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Simon hat Mist gebaut. Jetzt sitzt sein Bruder seinetwegen im Knast und er selbst steht ohne Geld und Arbeit da. Doch dann bekommt er die Chance seines Lebens: als Bodyguard an der Seite der jungen Hotelerbin Mia. Mia ist stinksauer, dass ihr Vater sie von ihrem Schweizer Internat genommen hat und jetzt auch noch einen Babysitter für sie engagiert. Darauf hat Mia herzlich wenig Lust und lässt Simon das auch sehr deutlich spüren. Trotzdem kommen sich die beiden näher. Doch als sich Simons alte Gang einschaltet, wird ihre zarte Liebe auf eine harte Probe gestellt. Und Simon wird klar, dass er tatsächlich sein Leben für Mia gäbe …
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Seitenzahl: 492
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Es ist Nacht,
und mein Herz kommt zu dir,
hält’s nicht aus,
hält’s nicht aus mehr bei mir.
Legt sich dir auf die Brust,
wie ein Stein,
sinkt hinein,
zu dem deinen hinein.
Dort erst,
dort erst kommt es zur Ruh,
liegt am Grund
seines ewigen Du.
Christian Morgenstern
PROLOG
Zwei Wochen vorher
»Simon Winter?«
Der junge Mann blickte in Zeitlupe auf und warf dem Gefängniswärter ein gelangweiltes Kopfnicken zu, obwohl sein Puls auf hundertachtzig war. Mit einem Handzeichen fordete ihn der Wärter auf, ihm zu folgen. Der Typ war ihm auf Anhieb unsympathisch, und es ärgerte ihn, dass er wie ein Schuljunge hinter diesem Trottel herlaufen musste. Daher achtete er darauf, dass der Abstand zwischen ihnen möglichst gering blieb. Er wollte diesem Babyface in Uniform auf gar keinen Fall das Gefühl vermitteln, er hätte auch nur ansatzweise Respekt vor ihm.
Simon schätzte seinen Vordermann auf ungefähr Mitte zwanzig, also war er gerade mal vier, fünf Jahre älter als er selbst. Allerdings wirkte er alles andere als männlich oder Furcht einflößend. Er erinnerte Simon an einen dieser Loser mit rosafarbenen Bäckchen und Scheitelfrisuren, denen man früher in der Schule aus reiner Freude eine aufs Maul gehauen hatte. Genau diese Typen schmissen sich später in Uniformen, um sich an der Ungerechtigkeit der Welt rächen und ihre hart erkämpfte Macht ausspielen zu können. Klarer Fall.
Spacko-Arsch!, formte Simon mit den Lippen und zeigte dem Rücken seines Vordermanns den Mittelfinger.
Ihre Schritte hallten durch die nackten Gänge. Er konzentrierte sich darauf, nicht im selben Rhythmus mit dem Wärter zu gehen, sondern den Fuß immer dann aufzusetzen, wenn der andere seinen gerade anhob. Sich im Gleichschritt mit ihm zu bewegen, wäre ihm schwach vorgekommen. Mehr noch: wie ein Einverständnis zwischen ihnen. Und das wiederum kam einem Verrat an Ben gleich. Scheiße noch mal. Ben saß hier fest. Wegen ihm, seinem bescheuerten kleinen Bruder. Es war Simons Chance gewesen, sich zu beweisen – das erste Mal, dass er ganz allein ein Ding drehen sollte. Und er hatte es verbockt. Allein bei der Erinnerung an vorletzte Nacht wurde ihm sofort wieder schlecht. Ben würde sich natürlich bestätigt fühlen. Und was Rick betraf … Ihn hatte er seither zwar nicht gesehen, aber er würde alles andere als begeistert sein. Simon hatte ihn wochenlang anbetteln müssen, bis er endlich diesen Auftrag bekommen hatte. Ben war ziemlich angepisst gewesen. Er hatte seinen kleinen Bruder von vornherein nicht dabeihaben wollen und hatte alles versucht, um ihn von der Clique um Rick fernzuhalten. Dabei wollte Simon gerade ihm zeigen, was er draufhatte. Dass er längst kein kleiner Junge mehr war, den man vor der Welt beschützen musste. Umso schlimmer, dass er sich dermaßen bescheuert angestellt hatte.
Es war um einen schwarzen Lexus gegangen, der auf einem Privatgelände stand. Einfach gesichert. Eine Nullachtfünfzehn-Alarmanlage. Als Trockenübung hatte er die Dinger schon zigmal geknackt, immer innerhalb weniger Sekunden – und trotzdem hatte er dann im entscheidenden Moment versagt. Es waren seine Finger gewesen. Sie hatten plötzlich angefangen zu zittern. Der Alarm war losgegangen, und was hatte er Vollidiot getan? War einfach stehen geblieben, wie gelähmt, hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Auch dann nicht, als ihn jemand von den anderen zurückgepfiffen hatte. Und auch nicht, als kurz darauf die Polizeisirenen zu hören gewesen waren. Er war stocksteif dagestanden wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Erst als sein Bruder wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn mit voller Wucht vom Auto weggeschubst hatte, hatten sich sein Verstand und seine Muskeln wieder eingeschaltet. Dann endlich war er gerannt. Aber da war es schon zu spät gewesen. Nicht für ihn, aber für Ben.
»Sie haben zehn Minuten.« Der Wärter sperrte eine Eisentür auf, ließ ihn eintreten, ohne einen Blick hineinzuwerfen, und schloss sie gleich wieder.
Die Brüder waren allein in dem kleinen, spärlich eingerichteten Raum. Ben erhob sich von seinem Stuhl und trat auf Simon zu. Er lächelte. Ben hatte ein umwerfendes Lächeln. Eines, das ihm die Mädchen reihenweise in die Arme trieb. Alle sagten, sie sähen sich ähnlich. Aber in Simons Augen wirkte Ben härter, entschlossener. Vielleicht waren es die fünf Jahre Altersunterschied. Vielleicht auch die Erfahrungen, die Ben in den letzten neun Jahren da draußen gesammelt hatte.
