Mein langer Weg zur Moni B. - William Prides - E-Book

Mein langer Weg zur Moni B. E-Book

William Prides

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Beschreibung

Die authentisch erzählte Biografie läßt den Leser durch die Augen eines Menschen blicken, der verzweifelt versucht, zu seinem Geschlecht und seiner Sexualität zu finden. Vielleicht gerade deswegen stürzt er sich ins pralle Leben. Man schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn er reihenweise Missetaten begeht und laufend bei der Gesellschaft aneckt. Man fühlt und leidet mit, denn die innere Zerrissenheit ist als Triebfeder nur zu gut verständlich. Es bedarf erst eines abenteuerlichen Lebens mit vielen spannenden Wendungen, um bei sich selbst anzukommen.

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Inhalt:

Wie dieses Buch entstand

Die Welt, die kein Verständnis hat

Schulzeit

Ruhrpott-Blues

Liebeleien

Königin von Duisburg

Gladiatoren

Ein Mädchen muß her

Familie, oberflächlich betrachtet

Ich steh im Wald

Erntedankfest

Die zweite Heimat

Nicht jeder kann sich am eigenen Zopf aus dem Schlamassel ziehen

Außer Kontrolle

Doppelleben hoch drei

Zeitenwende

Amour fou

Kein Fluchtweg mehr in Sicht

Schmerzhafte Erkenntnisse

Die Metamorphose

Halbfinale

Alles Käse in der Schweiz

Operation Moni

Der Kreis schließt sich

Schlußwort

Wenn man in einem geschlossenen Behälter den Druck immer weiter erhöht und es keinen Ausweg gibt, dann explodiert er.

Wie dieses Buch entstand

Eines Tages traf der Autor zufällig Moni, die er so anders als alle Menschen fand, die ihm bisher begegnet waren. Sie blieb für ihn stets unberührbar, doch beide erkannten den Wert der aufrichtigen Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickeln sollte. Es wurde beschlossen, daß der Autor versuchen sollte, ihr ihre Lebensgeschichte von der Seele zu schreiben, was in langen Gesprächen und unter Einsatz von ungezählten Zigaretten, Tassen Kaffee und Sahnetortenstücken dann auch geschah.

Moni hatte in ihrem Leben viele Lebensläufe verfassen müssen, für Ärzte, Psychologen, Gutachter, Krankenkassen und andere. Sie hatte dabei zwar nie gelogen, aber durch Weglassen stets dem Publikum gegeben, was es lesen wollte. Für jemand auf der Suche nach sich selbst, der mitunter mit Selbstverleugnung zu kämpfen hatte, war das kein haltbarer Zustand. Die Menschen, die ihr etwas bedeuteten, sollten erstmals die ganze Geschichte erfahren statt immer nur einzelne Episoden zu hören. So könnten sie Monis von außen betrachtet teils seltsam anmutenden Reaktionen endlich verstehen und ihr vielleicht manchen Ausrutscher verzeihen. Es wäre auch schlicht unmöglich gewesen, jemand diese Geschichte vollständig und in der richtigen Reihenfolge mündlich zu übermitteln.

Wir diskutierten, ob wir es veröffentlichen sollten. Wir entschieden uns dafür. Sicher gibt es eine Randgruppe, die sich darin wiederfinden wird, manche werden es vermutlich als frei erfunden abtun. Es geht die Gesellschaft etwas an, deswegen gehört diese Erinnerung festgehalten. Irgendwann werden sich folgende Generationen nicht mehr an die späten 1980er und beginnenden 1990er Jahre erinnern, als man noch nicht im Internet nachlesen konnte, was mit der eigenen Sexualität los ist und nur schwer Gleichgesinnte oder Leidensgenossen finden konnte. Als gesellschaftliche Ausgrenzung und allgemeine Unwissenheit, die heute mittelalterlich anmutet, noch an der Tagesordnung war. Nur mit diesem Bewußtsein weiß man die heutige freiere und tolerantere Gesellschaft zu schätzen und sollte sich engagieren, diese zu erhalten. Sowohl Moni als auch der Gesellschaft wäre viel erspart geblieben, wenn sich die Dinge damals positiver entwickelt hätten.

Die Welt, die kein Verständnis hat

Ich wurde 1967 geboren. Im Alter von fünf bis acht Jahren lebte ich mit meinen Eltern und meiner älteren Schwester im rechtsrheinischen Köln. Es war ein Stadtteil, der sich seinen ursprünglich dörflichen Charakter bewahrt hatte. Zu dieser Zeit begann mein Kopf zu arbeiten und die Ereignisse ihren Lauf zu nehmen. Ich fand das, was Jungs wie ich üblicherweise spielten und wie sie sich gaben, richtig doof. Ich spielte viel lieber mit den Puppen meiner Schwester, als Fußball. Ich nutzte außerdem jede Gelegenheit, ihre Kleidung zu stibitzen, um sie selbst anziehen zu können. Das war nicht besonders schwer, weil meine Schwester ihre Sachen oft schlampig in allen Ecken verstreut herumliegen ließ, so daß es nicht auffiel, wenn etwas fehlte.

Mein Vater war Handwerksmeister und Ausbilder an einer Schule für Metallfachhandwerk. In dieser Männerwelt ließ es sich für ihn Anfang der 1970er Jahre angenehm leben. Meine Mutter aber durfte kein eigenes Geld verdienen, nicht den Führerschein machen oder auch nur alleine schwimmen gehen. Für die Hausarbeit und die Betreuung der Kinder war sie gut genug. Mein Vater verdiente gut. Wir wohnten im eigenen Haus, er besaß eine Segelyacht, ein Segelflugzeug und er hatte stets das neueste Automodell vor der Tür stehen. Er verwirklichte seine Hobbies, die Familie war nur das Gefolge, das mitzumachen hatte. Jedes Jahr fuhren wir sechs Wochen in den Spanien-Urlaub.

Von mir als einzigem Sohn wurde scheinbar erwartet nachzuahmen, was mein Vater mir vorlebte. Er nahm mich gezielt zu Veranstaltungen mit, die er für mich als passend empfand, ins Fußballstadion oder auf die Pferderennbahn. Ein Theater sah ich beispielsweise niemals von innen. Aus seinem Sohn sollte einmal ein ganzer Kerl werden, das hatte er sich fest vorgenommen.

Doch alle diese Dinge interessierten mich nicht. Ich spürte, daß es noch andere Welten geben müßte, die man mir vorenthielt. So entsprach ich in keiner Weise seinen Erwartungen. Ich konnte das alles nicht. Erst erntete ich Unverständnis, dann setzte es Prügel, am Ende wurde ich nur noch verachtet. Als ich wieder einmal in den Wagen steigen sollte, um zu einer Veranstaltung mitzukommen, die ich absolut nicht mochte, trat ich in seinen fast neuen Ford Taunus hinten seitlich am Kofferraum eine ordentliche Beule.

