Mein Leben in drei Kisten - Anne Weiss - E-Book
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Mein Leben in drei Kisten E-Book

Anne Weiss

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Beschreibung

Von Capsule Wardrobe bis Decluttering: Minimalismus und Aufräumen liegen voll im Trend. Bestseller-Autorin Anne Weiss erzählt in diesem Buch, wie sie ihren Krempel gegen Lebensglück eintauschte – und gibt Tipps, wie man seine Sachen sinnvoll und nachhaltig entsorgt. Anne Weiss hat den Kleiderschrank voll schicker Klamotten und eine teure Wohnung in der Innenstadt, in der sich Luxusartikel stapeln – alles, was sie sich nach Jahren auf der Karriereleiter endlich leisten kann. Stolz ist sie drauf, aber als sie ihren Job verliert, stellt das alles, woran sie bisher geglaubt hat, infrage. Wofür hat sie sich so abgestrampelt? Was ist das gute Leben, und wo in diesem ganzen Krempel ist eigentlich sie selbst? Und vor allem: Was macht dieser ganze Konsum eigentlich mit unserer Welt? Je mehr sie entrümpelt, verschenkt, nach allen Regeln der Nachhaltigkeit entsorgt, desto leichter fühlt sie sich. Heute passt ihr Besitz in drei Kisten – und sie stellt fest, dass sie neben einer großen Freiheit auch Platz gewann: für alles, was sie wirklich gerne tut, und die Menschen, die sie liebt. Mit einem aktuellen Vorwort zur Taschenbuchausgabe. 

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Seitenzahl: 402

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Anne Weiss

Mein Leben in drei Kisten

Wie ich den Krempel rauswarf und das Glück reinließ

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Wie viel Besitz ist zu viel? Wo in dem ganzen Krempel bin eigentlich ich selbst? Was brauche ich wirklich, um glücklich zu sein? Und was macht all der Konsum mit unserer Welt? Bestsellerautorin Anne Weiss erzählt, wie sie Ballast gegen Lebensglück eintauschte, indem sie nach allen Regeln der Nachhaltigkeit entrümpelte. Bis ihr Besitz in drei Kisten passte. Neben großer Freiheit hat sie vor allem Platz gewonnen: für alles, was sie wirklich gerne tut, und die Menschen, die sie liebt.

Inhaltsübersicht

Motto

Prolog

1 Wer aufräumt, hat mehr Platz im Leben

Warum ich nicht mehr mit Professor Unrat zusammenlebe – vom Möbelzusammenzählen und Einrichtungenvergleichen

2 Nie aufhören anzufangen, nie anfangen aufzuhören

Alles über Bord – die fünf besten Songs, um sich zum Putzen und Ausmisten zu motivieren

3 Raus aus dem Modemausoleum, rein ins Garderobenglück

Bye-bye, Ballkleid – wie du möglichst sinnvoll mit deinen ausgemusterten Klamotten umgehst

4 Das hat Methode – nur welche?

Altpapier-Affären. Wie lange Papierkram aufbewahrt werden muss

5 Shoppingtour auf dem Friedhof der Dinge

Zero Waste Basics. Wie ich Oscar aus der Tonne entfreundete

6 Hamster Girl

Wie du das material girl vor die Tür setzt – alte Gewohnheiten loswerden, Platz schaffen für das, was zählt

7 Mehr leben, weniger placken

Weniger kaufen, was in der Tonne landet – was gar nicht mehr oder nur noch ganz selten bei mir zu finden ist

8 Der Weg macht glücklich, nicht das Ziel

Mehr als 100 Orte, wegen denen ich gar keine Zeit habe, um die Welt zu fliegen

9 Mach de Oogen zu, dann weeßte, wat dir jehört!

Ich packe meinen Koffer und nehme nur das Nötigste mit – besser reisen, weniger schleppen

10 Wie ich mich auf Kabelsalat-Diät setzte

Wie du elektronischen Helfern wieder aus deinem Leben raushilfst, wenn die Zeit gekommen ist

11 Happy ohne Ende

Und ob man mir noch was schenken kann – Traumpräsente für eine Minimalistin

12 Jägerin des verlorenen Satzes

Fünf Ortsfinder für Aussortiertes. Wie du entscheidest, was du weggibst, und wie du den richtigen Ort für deinen ehemaligen Schatz findest

13 Zurück in der Shoppinghöhle des Löwen

Tricks, um einen weiten Bogen um einen unnötigen Kauf zu machen

14 Plan G wie Glück

Wohlfühlen mit wenig – wie du in deiner Wohnung Ordnung schaffst

15 Kein Hab, nur gut

Nachwort zur Taschenbuchausgabe: Falls du mich suchst, ich bin im Wandel

Maximaler Dank

Weiterführende Literatur und gute Adressen

Ändere dein Leben heute.

Verlasse dich nicht auf die Zukunft.

Handle jetzt, ohne zu zögern.

Simone de Beauvoir

Prolog

Das Wichtigste ist, dein Leben zu genießen – das ist alles, was zählt.

Audrey Hepburn

 

 

 

Mit dem Handrücken wische ich mir über die Stirn. Große Lust, hier draußen in der staubigen, klebrigen Hitze zu stehen und in der langen Schlange auf Einlass zu warten, habe ich nicht, auch wenn ich mir den Sri-Meenakshi-Tempel gerne von innen ansehen möchte. Von außen sieht es aus, als hätte ein Riese in ein Kästchen voller Modeschmuck gegriffen und die gewaltigen Tortürme damit geschmückt.

»Da vorn wohnt ein guter Freund von mir.« Christopher zeigt auf ein schlichtes Steinhaus mit mehreren Etagen. »Wie wäre es mit einem Tee zur Erfrischung? Er freut sich immer über Besuch.«

Nach der stundenlangen Tour, die er mit meiner Freundin Petra und mir durch die südindische Stadt Madurai unternommen hat, ist meine Zunge so ausgedörrt wie eine der Datteln, die Händler am Straßenrand feilbieten, und ich sehne mich nach etwas Abkühlung. Petra und ich sehen uns an. In Deutschland wäre es unvorstellbar, einfach so bei jemandem einzufallen. Langsam jedoch gewöhnen wir uns an den Rhythmus dieses Landes, in dem offenbar andere Regeln gelten als bei uns.