»He, Kleiner!« Ben hob seine Faust und Simon tat es ihm gleich. Sie boxten sie gegeneinander, so wie immer, wenn sie sich begrüßten oder verabschiedeten. Aber dieses Mal war Simon unwohl dabei. So zu tun, als wäre alles easy, fühlte sich an diesem Ort falsch an. Verdammt falsch sogar.
»Es tut mir … echt total leid, Mann«, murmelte er. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Schätze, ich hatte den totalen Blackout.«
»Komm, vergiss es. Ist schon okay.«
Simon hob den Kopf und starrte seinen Bruder ungläubig an. Er fühlte sich wie gerädert, hatte die ganze letzte Nacht kein Auge zugetan. Aber diese Aussage gab ihm den Rest. In diesem »Okay« lag alles, wogegen er seit Monaten ankämpfte: Ironie, Geringschätzung, Gleichgültigkeit. Es fegte sein Streben nach Anerkennung einfach weg.
»Was?« Simon rang um Worte. »Nein … Nein, das ist verflucht noch mal nicht okay, Ben! Warum hast du das getan?« Die Frage war seit vorgestern ununterbrochen in seinem Kopf umhergekreist. Wie ein Strudel mit einem tiefen dunklen Loch in der Mitte, in dem die Antwort schwamm, die er eigentlich längst kannte und abgrundtief hasste. Die Antwort darauf, warum sein Bruder für ihn in den Knast gewandert war, weshalb er alles auf sich genommen hatte. Warum er das Gefühl gehabt hatte, seinen kleinen Bruder beschützen zu müssen.
Je mehr ihm bewusst wurde, was passiert war, desto mehr war die Wut in ihm gewachsen. Was Ben getan hatte, zeigte, dass er ihn nach wie vor nicht für voll nahm.
Er war sogar so wütend gewesen, dass er letzte Nacht Lissi von sich gestoßen hatte, als sie sich an ihm rieb, sich an seinem Körper hinabküsste und ihn von all seinen Sorgen »freiblasen« wollte. Etwas, worauf er sonst immer abfuhr. Aber dieses Mal hatte sie ihn mit ihren Annäherungsversuchen einfach bloß genervt.
»Scheiße, was sollte das?«, fauchte Simon seinen Bruder jetzt an. »Warum bist du den Bullen in die Arme gerannt? Du hättest mich einfach stehen lassen sollen! Das war mein Deal! Was hattest du überhaupt dort zu suchen?«
Ben lachte auf und ließ sich kopfschüttelnd zurück auf seinen Stuhl fallen. Er trug noch dieselben Klamotten wie in der Nacht seiner Festnahme: zerschlissene Jeans und ein dunkelgrünes Shirt, auf dem irgendwann einmal ein Aufdruck gewesen war. Die dunklen Bartstoppeln ließen ihn verwegener aussehen und seine blauen Augen noch mehr hervorstechen.
»Du bist so ein Vollidiot, Simon. Du checkst es echt nicht, oder?«
Simon wurde schlecht vor Zorn und er musste sich setzen. Bens Gelassenheit machte ihn rasend und er riss sich zusammen, um seinen Bruder nicht anzuschreien und am Ende damit den Wärter auf sich aufmerksam zu machen.
»Was gibt es da zu checken?«, presste er hervor. »Ich meine … deine Aktion war … komplett hirnrissig. Wenn schon, dann sollte ich jetzt hinter Gittern sitzen. Ich habe es schließlich verbockt, nicht –«
»Halt die Klappe!« Bens Stimme war scharf. »Was ich getan habe, war das einzig Vernünftige, okay? Ich hatte es dir von vornherein gesagt. Diese ganze Scheiße ist nichts für dich, Kleiner. Kapier es endlich – du musst niemandem beweisen, dass du cool bist, indem du Autos knackst. Weder dir selbst, noch mir, noch Rick. Besonders nicht Rick, okay? Halte dich von ihm fern. Und verdammt noch mal, beweg endlich deinen Arsch und mach was aus deinem Leben!«
Die Worte hallten dumpf in seinem Schädel. Wieder diese Pseudoratschläge, die ewig gleiche Leier. Ben stieß ihn aus seinem Leben, weil er ihn für einen Warmduscher hielt. Dabei war sein großer Bruder der Einzige aus der Familie, zu dem Simon wirklich aufblickte.
»Warum ich?« Simon fuhr sich über die pochende Stirn. »Wieso denken alle, ich hätte so viel auf dem Kasten? Und warum machst du weiter in der Gang, wenn alles so scheiße ist, wie du behauptest?« Er hatte es satt. So satt, dass Ben immer eine Kluft zwischen ihnen schuf, indem er seinen jüngeren Bruder als den Saubermann, den Intelligenzbolzen hinstellte. Ben hörte sich genauso an wie ihre Mutter. Als hätten sie sich heimlich verbündet. Wenigstens in diesem einen Punkt.
»Du bist ein guter Junge, Simon. Du wirst es einmal anders machen als Ben. Besser. Er ist uns irgendwie entgleist. Ich weiß nicht, wie und wann.«
Er hatte ihre ewig weinerliche, brüchige Stimme noch immer im Ohr, obwohl er schon seit ein paar Monaten nicht mehr zu Hause gewesen war. Hauptsächlich, weil er ihren neuen Freund nicht abkonnte. Aber auch wegendieser Stimme, in der immer ein Hauch von Vorwurf lag. Wahrscheinlich, weil sie insgeheim genau wusste, dass er ihre Hoffnungen nicht erfüllen würde. Nicht jetzt und auch nicht später. Weil er nicht der Typ war für ein langweiliges Leben mit Acht-Stunden-Job und Monatsticket. Das war ihm klar geworden, als er mit seiner Ausbildung als Automechaniker begonnen und sie nach einem schleppenden Jahr wieder abgebrochen hatte. Seither verdiente er sich das Geld für seine kleine Drecksbude hauptsächlich als Türsteher im Cage, einem alternativen Club in Sankt Pauli. Das war zwar ganz okay, aber auch nichts auf Dauer. Eigentlich war er wie Ben, das spürte er. Freiheitsliebend, eigenwillig, neugierig. Er wollte sich nicht unterkriegen und maßregeln lassen und vor Eintönigkeit irgendwann mit den Wochentagen durcheinandergeraten, weil jeder einzelne gleich verlief. Klar, es war mehr als ärgerlich, dass er seinen ersten wichtigen Auftrag verbockt hatte, sozusagen seine Eintrittskarte in die Gang, aber selbst wenn er im Knast gelandet wäre, hätte ihn das ein Stück weitergebracht. Dann wären diese ewigen Lügen um ihn wenigstens beseitigt gewesen und seine Mutter hätte sich von ihren Wunschvorstellungen verabschieden müssen.