Einmal hatte er nachmittags noch etwas in der Schule zu erledigen, in der er tätig war. Da ich seiner Meinung nach wieder einmal eine Strafe verdient hatte, nahm er mich kurzerhand mit. Das Schulgebäude lag inmitten dichter Bebauung und hatte einen großen Hinterhof, der von hohen Mauern umgeben war. Der einzige Zugang führte durch das Schulgebäude. Mein Vater verbannte mich in diesen Hof, schloß die Hoftür ab und ging in ein Zimmer im oberen Stockwerk, wo er am offenen Fenster arbeiten und mich dabei stets im Blick haben konnte. Ich kam mir wie abgestellt vor. Ich war von allen isoliert, konnte mit niemand spielen und langweilte mich. Warum?

Der einzige Lichtblick war meine Mutter. Sie war zu schwach, um gegen meinen Vater anzukommen, hatte aber Verständnis und Zuneigung für mich. Wenn Vater zur Arbeit war und nichts davon mitbekam, duldete sie, daß ich in Mädchenkleidung durchs Haus lief. In meinem kindlichen Selbstverständnis fand ich nichts dabei, mich so auch draußen zu zeigen. Die anderen Kinder lachten mich aus und verspotteten mich, was mir sehr wehtat. Mit der Zeit fand mein Vater natürlich heraus, was ich tat und zunehmend beschwerte sich auch meine Schwester über das permanente Verschwinden ihrer Sachen. Zwischen meinen Eltern gab ein Wort das andere. Die Sache schaukelte sich hoch und am Ende verboten sie mir gemeinschaftlich, mich zukünftig als Mädchen anzuziehen. Ich fand es total ungerecht, denn es tat niemand weh und mein Bedürfnis danach war ungebrochen. Mit der Zeit wuchsen meine Haare immer länger, worauf ich sehr stolz war. In meiner Not stahl ich mich als Mädchen alleine in das nur einen Steinwurf von zu Hause entfernte kleine Wäldchen. Ich suchte mir ein großes Gebüsch und konnte wenigstens dort so sein, wie ich mich fühlte. Ich spielte für mich alleine, was mir nichts ausmachte. Irgendwann wurde das von Nachbarn beobachtet, meinen Eltern zugetragen und es gab eine heftige Tracht Prügel. Dieses Leben im ständigen Ausnahmezustand verhinderte, daß sich mein Sozialverhalten auf normale Art entwickeln konnte.

Dieser Mangel entlud sich einmal so: Zur Vorbereitung auf die Kommunion sollte ich in die Kirche zur Beichte gehen. Das weckte in mir äußerstes Mißtrauen und die Vorahnung, daß wenn ich die Wahrheit über mein Gefühlsleben offenbaren würde, es wieder neuen Ärger und Prügel geben würde. Da man mich inzwischen aber für gestört hielt, wurde keine Rücksicht genommen und mir regelrecht befohlen, gefälligst innerhalb der nächsten Tage am Beichtstuhl vorstellig zu werden. Meine Angst trieb mich, noch bevor es soweit kommen konnte, zu einer Verzweiflungstat. Da ich begriffen hatte, daß es ohne einen Beichtstuhl auch keine Beichte geben würde, schlich ich mich tagsüber in die leere Kirche, nahm eine brennende Kerze und platzierte sie unter dem hölzernen Beichtstuhl. Um es kurz zu machen, ich wurde nicht erwischt, aber die Feuerwehr mußte ausrücken und hatte große Mühe, ein Übergreifen der Flammen auf den Rest des Kirchenschiffs zu verhindern.

Ungefähr als ich Acht war, gab es heftigen Streit zwischen meinen Eltern. Vermutlich war ich nicht der einzige Grund, aber sicher habe ich dazu beigetragen. Die Auseinandersetzung war nicht zu überhören und ich war aufgeweckt genug um bald zu bemerken, daß meine Mutter danach öfter abends nicht da war und außerhalb übernachtete. Mein Vater war ein Schwein. Ich beobachtete, daß er abends absichtlich den Haustürschlüssel innen im Schloß stecken ließ. Sollte die nachts möglicherweise doch noch reumütig heimkehrende Ehefrau doch draußen auf der Straße stehen bleiben. Ich wünschte mir nichts mehr, als daß meine Mutter zurückkäme, also schlich ich mich hinunter und zog den Schlüssel heimlich wieder ab. Daß dies die nächste Prügelorgie nach sich zog, versteht sich von selbst.

Meine Mutter unternahm trotz der schwierigen Situation immer noch Versuche, mich und meine Wesensart vor meinem Vater zu beschützen. Vergeblich, am Ende wurde sogar sie geschlagen. Meine Schwester war immer schon auf Papa fixiert gewesen und hielt zu ihm. Als es unerträglich wurde, nahm meine Mutter mich zur Seite:

"Ich muß ausziehen, es geht nicht mehr. Ich habe schon heimlich nach einer neuen Bleibe gesucht und sie auch gefunden. Es sind noch ein paar Dinge zu regeln, deine Oma hilft mir dabei. Du mußt tapfer sein, ich verspreche dir, dich in ein paar Tagen nachzuholen."

Sie hielt Wort und holte mich nach drei Tagen ab. Sie erklärte mir, daß sie sich von meinem Vater getrennt hatte und daß ich nun bei ihr leben würde. Meine Schwester hatte sich entschieden, bei Papa zu bleiben. Ich sollte sie erst wiedersehen, als ich 19 war. Fortan lebten wir in einem einzeln an einer Landstraße gelegenen Haus in der Gegend von Dormagen. Täglich mußte ich mit dem Fahrrad drei Kilometer zur Schule fahren. Von Dingen wie Miete hatte ich als Kind keine Vorstellung, aber ich bekam schon mit, daß wir auf einmal arm wie die Kirchenmäuse waren. Heute weiß ich, daß mein Vater keinerlei Unterhalt zahlte, nicht einmal für mich, wenn schon nicht für meine Mutter. Das Wort Sozialamt hörte ich hier zum ersten Mal. Hunger wurde manchmal zum Problem, dann gingen wir bei einsetzender Dämmerung los und plünderten Kartoffeln und Gemüse aus den Schrebergärten der näheren Umgebung. Sogar unseren Vermieter verschonten wir nicht. Ich erinnere mich, daß wir einmal erwischt wurden, gerade in dem Moment, als meine Mutter gerade ihre Bluse ausgezogen hatte, um darin Kartoffeln zu transportieren. Zum Glück ließ man uns ziehen.

