklärte der junge Mann, »gib ihn mir, wenn du ihn nicht magst.«

Normalerweise hätte Roberta den Rum nicht getrunken, aber jetzt wollte sie eine gewisse Weltläufigkeit vortäuschen und schüttete ihn in ihre Cola. »O doch!«, sagte sie. »Warum denn nicht?«

»Die meisten Mädchen mögen ihn nicht.«

»Dann gehöre ich eben nicht zu den meisten.« Sie nahm einen kräftigen Schluck. »Schmeckt doch gut.«

»Na, bravo!«

Roberta wollte die Unterhaltung nicht versiegen lassen. Der junge Mann sah nicht übel aus, wenn er sich auch, wie sie fand, das lange Haar waschen und den Bart hätte stutzen lassen sollen; er hatte schöne Augen. »Warum bestellen sie ihn dann?«, fragte sie.

»Wer … wen?«

»Die Mädchen den Rum.«

»Hast du ihn dir denn bestellt?«

Roberta schüttelte den Kopf.

»Na eben. Gehört zum Eintritt. Nachher kannst du trinken, was du willst, sogar Champagner.«

»Davon habe ich für heute genug.«

»Sieh mal einer an!«

»Ich war im Capt’n Cook … das heißt, zuerst im Stardust.«

»Aber doch nicht allein?«

»Nein.«

»Krach gehabt?«

»Ja.« Roberta überlegte, wie viel sie noch von sich erzählen sollte.

Aber der junge Mann stellte keine weiteren Fragen.

»Gib mir zehn Mark«, forderte er stattdessen.

»Wofür?«

»Du wirst schon sehen.«

Roberta zögerte.

»Nun hab dich nicht, du hast doch Kohle.«

»Ich weiß nicht, wo ich übernachten soll«, erklärte Roberta aus einer plötzlichen Eingebung heraus.

»Das wird sich alles regeln. Gib mir erst einmal das Geld.«

Roberta tat es.

Der junge Mann rutschte vom Hocker und ging. Eine Sekunde lang fürchtete sie, dass er sie einfach sitzenlassen würde, aber dann sah sie, wie er sich in Richtung der Toiletten wandte. Wenig später kam er mit einer brennenden Zigarette im Mund zurück. Er tat einen tiefen Zug und reichte sie ihr.

Roberta begriff sofort, dass es Hasch war. Sie kannte das nicht nur von ihrer Ausreißertour her, sondern auch auf den Partys ihrer Freundinnen wurde manchmal gehascht.

Roberta machte sich nicht viel daraus, aber sie inhalierte und hielt den Rauch so lange wie möglich in ihren Lungen, wie es von ihr erwartet wurde.

»Tut gut, was?«, fragte der junge Mann, der sie aufmerksam beobachtet hatte.

Sie reichte ihm die Zigarette zurück. »Geht so.«

»Wenn du was Stärkeres brauchst, musst du mehr ausspucken.«

Der schwere Vorhang vor der Tür blähte sich, und eine weitere Gruppe junger Leute betrat das Lokal. Mit Erstaunen sah Roberta, wie der Mann an ihrer Seite schnell die Glut seiner Zigarette mit Daumen und Zeigefinger ausdrückte und den Joint in seiner Jackentasche verschwinden ließ.

»Na, erlaube mal!«, protestierte sie.

»Razzia«, gab er ihr zu verstehen, fast ohne die Lippen zu bewegen, und wandte sich von ihr ab.

Zuerst glaubte Roberta an einen Witz. Die Leute, die hereingekommen waren, sahen kaum anders aus als das umhersitzende Publikum. Sie trugen keine Uniformen, sondern Jeans oder lange Hosen aus Stoff oder Leder; die beiden jungen Frauen hatten Winterstiefel, Rollkragenpullover und warme Jacken an. Die Frauen waren geschminkt und hatten modische Frisuren. Nein, sie unterschieden sich in nichts von den anderen, außer, dass sie vielleicht eine Spur gepflegter wirkten. Aber tatsächlich schwärmten sie jetzt aus. Ein Mann und eine Frau wandten sich sofort zu den Toiletten. Die anderen gingen paarweise von Tisch zu Tisch, zeigten Ausweise vor und stellten Fragen. Die Atmosphäre hatte sich kaum verändert. Vielleicht, dass eine leichte Beunruhigung unter den Gästen zu spüren war, sonst aber auch nichts. Der Barmixer hätte nicht gleichgültiger blicken können, als er über ein poliertes Glas hinweg die Vorgänge beobachtete. Wenn das wirklich eine Razzia war – so hatte Roberta sie sich jedenfalls nicht vorgestellt.