Seit gut zwei Jahren hatten er und sein Bruder wieder Kontakt. Und innerhalb dieser zwei Jahre hatte Simon auch die anderen Leute aus der Gang kennengelernt. Coole Typen, vor allem dieser Rick, ihr Boss. Und endlich hatte er gewusst, wohin er passte, zu wem er gehören wollte.
»Los, jetzt sag endlich, Ben!« Simon konnte seinen Ärger und seine Aggression nicht länger verbergen. »Warum steigst du nicht selbst aus, wenn dich dein Leben so ankotzt?«
Ben schnaubte und hob den Blick. »Warum ich weitermache? Ganz einfach. Wenn man einmal so lange dabei ist wie ich, dann hat man keine andere Wahl. Für mich sind Rick und die Jungs wie eine Familie. Sie haben mich aufgenommen, als mich Papa mit siebzehn vor die Tür gesetzt hat. Ich brauchte jemanden. Rick hat mir damals geholfen und jetzt helfe ich ihm. So läuft das eben. Aber du passt nicht dazu. Das hast du noch nie, auch wenn Rick dir das Gefühl gibt, du wärst willkommen. Also, wenn du wirklich einen tieferen Sinn darin erkennen willst, warum ich für dich in den Knast gewandert bin, dann versteck dich nicht hinter deinem scheiß Selbstmitleid, sondern such dir einen Job und eine anständige Wohnung. Du siehst gut aus, hast ’nen ordentlichen Schulabschluss und mehr in der Birne, als du dir eingestehen willst. Ich sitze meine Zeit hier ab und fertig. Ist schließlich nicht das erste Mal. Für mich wird sich nichts ändern, okay? Ich kenne manche der Wärter besser als die Hälfte der Mädchen, mit denen ich vögle. Ich werde es mir einfach für ein paar Tage hinter Gittern gemütlich machen und dann geht es weiter wie bisher. Aber was dich betrifft – dir verbaut so ein Knastaufenthalt die Zukunft. Auch wenn es nur wegen versuchten Autodiebstahls ist.«
Simon starrte seinen Bruder wortlos an. Ben verstand nichts. Gar nichts. Er checkte nicht, dass es um mehr ging. Simon wollte ihm klarmachen, dass er ebenfalls niemanden hatte, auch wenn man ihn nicht vor die Tür gesetzt hatte. Dass er ein Umfeld suchte, zu dem er sich zugehörig fühlte. Dass er keinen Bock auf Alltagstrott hatte und schon gar nicht auf anbiedernde Vorstellungsgespräche im Anzug. Aber er kam nicht dazu, denn in diesem Moment ging die Tür auf.
»Wenn Sie bitte mitkommen würden? Ihre Zeit ist jetzt um.«
Simon warf seinem Bruder einen letzten müden Blick zu. »Okay, also … Wir sehen uns die Tage. Ich habe dir frische Klamotten und Rasierzeug besorgt.«
»Danke. Ach, und noch was, Simon …«
»Hm?«
»Denk dran, was ich dir gesagt habe. Sieh zu, dass du ihm aus dem Weg gehst.«
Mia
»Warte, Janine, leg noch nicht auf«, bettle ich. »Erzähl mir noch irgendetwas.« Es ist das erste Mal seit meinem Umzug nach Hamburg, dass ich mit meiner besten Freundin telefoniere, und im Geiste gehe ich all unsere gemeinsamen Bekannten aus dem Schweizer Internat durch. »Weißt du vielleicht was Neues von Lisa und diesem angeblichen Lord aus England?«
Janine quiekt auf. »Lisa und ein englischer Lord? Ach Quatsch, du kennst sie doch. Sie hat nur wieder Storys erzählt, um sich wichtigzumachen. Also, nach dem, was ich gehört habe, lief es so ab …«
Ich liege rücklings auf meinem Bett und fahre mir mit der rechten Hand über den Bauch, während ich dem neuesten Tratsch lausche. Wenn ich mich ausstrecke, mag ich meinen Bauch. Dann ist er so, wie er eigentlich immer sein sollte. Schön flach und in der Mitte wölbt er sich sogar ganz leicht nach innen. Nirgends Fettpölsterchen, in die man hineinzwicken kann. Ich habe es gehasst, wenn Chris das plötzlich tat, immer dann, wenn ich gerade mal locker gelassen und nicht daran gedacht habe, meinen Bauch anzuspannen. »Na, was haben wir denn da?«, hat er dann jedes Mal gefragt. Zwar mit einem Augenzwinkern, aber trotzdem fühlte ich mich mit einem Schlag fett und unattraktiv. Immerhin hatte er als Kapitän der Eishockeymannschaft täglich durchtrainierte Cheerleaderinnen um sich.
»Und was ist mit Leila?«, frage ich Janine unvermittelt. Leilas Bauch ist nämlich nicht nur perfekt, selbst wenn sie sitzt, sie hat es auch auf meinen Exfreund abgesehen. »Ihr Geheule auf meiner Abschiedsparty war doch nur Show, oder? In Wirklichkeit hat sie wahrscheinlich die Stunden gezählt, bis ich endlich abhaue und sie sich ungestört an Chris ranschmeißen kann!« Ich verschweige Janine, dass ich sogar den heimlichen Verdacht hege, die beiden hätten schon während unserer Beziehung etwas miteinander gehabt. Natürlich hat Chris es damals abgestritten, als ich ihn darauf ansprach, und war drei Tage lang beleidigt, sodass ich es schließlich war, die mit schlechtem Gewissen und Entschuldigungen zu ihm zurückgekrochen kam. Wie so oft. Weil meine Angst, ihn zu verlieren, zu groß war. Der Gedanke, sitzen gelassen zu werden, war mir unerträglich. Aber verhindern konnte ich es trotzdem nicht. Nur hinauszögern.