Von der wirtschaftlichen Not abgesehen, war es eine Idylle. Dem Familientyrann waren wir beide entronnen. Meine Haare wuchsen und wuchsen und reichten schon fast bis zur Hüfte. Mit meiner Mutter machte ich ab, daß ich zu Hause Mädchen sein durfte. Sie half mir sogar mein Haar zu flechten und ich durfte Schminkversuche unternehmen. Sie legte mir aber nahe, mich so nicht draußen zu zeigen, woran ich mich ihr zuliebe auch hielt. Leider kaufte sie mir niemals einen Rock oder ähnliches, ich denke heute, mangels Masse. Aber immer wenn sie etwas Geld zur Verfügung hatte, durfte ich mir bei Woolworth Haarspangen und andere für ein Mädchen unverzichtbare Kleinigkeiten aussuchen. Diese Tage erwartete ich immer sehnsüchtig.

Meine Mutter war jung, lebenshungrig und mit ihren Sorgen vollauf beschäftigt. Was sie tat, während ich in der Schule war, weiß ich nicht. Nachdem wir ungefähr ein Jahr in diesem Haus im Nirgendwo gelebt hatten, kam ich wie immer mit dem Fahrrad mittags aus der Schule zurück. Vor unserem Haus stand ein Polizeiauto. Als die beiden darin sitzenden Beamten mich sahen, stieg einer aus und fragte, ob ich Rainer wäre. Zwar hatte ich nichts ausgefressen, aber mit der Polizei wollte ich nichts zu tun haben, also trat ich kräftig in die Pedale und nahm Reißaus. Leider waren die Polizisten gut zu Fuß und die Flucht kurz. "Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind hier, weil deine Mutter nicht kommen kann. Wir fahren dich jetzt zum Jugendamt, dort wartet jemand auf dich."

Und ob da jemand auf mich wartete. Eine unsympathische dicke Frau mit Locken und Brille. Die musterte mich abschätzig und fragte mich in strengem Ton: "Wie kannst du nur so zottelig und verwahrlost herumlaufen?"

Nachdem man in dem Raum ein Telefon auf den Tisch gestellt und uns alleine gelassen hatte, hielt ich es nicht länger aus:

"Warum kann Mama nicht kommen?"

"Deine Mutter sitzt im Gefängnis. Nicht weil sie etwas verbrochen hat, sondern weil ihr die Schulden über den Kopf gewachsen sind und sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen kann. Wir rufen jetzt deine Tante an, damit sie sich um dich kümmert."

Ohne sich weiter mit mir zu beschäftigen, tat sie dies und versäumte nicht, dieser ihren Eindruck von mir als kleinem dreckigen Etwas zu vermitteln. Meine Tante wohnte in der Eifel, es würde eine ganze Weile dauern, bis sie mich abholen käme. Währenddessen wurde ein Telefonat mit meiner Mutter ins Gefängnis organisiert. Ich war froh, mit ihr sprechen zu können, sie machte mir Mut, daß sie mich sofort abholen und sich wieder um mich kümmern würde, wenn sie in drei Monaten wieder entlassen würde. Eine für mich nicht faßbare Ewigkeit, aber ein Licht am Ende eines langen Tunnels.

Die Tante war die Älteste von fünf Geschwistern und gewohnt, zu kommandieren, auch früher schon meine Mutter, die die Jüngste war. Überdies war sie Klosterschwester. Ihr erster auf mich gerichteter Blick nach dem Eintreten war schon eine Kriegserklärung. Mit dem heutigen Abstand zu den damaligen Geschehnissen denke ich, daß ich mit meinen wunderbar langen Haaren meiner erzkatholischen Tante wie die Verkörperung der 1968er-Bewegung erschienen sein muß, noch dazu gepaart mit meinem für sie unverständlichen Verhalten. Auf dieser völligen Fehleinschätzung wird vermutlich ihr Entschluß beruht haben, das vermeintliche Übel zu bekämpfen und auszurotten.

In meinem Beisein sprach sie mit der dicken Frau ganz ungeniert schlecht über meine Mutter, die sich herumtreiben würde und ihren Verpflichtungen nicht gewachsen wäre. Man würde mir ansehen, wie verwahrlost ich wäre. Mir brach bei diesen Gemeinheiten das Herz. Ich war so getroffen, daß ich nur am Rande mitbekam, was sich dann abspielte. Es wurde ein zweites Telefonat zwischen meiner Tante und meiner Mutter geführt. Meine Tante erpreßte eiskalt meine Mutter, die ohnmächtig im Gefängnis saß. "Ich nehme Rainer nur dann bei uns auf, wenn ich das Sorgerecht für ihn bekomme. Wenn nicht, muß er eben ins Kinderheim."

Obwohl ich nicht alles verstand, was meine Mutter am anderen Ende erwiderte, bekam ich mit, daß sie sehr unglücklich war und nur notgedrungen mit schlechtem Gewissen schließlich zustimmte. Ich durfte noch ein letztes Mal kurz mit ihr sprechen. Sie flehte mich an, die Zähne zusammenzubeißen und auf ihre Entlassung zu warten.

Mit der Tante fuhr ich, es dämmerte inzwischen, zu unserem Haus, um meine Sachen zu holen. Hier begann der Alptraum erst so richtig. Woran mein Herz hing, Puppen, Haarspangen, Mädchensachen, alles flog in die Mülltonne und sie packte nur die Kleidung ein, die ich sonst in der Schule anzog, um nicht aufzufallen. Meine Tante fand meine Art zu leben unmöglich und gottlos und hatte sich auf einen Kreuzzug begeben, dies zu ändern. Die anschließende Fahrt im Dunkel in die Eifel war unheimlich und lang. Ich war übermüdet und todunglücklich, aber das schien meine Tante nicht zu kümmern.

Am nächsten Morgen wurde mir verkündet:

"Wir gehen für dich ordentliche Kleidung kaufen und zum Friseur mußt du auch."

Es brauchte einen drei Tage dauernden Krieg, der sich von Geschäft zu Geschäft hinzog, Prügel in der Öffentlichkeit eingeschlossen, bis meine Tante meine neue Garderobe beisammenhatte. Ich verweigerte mich in jedem einzelnen Laden, diese überhaupt nicht zu mir passenden Sachen anzuprobieren. Die entscheidende Schlacht wurde am vierten Tag geschlagen, und ich verlor sie. Bildlich an den Haaren wurde ich ins Auto gezerrt und dem Friseur überstellt, der kurzen Prozeß machte und meine geliebten Haare kurz schnitt.