»Wonach suchen sie denn?«, fragte Roberta ihren neuen Bekannten.

Aber sie bekam keine Antwort.

Schon kam eine der Frauen auf Roberta zu. »Kriminalpolizei!«, sagte sie freundlich. »Kann ich mal deinen Ausweis sehen?«

»Wozu?«

»Es interessiert mich, wie alt du bist.«

»Achtzehn.«

»Tatsächlich? Kannst du das beweisen?«

»Ich bin achtzehn. Warum glauben Sie mir denn nicht?«

»Du weißt, dass das Lokal für Jugendliche unter achtzehn verboten ist. Außerdem geht’s schon auf Mitternacht zu.«

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Das Mädchen ist achtzehn«, erklärte der Barmixer überraschend, »sonst hätte ich gar nichts an sie ausgeschenkt.«

»Haben Sie sich ihren Ausweis zeigen lassen?«, fragte die Kriminalpolizistin mit unverminderter Freundlichkeit.

»Wenn ich mir von jedem Gast den Ausweis zeigen lassen wollte, was glauben Sie, wer dann noch hierherkäme?«

»Nicht von jedem, sondern nur von den zu jungen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir bei Ihnen auf Minderjährige gestoßen sind.«

»Ist es meine Schuld, wenn die heutzutage alle schon so erwachsen aussehen?« Er wies, während er sein Glas polierte, mit dem Ellbogen auf den bärtigen jungen Mann, der Roberta jetzt den Rücken zuwandte. »Sie ist mit dem da gekommen. Deshalb dachte ich, es wäre alles in Ordnung.«

»Ist das dein Freund?«, fragte die Kriminalbeamtin das Mädchen.

Roberta wusste nicht, was sie antworten sollte. Womöglich handelte der junge Mann mit Drogen, jedenfalls wusste er nur allzu gut, wie man an verbotenen Stoff herankommen konnte. Da sie sich nicht noch tiefer hineinreiten wollte, zog sie es vor zu schweigen.

»Du bist doch nicht etwa allein hier?«, fragte die Beamtin.

Der junge Mann drehte sich zu ihnen um. »Doch. Wenn Sie es genau wissen wollen: Sie ist ganz solo hier aufgekreuzt. Wir haben ein paar Worte zusammen gequatscht. Aber ich habe sie vorher noch nie gesehen.«

»Na, dann habe ich mich getäuscht«, sagte der Barmixer, »es war ein solches Gehen und Kommen, da kann so was schon mal passieren.«

Roberta blickte wütend und enttäuscht von einem zum anderen.

»Tut mir leid«, sagte der junge Mann achselzuckend, »du kannst nicht verlangen, dass ich dir zuliebe lüge. Außerdem würde es dir auch nichts nützen. Warum zeigst du nicht endlich deinen Ausweis?«

»Weil ich ihn nicht bei mir habe!«

»Dann muss ich dich bitten, mit uns zum Polizeipräsidium zu fahren.«

»Soll das etwa heißen, ich bin verhaftet?«

»Dann hätte ich mich wohl anders ausgedrückt. Nein, wir wollen nur deine Personalien feststellen, dann kannst du nach Hause gehen.«

»Aber ich wohne gar nicht hier! Ich komme aus Bad Eysing.«

»Das kannst du alles auf dem Präsidium erzählen.« Die Beamtin fasste Roberta beim Arm. »Komm!«

Roberta überlegte, ob sie ihr in den Bauch treten sollte. Von ihrem Barhocker aus hätte sie das leicht gekonnt. Aber inzwischen waren auch die anderen Beamten mit ihrer Überprüfung fertig und gesellten sich zu der Kollegin. Da Roberta sich einer so vielfachen Übermacht gegenübersah, blieb ihr nichts anderes übrig als aufzugeben.

Julia und Johannes Herder verließen das Capt’n Cook erst kurz vor der Polizeistunde. Er hatte sich vorgenommen, an diesem Abend zu feiern, und sie wollte keine Spielverderberin sein und zum Aufbruch drängen. So hatte sie denn ihre Sorge um Roberta beiseitegeschoben und war bemüht gewesen, sich seiner guten Laune anzupassen. Je mehr Zeit vergangen war, desto besser war es ihr gelungen. Julia fühlte sich wie ein Passagier eines Luxusliners, der alle Probleme des Alltags hinter sich gelassen hat.