Christopher ist uns gleich aufgefallen, als wir an diesem Morgen in Madurai aus einem der bunten Überlandbusse stiegen. So ein großer, breitschultriger Mann mit hellen Haaren und blauen Augen ist auch kaum zu übersehen. Schon gar nicht in Indien. Er half uns, eine Bleibe zu finden, später bot er an, uns die Stadt zu zeigen. Hier kenne er sich aus wie in seiner Westentasche – außerdem habe er ohnehin nichts anderes vor und rede gern mit Menschen aus anderen Ländern. Auf unserem Stadtspaziergang erfuhren wir, dass Christopher Kanadier ist, seine Mutter aber mit ihm im Ashram gelebt hat, als er noch ein Kind war. Indien ist seine zweite Heimat, er überwintert hier jedes Jahr.

Wir gehen hinüber zu dem Steinhaus. Der Mann, der uns öffnet, wirkt drahtig, er hat schwarze Haare und wache Augen, und er trägt einen Dhoti, eins dieser Lendentücher, die wir auf unserer Reise schon oft gesehen haben. Christopher stellt uns Ravi vor, und nachdem die beiden eine Weile Neuigkeiten ausgetauscht haben, bittet Ravi uns mit dem typisch indischen Nicken, also einem Wackeln des Kopfes, die Treppe hoch auf seine Dachterrasse.

Drei Wochen sind Petra und ich nun schon unterwegs von Chennai an der Ostküste nach Mumbai. So viel Neues prasselt jeden Tag auf mich ein, dass ich bisher kaum daran gedacht habe, was mein Leben kurz vor der Reise regelrecht auf links gekrempelt hat: Ich habe meinen Job verloren, der mein Leben bis dato völlig durchgetaktet hatte. Jetzt ist alles offen, genau wie auf unserer Reise. Außer der groben Richtung haben wir keinen Plan, nur der Rückflug steht fest, ansonsten lassen wir uns vom Zufall treiben. Es reicht, wenn wir uns ein, zwei Tage vorher um die nächste Unterkunft kümmern, was wir brauchen, tragen wir in unseren Rucksäcken bei uns, alles andere ergibt sich. Wir besuchen Orte, die sich spontan anbieten, und folgen am liebsten den Tipps der Einheimischen, sofern wir deren kurioses Englisch verstehen oder ihre Gestik und Mimik zu deuten wissen.

Und so erlagen wir in Puducherry dem kolonialen Charme der Altstadt und den Plaudereien unseres Wirtes. Ließen uns in Chidambaram von der Schönheit des Tempels blenden, vom Lärm in der Stadt betäuben – und waren schockiert zu sehen, wie die Kühe am Straßenrand im Plastikmüll nach kärglicher Nahrung suchten. In Trichy probierten wir zum ersten Mal Puri, dieses aufgeblähte frittierte Fladenbrot, das aus nichts als Mehl, Salz und Wasser gemacht wird und mit ein wenig Curry eine Geschmacksexplosion auslöst.

Um keinen dieser Momente und keine der vielen ungewöhnlichen Begegnungen mit Mensch und Tier zu vergessen, schreibe ich sie in mein Tagebuch. Etwas anderes ist für mich gar nicht vorstellbar, denn schreiben gehört zu meinem Leben wie essen und atmen. Lange habe ich im Verlag gearbeitet, als Lektorin Bücher betreut und zuletzt auch eine Schreibschule geleitet. Und nebenher schreibe ich mit meinem Kollegen Stefan selbst Bücher.

Ich notiere die Erlebnisse nicht nur für mich selbst, einige Texte stelle ich für Freunde und Familie in unseren Reiseblog. Petra, die Schauspielerin und Comedienne ist, steuert dazu Videos bei. Sie verkörpert drei erfundene Figuren auf Reisen: die etwas naive Sybille Herkenrath, die reiche und geizige Frau Radetzky und die patente Metzgereifachverkäuferin Hannelore Schmitz. Die drei Frauen, die an der Volkshochschule in Köln einen Kundalini-Yoga-Kurs belegen, haben sich auf Anraten ihres Gurus Rainer den nächsten Flieger nach Indien geschnappt und berichten nun in kurzen Videoclips von ihren Erlebnissen. Beim Filmen fällt mir manchmal vor Lachen fast das Tablet aus der Hand.

Das Blogschreiben fühlt sich herrlich an. Bislang hatte ich zum Schreiben immer nur am Wochenende und abends Zeit, nach der Arbeit im Verlag. Hier in Indien kann ich es tun, wann und wo immer ich will. Dazu muss ich nur mein Tablet mit Tastatur aufklappen, dann kann ich loslegen – gleich, ob in einem Gästezimmer im Kolonialstil, wenn der Ventilator aus dunklem Holz über mir flappend eine leichte Brise erzeugt, in einem mit exotischen Pflanzen begrünten Innenhof oder in einem Coffeeshop, wo mir das dunkle Gebräu zuvor ein paarmal von einem Blechschälchen ins andere gegossen wird, um sein Aroma zu entfalten. Es duftet unvergleichlich, schmeckt anders als all der Kaffee, den ich zuvor getrunken habe, und hält wach, als würde mich jemand permanent in den Arm kneifen.

Vielleicht schmeckt der Kaffee hier wirklich viel besser, vielleicht aber auch nur, weil ich ihn trinke, während ich tue, was ich am liebsten mache. Jedenfalls ist er Welten entfernt von der Standardmischung im Büro, die nur über die nächste Konferenz hinwegretten soll, sodass diese beiden Getränke eigentlich verschiedene Namen tragen müssten. Wie schön wäre es, immer auf Reisen sein zu können. Oder auch immer nur schreiben zu können. Aber dann wäre ich wohl rasch pleite.

»Woran denkst du?« Christopher sitzt inzwischen neben mir auf einem Plastikstuhl, der sich unter seinem massigen Körper deutlich biegt. Er ist nicht dick, aber kräftig – in der Saison arbeitet er als Holzfäller in den Wäldern Kanadas. Indien ist sein Traum, und er bezahlt ihn mit Phasen körperlich harter Arbeit, leistet sich ansonsten kaum etwas. Würde er sein Geld hier verdienen, könnte er sich gar nicht leisten, für längere Zeit das zu tun, was er liebt: in den Tag hineinleben, sich Gedanken machen, viel lesen und Freunde treffen.