»Leila?« Janine schnaubt verächtlich. »Keine Ahnung. Die dumme Kuh fährt nächste Woche mit ihren Eltern auf Weltreise. Sie kommt erst im Juli zurück. Und soweit ich weiß, ist Chris im Moment mit seinem Team in Vancouver im Trainingslager. Sie haben also erst mal gar keine Chance, sich zu sehen, und danach werde ich sie scharf im Auge behalten und dir tagtäglich Bericht erstatten.« Sie seufzt. »Ach Mia, hättest du nicht wenigstens noch über die Ferien hierbleiben können? Es stinklangweilig ohne dich. Vera konnte ich zwar ein paarmal überreden, sich mit mir ins Heaven zu schleichen, aber von Feiern versteht sie überhaupt nichts. Nach einem Cocktail ist sie schon so sturzbetrunken, dass sie nicht mehr zu gebrauchen ist. Und Spiele wie ›Wie viele Typen bringen wir dazu, uns Getränke auszugeben?‹ lehnt sie aus moralischen Gründen strikt ab. So eine Schnarchnase, echt! Ich wette, sie ist noch immer Jungfrau!«
Ich kichere, obwohl mir Janines letzte Aussage einen Stich versetzt. Bis vor ein paar Wochen war ich auch noch Jungfrau und in manchen Momenten wünschte ich, ich wäre es immer noch.
»Was treibst du so in Hamburg? Läuft’s inzwischen besser mit deinem Vater?«
Ich richte mich seufzend auf und schnappe mir Sansibär, meinen Stoffteddy, den Janine von ihrem letzten Sylturlaub mitgebracht und mir zum Abschied geschenkt hat.
»Schwer zu sagen, wir verbringen ja kaum Zeit miteinander. Ständig fährt er auf irgendwelche Kongresse oder muss zu Einweihungsfeiern und Jubiläen seiner Hotels.«
»Aber ich dachte, er wollte ab jetzt mehr Zeit mit dir verbringen. Ich verstehe diese Aktion einfach nicht.«
»Frag mich mal! Meine Idee war es ganz bestimmt nicht, so kurz vor Schulabschluss nach Hamburg zu ziehen und hier das Abitur zu machen. Er behauptet, er könne sich bald besser um mich kümmern, weil er dann nicht mehr so viel herumreisen muss, aber ich glaube, das ist nur ein Vorwand.«
»Du meinst echt, die Behrens ist schuld, dass er dich vom Internat genommen hat?«
»Klar, immerhin hat sie ihn angerufen und ihm gesteckt, dass du und ich uns nachts öfter rausschleichen. Und als sie auch noch dahintergekommen ist, dass ich mit Chris zusammen bin, ist sie total ausgetickt. Anscheinend hat sie zu meinem Vater gesagt, Chris wäre nicht der richtige Umgang für mich.«
Ich kriege jetzt noch die Wut auf unsere altmodische Direktorin, auch wenn sie in Bezug auf Chris vielleicht sogar richtiglag. Aber hätte sie gleich so einen Aufstand machen müssen? Bloß, weil sich Janine und ich zwei-, dreimal auch nachts mit ein paar Jungs getroffen haben und die Behrens Chris nicht ausstehen konnte, hat die blöde Kuh meinen Vater informiert und prompt stand er Anfang Juni auch schon auf der Matte, noch zwei Wochen vor Ende des Schweizer Schuljahres. Ich hatte kaum Zeit, mich richtig von meinen Freunden zu verabschieden.
»Wenn wir wenigstens wieder nach München gezogen wären«, seufze ich. »Da kenne ich mich aus und habe ein paar schöne Erinnerungen. Aber Hamburg …«
»Eltern, echt!« Janine schnaubt verächtlich. »Gib’s auf, die verstehen zu wollen, Süße, da verbrätst du nur unnötig Energie und kriegst frühzeitig Falten.«
Ich lache, weil ich weiß, dass Janine sich mit ihrem Vater auch nicht besonders gut versteht. Aber sie hat wenigstens noch ihre Mutter, und die ist eigentlich ziemlich in Ordnung. Meine Mama ist gestorben, als ich elf war. Sie war mehr als nur in Ordnung. Ich habe sie über alles geliebt. In meiner Erinnerung ist sie wie ein Engel. Sanft und wunderschön. Nie war sie hektisch oder laut. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mich jemals bestraft hätte.
Mein Vater hingegen … Keine Ahnung, in den letzten sechs Jahren hat er sich eigentlich kaum um mich gekümmert, seine Karriere war im wichtiger. Ich erinnere mich noch an den Tag, als er zu mir kam und meinte, er habe unser Haus in München verkauft, zu zweit bräuchten wir es nicht mehr. Er wohnte seither in seinen Hotels und mich steckte er ins Internat. Zwei- oder dreimal im Jahr besuchte er mich, meistens dann, wenn er es mit etwas Geschäftlichem verbinden konnte. Und in den Ferien verbrachte ich ein paar Tage in einem seiner schicken Hotels, jedes Mal in einer anderen Stadt. Das war’s.