Als sie im Taxi zur Amalienpassage fuhren, zog er sie so eng in seine Arme, dass sie den Kopf an seine Brust schmiegen musste. Er legte die Hand unter ihr Kinn und küsste sie.

»Himmlisch«, flüsterte sie.

»Hm, hm«, machte er und küsste sie wieder.

»Ich fühle mich himmlisch jung.« Sie zog sich ein wenig von ihm zurück. »Es ist so unendlich lange her, dass ich im Taxi geknutscht habe.«

»Macht Spaß, wie?«

»Aber es ist nicht ganz fair! Der Fahrer …«

»Der ist ganz andere Sachen gewohnt!« Er rutschte zu ihr und küsste sie wieder.

Sie wehrte seinen begierigen Händen. »Lass das! Du reißt mir noch die Haken aus! Wie gut, dass wir gleich zu Hause sind.«

»Ja«, sagte er und lächelte sie im ungewissen Licht der vorübergleitenden Laternen an, »wir haben Glück gehabt.«

»Dass wir uns gefunden haben?«

»Das war mehr als Glück: Schicksal. Dass Robsy sich aus dem Staub gemacht hat, meine ich.«

»Wie kannst du so was sagen!«, protestierte sie, aber es klang nicht sehr überzeugend.

»Sonst hätte sich doch wieder mal die Frage gestellt, ob du mit ihr in der Pension oder bei mir übernachten würdest!«

»Sollten wir nicht mal rasch vorbeifahren?«

»Es ist gleich zwei Uhr! Wie stellst du dir das vor?«

»Ich möchte mich nur vergewissern, dass …«

»Sie ist kein Baby mehr! Hör endlich auf, sie so zu behandeln! Ich Idiot! Hätte ich ihren Namen bloß nicht erwähnt!«

»Du hast ja recht. Es war mein Fehler. Ich neige nun mal dazu, mich über nichts und wieder nichts aufzuregen.«

Er zog sie wieder in seine Arme. »Braves Mädchen.«

»Und außerdem würde es ja doch nichts nützen«, sagte sie, »ich meine, wenn sie noch nicht im Bett ist …«

Er verschloss ihr den Mund mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss, und als sie wieder zu Atem kam, hielt das Taxi.

»Ich störe Sie ja nur ungern«, sagte der Fahrer, »aber wir sind da. Falls Sie aber noch eine Runde drehen wollen … mir soll’s auch recht sein.«

In seiner Maisonette-Wohnung war es angenehm warm. Ohne Licht anzuknipsen, öffnete er ihren braunen Biberpelz und zog sie an sich. Auf dem großen schrägen Atelierfenster lag dichter Schnee.

»Weißt du, wie ich mich fühle?«, fragte sie. »Wie in einer Höhle.«

»Willkommen in meiner Höhle! Noch einen Drink?«

»Ich hatte mehr als genug.«

»Kaffee?«

Sie schüttelte den Kopf. »Auch nicht.«

»Kluges Mädchen! Dann nichts wie ins Bett!« Er pellte sie aus ihrem Pelz, warf ihn über einen der Sessel und zog seinen eigenen Wintermantel aus.

Wie immer, wenn sie bei ihm war, überließ er ihr das Bad im oberen Stock, während er selber sich unten in der Gästetoilette frisch machte. Sie lief die Wendeltreppe hinauf. Da sie, entgegen ihrer Gewohnheit, einiges an Schminke aufgetragen hatte und zudem nicht der Versuchung widerstehen konnte, wenigstens kurz zu duschen, dauerte es, bis sie zu ihm kam.

Er lag schon in seinem breiten Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und wartete auf sie. Sie warf den Bademantel ab und stand nackt vor ihm.

»Bleib so!«, bat er.

»Wozu?«

»Lass dich bewundern! Du bist so schön!«

Sie lachte. »Nun übertreib nicht, Junge, ich weiß selber, wie ich aussehe!« Aber sie war sich durchaus und glücklich bewusst, dass ihr Busen immer noch fest und rund und ihre Hüften schlank waren, wenn auch nicht mehr so schmal wie die eines jungen Mädchens.

»Ich kann mich nicht satt an dir sehen.«

»Oh, eines Tages wirst du das ganz bestimmt. Vergiss nicht, dass ich immer älter werde.«

»Alt wird man erst, wenn die Seele zu verwelken beginnt.«

»Klingt hübsch.« Sie schlüpfte zu ihm ins Bett. »Wie einer deiner Texte.«

»Ist mir gerade erst eingefallen.«

»Du bist ein Genie.« Sie rieb die Nase an seiner Wange, die schon stoppelig zu werden begann.