Grund für Schläge gab es aus Sicht meiner Tante täglich. Ich hielt mich mit dem Gedanken an die Rückkehr meiner Mutter aufrecht, die mich nach drei Monaten wieder abholen würde. Ich verkroch mich in mein Zimmer, las, schrieb meiner Mutter Briefe ins Gefängnis und biß mich durch. Sich irgendwie arrangieren und diese Zeit überleben, das war mein Ziel.

Auch diese schwere Zeit verging und es kam der glückliche Tag, an dem ich auf dem Bahnsteig stand und meine Mutter aus dem Zug stieg. Nach der ersten Umarmung und meiner Wahrnehmung, daß Mutter blaß aussah, fragte ich sofort:

"Meine Sachen sind gepackt, wann fahren wir?"

Zu dieser Zeit hatte meine Mutter das Sorgerecht für mich noch nicht wieder neu beantragt. Meine Tante hatte sich inzwischen darum gekümmert, die finanziellen Angelegenheiten meiner Mutter zu regeln und mit ihren Gläubigern verhandelt. Sie setzte meiner Mutter knallhart auseinander, daß die erst einmal ihr eigenes Leben wieder auf die Reihe bekommen müßte, sich Arbeit und eine Wohnung suchen sollte, bevor sie sich wieder meiner annehmen könnte. Ich bekam dieses Gespräch mit und ahnte nichts Gutes. Die Schlinge zog sich zu. Als meine Mutter den Argumenten meiner Tante am Ende nachgab, brach für mich eine Welt zusammen. Es mag an dem siegesbewußten Grinsen meiner Tante gelegen haben, daß ich meine Mutter von einem Moment auf den anderen als feige verachtete. Ich hörte dem Gespräch nicht länger zu, zog meine Jacke an und ging hinaus in die Natur. Seit jenem schwarzen Tag habe ich meine Mutter nie wieder körperlich berühren können. Ich liebe sie auf eine Art immer noch, aber ich habe nie wieder wirklich zu ihr gefunden.

Ich mußte also dort alleine wohnen bleiben und wurde in einer Grundschule in der Umgebung angemeldet. Das war ein Spießrutenlaufen. Mit Jungs konnte ich nichts anfangen. Ich suchte mir Mädchen zum Freund, aber auch denen ging ich oft zu sehr auf die Nerven. Meinen ersten Schulverweis handelte ich mir in der vierten Klasse ein, ohne recht zu begreifen, warum. Ich hatte mich beim Schwimmunterricht geweigert, mich mit den Jungs zusammen umzuziehen oder gar zu duschen. Mein Schamgefühl ließ es nicht zu, mich von Jungs anschauen zu lassen. Das Schlimmste wäre gewesen, wenn sie meinen Penis gesehen hätten, den ich haßte, weil er kein Teil von mir war, nur ein Fremdkörper, der mich verschandelte. Um Ruhe zu schaffen, nicht weil man meine Beweggründe verstand, wurde ich seitdem vom Schwimmunterricht befreit.

So sehr ich mich redlich bemühte zu erklären wie ich war, niemand verstand meinen Alptraum. Es wurde diskutiert, ob man einen Psychologen hinzuziehen sollte, aber darunter konnte ich mir nichts vorstellen und hatte furchtbare Angst, so daß man von diesem Plan Abstand nahm, weil so nichts dabei herumkommen würde.

Inzwischen war mein Leidensdruck so groß geworden, daß mir meine innere Stimme sagte, daß ich mir selbst helfen müßte, wenn ich sonst von allen Menschen verlassen wäre. In dieser Gemütslage fiel eines Tages mein Blick auf eine herumliegende große Paketschere, die ich ohne nachzudenken an mich nahm und ins Klo verschwand, mit nicht weniger als der festen Absicht, dieses Ding zwischen meinen Beinen abzuschneiden und für immer loszuwerden. Dann könnte ich endlich so sein wie ich es wollte und wie alle Menschen es durften, nur ich bislang nie. Ich würde mich nicht mehr in meine eigene Welt zurückziehen müssen, weil niemand mich haben wollte.

Meine Tante fand mich zufällig, gerade noch rechtzeitig als ich die Schere schon angesetzt hatte und tief Luft holte, um mir Mut zu machen. Natürlich zog ich im Moment des Entdecktwerdens die Schere sofort zurück und erwartete, daß meine Tante sie mir sofort wegnehmen und mich danach schlagen würde. Statt dessen verschwand sie wortlos für einen Moment, ich blieb ratlos zurück, unfähig etwas zu tun. Dann kam sie schon wieder zurück, setzte den Fotoapparat an und drückte ab. Mit diesem Beweisfoto, mit heruntergelassener Hose und der Schere noch in der Hand, erpreßte sie mich zukünftig. Wenn ich nicht parieren würde, würde sie es einem Arzt zeigen und der würde mich dann für verrückt erklären. Das Schicksal hat mich oft überleben lassen, aber zu welchem Preis.

So verging die Zeit dort, bis ich ungefähr zwölf Jahre alt war. Ich hatte keine Freunde und versuchte so weit wie möglich den Schulbesuch zu umgehen. Mehr als einmal brachte mich die Polizei dorthin. Im Keller meines Onkels gab es einen Gitterverschlag, dort lagen auch Mengen an großen leeren Kartons herum. Die Gitterwände nutzend, baute ich mir eine Höhle aus den Kartons, die von außen nicht zu erkennen war, mit einem engen Durchschlupf als Eingang. Das war mein Versteck, mein Freiraum. Hier verkroch ich mich bei schlechtem Wetter, oft auch wenn ich morgens zum Schein zur Schule aufgebrochen und heimlich wieder zurückgekehrt war. Wenn es die Witterung erlaubte, ging ich mutterseelenalleine in den Wald. Angst hatte ich keine, nur den Wunsch, mich von den Menschen fernzuhalten. Mit zunehmendem Alter sonderte ich mich immer weiter ab. Es fiel mir immer schwerer, als Junge zu leben. Einzelne Vorstöße, mich anderen zu erklären, scheiterten, ich galt bald als nicht ganz richtig im Kopf.

Dann verstand ich gar nichts mehr. Bei den Jungen in meinem Alter begannen die Haare an den Beinen zu wachsen, an ihren Oberlippen zeigte sich der erste Flaum und die ersten kamen in den Stimmbruch. Das hatte ich alles nicht. Bei mir begannen sich statt dessen nie gekannte Gefühlswelten zu öffnen. Ich hielt das geheim, dachte aber so bei mir, daß ich doch recht hatte und daß niemand würde aufhalten können, wie ich war und wie ich mich entwickeln würde. Es war nach langer Zeit ein inniges und gutes Gefühl. Ganz zart entwickelte sich ein kaum sichtbarer Brustansatz bei mir, ich genoß diese Entwicklung meines Körpers sehr. Ihr werdet es noch sehen und dann endlich verstehen, dachte ich mir.