Oben auf dem Dach steht außer den paar schäbigen Plastikstühlen und einem kniehohen Tisch, der mit bunten Steinchen und Spiegelscherben verziert ist, nicht viel herum. Über den Stühlen hat Ravi zwischen Pfosten Tücher gespannt, die das Sonnenlicht abschirmen und unter denen ein kühles Lüftchen weht. Petra und er unterhalten sich etwas abseits von uns angeregt mit Händen und Füßen. Von unten dringen gedämpft die Geräusche des Tempels zu uns herauf, und ein Blick über die Balustrade zeigt, dass noch immer eine lange Schlange auf Einlass wartet. In der Mittagshitze, aus der ab und an würzige Essensdüfte zu uns hochziehen, fächeln sich die Menschen Luft zu, manche setzen sich auf den Boden oder stellen sich etwas näher an der Tempelwand in den Schatten. Dicht an dicht gedrängt, ganz anders als auf Ravis Dach, das mir so viel Raum für meine Gedanken lässt.

»Ich habe daran gedacht, wie gerne ich hier schreibe«, sage ich.

»Machst du das auch beruflich?«

»Eigentlich arbeite ich im Verlag.« Ich erkläre, dass ich zwar einige Bücher geschrieben habe, aber dass das nicht mein eigentlicher Job ist, sondern nur etwas, das ich gern tue. Und weil ich Vertrauen zu ihm gefasst habe, erzähle ich ihm auch, was vor unserer Reise passiert ist. Dass ich gefeuert worden bin.

Der Schock sitzt noch immer tief, das spüre ich deutlich: Nach über zehn Jahren Verlagsangehörigkeit, zahllosen unbezahlten Überstunden und einem halben Burn-out verkündete mein Chef, dass meine Abteilung geschlossen werde und das Haus keine weitere Verwendung für mich habe. Dass mir so etwas einmal passieren könnte, damit hätte ich niemals gerechnet. Es war eine Katastrophe für mich, denn ich war, das musste ich mir eingestehen, ein echter Workaholic. Büchermachen war mein Leben – und ich hatte mich ganz über meine Arbeit definiert.

Mein Kopf sagte mir immer wieder: Es ist nur eine Kündigung, kein Todesfall. Mein Bauch sah das ganz anders.

Ich ertrug die mitleidigen Blicke meiner Freunde und Bekannten nicht und fühlte mich regelrecht krank, verkroch mich zu Hause und schlürfte Gemüsebrühe. Die beschwichtigenden Worte, dass es ja nicht an meiner Leistung liege, sondern an der Umstellung in der Firma, waren nur ein schwacher Trost. Autorinnen und Autoren entdecken, Bücherthemen entwickeln, auf Messen über den neuesten Bestseller diskutieren – ohne die Buchbranche konnte ich mir mein Leben nicht vorstellen.

Ein paar Tage später hatte Petra mit einem Brokkoli-Auflauf vor der Tür gestanden. Sie fand, ich müsste mal wieder etwas feste Nahrung zu mir nehmen und andere Menschen sehen. Und nach dem Essen und einigen Gläsern Rotwein hatten wir Reisepläne geschmiedet. Sie hatte in den kommenden Wochen kein festes Engagement und genau wie ich den Wunsch, dem deutschen Winter zu entfliehen, mal was anderes zu entdecken, ein Abenteuer zu erleben.

Als wir uns am nächsten Tag bekräftigten, dass wir die gemeinsame Reise wirklich wagen wollten, legte ich alle anderen Überlegungen erst einmal auf Eis – das fiel mir nicht schwer, denn bis Ende Januar lag die Buchbranche ohnehin im Winterschlaf. Wir begannen mit der Planung, und sobald wir die Visa und die Tickets in der Tasche hatten, stiegen Petra und ich ins Flugzeug, das uns via Dubai nach Chennai katapultierte.

Unser Indien-Trip ist also auch eine Flucht aus der Sinnkrise. Ich musste weg, einen neuen Weg finden, vielleicht sogar dahinterkommen, wo mein Platz im Leben ist – im Land, das die Erleuchtung quasi erfunden hat. Bis zu diesem Tag ist die Reise zwar viel zu aufreibend verlaufen, als dass ich Gedanken an die Zukunft hätte verschwenden können. Jetzt, hier neben Christopher, beginnt die Maschine im Kopf aber wieder mächtig zu rattern. Sobald ich zurück in Deutschland bin, ist ein Bewerbungsmarathon angesagt, ich muss unbedingt schnell wieder zurück aufs Pferd.

»Verlagsarbeit ist mein Leben.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß gar nicht, was ich sonst machen soll, und es ist das, was ich am besten kann. Was, wenn ich keinen Job mehr in der Branche finde?«

»Warum schreibst du dann nicht nur noch?«, fragt er. »Du machst das doch gerne und hast schon was veröffentlicht.«

»Mit Bücherschreiben allein können sich nur die wenigsten über Wasser halten.« Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon so oder so ähnlich ausgesprochen habe, wenn mich jemand fragt, ob man vom Schreiben leben kann. Er fühlt sich ausgeleiert an. »Ohne den Verlagsjob kann ich mir meine Wohnung, das Auto, Kleidung, Essen und den nächsten Urlaub gar nicht leisten.«

»Wenn du ohne all das unglücklich bist, lohnt es sich, Lebenszeit dagegen einzutauschen.« Christopher nippt an seinem Tee, den Ravi in kleinen Bechern auf den niedrigen Tisch in unserer Nähe gestellt hat.

Stimmt das denn, wäre ich ohne all das unglücklich? Das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass mein Auto, meine Wohnung, die finanzielle Sicherheit und alles, was ich mir kaufe, mich glücklich machen. Bin ich ein glücklicher Mensch? Ich bin eher ein gestresster Mensch, denn es gelingt mir nie, alle Erfordernisse und Wünsche unter einen Hut zu bringen. Die Arbeit, die sich auch auf die Abende und Wochenenden erstreckt. Das nächste Buch. Beziehung, Freundschaften und Familie. Freizeit. Letztlich hatte ich bisher immer das Gefühl, nichts von alledem wirklich gerecht geworden zu sein. Und es die ganze Zeit über dennoch zu versuchen war eine echte Kraftanstrengung.

»Für einen gewissen Lebensstandard gehört das in Deutschland alles dazu«, sage ich nach einer Weile, und während ich die Worte ausspreche, merke ich, dass sie irgendwie hohl klingen. »Ich weiß nicht, ob ich auf so viel verzichten könnte wie du.«

»Ich genieße jede Minute hier, deswegen kommt es mir nicht so vor, als würde ich auf etwas verzichten.« Christopher lächelt, ein Luftzug zerzaust sein Haar. »Das Leben ist kurz, du solltest tun, was du wirklich willst. Und je weniger du brauchst, umso freier bist du.«

1

Wer aufräumt, hat mehr Platz im Leben

Imagine no possessions.