»Könntest du mir ruhig öfter sagen.«

»Als wüsstest du’s nicht selber.«

»Sei jetzt still, ganz still!« Seine Hände glitten über ihren Körper mit jener Zärtlichkeit, die sie so sehr liebte. Es war, als versuche er jedes Stück Haut, jeden Nerv, jede Vertiefung und jede kleinste Unebenheit zu suchen, zu ergründen und zu bejahen. Sie genoss das Wohlgefühl, das sie durchfloss, bis es sich, ehe sie es sich versah, zu flammender Leidenschaft wandelte. Sie waren beide zu müde, um sich mit einem langen Vorspiel aufzuhalten, sondern gaben sich einander vorbehaltlos hin.

Noch im Einschlafen hielt er sie fest umfangen, und ihr Kopf ruhte an seiner Brust.

Sie selber fühlte sich überwach, aber es machte ihr nichts aus. Es war so schön, bei ihm zu liegen und zu dem schneebedeckten Fenster aufzublicken, durch das ein mildes, diffuses Licht drang. Julia war sich bewusst, dass sie glücklich war. Daran hatte auch Robertas Ausbruch nichts ändern können. Es war ein Rückfall gewesen, nichts weiter.

Monatelang war es ja gutgegangen. Hans und Roberta hatten sich von Tag zu Tag besser verstanden. Mit unendlicher Geduld war es ihm gelungen, Robertas böse Aggressionen in harmlose Neckereien zu verwandeln. Wieso war sie bei der Verkündigung ihrer Verlobung nun wieder ausgeflippt?

Aber tatsächlich wollten sie ja gar nicht heiraten. Roberta würde sich schon wieder beruhigen, wenn sie das erst begriff.

Julia hatte gar nicht das Bedürfnis, seine rechtlich angetraute Frau zu werden. Was sie wollte, war nur seine Liebe, und seine Liebe gehörte ihr. Wenn ihre Beziehungen so locker blieben wie bisher, würde das unvermeidliche Ende weniger schmerzhaft werden als bei einer Scheidung.

Er war drei Jahre jünger als sie. Das machte heute noch keinen Unterschied. Sie fühlte sich nicht älter als er und wirkte auch nicht älter. Aber wenn sie fünfzig wurde, würde er erst siebenundvierzig sein. Dann konnten die Dinge anders aussehen. Wahrscheinlich würde er dann von ihr fortstreben, wie es heute ihre Kinder taten. Ralph hatte sie schon verlassen, und wenn Roberta sich auch noch an sie klammerte, so wusste sie doch, dass dies nur ein vorübergehender Zustand war. Gerade deshalb wollte sie sich ihr Leben durch die Kritik und den Widerstand ihrer Kinder nicht verderben lassen.

Sie hatte ihnen Jahre ihres Lebens geopfert – Julia erschrak, als ihr der Gedanke kam, dass es ihr nun als ein Opfer erschien. Aber es war doch so gewesen. Zuerst war sie freiwillig und ganz selbstverständlich nur für sie dagewesen, aber später hatten sie das, was sie ihnen so großmütig gegeben hatte, als ihr Recht gefordert. Sie hatten ihr nicht ein Stückchen Freiheit lassen, nicht einmal den Gedanken an einen anderen Menschen in ihrem Herzen dulden wollen. Wer immer sich ihr genähert hatte, sie hatten ihn erbarmungslos abgelehnt und die Mutter zum Verzicht gezwungen.

Die Freundinnen, besonders Agnes Kast, hatten auf ihrer Seite gestanden, hatten sie beschworen, sich nicht kleinkriegen zu lassen, sondern die Kinder in ihre Schranken zu weisen. Aber wie konnte sie das, da sie sie so sehr liebte!

Damals, vor mehr als fünfzehn Jahren, als Julias Mann, der junge Amtsgerichtsrat Robert Severin, auf der Fahrt zur Arbeit ums Leben gekommen war, hatte sie sich geschworen, nur noch für Ralph und Roberta da zu sein. Nein, sie hatte sich das nicht schwören müssen, es war ihr als ihr Schicksal erschienen, das sie fraglos und klaglos hingenommen hatte. Ihre wundervollen Kinder, wie sehr hatte sie sie geliebt. Sie hatte geglaubt, dass es keinen anderen Menschen mehr für sie geben könnte.