»He, hast du nicht irgendjemanden, mit dem du Hamburg unsicher machen kannst?«, fragt Janine. »Oder sind in dem Hotel, in dem du wohnst, wenigstens irgendwelche Stars abgestiegen?«
»Fehlanzeige! Im Falkenstein waren bisher bloß langweilige Politiker und ansonsten habe ich auch noch niemanden richtig kennengelernt. Na ja, bis auf diesen Kai Thalbach, du weißt schon.«
»Der Theaterheini, der neulich auf dieser Vernissage war?«
»Theaterheini? Er ist momentan der gefragteste Nachwuchsschauspieler in der Theaterszene und hat sogar schon Hamlet gespielt«, kläre ich Janine empört auf. Mit Kultur hat es meine Freundin nicht so. »Außerdem sieht er super aus und hat die ganze Zeit mit mir geflirtet. Zum Schluss hat er sogar nach meiner Nummer gefragt.«
»Echt? Ist ja cool! Und hat er sich mal gemeldet?«
»Nein«, knurre ich. »Keine Ahnung. Er ist sechsundzwanzig, vielleicht bin ich ihm einfach noch zu jung.«
»Quatsch, ab einem gewissen Alter ist es völlig egal, ob man zwei oder zehn Jahre auseinander ist. Und ältere Männer sind bei den ganzen It-Girls zurzeit mega-in.«
Ich lache. Janine und ihre Promistudien! »Ehrlich gesagt hängt mir die Sache mit Chris noch ganz schön nach«, gebe ich zu. »Vielleicht brauche ich auch noch etwas Zeit, bis ich mich auf jemand Neuen einlassen kann.«
Janine schnaubt. »Also echt, jetzt hab dich nicht so. Chris war dein erster Freund, das hält so gut wie nie für die Ewigkeit. Hak ihn ab und angle dir diesen unglaublich tollen Kai. He, du musst an deinem Selbstbewusstsein arbeiten, Süße. Immerhin lebst du jetzt nicht mehr hinter den sieben Bergen in einem Schweizer Nest, unter den Adleraugen der Behrens. Mensch, Mia, du bist die Tochter von Robert Falkenstein. Dein Vater ist fast so bekannt wie Siegfried und Roy!«
»Pft, so krass ist es auch nicht. Er hat schließlich keine Tiger gebändigt, sondern bloß ein paar Hotels gebaut.«
»Ja, eben«, beharrt Janine. »Falkenstein-Hotels. Die neue Definition von Luxus!« Ich muss grinsen, weil sie den Slogan derart verinnerlicht hat.
»Mia, du könntest dir ein ähnliches Image aufbauen wie Paris Hilton und tausend tolle Leute kennenlernen«, schwärmt Janine. »Ich an deiner Stelle würde jedenfalls was draus machen! Sei nicht immer so brav und vernünftig. Lass mal so richtig die Sau raus, sorg für Skandale, mach die Presse auf dich aufmerksam!«
»Tja, gar nicht so einfach«, entgegne ich und fange erst gar nicht an, mit ihr darüber zu diskutieren, dass ich Paris Hilton einfach nur panne finde. »Mein Vater hat nämlich einen Bodyguard für mich engagiert, der mich durch die Gegend kutschiert und nicht aus den Augen lässt«, erkläre ich meiner Freundin. »Er kommt sogar mit zum Shoppen!«
Janine kichert. »Ist nicht dein Ernst, oder? Einen Bodyguard?«
»Das ist überhaupt nicht lustig. Weißt du, wie nervig es ist, beim Schaufensterbummel immer einen Typen am Rockzipfel zu haben? Und ich weiß, was du jetzt fragen willst, aber ich muss dich leider enttäuschen – er sieht nicht aus wie Kevin Costner in Bodyguard. Eher wie Danny DeVito. Stell dir vor, er hat überall dunkle Haare, sogar auf den Fingerknöcheln. Bloß am Kopf fallen sie ihm aus.«
»Iiiih, hör auf, ist ja total eklig.« Janine macht ein Würgegeräusch. »Passt er auch auf dich auf, wenn du in der Umkleidekabine Klamotten anprobierst?«
Ich lache, aber in Wirklichkeit kriege ich bei der Vorstellung eine Gänsehaut, denn das Schlimme ist: Manchmal habe ich tatsächlich das Gefühl, der Typ glotzt mich lüstern an. Außerdem lässt er keine Gelegenheit aus, mich an den Schultern oder am Rücken zu betatschen, auch wenn absolut kein Grund dazu besteht.
»Bis jetzt noch nicht«, antworte ich, »aber du bringst mich da auf eine Idee. Ich könnte es ja einfach behaupten, vielleicht kündigt mein Vater ihm dann endlich. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert, damit der Wicht sich vom Acker macht, aber er ist echt zäh.«
»Hmm, ein eigener Bodyguard … Ist ja abgefahren! Aber auch irgendwie cool.«
»Cool? Ich schwöre dir, den hat mein Vater bloß engagiert, damit ich mich nicht mit Jungs treffen kann. Er ist in dieser Hinsicht noch biederer als die Behrens, und wenn es nach ihm ginge, würde ich wahrscheinlich als Jungfrau in die Ehe gehen.«
»Tja, darum hätte er sich wohl früher kümmern müssen«, meint Janine trocken.
Ich sehe förmlich vor mir, wie sie den Kopf mit dem langen blonden Pferdeschwanz schüttelt. Sie hätte es mit Sicherheit innerhalb des ersten Tages geschafft, ihren Bodyguard in die Flucht zu schlagen. Wenn ihr etwas nicht in den Kram passt, geht sie über Leichen und lässt nicht locker, bis das Problem beseitigt ist. Manchmal wünschte ich, ich wäre ein bisschen mehr so wie sie. Impulsiver und skrupelloser und nicht immer so überlegt und vernünftig.
Und plötzlich sagt Janine etwas, das mir einen Stich versetzt, obwohl mich derselbe Gedanke schon verfolgt, seitdem ich vor eineinhalb Wochen in das Hotel meines Vaters nach Hamburg gezogen bin. »Süße«, sagt sie mitleidsvoll, »du hast echt die Arschkarte gezogen. Sieht ganz so aus, als wäre dein Leben in Freiheit vorbei. Und wenn du das ändern willst, brauchst du dringend einen Schlachtplan.«
»Und der wäre?«, hake ich nach.