John Lennon

 

 

 

Die Holztreppe knarzt, mein Rucksack spielt toter Mann auf meinem Rücken, mit jedem Schritt zieht er mehr an meinen Schultern. Die letzten Meter dieser Reise sind die schwersten, denn ab sofort muss ich meinen Alltag wieder in Angriff nehmen.

Ich krame in den Tiefen meiner Hosentasche und stecke kurz darauf den Schlüssel ins Schloss.

Für den Blog machten Petra und ich noch ein Abschlussfoto vor dem Kölner Dom, bevor wir in unser Viertel zu dem Haus fuhren, in dem wir beide in getrennten Wohnungen leben. Als Petras Freund, der uns vom Bahnhof abgeholt hat, auf den Auslöser drückte und um uns herum die Schneeflocken rieselten, kam ich mir vor wie auf einem fremden Stern. Noch bin ich erfüllt von den Eindrücken der Reise, die mir viel realer erscheinen als der graue deutsche Winter direkt vor meinen Augen, der sich alle Mühe gibt, mir die Laune zu verderben.

Unser Weg mochte sich leicht angefühlt haben, aber das Leben der Menschen dort ist es nicht, die letzte Station Mumbai hatte mir das noch mal besonders unter die Nase gerieben. Es war, als hätte jemand die gesamte Reise zu einem Extrakt zusammengedampft. Uns präsentierte sich eine Welt der Widersprüche, es ging quirlig schön zu und laut, dreist und bescheiden, sandgrau und kreischend bunt. Spiegelverglaste Hochhäuser, prachtvolle alte Tempel und die Slums, alles nebeneinander.

Und dann besuchten wir Dhobi Ghat, das Waschviertel. Tausende Männer stehen dort in der Hitze an Hunderten mit Chemiebrühe gefüllten Betonbecken, in denen sie Hemden, Hosen, Handtücher, Bettwäsche für Hotels, Krankenhäuser, Restaurants und Privathaushalte reinigen, indem sie den Stoff einseifen und im Schweiße ihres Angesichts auf einen flachen Stein schlagen. Die Wäscher gehören im Kastenwesen den Dalits an, den »Unberührbaren«. Sie mieten die Becken; wie viel sie verdienen, hängt davon ab, was sie schaffen. Für das bisschen Geld, das sie für die Reinigung eines Bettlakens oder Handtuchs erhalten, verätzen sie sich Hände und Füße, ruinieren sie sich ihre Gesundheit.

Am Abend legte ich mich zwischen ebenjene sauberen Laken. Peinlich war es mir auf einmal, als Touristin die sich abschuftenden Menschen in dieser riesigen Open-Air-Reinigung begafft zu haben. Wie absurd, dass wir noch einige Tage zuvor bei der Meditation im Ashram das Mantra Lokah Samastah Sukhino Bhavantu gesungen hatten, das frei übersetzt bedeutet: Alle Lebewesen überall auf der Welt mögen glücklich sein und Frieden finden. Wohlfühl-Folklore für Touristen aus westlichen Industrieländern wie mich – ein hanebüchener Schwachsinn angesichts von Dhobi Ghat. Ich habe keine Ahnung, was ich gegen diese krasse Ungerechtigkeit in der Welt tun kann. Zurück bleibt das nagende Gefühl, über zu sein: übersättigt, überprivilegiert – und überfordert.

Die Tür meiner Wohnung kommt mir unwirklich vor, so perfekt und so schön gestrichen. Die Luft im Flur ist seltsam soft. Selbst der Knauf, den ich Hunderte Male zuvor berührt habe, fühlt sich fremd an. Hat sich Indien in die Risse gesetzt, die mein Leben vor der Abreise bekommen hat?

Noch immer habe ich die Rufe der Wäscher im Ohr, die zwischen den Betonwänden die Laken schlagen, im Hintergrund der brodelnde Moloch Mumbai mit seinem Hupen, Motorenknattern und Geschrei. Köln, die Karnevalshochburg am Rhein, deren Einwohnerzahl an der Millionengrenze kratzt, wirkt dagegen so still und manierlich, dass ich mich frage, ob jemand den Ton leiser gedreht hat. Nur die Tür quietscht beim Öffnen ein wenig.

Als ich im Flur den Rucksack von den Schultern streife und auf den Boden plumpsen lasse, fällt mir wieder ein, worauf ich mich seit Wochen freue: mein Badezimmer. Wie eine Fata Morgana war es manchmal während der Reise vor meinem inneren Auge erschienen – ein Tagtraum aus duftenden Badezusätzen, einem funktionierenden Duschkopf und kakerlakenfreien Fußböden.

Ich hänge die Jacke an den Haken, dann ziehe ich fröstelnd die Schultern hoch. Es ist empfindlich kalt in meiner Bude. Nichts hat sich verändert. Wenn überhaupt, liegt mehr Staub.

Und es ist still. So still wie im Museum.

Ich hebe einen Schuh auf, der von dem übervollen Schuhregal gefallen ist, und stopfe ihn neben seinen Gefährten. Sieh endlich ein, dass du kein Tausendfüßler bist, hat mein Ex-Freund einmal gesagt, weil ihn mein Schuhtick so aufregte.

Auf der kleinen Schrankinsel im Flur hat sich einiges an Strandgut angesammelt: Briefe und Postkarten, Muscheln von der letzten Tauchfahrt, Reiseführer, Rezensionsexemplare, Werbeflyer, das Programm der Philharmonie und eine Fahrplanauskunft der KVB teilen sich den Raum mit dem Telefon, dem Router und dem Anrufbeantworter, der zierlichen Vase mit dem vertrockneten Blumensträußchen und einem Porzellanvogel, den mir eine Freundin aus dem Nachlass ihrer Großeltern geschenkt hat, weil ich alte und schöne Dinge sammele.

Schnell laufe ich durch alle Räume und drehe die Heizung auf volle Pulle. Außer kalt und still ist es auch ziemlich voll. Überall liegt etwas rum, und die Regale und Schränke scheinen geradezu einen Schritt auf mich zuzutreten. Meine schöne Altbauwohnung kommt mir mit einem Mal vor wie eine luxuriös eingerichtete Rumpelkammer.