Dann kam Ralphs rätselhafte Krankheit, die die Ärzte, die Lehrer und endlich auch sie selber für seelisch bedingt gehalten hatten, weil sie sich immer dann besonders bemerkbar machte, wenn er Grund zur Eifersucht zu haben glaubte. Wie hätte sie da hart sein und ihn leiden lassen können, nur um sich zu amüsieren! Schließlich hatten aber die Ärzte im Schwabinger Kinderkrankenhaus diagnostiziert, dass eine Zyste oder ein Tumor im Hirn die Ursache war für seine Kopfschmerzen, seine Übelkeit, seine immer undeutlicher werdende Sprache und seine Schreibschwäche.

Ihr Entsetzen, als sie erfuhr, dass er operiert werden musste! Julia dachte an die furchtbare Nacht, die sie verbracht hatte, bis sie am frühen Morgen erfuhr, dass es sich tatsächlich nur um eine harmlose Zyste und nicht um einen bösartigen Tumor handelte.

Wie unendlich erleichtert und froh war sie gewesen, als er sich dann zu einem gesunden Jungen entwickelte, immer noch sehr zart und anders als die anderen, aber doch gesund. Voller Dankbarkeit hatte sie sich damals bewusst geschworen, nur noch für ihre Kinder da zu sein.

Als er sich dann von ihr gelöst hatte – nach der Mittleren Reife, noch nicht volljährig, hatte er sie verlassen und eine Lehre im Amtlichen Bayerischen Reisebüro in München angetreten –, war es Roberta gewesen, die sie voll in Anspruch genommen hatte und ihr nicht den Hauch von Freiheit lassen wollte. Das Mädchen war vor keinem Mittel zurückgeschreckt. Ein Selbstmordversuch hatte Julia in Panik versetzt. Dann, als sie Johannes Herder kennengelernt hatte, war Roberta, um eine Trennung zu erzwingen, von zu Hause ausgerissen. Ohne ihn, das glaubte Julia auch heute noch, hätte sie die schlimme Zeit des Bangens nicht überstanden. Ohne ihn, das wusste sie, hätte sie sich wieder dem Willen ihrer Tochter gebeugt.

Auch heute Abend wäre sie Roberta nachgelaufen, wenn er sie nicht zurückgehalten hätte. Aber es wäre nicht gut gewesen, wenn sie ihr nachgegeben und sich den Abend von ihr hätte verderben lassen. Sie hatte nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, an sich selber zu denken und Roberta auf den Platz zu verweisen, der ihr zustand.

Es hatte eine Zeit gegeben – Julia erinnerte sich jetzt mit einem Lächeln daran –, da hatte sie wahrhaftig geglaubt, dass sie und ihre Kinder eine Einheit bildeten, dass Ralph und Roberta sie nie verlassen würden. Heute wusste sie, dass es anders war. Der Tag war nicht fern, an dem sie Roberta herzlich gleichgültig geworden sein würde. Fast schämte sie sich, dass diese Vorstellung ihr keinen Schmerz mehr bereitete, sondern Hoffnung weckte. Zu lange war sie Sklavin ihrer Kinder gewesen. Die Sehnsucht nach Freiheit und das Verlangen, den Mann zu halten, den sie liebte, waren übermächtig in ihr geworden.

Als sie in dieser Nacht, den Kopf an der Brust des Geliebten, die Jahre nach dem Tod ihres Mannes an sich vorbeiziehen ließ, wurde ihr bewusst, dass ihr scheinbar so gleichförmiges, an Sensationen armes Leben ihr Schmerzen, Kämpfe und Entbehrungen auferlegt hatte. Dennoch hatte sie die Kraft gehabt, es durchzustehen, und diese Kraft war ihr geblieben.

Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief sie endlich ein.

Als Julia erwachte, begriff sie zuerst nicht, wo sie war; Johannes Herders Wohnung wirkte im hellen Schneelicht so verändert. Dann kam die Erinnerung zurück. Sie dehnte sich wohlig, suchte seine Nähe und erschrak, als sie ihn nicht neben sich fand. Roberta fiel ihr ein, die jetzt jeden Augenblick klingeln konnte – oder war sie etwa schon gekommen?

Von unten drang der Duft von starkem Kaffee herauf.