Dem Sportlehrer fiel meine Veränderung zuerst auf, er mußte wohl daraufhin heimlich meine Mutter angerufen haben. Ich kam nichtsahnend nach Hause. Ohne Vorankündigung und Schamgefühl zog mir meine Tante mein T-Shirt hoch. Ihr Gesicht versteinerte, als ob sie dem Teufel persönlich begegnet wäre. Das deckte sich in gewisser Weise mit meiner Erwartung, meinen Kampf doch am Ende noch zu gewinnen und ich sagte provozierend zu ihr: "Siehst du, ich habe doch recht gehabt."

Jetzt müssen sie mich so nehmen, wie ich bin, triumphierte ich innerlich.

Abends kam meine Tante in mein Zimmer und sprach schmallippig:

"Morgen brauchst du nicht zur Schule zu gehen, wir gehen mit dir zum Arzt."

Einfach so, ohne einen Grund zu nennen.

Dieser Kinderarzt untersuchte meinen ganzen Körper. Er fand beim Abtasten meines Brustansatzes vergrößerte Brustwarzen. Bei der Untersuchung meiner Hoden bemerkte er, daß meine Hodensäcke leer waren. Endlich durfte ich mich wieder anziehen und draußen warten. Es war mir so peinlich gewesen, daß ich wie ein Tier im Zoo von diesem fremden Menschen angesehen und angefaßt worden war, ich war deswegen ganz durcheinander. Meine Tante führte ein langes Gespräch mit dem Arzt, dessen Inhalt ich nicht mitbekam. Ich kam auch nicht auf die Idee, daß meine eben festgestellten Körpermerkmale der einzige Grund für diesen Arztbesuch waren. Auf der Rückfahrt kein einziges Wort von meiner Tante, für mich war die Sache damit erledigt.

Als ich am Tag darauf aus der Schule heimkam, hatte meine Tante die nächste Überraschung parat:

"Du wirst die nächsten paar Tage nicht in die Schule gehen. Du bist krank und mußt kommende Woche ins Krankenhaus, dort wirst du operiert."

Natürlich hatte ich die Hosen gestrichen voll und quengelte und fragte so lange wegen meiner Krankheit, bis ich folgende Antwort bekam:

"Deine Hoden sitzen viel zu hoch, halb innen im Körper. Da muß etwas daran gemacht werden, sonst kannst du später keine Kinder zeugen."

Schulzeit

Im Krankenhaus wurde ich nochmals eingehend untersucht. Vor der Operation hatte ich eine Scheißangst. Ich erinnere mich, daß ich durch eine überdimensionale Klappe vom Krankenbett in den OP-Bereich geschoben wurde. Es erinnerte mich an die Klappe eines Pizzabäcker-Ofens. Dann wirkte schon die Narkose und ich war im Reich der Träume. Vom Eingriff selbst weiß ich nichts.

Als ich im Krankenzimmer wieder aufwachte, taten mir meine Hoden ordentlich weh. Ich tastete mich ab und fand je einen Tampon darin stecken. Damals fand ich es äußerst fragwürdig, warum da unten zwei kurze Stücke Angelschnur herausschauten? Ich lag mit vier Jungen auf dem Zimmer, was mich sehr nervte. Ich hatte das Gefühl, auf der falschen Station zu sein. Nach einigen Tagen wurden die Tampons unter einem kurzen, aber heftigen Schmerz herausgezogen und bald darauf wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen.

Ich konnte an mir keine Veränderung feststellen, aber die Menschen um mich herum verhielten sich anders, das war nicht zu übersehen. Schon die Krankenschwester und der Klinikarzt hatten so einen erleichterten Gesichtsausdruck gemacht. Jetzt lächelte sogar meine Tante ein wenig, so als ob die Welt für sie jetzt wieder in Ordnung sei. Egal, Hauptsache ich war aus dem Krankenhaus wieder heraus.

Mein Kinderarzt machte die Nachuntersuchungen. Als meine Tante einmal verhindert war, ging meine Oma mit. Bei diesem Besuch legte der Arzt in meinem Beisein eine Schachtel mit Spritzen auf den Tisch und sagte zu ihr:

"Alle drei bis vier Wochen eine davon, über mehrere Jahre, ansonsten ist alles o.k."

Ich ging dann in den folgenden drei Jahren einmal im Monat meine Spritze abholen. Ich dachte nicht weiter darüber nach, außer daß es immer recht weh tat. Ich beobachtete, wie andere Patienten sich vorsorglich gegen Heuschnupfen oder Grippe impfen ließen, so etwas mußte das wohl auch bei mir sein. Es wurde zu Hause oder beim Arzt nie mehr über den Grund gesprochen.

In den ersten zwei bis drei Monaten, nach den ersten Spritzen, veränderte ich mich, zunächst unbemerkt. Ich hatte immer noch diese weichen, plüschigen Gefühle in mir und einen Sinn für schöne Dinge. Genauso hartnäckig war leider auch meine Unzufriedenheit und das Nicht-verstandenwerden. Die Situtation mit meiner Tante und in der Schule wurde nicht besser. Jetzt stellten sich neue, bislang nicht gekannte Gefühle bei mir ein: Aggression, Bösartigkeit, Jähzorn, Haß-Attacken mit bildlicher Vorstellungskraft bis ins Detail. Ich sehnte mich nach meiner Plüsch-Gefühlswelt und hatte Angst, sie zu verlieren. Mein inneres Gleichgewicht kippte. Es war wie in einem Cartoon, in dem sich Engelchen und Teufelchen gegenseitig das Leben schwer machen. Bei mir gewann das Teufelchen. Leider schwand damit gleichzeitig mein Mädchensein dahin.

Fortan hatte ich mein Verhalten gegenüber anderen Kindern nicht mehr im Griff, es ging mit mir durch. Immer hatten mich alle als Jungen haben wollen, nun bekamen sie ihn, aber was für einen. Der von ihnen gerufene Geist war viel zu groß, um ihn beherrschen zu können und er würde nicht wieder freiwillig in seine Flasche zurückkehren.

Hatte man mich früher in der Schule geärgert, hatte ich mich wie ein Mädchen umgedreht, war weggelaufen und hatte geweint. Jetzt konterte ich mindestens mit einem blöden Spruch, bevor ich weglief, oft schlug ich einfach zu.