Natürlich herrscht auch im Schlafzimmer Chaos. So ist das immer, wenn ich meinen Koffer in letzter Minute packe. Also jedes Mal. Das Bett ist unter der vielen Kleidung, die ich dann doch nicht mitgenommen habe, kaum mehr zu sehen. Der Klamottenhaufen zeugt von dem Versuch, in den sechs Wochen unserer Reise für jede erdenkliche Wetterlage und jeden Anlass gewappnet zu sein. Jetzt weiß ich: Ich habe mir viel zu viele Gedanken gemacht. Mir hat nichts gefehlt, und ich habe zwischendurch sogar Kleidung verschenkt, die ich nicht brauchte und nicht mehr weiter mitschleppen wollte.

Auch im Wohnzimmer herrscht Chaos rund um den Esstisch. Er war ein Gelegenheitskauf in einem exklusiven Möbelgeschäft in Bergisch Gladbach. Vor einigen Jahren kam ich am Schaufenster vorbei und verliebte mich sofort in den wuchtigen Tisch aus geöltem Eichenholz, dessen Platte Einschlüsse aus Astlöchern hat. Er war heruntergesetzt, kostete aber immer noch mehr als einen Tausender. Vor meinem inneren Auge sah ich meinen Liebsten, mich und unsere drei zukünftigen Kinder um diesen Tisch sitzen, dann eine vertraute Runde von Freunden, die mit ihren Weingläsern auf meine Kochkünste anstoßen. Ich musste den Tisch einfach haben, denn er versprach mir eine gloriose Zukunft – wenngleich meine Beziehung gerade kippelte und ich vor lauter Arbeit gar nicht für Freunde hätte kochen können. Aber das würde sicher bald alles anders werden, und dann hätte ich ein solches Prachtstück zu Hause!

Als mein Freund und ich uns dann trennten, prägte die Arbeit meine Woche noch stärker. Ich stürzte mich in Manuskripte und Konferenzen, und damit war der Traum von der geselligen Funktion meines Tisches erst einmal ausgeträumt. Gegessen wird an einem kleinen Bistrotisch in der Küche, der eigentliche Esstisch dient als Arbeitsplatz, und wo mein Rechner Platz dafür lässt, quillt er über vor Papieren. Ich betrachte ihn, als wäre es gar nicht meiner, und entdecke um den PC herum eine Menge Krimskrams, zwei volle Stiftebecher, eine Ablage mit drei Fächern, die ich nie leere, und eine Armada von Briefbeschwerern.

Haben sich die Dinge in meiner Wohnung in meiner Abwesenheit auf seltsame Weise vermehrt? Sind Außerirdische vorbeigekommen und haben ihren Gelben Sack hier ausgeleert?

Während die Heizung gluckert, gehe ich in die Küche, um mir einen Tee zu machen. Als ich einen Oberschrank öffne, fallen mir zwei Packungen entgegen. Eine enthält Tee, die andere … ich lese das Etikett: Agar-Agar?! Was macht man damit noch? Wahrscheinlich habe ich es für irgendein Rezept gekauft, das ich mal ausprobieren wollte, richtig, dieses japanische Kokosgelee für eine Silvesterparty … Ich drehe die Packung um – schon seit zwei Jahren abgelaufen. Das Gelee habe ich dann gar nicht gemacht, besorgte lieber kurz im Supermarkt ein fertiges Sorbet als Nachtisch. Ich schmeiße das Agar-Agar-Päckchen in den Mülleimer, nehme einen Teebeutel aus der anderen Schachtel und stelle sie zurück in den Schrank. Um Platz zu schaffen, muss ich zwei Geräte nach hinten schieben, deren Funktion mir nur vage geläufig ist, weil ich sie in den letzten fünf Jahren nicht ein einziges Mal benutzt habe.

Mein Magen knurrt fast lauter, als der Wasserkocher brodelt. Wie herrlich wäre jetzt ein Thali. Sosehr mich Indien manchmal am Zustand der Welt zweifeln ließ – zu den Dingen, die das für den Moment wieder geraderückten, gehörte definitiv das Essen dort. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, als ich daran denke, wie die Kellner im Restaurant zwischen den Tischen entlangeilen, über dem Arm die Henkel einfacher Blechpötte, aus denen sie mit großen Kellen raffiniert gewürztes Gemüse, Pickles, Relish und Chutney auf die Bananenblätter klatschen, die als Teller dienen.

Ich werfe einen Blick in meinen Kühlschrank: Ein paar Plastikpackungen mit besonders lange haltbaren Fertiggerichten lagern darin. Schnell knalle ich die Tür wieder zu, sodass einige der Ziermagnete an ihr herunterfallen und mit ihnen die Zettel und Postkarten, die darunter klemmten. Ich fluche leise, aber unflätig, gehe mit meiner Tasse dampfendem Tee zurück ins Wohnzimmer und kuschele mich grimmig mit einer Wolldecke aufs Sofa. Was ist nur los mit mir? Sicher, mir ist kalt, und kein indisches Essen ist in Reichweite. Ich muss mich erst wieder eingewöhnen, nein, völlig umgewöhnen, denn ich kann ja meinen alten Trott nicht wieder aufnehmen, sondern muss mich um eine neue Stelle kümmern.

Nachdem ich meine Familie angerufen und ihnen mitgeteilt habe, dass ich sicher zurück bin, lehne mich auf dem Sofa zurück und greife zur Fernbedienung. Ich schalte den Streamingdienst ein, um mich ein wenig berieseln zu lassen. Es gibt neue Folgen meiner Lieblingsserie The Walking Dead. Doch statt wie sonst davon gefesselt zu sein, wie Rick, Daryl und Michonne von Zombies durch die nordamerikanische Postapokalypse gehetzt werden, kommen mir plötzlich seltsame Gedanken. Deren Leben ist irgendwie einfacher als meins. Sie haben keine Schränke voller Zeug, müssen nicht von neun bis sechs im Büro sitzen, sondern sind mit existenziellen Fragen befasst: Wo nehme ich etwas zu essen her, wer ist Freund und wer Feind? Okay, sie müssen sich mit Untoten und fiesen Gangs rumschlagen, also würde ich nicht wirklich mit ihnen tauschen wollen. Aber irgendwas an dem Endzeitszenario zieht mich magisch an.

In meinem Kopf höre ich Christopher in Madurai sagen: Je weniger du brauchst, umso freier bist du.

Die Zombiebekämpfer besitzen nur wenige Dinge, vielleicht kommen sie mir deshalb so frei vor. Ich lasse den Blick durch das Zimmer schweifen. Was ich sehe, sind sorgfältig ausgewählte Möbel, teures Unterhaltungsequipment, eine schicke Lifestyleausstattung – und jede Menge dekorativer Kleinkram.