Sie lauschte angestrengt, aber Stimmen waren nicht zu hören. Nur Geschirr klapperte leise. Hans machte Frühstück, und sie empfand zärtliche Dankbarkeit. Rasch sprang sie aus dem Bett, duschte sich und putzte sich die Zähne. Das braune Wollkleid, das sie am Abend zuvor getragen hatte, hätte sie gern noch ausgelüftet, aber sie entschloss sich, es anzuziehen, weil sie ihre Tochter nicht bei ihrem Freund im Bademantel empfangen wollte. Obwohl sie sich blass fand, verzichtete sie darauf, sich anzumalen. Sie bürstete nur gründlich das kurz geschnittene, braungelockte Haar.

Zehn Minuten später lief sie die Treppe hinunter, korrekt gekleidet, fast wieder die »unnahbare Witwe«, wie man sie lange Zeit in Bad Eysing genannt hatte; doch der Glanz in ihren Augen verriet sie.

»Schade«, sagte er schmunzelnd, als er sie ansah, »ich hatte dir das Frühstück ans Bett bringen wollen.«

Er trug eine Schlafanzughose, einen roten Bademantel darüber und Lederslipper an den Füßen.

»Ein andermal«, sagte sie und streichelte ihm mit dem Handrücken über die Wange.

»Ich weiß, dass ich unrasiert bin, aber …«

»Steht dir sehr gut! Macht dich unerhört männlich.«

»Wenn ich dazu Bartstoppeln brauche!«

»Fischst du wieder nach Komplimenten?«

Sie umarmten sich, weil sie der Freude aneinander Ausdruck geben mussten, obwohl die enge kleine Küche der ungeeignetste Platz dafür war.

»Könnten wir doch allein bleiben!«, sagte er sehnsüchtig.

Sie löste sich von ihm. »Können wir aber nicht!«

»Wenn wir erst verheiratet sind …«

»Fängst du wieder damit an?« Sie ging ins Wohnzimmer und nahm an der Durchreiche das Tablett entgegen.

»Ich werde nie damit aufhören.«

Sie hätten an der Küchenbar frühstücken können, zogen es aber vor, es sich in den Sesseln um den niedrigen Tisch bequem zu machen. Eine Essecke gab es in Johannes Herders Junggesellenwohnung nicht. Gemeinsam deckten sie den Tisch.

Sie schenkte Kaffee ein. »Ein für alle Mal«, sagte sie, »ich will dich nicht heiraten.«

»Und das erklärst du mir auf nüchternen Magen?«

»Einverstanden. Iss erst etwas, dann sprechen wir weiter.«

Aber noch während er eine der Semmeln, die er im Backofen aufgeröstet hatte, mit Butter bestrich, kam er auf das Thema zurück. »Und warum willst du nicht meine Frau werden? Wegen deiner läppischen Pension als Amtsgerichtsratswitwe? Ich verdiene mit meinen … möglicherweise noch läppischeren … Schlagertexten mehr, viel mehr als das.« Er legte Schinken auf jede Seite des Brötchens und schob die eine Hälfte auf Julias Teller. »Da! Iss!«

Sie hatte bisher nur in ihrer Kaffeetasse gerührt. »Danke«, sagte sie.

»Du brauchst keine Existenzangst zu haben, wirklich nicht. Ich werde eine Lebensversicherung für dich abschließen, die im Fall von Tod … von mir aus auch von Scheidung … für dich wirksam wird.«

»Das ist es ja nicht, Hans!«

Aber er war nicht zu stoppen. Hungrig biss er in seine Semmel und sprach mit vollem Mund weiter. »Ich habe mich erkundigt, Julia! Wenn du wieder heiratest, kannst du vom Staat eine Abfindung verlangen. Er muss dir die Pension für die nächsten fünf Jahre auf einen Schlag auszahlen. Die Entschädigung aus der Unfallversicherung beziehst du weiter, ganz unabhängig von deiner Pension.«

Er hatte es fertiggebracht aufzuessen, während er ihr das alles erklärte. »Aber du isst ja nichts«, stellte er tadelnd fest.

»Ich bin nicht so talentiert wie du.«

»Was soll das heißen?«

»Ich kann nicht zugleich essen und reden.« Julia nahm einen Schluck Kaffee.