»Ganz einfach. Morgen wirst du deinem behaarten Aufpasser klarmachen, dass in deinem engelhaften Äußeren der Teufel höchstpersönlich steckt.«
Simon
Es ist das erste Mal seit Bens Festnahme, dass ich mich mit Rick treffe. Vor zwei Wochen, als ich mit einem Scheißherzklopfen an der Tür seines Lofts klingelte, machte mir einer der anderen Jungs auf und meinte, Rick wolle mich nicht sehen, würde sich aber bei Gelegenheit bei mir melden. Die Warterei hat mich schier wahnsinnig gemacht. Klar, ich verstehe, dass er sauer auf mich ist, aber mir wäre es lieber gewesen, er wäre ausgerastet und hätte mich angeschrien, so wie er es sonst immer tut, wenn er mit der Arbeit seiner Leute nicht zufrieden ist. Dann hätte ich mich entschuldigen und ihn bitten können, mir noch eine zweite Chance zu geben. Sein Schweigen und diese Warterei auf eine Audienz bei ihm war eindeutig die schlimmere Strafe.
Gestern klingelte endlich mein Handy. Ich war gerade auf dem Weg zu meiner Schicht im Cage. Auf dem Display erschien Unbekannt. Beinahe wäre mir das Telefon aus der Hand gefallen, bevor ich rangehen konnte.
»Hallo?« Mein Puls raste, so nervös war ich.
»Hör zu, Simon.« Ricks Stimme klang nicht wütend, eher sachlich. »Ich würde dich gerne sehen. Morgen Abend gegen acht Uhr im Monck.«
Das Monck ist eine ziemlich abgefuckte Kneipe in der Sternschanze. Hierher kommen vor allem Leute, mit denen die Clique Geschäfte macht.
»Morgen … Also da muss ich eigentlich –« Ich biss mir auf die Zunge. Keine Ahnung, wer mir in diesem Augenblick ins Hirn geschissen hatte. Rick wollte mich treffen, es war vollkommen egal, dass ich auch morgen Abend im Cage eingeteilt war. Ich nahm mir vor blauzumachen, auch wenn ich die Kohle dringend brauche. Ich bin nämlich schon wieder zwei Monate mit meiner Miete in Verzug.
»Geht klar. Morgen um acht.«
»Okay, bis dann.«
Jetzt sitze ich an einem der alten, wurmstichigen Holztische. Außer mir hängen nur noch zwei Typen an der Theke herum, die ich nicht kenne und die mehr oder weniger schweigend ihr Bier trinken und sich nur ab und zu unverständliche Wortfetzen zuwerfen. Die Bedienung mit den abgekauten Fingernägeln und den schlecht blondierten Haaren bringt mit gelangweilt mein Beck’s. Sie würde vielleicht sogar hübsch aussehen, wenn sie nicht immer so eine Fresse ziehen und mal lächeln würde. Ben hatte letztes Jahr mal etwas mit ihr. Ich versuche, mich an ihren Namen zu erinnern, aber er fällt mir nicht ein.
Die Uhr auf meinem Handydisplay zeigt Punkt acht an. Verdammt. Sosehr ich mich auch bemühe, cool zu sein, mein rechtes Bein fängt immer wieder an zu wippen. Ich hasse diese Angewohnheit. Sie outet mich als jemanden, der nervös ist und kein Selbstbewusstsein hat. Als jemanden, dessen Coolness Rick ganz bestimmt nicht vom Hocker hauen wird.
Etwa zehn Minuten später betritt Rick in Jeans und Lederjacke den Laden. Keiner der anderen Jungs begleitet ihn, was untypisch ist. Ich beobachte, wie er den beiden Typen an der Bar ein Kopfnicken zuwirft und sich dann schnurstracks auf meinen Tisch zubewegt. Mein Puls beschleunigt sich. Ich stehe auf, um ihn zu begrüßen.
»Hi, Rick!«
»Hi, Simon!«
Wir geben uns kurz die Hand. Ricks Gesichtsausdruck ist unergründlich. Er lässt sich auf einen Stuhl fallen und winkt die Bedienung zu sich. »Auch ein Beck’s, Schätzchen.« Er steckt sich eine Zigarette an. Seine Hände sind gepflegt, wie auch der Rest seiner Erscheinung. Ich finde, dass er älter wirkt als vierunddreißig, was wahrscheinlich an den tiefen Furchen in seiner Stirn und seinen Wangen liegt. Aber man kann nicht sagen, dass er schlecht aussieht. Sein dichtes dunkelbraunes Haar ist akkurat nach hinten gekämmt und selbst die Stoppellänge seines Dreitagebarts wirkt exakt bis auf den Millimeter getrimmt. Aus schmalen Augen mustert er mich. Ich hole Luft, weil ich das Gefühl habe, etwas sagen zu müssen, aber Rick kommt mir zuvor.
»Ich war sauer auf dich, Simon.«
Ich schlucke.
»Stinksauer, um genau zu sein.«
»Hier, Rick!« Die Bedienung stellt ihm sein Bier auf den Tisch.
»Ich weiß, Mann, tut mir echt leid, dass –«
Rick macht ein Handzeichen, das mich zum Schweigen bringt.
»Dass es dir leidtut, ist mir klar. Der Punkt ist, ich war der festen Überzeugung, du hättest Talent, Simon.« Er nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. »Ich hatte dir eine Chance gegeben, zu zeigen, was du draufhast. Nicht nur, weil du Bens Bruder bist und er einer meiner besten Leute, sondern vor allem deshalb, weil du leidenschaftlich bist, risikofreudig. Weil du mir loyal erschienst.« Er macht eine Pause und lässt seine Bierflasche auf der Tischplatte kreisen.
Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Ein simples »Entschuldigung« kommt mir überflüssig und zu läppisch vor, aber etwas anderes fällt mir nicht ein. Also warte ich schweigend ab.