In Indien habe ich nichts davon vermisst. Das Wenige, worauf wir nicht verzichten konnten, steckte in unseren Rucksäcken. Außer ein paar Andenken und einem bunten Hippierock habe ich nichts gekauft, und den Rock auch nur, weil mir einer in der Wäsche kaputtging. Das Wichtigste war – neben Kleidung, Zahnbürste und Pass – unser zeltähnliches Moskitonetz. Laptop und Kamera hatten wir mit, um unseren Blog zu befüllen und Freunde wissen zu lassen, dass wir noch am Leben sind. Vielleicht kommen mir deshalb gerade viele Dinge in meiner Wohnung vor wie entfernte Bekannte, an deren Namen man sich erst verspätet erinnert, wenn sie einem auf der Straße über den Weg laufen. Weil sie in meinem Leben nur eine Nebenrolle spielen.

Aber was ist wesentlich? Während das Gestöhne der Untoten aus dem Fernseher dringt, stehe ich auf und beginne meinen Rucksack auszupacken. Wochenlang habe ich ihn auf dem Rücken getragen wie eine Schnecke ihr Haus. Sand rieselt heraus, als ich die Verschnürungen löse. Zuoberst liegt mein Reisetagebuch. Als ich es jetzt aufschlage, kommen mir Eintrittstickets, Karten und gepresste Blumen entgegen.

Fast habe ich wieder den Geschmack der raffiniert gewürzten Samosas auf der Zunge, die wir für ein paar Rupien an einem Straßenstand kauften. Ich fühle die Präsenz der Fledermäuse, die im Gebirge abends wie ein großer dunkler Strom über unsere Köpfe hinweggezogen waren, höre das Trompeten der wilden Elefanten ganz in der Nähe und die Schreie der Affen in den Bäumen. Denke an das, was uns ein Gastgeber riet: keine Angst zu haben, sondern sich auf jeden Moment einzulassen. Und daran, wie sich die halsbrecherische Busfahrt auf den Serpentinen im Gebirge danach anfühlte – wie ein Drachenritt. Ich denke daran, wie ich ein weinendes Mädchen zum Lachen brachte, indem ich die Clownsnase aufsetzte, die ich aus Jux mitgenommen hatte. In solchen Momenten habe ich mich so lebendig gefühlt wie selten zuvor. Einfach, als wäre ich mehr in der … Gegenwart.

In meinem Alltag geht es sonst ständig um die Zukunft – die nächste Gehaltsstufe, den neuesten Modetrend, die optimale Ergänzung zur Wohnungseinrichtung, das schicke Gadget, das mein Leben sicher optimieren wird, die perfekte Beziehung, die ich dann führe, wenn endlich alles stimmt. Der Moment, an dem endlich alles stimmt, kommt auf diese Weise nie, denn der würde ja im Jetzt stattfinden.

Ich klappe das Buch zu. Das war eine Reise, auf der ich viel erlebt habe, und die ist jetzt vorbei, ich bin zurück in der Realität. Keine Ahnung, ob ich etwas davon in meinen Alltag hinüberretten kann. Wahrscheinlicher ist: Das Tagebuch wandert aufs Regal, Petra und ich schauen uns gemeinsam die Fotos an, nehmen vielleicht an einem Travel Slam teil und erinnern uns an weinseligen Abenden zurück. Das Leben kann ja nicht immer so sein wie auf Reisen.

Ich packe weiter aus und gliedere meine Sachen wieder in den deutschen Alltag ein, so wie mich selbst.

Die zwei Paar Hosen, drei T-Shirts und den Pulli, einen Tuchschal. Nachthemd und Unterwäsche natürlich. Das Moskitonetz und, der Hygiene wegen, einen Hüttenschlafsack. Ein großes und ein kleines Campinghandtuch. Meine Waschsachen, Zahnbürste, Sonnencreme, Mückenspray.

Mehrere Beutel Gewürze, gekauft in der Hafenstadt Kochi.

Die Kuh aus schwarzem Stein, die ich in Mumbai auf dem Bhuleshwar Market mitgenommen hatte, nachdem wir – mal wieder – Kühe gestreichelt hatten.

Der Rucksack ist fast leer, ganz unten liegen noch ein Paar Sandalen, mein Badeanzug, mein Tauchbrevier, die Clownsnase.

Ich sehe auf den Grund der nun schlaffen Stoffhülle. Dann auf den Stapel mit den wenigen Dingen, die für sechs Wochen gereicht haben, und auf mein Tagebuch. Das war alles, was ich brauchte.

Was während der Reise verwaist in den Regalen und Schränken stand, kommt mir nun überflüssig vor. Wahrscheinlich könnte ich mit geschlossenen Augen nur einen Bruchteil meines Besitzes aus dem Gedächtnis aufzählen. Irgendwann habe ich die Dinge in mein Leben geholt, habe Geld dafür ausgegeben, nur damit sie jetzt bei mir verstauben.

Wenn du ohne all das unglücklich bist, lohnt es sich, deine Lebenszeit dagegen einzutauschen, hat Christopher gesagt.

Ist das so?

Die Küchengeräte, von denen ich nicht mal weiß, was man damit macht, der Tand in meinen Regalen, die vielen Klamotten auf meinem Bett – ist all das den Stress und die Hektik im Job wert gewesen, mit denen ich indirekt dafür bezahlt habe? Wo in all dem Krempel bin eigentlich ich selbst?

Je weniger du brauchst, umso freier bist du.

Was ich besitze, belastet mich nur, als hätte ich im Fluss des Lebens einen langen Mantel an, der mich nass und schwer nach unten zieht. Wenn ich weniger besäße, bräuchte ich auch nicht mehr so eine teure Wohnung. Im Grunde ist sie eher ein innerstädtischer Stellplatz als ein Lebensmittelpunkt: Die Dinge, die ich nicht einmal verwende, nehmen eine Menge Platz ein, den ich eigentlich gar nicht nutze. Ich finanziere meinen Sachen eine schicke Wohnung in zentraler Lage. Und je mehr Dinge sich ansammeln, desto mehr Wohnfläche muss ich für sie mieten.