»Aber du hast ja selbst gar nichts gesagt.«

»Weil du mich nicht zu Wort kommen lässt.«

»Ich wollte dir erst mal die Situation klarmachen. Es ist doch alles ganz einfach. Wir beide gehen zum Standesamt. Wir brauchen niemanden um Erlaubnis zu fragen. Wenn deine Kinder nicht aufhören wollen, Remmidemmi zu machen, müssen wir sie einfach vor vollendete Tatsachen stellen.« Er unterbrach seinen Redefluss. »Magst du etwa keinen Schinken? Ich könnte dir auch …«

Sie wehrte ab. »Doch, doch!« Gehorsam biss sie in ihre Semmelhälfte und merkte jetzt erst, dass sie Hunger hatte. Sie kaute und schluckte und sagte dann: »Sehr gut! Aber wozu das alles?«

»Damit wir jeden Morgen zusammen frühstücken können, so wie heute … zusammen schlafen gehen, zusammen aufstehen, zusammen leben. Du hast doch Platz genug in deiner Wohnung.«

Sie verschluckte sich und musste husten. Er sprang auf und klopfte ihr liebevoll auf den Rücken, brachte ihr ein Glas Wasser. Als sie sich wieder erholt hatte, fragte sie: »Du willst also nach Eysing ziehen?«

»Warum nicht? Wir können aus deinem sogenannten Boudoir ein gemeinsames Schlafzimmer machen, wir brauchen nur ein größeres Bett hineinzustellen …« Er beobachtete sie aufmerksam, während er sprach, sah, dass ihr dieser Gedanke nicht sehr behagte. Das verstand er. Es hatte lange gedauert, bis sie sich ein eigenes Zimmer nach ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen hatte einrichten können, und sie mochte diese Zufluchtsstätte nicht so mir nichts dir nichts aufgeben. Also verbesserte er sich rasch: »Ich könnte auch in Ralphs ehemaliges Zimmer einziehen. Es steht ja ohnehin leer.«

Dagegen war nichts einzuwenden, und dennoch fühlte Julia sich bedrängt. Ralph hatte sie verlassen, das stimmte. Aber wenn sie jetzt Johannes Herder in sein Zimmer ziehen ließ, so war das doch, als schlüge sie ihrem Sohn die Tür seines Elternhauses endgültig vor der Nase zu. Sie hätte es ihrem Geliebten nicht erklären können und war dankbar, dass er sie nicht mehr fixierte, sondern damit beschäftigt war, eine zweite Semmel aufzuschneiden und zu belegen.

»Da hast du recht«, sagte sie, um einen möglichst leichten und gleichgültigen Ton bemüht. »Und du willst dann das Apartment hier aufgeben?«

»Nein, nein!«, sagte er. »Das brauchen wir noch. Es könnte ja sein, dass ich mal die Einsamkeit suche, um in Ruhe zu arbeiten, oder weil ich Besprechungen in München habe, oder weil wir beide mal in die Großstadt wollen. Außerdem ist es mein Eigentum, und ich möchte nicht gern fremde Leute bei mir wohnen lassen.«

»Du willst also dein Refugium behalten«, sagte sie ohne Vorwurf.

»Wenn du willst, überschreibe ich es auf deinen Namen. Ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Auch du sollst dich hierher zurückziehen können, wenn ich dir mal zu sehr auf die Nerven gehe.« Er legte ihr eine zweite Semmelhälfte, diesmal mit Käse, auf den Teller. »Willst du noch eine Tasse Kaffee?«

»Ja, gerne«, sagte sie, kam ihm aber zuvor, als er ihr einschenken wollte, »er ist ausgezeichnet.«

»Noch ein Grund mehr, mich zu heiraten.«

»Hans, du hast mir mal einen Brief geschrieben …«

»Einen?«, fragte er lächelnd, denn er hatte sie eine Zeitlang mit Briefen förmlich bombardiert.

»Ich meine einen bestimmten. Damals warst du in Amerika. Du schriebst mir, dass Heirat das größte Opfer wäre, das du mir bringen könntest.«

»Unmöglich. Das kann ich nicht geschrieben haben. Oder ich muss vorübergehend geistesgestört gewesen sein, im Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit, wie es so schön heißt.«

»Nein, Hans, du warst bloß ehrlich und hast dir nichts vorgemacht.«

»Und jetzt lüge ich und betrüge mich selber!«

Sie legte zärtlich ihre Hand auf seinen Arm. »Sieh mal, Hans, es ist doch so schön mit uns. Wir lieben uns, verstehen uns; wie ein Mann und eine Frau sich verstehen können, wir sind so oft wie möglich zusammen …«

»Aber wir leben nicht zusammen!«, fiel er ihr ins Wort. »Genau das ist es, was ich will. Würdest du etwa damit einverstanden sein, dass ich ohne Trauschein bei dir einziehe? Natürlich nicht. Ich würde es selbst nicht einmal wollen, weil ich es nicht fertigbrächte, dich in deiner Umgebung, in der du dir Achtung erworben hast, zu kompromittieren.«

»Was für ein altmodisches Wort.« Sie zog ihre Hand zurück.