Mit meiner ständigen Unzufriedenheit war das auch so eine Sache. Bislang war ich unzufrieden, weil die Außenwelt mich nicht als Mädchen leben ließ. Nun schob ich einfach nur Frust über mich selbst, aber ich konnte nicht einmal sagen, warum. Manchmal, wenn ich alleine auf meinem Bett hockte, flackerte noch das alte Mädchen-Gefühl wieder auf, aber nicht mehr so original wie früher, es fühlte sich wie ein schlechte Kopie an.

Meine Stimme wurde tiefer und mir wuchsen Haare an den Beinen. Obwohl mein Körper objektiv betrachtet dazu keinen Anlaß gab, im Gegenteil, fühlte ich mich noch schwächer und angreifbarer. Die Diskrepanz zwischen meinem gefühlten Ich und dem, was ich im Spiegel sah, wurde täglich größer. Ich sah mich selbst nur noch an, wenn Dinge wie Kämmen es erforderten. So wie Tieren oft das Bewußtsein fehlt, ihr Spiegelbild als sich selbst zu erkennen, wurde ich mir fremd. Das sollte über Jahrzehnte hin so bleiben.

Ich glaubte, daß jedermann auf der Straße mir ansehen müßte, daß man mir die Schutzmauer um mich herum genommen hatte. Ich kam nicht mehr klar und verzweifelte immer mehr. Ich sonderte mich so weit es überhaupt ging von der Familie ab. Meinen Willen setzte ich mit Jähzorn durch, bis man mich gewähren ließ. In meinem einst so geliebten Kellerversteck trat ich in einem Wutanfall alles zusammen. Ich führte mein eigenes Leben.

Der eigene Körper bedeutet auch Sexualität, gerade in der Pubertät. Die anderen Jungs, diese Westentaschen-Machos, redeten wie die Weltmeister über Mädchen. Im Stangenfieber hatten sie ihren Spaß daran, an sich herumzuspielen und das Resultat wachsen zu sehen. Das fand ich absolut abstoßend, voll daneben und peinlich. Dann kam eines Tages aus heiterem Himmel der nächste Schock: Ich fühlte mich zu so einem fremden männlichen Körper hingezogen, ohne etwas dagegen tun zu können. Allein beim sich sofort einstellenden Gedanken an Sex zwischen Jungs wurde mir sofort schlecht, außerdem wußte ich, daß das streng verboten war, völlig undenkbar. Mädchen wiederum taugten mir nur als Freundinnen, sexuell angezogen fühlte ich mich von ihnen nicht. So saß ich zwischen allen Stühlen und hatte kein sexuelles Erlebnis. Der Druck in meinem Kessel stieg.

Es gab keine Antwort auf meine Fragen. Keinen Menschen, dem ich mich anvertrauen konnte, keine Bücher, die mir zugänglich gewesen wären und das Internet war noch nicht erfunden. Meine sexuelle Frustration entlud sich in Gewalt. Als ich einen Cassettenrecorder in den Unterricht mitgenommen hatte, wollte ihn mir der Lehrer wegnehmen. Da ging ich auf ihn los und verprügelte ihn. Ich flog von der Schule.

So kam ich innerhalb von ungefähr drei Jahren auf die zweite Schule. Hier war mir schon alles egal. Ich ließ nichts mehr an mich heran, setzte meinen Willen durch und machte mein eigenes Ding. Nach außen hin ahmte ich das Verhalten der Jungs nach und paßte mich an, um durchzukommen. In meiner Rolle als Junge hatte ich nicht mehr den ständigen Zwiespalt der Geschlechter im Kopf, der mich viel Kraft kostete. Ich versuchte, nicht mehr an mein feminines Ich zu denken, um mir das Leben einfacher zu machen. Aber die Selbstzensur nützte nichts, es ging nicht weg. Manchmal glaubte ich inzwischen selbst, verrückt zu sein. Die Spritzen bekam ich immer noch. Ich begann zu rauchen, um meinem Cousin meine Männlichkeit zu beweisen. Der hatte vorhergesehen, daß ich grün im Gesicht werden würde und hatte seinen Spaß auf meine Kosten.

Mit ihm hatte ich öfter solche Erlebnisse. Er stellte etwas an, gab anschließend das Unschuldslamm und ich wurde an seiner Stelle bestraft. Das waren für mich praktische Lektionen in Menschenkenntnis. Menschen war oft nicht zu trauen, lernte ich. Da mein Cousin nicht dumm war - er wurde später Professor - fiel ihm auf, daß ich nichts mit Mädchen hatte. Das wollte er genauer wissen.

"Bist du schwul?"

Er zog seine Hose herunter und begann, seinen Penis zu massieren.

"Gefällt dir, was du siehst? Macht dich das an?"

Ich verpaßte ihm so einen Schlag, daß er rückwärts gegen eine Zimmertür krachte, deren Glaseinsatz barst. Selbst als er am Boden lag, war da immer noch dieses gehässige Grinsen, in der Gewißheit, einen wunden Punkt getroffen zu haben. Die spätere offizielle Version war natürlich, daß ich einen Streit angefangen hatte. Noch heute leben Sexprotze, die im Schlafzimmer ihr Ausstellungsstück vorzeigen und mich fragen, ob es mich anmacht, bei mir sehr gefährlich.

Zu Beginn meiner Zeit an der zweiten Schule hatte man nun doch einen Psychologen hinzugezogen, weil man sich sonst keinen Rat mehr wußte. Der vertrat die Auffassung, meine überschüssige Energie müsse in Sport umgelenkt werden. Die meisten Sportarten interessierten mich nicht. Es ergab sich, daß ich in einer Kampfsportschule landete, in der Kickboxen unterrichtet wurde. Ich wollte erst gar nicht, aber dann begann es irgendwie doch, mir Spaß zu machen. Ich hatte nur ein Problem damit, daß Regeln einzuhalten waren. Beim Prügeln auf dem Schulhof oder auf der Straße gab es ja auch keine. Immerhin, erstmals hatte ich so etwas wie ein Ziel und erkannte, daß ich fähig war, etwas zu leisten. An diesem Punkt vollzog ich eine Art geistige Trennung. Ich hatte immer noch Gedanken ans Frausein, aber alle Klamotten und was sonst äußerlich typisch weiblich war, verbannte ich. Nach außen hin galt ich damit vermutlich als geheilt.

Ich hatte gehofft, daß meine Leistung zu Erfolgserlebnissen führen würde. Aber Anerkennung bekam ich nicht. Jetzt war ich eben ein männlicher Außenseiter und ein Schläger dazu. Mein Leben bestand zu dieser Zeit nur aus Schule und Sport. Die alten Probleme zogen sich auch durch den Alltag in der neuen Schule, ich mogelte mich immer noch gerade so durch, um nicht sitzenzubleiben.