Brauche ich all das denn wirklich, um glücklich zu sein? Abgesehen davon, dass ich nicht so viel verdienen müsste, wenn ich keine so große Wohnung hätte: Mit dem Besitz ist jede Menge Sorge darum verbunden. Bei jedem Urlaub stehe ich nach der Abreise vor der Frage, ob ich wirklich alles abgeschlossen habe, ob der Herd aus ist und die Zeitschaltlampe an. Und oft hat mich mein Besitz von etwas abgehalten, etwa davon, einfach eine lange Weltreise zu machen – wo hätte ich denn den ganzen Krempel in der Zwischenzeit lassen sollen? Und jede neue Sache zieht weiteren Konsum nach sich: Da ich ein Auto habe, brauche ich Benzin und gebe regelmäßig Geld für die Wartung aus. Nachdem ich ein Mobiltelefon mit einem angebissenen Apfel darauf erworben hatte, wollte ich auch ein dazu passendes Tablet und natürlich Apps und Musik aus dem Applestore, schließlich ein Reisenotebook vom selben Hersteller, damit alles aufeinander abgestimmt ist. Und für meine teure Digitalkamera kaufe ich immer wieder neue Speicherkarten und anderes Zubehör.

Ich will aber gar nicht so von meinen Sachen abhängig sein, will viel lieber im Moment leben. Dazu muss der unnötige Ballast raus, Leben muss rein. Das ist es nämlich, was mir fehlt. Dazu brauche ich gar keine zombieverseuchte Postapokalypse. Ich kann mir den Mantel allein ausziehen, loswerden, was mich beschwert. Ich will mich leicht fühlen, keine Angst mehr vor dem Verlust meiner Sachen haben, nicht mehr an weiteren Konsum gebunden sein, mehr Platz für Erlebnisse schaffen.

Mit einem Mal habe ich das Gefühl, gar nicht mehr richtig atmen zu können, solange ich all den Ballast nicht abgeworfen und Platz geschaffen habe. Das Schöne am Reisen sind doch die Erlebnisse und Begegnungen – die rasante Fahrt im Bus, der Strom der Fledermäuse über unseren Köpfen, die Menschen auf den Straßen, die Gespräche mit Christopher. Davon will ich mehr.

Mehr Menschen statt Dinge.

Mehr Freiheit statt Fleißbienentum.

Und ich will endlich wissen, was mich wirklich glücklich macht. Denn um ehrlich zu sein, habe ich davon nur eine vage Vorstellung.

Mein Herz klopft wie damals vor der Abschlussprüfung, denn irgendetwas in mir weiß, dass ich gerade dabei bin, einen mächtigen Hebel umzulegen, der die Weichen für mein künftiges Dasein stellt.

Ich blicke den großen Esstisch an, auf dem sich meine Arbeitssachen stapeln. Da sollten Freunde dran sitzen, mit denen ich schöne Abende verbringe.

Ich denke an meinen Nachttisch, auf dem drei Wecker stehen, damit ich auch ja nicht verpenne, weil ich wegen der vielen Arbeit stets übermüdet war. Die müssen weg, zumindest zwei davon. Wenn ich mir mehr Schlaf gönne, brauche ich morgens auch nicht mehr so was wie den Stromstoß von Frankensteins Monster, um in die Gänge zu kommen.

Ich sehe zu meinem Regal hinüber, in dem viele ungelesene Bücher stehen. Ich liebe Bücher, gute Filme, Musik – dennoch habe ich immer zu wenig Zeit, mir anzusehen, zu lesen oder zu hören, was ich möchte. Ich liebe die Ozeane und alles, was darin schwimmt – trotzdem bin ich viel zu selten am Meer. Ich liebe meine Familie und habe tolle Freunde – und sage nach einem stressigen Tag allzu oft Verabredungen mit ihnen ab. Es gibt so vieles, was ich erleben möchte, und das meiste kostet nicht mal Geld. Dennoch habe ich bisher viel zu viel Zeit damit verschwendet, mein Konto aufzupolstern und Sachen anzuhäufen.

Wenn mir das keine Zufriedenheit gebracht hat – vielleicht gelingt es mir, indem ich das genaue Gegenteil tue? Mich von allem Unnützen befreie, um herauszufinden, was mich wirklich glücklich macht?

Weniger ist mehr, heißt es ja.

Und: Lass los, dann hast du beide Hände frei.

Bei dem Gedanken verspüre ich schlagartig Freude, aber er macht mir auch Angst. Was, wenn ich loslasse und die Kontrolle verliere? Ich habe eine ähnliche Angst schon gespürt, als ich beim Tauchen den Grund nicht mehr sah und mein Tiefenmesser plötzlich anzeigte, dass ich mich auf vierzig Meter befand. Hätte ich in diesem Moment aufgehört zu strampeln, wäre ich immer tiefer gesunken, hätte vielleicht einen Tiefenrausch bekommen – der tödlich enden kann.

Ist es also gut oder letztlich eine Schnapsidee, seinen Besitzstand radikal zu verkleinern? Wie frei wird es mich wirklich machen, wenn ich den Krempel loswerde?

Vor Jahren habe ich mal ein Buch gelesen, in dem Sterbende davon erzählen, was sie am meisten bereuen. Vor allem bedauerten sie, nicht mehr Zeit für ihre Liebsten oder ihre wahren Interessen gehabt zu haben. Dass sie sich selbst und anderen nicht mit mehr Achtung, Freundlichkeit und Liebe begegnet waren. Niemandem hatte es leidgetan, sich einen bestimmten Gegenstand nicht geleistet zu haben.

Ich muss ja nicht gleich alles loslassen. Nur so viel, wie sich gut anfühlt. Kann des Öfteren einen Blick auf meinen Tiefenmesser werfen, ob ich noch alles im Griff habe. Und dann sehe ich weiter.

Ich spüre, wie es in meinen Zehen und Fingerspitzen anfängt zu kribbeln, denn ich ahne: Dies ist der Beginn eines Experiments, das die Kraft hat, mein Leben zu verändern.

Vielleicht bereue ich es und vermisse meine vielen schönen Dinge, wenn ich sie weggebe.

Oder es macht mich glücklicher als je zuvor.

Warum ich nicht mehr mit Professor Unrat zusammenlebe – vom Möbelzusammenzählen und Einrichtungenvergleichen

Zwischen den Kapiteln habe ich etwas Stauraum gelassen für Tipps und Anregungen. Sie sollen Lust machen, einen eigenen Weg zu finden. Natürlich sind das eher Appetithäppchen als All-You-Can-Eat-Angebote: Fast jedes Thema – von Altkleiderausmisten bis Zero Waste – ist komplex. Und ich entdecke immer wieder neue Wege, wie ich Sachen zweckentfremde und weiterverwende, verkaufe, verschenke und spende oder nachhaltig entsorge.