»Ich habe kürzlich deinen Bruder im Knast besucht«, fährt Rick fort, indem er weiter auf seine Bierflasche starrt. »Er macht sich einen ziemlichen Kopf um dich. Will, dass du die Finger von unseren Geschäften lässt, denkt, du wärst nicht geeignet, hättest nicht die Nerven und den nötigen Killerinstinkt.« Er hebt den Blick, dann zuckt er mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau. Vielleicht hat er recht. Vielleicht auch nicht.«
Ich bin verwirrt. Mir ist nicht ganz klar, was Ricks Worte für mich bedeuten, oder ob er eine Stellungnahme von mir erwartet. Er meinte, er war sauer auf mich. Aber ist er es noch immer? Will er mich nach wie vor dabeihaben oder mich bloß fertigmachen? Meine Nervosität wächst, bis ich es kaum noch aushalte.
»Rick, also … Wie soll ich das verstehen, Mann?« Meine Hände sind schwitzig. »Ich meine, bin ich jetzt raus oder was?«
Rick betrachtet mich einen Moment schweigend, dann verziehen sich seine Lippen unmerklich zu einem Lächeln. »Ich sagte dir ja vorhin: Ich habe eine hohe Meinung von dir und ich mag es ganz und gar nicht, wenn ich mir oder anderen eingestehen muss, dass ich mich geirrt habe.« Er trinkt sein restliches Bier in einem Zug aus. »Ich habe mich hier mit dir getroffen. Das ist doch schon was, oder? Alles andere … mal sehen.« Er erhebt sich. Auch ich stehe auf. Rick tippt sich zum Abschied mit zwei Fingern gegen die Stirn, dann dreht er sich um. Ohne ein weiteres Wort verlässt er die Bar.
Ich starre ihm hinterher und bin total platt. So habe ich mir unser Treffen eigentlich nicht vorgestellt. Insgeheim habe ich gehofft, Rick würde mich nach unserem Gespräch wieder aufnehmen, obwohl das wahrscheinlich ziemlich naiv war. Aber jetzt hänge ich noch mehr in der Luft als vorher. Der Boss hat sich total bedeckt gehalten. Vielleicht will er es sich auch bloß nicht mit Ben verscheißen, der ja strikt dagegen ist, dass ich mitmische. Während der Zeit, in der ich mit der Gang abhing, habe ich schnell bemerkt, dass Ben ein besonderes Verhältnis zu Rick hat. Er kann sich mehr erlauben als andere. Er ist der Einzige, der Rick Kontra geben darf, ohne dass der komplett ausrastet und einen seiner krassen Wutanfälle kriegt.
Ich lasse mich zurück auf meinen Stuhl fallen. Erst während ich mein Bier austrinke und unser kurzes Gespräch im Geiste noch einmal durchgehe, wird mir langsam klar, dass Rick mir bereits eine zweite Chance gegeben hat. Indem er mich nicht fertiggemacht hat, obwohl ich bei meinem ersten Auftrag so kläglich versagt habe und sein bester Mann meinetwegen im Knast sitzt. Aber ob und wann ich mich ein weiteres Mal beweisen darf, steht noch in den Sternen.
»Noch ’n Bier?« Die Bedienung taucht neben mir auf und guckt mich fragend an. Ich schüttle benommen den Kopf. »Nein, vielen Dank, Kathrin.« Ganz plötzlich ist mir ihr Name wieder eingefallen. Kathrin wird ein bisschen rot und wirft mir ein scheues Lächeln zu. Sofort sieht sie hübscher aus.
Mia
»Hört sich doch gar nicht schlecht an«, kichert Janine, als ich ihr berichtet habe, wie der gestrige Abend verlaufen ist. »Ich wusste doch, du hast in den letzten sechs Jahren etwas von mir gelernt! Weiter so, Süße, dann hast du ihn bald da, wo du ihn haben willst – im Nirwana!«
Es klopft an meiner Apartmenttür, gleich im nächsten Moment wird die Tür aufgerissen. Vor Schreck springe ich vom Bett hoch und lasse beinahe mein Handy fallen. Ich funkle meinen Vater wütend an. Wie ich es hasse, wenn er einfach so reinplatzt!
»Was ist denn bei dir los?«, fragt Janine verdutzt.
»Äh, ich muss leider Schluss machen, Schatzi«, flöte ich. »Aber lass uns doch später weitertelefonieren. Ich würde zu gerne hören, was du mir noch alles zu sagen hast. Oder noch besser: Wir skypen, dann zeige ich dir, was ich letztens Hübsches in der Dessous-Boutique erstanden habe.« Ich habe meiner Stimme spontan eine sexy Färbung verliehen.
Janine versteht sofort und kichert. »Alles klar. Na, dann bin ich ja mal gespannt, welches Höschen du trägst. Bis später, mein Plüschhäschen.« Sie legt auf.
»Hallo, Papa, wie geht’s?«
»Was soll das, Mia?« Mein Vater ist aufgebracht, das merke ich daran, wie er mit beiden Händen die zusammengerollte Zeitung umkrallt, die er dabeihat. Aber er versucht, sich zu beherrschen, das hat er sich im Laufe seiner Karriere anscheinend antrainiert. Nie die Fassung verlieren, immer das Gesicht wahren. Ich glaube, ich habe meinen Vater noch nie so richtig neben der Spur erlebt. Nein, das stimmt nicht. Ein einziges Mal. Als meine Mutter gestorben ist. Wie er damals so grauenhaft aufgeschrien hat, ein einziges Mal bloß, das hat mich richtig erschreckt.
»Was denn? Das war nur ein Freund aus der Schweiz. Darf ich jetzt noch nicht einmal mehr telefonieren?«, frage ich patzig.