»Es trifft den Nagel auf den Kopf. Das Leben in einer Kleinstadt ist gewissermaßen altmodisch, und das weißt du genau.«

»Wir könnten in München leben. In einer größeren Wohnung.«

»Würdest du das wirklich wollen?«

»Nein«, sagte sie ehrlich, und weil sie befürchtete, ihn verletzt zu haben, fügte sie rasch hinzu: »Ich möchte nicht, dass Robsy zwei Jahre vor dem Abitur die Schule wechselt. Sie ist keine besonders gute Schülerin, und wenn es dann schiefgeht …«

»Immer nur Robsy, wie? Sie ist dein ein und alles. Sie kann sich aufführen, wie sie will, du stehst auf ihrer Seite.«

»Nein, Hans. Es ist schlimm, aber es ist so: Ich liebe sie nicht mehr wie früher, bevor ich dich kannte. Vielleicht spürt sie das sogar. Ein Grund mehr, nachsichtig mit ihr zu sein. Kein Mensch bedeutet mir so viel wie du. Aber es ist meine Pflicht, zu ihr zu halten, bis sie auf eigenen Beinen steht. Das ist der Schatten, über den ich nicht springen kann. Es wäre unrecht, sie im Stich zu lassen.«

»Das verstehe ich ja, Liebste!«, sagte er eindringlich.

»Gerade deshalb will ich dich doch heiraten. Es ist nicht gut für ein heranwachsendes Mädchen, wenn ihre Mutter ein schlampiges Verhältnis hat.«

Um ihre Rührung zu verbergen, sagte sie: »Ich glaube, du bist noch altmodischer als ich.«

»Wahrscheinlich sind wir beide altmodisch, und gerade das zieht uns zueinander hin. Uns hat die böse Welt den Glauben an Liebe und Ehre und Anstand nicht rauben können. Ist es nicht so?«

»Vielleicht. Ich habe noch nie darüber nachgedacht.«

»Aber ich. Du hast von Anfang an einen so großen Eindruck auf mich gemacht, weil du nicht zu diesen Flittchen gehörst, den sogenannten modernen, aufgeklärten, emanzipierten Frauen, die nur an sich denken und gedankenlos von einem Bett ins andere hüpfen.«

»Das hast du mir auf den ersten Blick angesehen?«

»Es steht dir auf der Stirn geschrieben.«

Sie malte ohne ihn anzusehen mit dem Zeigefinger einen Kreis zwischen den Krümeln auf ihren Teller. »Jedenfalls bin ich nicht bedenkenlos genug, einen Mann zu heiraten, den ich noch nicht einmal ein Jahr lang kenne.«

»Und warum nicht? Kennst du mich noch nicht gut genug? Hast du kein Vertrauen zu meiner Liebe?«

Sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen; er würde sie nur auslachen, wenn sie ihm erklärte, dass sie den Altersunterschied fürchtete. Deshalb sagte sie nach einigem Zögern: »Es ist auch wegen Ralph. Da du mich für altmodisch hältst, wird es dich nicht wundern, dass mir seine Freundschaft mit diesem Doktor Klinger nicht gefällt.«

»Daran kannst du nichts ändern.«

»Aber es kriselt zwischen den beiden. Gut möglich, dass Ralph mich schon sehr bald doch wieder brauchen wird.«

»Dich oder sein altes Zimmer?«

Sie wurde rot. »Eine Unterkunft würde er schon irgendwo finden.«

»Aber du willst ihm nicht die Gewissheit nehmen, dass es einen Menschen gibt, der ständig für ihn da ist?«

»Ich bin für dich da und für ihn und für Robsy. Warum will keiner von euch das begreifen? Warum willst du eine Entscheidung von mir erzwingen?«

»Bitte, reg dich nicht auf, Geliebte. Das wollte ich nicht. Dabei bin ich eigentlich derjenige, der gekränkt sein müsste. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich zu einem Heiratsantrag aufgerafft … und nun muss mir das passieren!«

Sie war ihm dankbar, dass er das Thema ins Scherzhafte zog. »Du Armer!«, sagte sie und konnte fast schon wieder lachen.

»Alle anderen Frauen, die ich gekannt habe, waren aufs Heiraten aus«, beschwerte er sich, »wirklich, das ist keine Übertreibung.«