Beim Kampfsportunterricht funktionierte meine innere Welt so: Ich ging in die Umkleide und sah mir die knackigen Kerle mit den Augen einer Frau an. Dann zog ich mich selbst um. Mit dem Wechseln der Kleidung legte ich einen Schalter um und ging als Mann in die Halle. Meine Siege im Kampf waren ein süßes Gift. Wenn die Menschen mich schon nicht verstehen wollten, dann wollte ich wenigstens sicher sein, daß ich sie beherrschen könnte, denn dann könnten sie mir nicht mehr wehtun. Schon lange war mir klar, daß ich vielen in meinem Alter geistig überlegen war. Jetzt war ich auch körperlich stärker und brauchte keine Angst mehr vor ihnen zu haben. Ich wollte unbedingt siegen, nicht nur beim Training. Mein inzwischen rauhes äußeres Auftreten schützte mich. Es kam der Tag, an dem meine verhaßte Tante mit ihrem Latein am Ende war. Sie wollte mich schlagen, aber ich hielt einfach nur ihren Arm fest.

Auf Dauer mochte man mich auch an dieser Schule nicht mehr haben, ich flog raus. Auch sonst wollte mich keine Schule in der Eifel mehr aufnehmen. Ungeahnt hatte ich mir damit selbst die Erlösung von meiner Tante geschaffen. An der Schulpflicht kam auch sie nicht vorbei. Um nicht ins Heim zu müssen, mußte ich dort wegziehen, um woanders zur Schule gehen zu können. Das war die Rückfahrkarte zu meiner Mutter. Bei der Abreise auf dem Bahnsteig blickte ich meine verhaßte Tante ein letztes Mal an: Am Ende doch verloren, siehste.

Ruhrpott-Blues

Meine Mutter hatte in Duisburg eine unschlagbar billige Wohnung und Arbeit in der Nähe gefunden. Es war die Zeit, als der Niedergang des Ruhrgebiets bereits eingesetzt hatte. Eine Atmosphäre von Hoffnungslosigkeit und dem trotzigen Versuch, sich dem Verfall noch entgegenzu-stemmen. Ich wohnte zwar bei meiner Mutter, aber unser Verhältnis wurde nie mehr wie früher. Wir schliefen unter dem gleichen Dach, lebten aber unsere eigenen Leben und scherten uns nicht groß umeinander. Dazu kam, daß meine Mutter oft abends arbeiten ging. Sie hatte inzwischen einen Freund. Den nahm ich instinktiv als gefährlich und schlecht für meine Mutter wahr. 'Den haue ich auch noch um' dachte ich spontan. In der Schule kämpfte ich mit Sprachschwierigkeiten. Ich hatte mir den Eifeler Dialekt angewöhnt, den ich nicht nur sprach, sondern manchmal versehentlich auch schrieb. In Duisburg suchte meine Mutter mir einen neuen Arzt. Ich bekam noch eine Zeitlang meine monatliche Spritze, dann ließ ich es schleifen und ging nicht mehr hin. Meine Mutter war nicht hinterher und ließ es geschehen. Während vieler darauffolgender Jahre betrat ich keine Arztpraxis mehr.

Die Nachbarschaft war asozial. Das erste überlebenswichtige Gebot war, sich nicht der falschen Gruppe anzuschließen. Jugoslawen, Türken, Kurden und Deutsche waren die wichtigsten davon und alle bekriegten sich gegenseitig. Es gab viel Gewalt auf der Straße, ich fühlte mich wohl unter meinesgleichen. Zeitweise schloß ich mich aus taktischen Erwägungen den Kurden an. Ich suchte mir eine neue Kampfsportschule und lernte neue Leute kennen, natürlich die falschen, in diesem Umfeld konnte es fast gar nicht anders kommen. Für mich waren es Gleichgesinnte, die wie ich Probleme mit der Gesellschaft hatten und sich gemeinsam gegen sie stellten. Unser soziales Miteinander sah so aus, daß wenig gegessen, viel getrunken und geraucht und um die Häuser gezogen wurde. Ob auf der Straße oder in der Disco, wer uns in die Finger kam, wurde vermöbelt, auch wenn er uns gar nichts getan hatte. Bald gab ich meinen Sport wieder auf. Hier auf der Straße hatte ich alles, ich konnte mich austoben, ohne Regeln befolgen zu müssen. Bei einem unserer abendlichen Streifzüge sah ich meine Mutter in einer Bar hinter der Theke arbeiten. Meine Kumpane wußten zu berichten, daß ihr Freund als Zuhälter bekannt wäre.

Eines Nachts kam ich angetrunken nach Hause. Meine Mutter wollte mit mir darüber diskutieren, aber ich wollte nur ins Bett und schob sie sanft beiseite. Kurz nach mir kam ihr Freund zur Tür herein, im Schlepptau eine bildhübsche 20jährige Prostituierte, die ein liebes Wesen zu sein schien und die mir gleich sympathisch war. "Die bleibt jetzt für ein paar Wochen hier."

Natürlich gab es Streit zwischen meiner Mutter und ihrem Freund. Besonders, als der durchblicken ließ, er hätte sich eigentlich heute abend auf einen Dreier mit ihnen beiden gefreut. Ich verzog mich mit der netten Prostituierten in die Küche und wir überließen die Streitenden sich selbst. Als aber der Freund meine Mutter schlug, ging ich dazwischen und attackierte ihn. Seine kurze Warnung schlug ich in den Wind. Er setzte an und traf mich so, daß ich hintenüberfiel und augenblicklich das Licht bei mir ausging.

Er ließ sich nie wieder blicken, auch sein Mädel nicht. Im Nachhinein erfuhr ich, daß er Karatekämpfer war. Er hatte einen Bruder, mit dem ich zusammen schon einiges erlebt hatte. Unter anderem meinen ersten Bordellbesuch, dem ich absolut nichts abgewinnen konnte, es war bei Blickkontakten geblieben. Er kam nach wie vor oft zu Besuch. Einmal waren wir beide sturzbetrunken unterwegs. So wollte ich nicht nach Hause, aber der Weg zu seiner Behausung war für uns zu Fuß in unserem Zustand auch nicht mehr zu schaffen.

"Jetzt zeige ich dir mal, wie man einen VW Käfer klaut."

Gesagt, getan und schon waren wir motorisiert unterwegs.

Im Suff meinte ich

"Ich will auch einen Käfer haben",

woraufhin er kurzerhand ein zweites Exemplar ausspähte, öffnete und kurzschloß. Ich war bei früheren Gelegenheiten schon heimlich gefahren und mittlerweile waren die Straßen bereits abendlich leer. So kamen wir tatsächlich unbehelligt bei ihm an und parkten beide geklauten Käfer gleich vor der Tür, ohne darüber nachzudenken.