»Das meine ich nicht. Ich spreche von Herrn Berg.«
Ich mache ein erstauntes Gesicht. »Herr Berg? Wer soll das denn sein?«
»Dein Securityguard. Sebastian Berg.«
»Ach, der. Ups, ich dachte, er heißt Zwerg. Wie peinlich!«
»Herr Berg hat gekündigt. Er sagt, er weigert sich, weiter für dich zu arbeiten, weil du ihn ständig boykottierst und in unangenehme Situationen bringst. Ich konnte ihn noch nicht einmal mit einer Gehaltserhöhung umstimmen.«
Ich setze ein bestürztes Gesicht auf, aber innerlich hüpfe ich vor Freude. Anscheinend hat ihm der gestrige Nachmittag tatsächlich den Rest gegeben, als ich, nachdem er mir bei Starbucks einen Frappuccino besorgt hat, betrunken gespielt, ihm einen nassen Schmatzer auf die Backe gegeben und ihn lauthals gebeten habe, er solle mir noch etwas mehr von dem leckeren Zeug aus seinem Flachmann in den Drink tun, das würde mich unheimlich glücklich machen. Es war Janines Idee, die meinte, ich müsse zu härteren Mitteln greifen, um ihn loszuwerden. Und wie immer hat sie voll ins Schwarze getroffen – wobei es mich schon ein bisschen wundert, dass sich dieses haarige Mainzelmännchen dermaßen aufgeregt hat, dass es gleich gekündigt hat. Ich dachte eigentlich, ich bräuchte noch ein paar Runden, bis ich ihn so weit habe.
»Das war doch alles nur Spaß«, sage ich gedehnt. »Außerdem: Wenn ihn diese harmlose Show schon umhaut, wie will er mich dann vor den vielen bösen Leuten beschützen, die in allen Ecken Hamburgs lauern?«
»Mia, es geht nicht bloß um die Frage, ob Hamburg ein sicheres Pflaster ist oder nicht, sondern um die Tatsache, dass du hier plötzlich im Licht der Öffentlichkeit stehst. Ich will dich nicht einsperren, du sollst deinen Spaß haben und Leute kennenlernen. Aber ebenso wenig will ich, dass dir da draußen etwas passiert. Verstehst du das nicht?«
Ich verdrehe die Augen.
»Ich denke da insbesondere an die Presse, die sich gerne auf Mädchen aus bekannten Familien stürzt und sie so lange löchert, bis sie etwas bekommt, womit sie ihre Klatschspalten füllen kann. Du bist als Neuling in Hamburg das gefundene Fressen für sie. Sieh dir das an!« Mein Vater schlägt die Zeitschrift auf und hält sie mir vor die Nase.
Mich trifft fast der Schlag. Ein Foto von mir und einem sich die restlichen Haare raufenden Zwerg bei Starbucks prangt auf einer der ersten Seiten. Die Bildunterschrift lautet: Wer hat hier wen im Griff? Miriam, die hübsche Tochter des Hoteliers Robert Falkenstein, zeigte deutlich, dass man sich sein Geld an ihrer Seite hart verdienen muss. Gestern tanzte sie ihrem armen Bodyguard ganz schön auf der Nase herum. Sind das etwa Schweißperlen auf seiner Stirn?
»Also, ich … äh, finde das eigentlich ziemlich lustig«, presse ich hervor, obwohl mir der Anblick des schwitzenden Zwergs und meines triumphierenden Grinsens nun doch etwas peinlich ist. Außerdem … Irgendwie erschreckend, dass ich den Fotograf gar nicht bemerkt habe. Ob er eine Kamera in seinem Kugelschreiber oder Feuerzeug hatte, so wie Gregory Peck in Ein Herz und eine Krone?
»Lustig? Mia, so etwas kann auch schnell zu einem waschechten Skandal werden. Wenn jemand eine Story sucht, wird er sie finden, und da ist jeder noch so kleine Anhaltspunkt Gold wert.«
»Oh Mann, jetzt übertreibst du aber«, fahre ich meinen Vater genervt an. »In Wirklichkeit machst dir doch nur Sorgen um dich selbst!«
Er macht ein verdattertes Gesicht und sieht plötzlich aus wie ein kleiner hilfloser Junge, der seine Rechenaufgaben nicht checkt. Man kann förmlich sehen, wie es in ihm rattert. »Nein, also … Ich, äh, meinte nur, es ist schwierig, sich in deinem Alter aus einer heiklen Situation herauszuwinden und sich nicht von extra geschulten Boulevardjournalisten in die Ecke drängen zu lassen.«
»Tja, und ich behaupte, es geht dir einzig und allein um deinen Ruf«, kontere ich. »Weißt du was, Robert?« Mein Vater zuckt zusammen und verzieht das Gesicht, als habe er Zahnschmerzen. Ich weiß, er hasst es, wenn ich ihn beim Vornamen nenne, anstatt »Papa« zu sagen, und ich genieße es, endlich die Oberhand zu haben. »Spar dir das Geld für einen Bodyguard. Ich bin in der Schweiz allein zurechtgekommen, dann kann ich es hier genauso. Und noch etwas: So unerfahren, wie du denkst, bin ich nicht.«
Mit starrem Gesicht sieht mich mein Vater an. Es hat ihm glatt die Sprache verschlagen, was eher selten vorkommt. Wir blicken uns in die Augen. Er und ich. Es ist wie ein stummer Kampf. Schließlich senkt er die Lider, zieht irgendetwas aus seiner Tasche und hält es mir hin.
»Was ist das?«
»Karten für Viel Lärm um nichts«, murmelt er. »Wenn du Lust hast, kannst du morgen die Matinée besuchen. Es sind Logenplätze. Ich weiß, wie gern du ins Theater gehst. Und auch, dass du Shakespeare liebst. Genau wie … deine Mutter.«
Hitze steigt mir in die Wangen. Zögernd nehme ich ihm die beiden Karten aus der Hand und kurz berühren sich unsere Finger. »Gehst du … Ich meine, kommst du auch mit?«, frage ich und spüre, wie mein Herz klopft.
Er blickt mich einen Moment lang an, mit einem Ausdruck, der mich aus irgendeinem Grund verunsichert, dann zuckt er mit den Schultern. »Das kann ich leider noch nicht versprechen, ich habe viel zu tun.« Damit dreht er sich um und verschwindet aus der Tür.
Ich lasse mich zurück auf mein Bett fallen. Kurz überlege ich, Janine noch einmal zurückzurufen, aber plötzlich habe ich keine Lust mehr. Da ist auf einmal so ein dicker, fetter Kloß in meinem Hals. Und das Komische ist: Ich weiß nicht einmal, warum.
Simon
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