Er hatte in 'seinem' Käfer den Führerschein des Besitzers im Handschuhfach gefunden und an sich genommen. Endlich betraten wir seine Bude und ich wollte nur noch ins Bett. Doch mein Freund hatte noch einen Einfall auf Lager.

"Jetzt kriegst du noch deinen Führerschein."

sagte er und schwenkte den grauen Lappen umher. Er packte ihn in altes, angefeuchtetes Zeitungspapier, knüllte alles zusammen und walkte es kräftig durch. Wie von Zauberhand war danach die mit Tinte eingetragene Schrift verschwunden. Mit einer Schreibmaschine trug er kurzerhand meine Daten ein. Das vorhandene Foto entstellte er dadurch, daß er an einer Stelle wie zufällig ein kleines Loch machte und an einer anderen einen Fleck, der sich nicht mehr entfernen ließ. Mit viel Phantasie hatte es etwas Ähnlichkeit mit mir. Zufrieden mit so viel Erfolgserlebnissen fielen wir beide ins Bett und schliefen ein.

Morgens flog die Tür auf und meine Mutter stand im Zimmer. Sie schaute zufällig genau auf den Tisch, auf dem mein 'neuer Führerschein' lag. Meine Mutter begriff sofort. Sie holte meinen Gastgeber aus den Federn und jagte ihn unter wüsten Beschimpfungen in der Unterhose bis vor die Tür. Seitdem wollte er mit mir nichts mehr zu tun haben.

Ich ging dann irgendwann gar nicht mehr zur Schule. Ich lebte bei Hausbesetzern und ging zu Demos, nur um der Rauferei willen. Es war in ganz Deutschland die Zeit der Jugendunruhen der frühen 1980er Jahre. Im Ruhrgebiet kamen noch die revierweiten Proteste gegen die geplanten Stillegungen in der Stahlindustrie dazu. Da ich zu dieser Zeit 16 Jahre alt war, gab es Ärger mit dem Jugendamt. Einmal griff mich die Polizei auf und ich mußte ein Wochenende in der Zelle verbringen. Das Jugendamt hätte mich zwangsweise in ein Heim stecken können. Sie waren aber recht vernünftig und redeten mir gut zu, ich solle doch freiwillig für ein halbes Jahr den Arsch zusammenkneifen und wenigstens meinen Hauptschulabschluß machen. Ich sah es ein und stimmte zu. Das Mädchen in mir war inzwischen ohnehin schon tot, ich war in dieser Welt voller Primaten angekommen.

Heim und Schule lagen bei Hennef, und zwar auf dem gleichen Grundstück, mit einer hohen Mauer um den gesamten Komplex und stets zwei kräftigen Erziehern am Eingang, die Wache schoben. Es gab sogar eine Art internen Knast, einen richtigen Zellenblock. An keinem anderen Ort bestätigte sich für mich die Volksweisheit mehr, daß Pack immer zu Pack findet. Hier herrschte das Faustrecht, auch seitens der Erzieher. Nach der Neuankunft haute man am besten gleich zwei oder drei um, damit man respektiert wurde und in der Hackordnung nicht ganz unten anfing. Jedenfalls konnte ich mich unter diesen Menschen problemlos bewegen und behaupten. Hier lernte ich die Kunst 'angepaßt Scheiße zu bauen'. Man konnte große Sachen anstellen, sollte sich aber nur bei Kleinigkeiten erwischen lassen. Mein erstes kleines Tattoo, heimlich gestochen, entstand zu dieser Zeit, eine Spinne auf dem Handrücken. Der große Tag, ungefähr einmal im Monat, war immer der Ausflug am Freitagnachmittag zur Eissporthalle nach Troisdorf. Das war neutraler Boden, wir trafen dort auf die Bewohner eines anderen Heims aus Siegburg. Es dauerte nie lange, bis die schönste Keilerei im Gange war. Ich hielt mich dort und auch im Heim inzwischen öfter abseits und studierte regelrecht das Verhalten von Männern in freier Wildbahn. Langsam wuchs sich meine aggressive Phase etwas aus. Wie erhofft schaffte ich meinen Schulabschluß, mit 17 Jahren.

Wie jedes offiziell als solches registrierte männliche Wesen in diesem Alter erreichte auch mich eines Tages die Aufforderung, mich beim Kreiswehrersatzamt Köln zur Musterung vorzustellen. Die Bundeswehr war aus meiner Sicht ein Verein von Verlierern. Da gingen die hin, die sonst nirgendwo unterkamen. Eine richtige Truppe von Kämpfern sah für mich anders aus. Selbstverständlich hatte ich keine Lust, meinen Wehrdienst anzutreten, aber auch auf ein Verweigerungsverfahren aus Gewissensgründen hatte ich ebensowenig Bock. Ich fand keinen Gefallen an der Vorstellung, im Altersheim als Zivilidienstleistender alten Menschen den Hintern abzuputzen. Also ging ich zur Musterung und erklärte frei heraus:

"Kämpfen werde ich nicht, verweigern werde ich auch nicht, am besten, ihr sperrt mich für die kommenden 18 Monate ein und verpflegt mich."

Die medizinischen Untersuchungen mußte ich trotzdem über mich ergehen lassen. Üblicherweise konnte man danach nach Hause gehen. Bei Menschen mit einschlägigen Vorkommnissen in der Jugendzeit gab es aber am Ende immer noch ein Einzelgespräch. Erst mußte ich ewig warten, als ich dann endlich hereingerufen wurde, fiel es mir schwer, mir das Lachen zu verkneifen. Da saßen wie in einer billigen Fernsehproduktion drei Typen in Uniform mit Lametta auf den Schultern und hinter ihnen an der Wand hing eine große Deutschlandfahne.

"Wollen Sie nicht versuchen, Ihr Leben zu ändern? Etwas mehr Disziplin und das Leben in einer Gemeinschaft täte Ihnen gut." wurde mir anheimgestellt.

"Ich halte nichts von diesem Karnevalsverein. Ihr seid ja nicht mal richtige Kämpfer, alles Nullen. Glaubt ihr, daß ich mir für euch meine langen Haare abschneiden werde? Ich will so leben, wie ich es will, dafür gehe ich auch in den Knast!"

Ich wurde ohne Kommentar nach Hause geschickt. Wochen später bekam ich den Bescheid, die zweitbeste Tauglichkeitsstufe zu haben. Danach habe ich nie mehr etwas von der Bundeswehr gehört, ich mußte noch nicht einmal zur Eignungs- und Verwendungsprüfung.

Scheinbar hatte man begriffen, was man sich da mit mir einfangen würde.

Liebeleien