Vor dem Start bietet sich eine Inventur an, sie erleichtert das Schlussstrichziehen und den Start in etwas Neues. Ich liebe solche Bestandsaufnahmen und lege immer wieder welche ein. Sogar am Ende des Jahres, um zu überlegen, was gut gelaufen ist und was ich alles erlebt habe, damit ich das neue Jahr auf ein neues Blatt schreiben kann – mit den Erfahrungen des vergangenen Jahres im Rücken.

Eine Inventur hat klassischerweise etwas mit Zählen, Messen und Wiegen zu tun. Bevor ich mit dem Räumen anfing, war mir gar nicht klar, wie viel Zeug in meiner Wohnung eigentlich rumsteht. Im Laufe der Zeit hatte sich so einiges zusammengeläppert. In meiner Butze – zwei Zimmer, Keller, Küche, Bad, Balkon, insgesamt 65 Quadratmeter – befanden sich:

 

1 Bücherregal, zweireihig bestückt

1 Billyregal

1 großer Kleiderschrank, Fassungsvermögen 3 Kubikmeter, voll

1 Bauernschrank, Fassungsvermögen 2 Kubikmeter, voll

1 Bett mit Nachttisch

4 große Staukartons auf den Schränken

1 großer Tisch, ein Esstisch

4 Stühle, 2 Klappstühle

1 Vitrine

1 kleines Regal mit Stereoanlage

1 Rollschränkchen für den großen Tisch, den ich als Schreibtisch nutzte

1 Schreibtischsessel

1 Couchtisch

1 Couch, 1 Sessel, 1 Schlafsessel

1 Blumenhocker in Form eines Nierentischchens

1 Kommode

1 großer Spiegel, mehrere Lampen

1 Hocker

1 Balkontisch, 2 Balkonstühle, Pflanzmöbel mit Pflanzen

2 Fahrräder

Staubsauger

1 Einbauküche mit Oberschränken, 2,5 Kubikmeter

1 Riesenkühlschrank mit Gefrierteil

2 deckenhohe Holzregale in der Küche

1 Flurschrank, der 1 Kubikmeter fasst

1 Garderobe, 1 Flurspiegel

 

Das Zeugs, das auf, in und zwischen diesen Möbeln verteilt war, hätte rund 60 unterschiedlich große Umzugskartons gefüllt, im Keller befand sich außerdem eine Reihe Kisten mit Krempel, den ich nie ausgepackt habe.

Meine Habseligkeiten waren wie ein lazy Mitbewohner, den ich nie loswurde, weil er mir von einer Wohnung in die nächste folgt: grob gerechnet etwa 35 Kubikmeter, das ergab jedenfalls die Kalkulation beim letzten Umzug. Meine Möbel und Sachen bewohnten also zusammengepfercht allein ein rund 14 Quadratmeter großes Zimmer mit einer Deckenhöhe von 2,5 Meter.

13 Umzüge und vier Städte zuvor war meine Situation noch Welten davon entfernt. Meine erste eigene Wohnung war ein 11,6 Quadratmeter großes Zimmer im Studentenwohnheim, das mich mit seiner platzsparend im Flur verbauten Kochnische und dem Winzbad an eine Klosterzelle oder eine menschengroße Bienenwabe erinnerte. Es stand schon ein Regal darin, Übernachtungsbesuch musste auf dem Boden zwischen dem schmalen Schreibtisch und dem Bett schlafen, auf dem Miniflur gab es einen eintürigen Schrank und genau zwei Haken für Jacken. Die Küche verfügte über Unterschrank und Oberschrank, zwei Kochplatten und eine Spüle, in der ein Goldfisch Platzangst bekommen hätte. Viele Sachen hatte ich nicht, und viel passte ja auch nicht rein. Dennoch reichte es, weil mein Leben größtenteils außerhalb dieser vier kurzen Wände stattfand.

Wenn ich daran denke, wie viel Zeug sich im Laufe der Jahre angesammelt hat, wird mir schwindlig. Vor allem, weil ich weiß, dass es mich keinesfalls glücklicher gemacht hat.

2

Nie aufhören anzufangen, nie anfangen aufzuhören

Für das Können gibt es nur einen Beweis: das Tun.

Marie von Ebner-Eschenbach

 

 

 

Während im Hintergrund das Zombietöten weitergeht, lege ich damit los, meinen Besitz zu verschlanken. Diätpläne soll man sofort umsetzen, das habe ich aus vielen leidvollen Erfahrungen mit Torten und Chipstüten gelernt. Mich motiviert, dass eine Menge Leute vor mir ohne viel Krempel durchs Leben gekommen sind. Wir sind wie eine weltweite, epochenübergreifende Sachendiät-Gruppe.

»Das Geheimnis des Glücks liegt nicht darin, mehr zu erlangen, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, sich an weniger Dingen zu erfreuen«, soll Sokrates schon in der Antike befunden haben. Franz von Assisi und Teresa von Ávila, Yogis und Sadhus und Jains, Bettelmönche in Nepal, Sufis und Essener – ein asketisches Leben galt im Laufe der Jahrhunderte und überall auf der Welt religiösen Menschen als Ideal. Auch Schriftsteller und Philosophen wie Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau dachten im 19. Jahrhundert über das einfache Leben in der Natur nach.

»Ich zog in die Wälder, denn ich wollte bewusst leben und nur den wesentlichen Dingen des Lebens gegenüberstehen«, schrieb Thoreau. »Und sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es mich zu lehren hatte, damit ich nicht in der Stunde meines Todes gewahr würde, dass ich gar nicht gelebt hatte.« Sein Buch Walden, in dem er von den zwei Jahren, zwei Monaten und zwei Tagen erzählt, die er als Aussteiger in einer selbst gebauten Blockhütte verbrachte, inspirierte später die Umweltbewegung des 20. Jahrhunderts, Ökos und Selbstversorger. Und auch Albert Einstein soll wenig Wert auf materielle Besitztümer gelegt haben – von seinen Habseligkeiten ist außer seinen wissenschaftlichen Arbeiten und einer einfachen Pfeife im Smithsonian’s Museum in Washington nicht viel erhalten. Sein Haus in Princeton wird als Wohnhaus genutzt, sein Sommerhaus in Caputh ist auf seinen eigenen Wunsch hin kein Museum, sondern ein Ort, an dem Vorträge gehalten werden.

Mir fällt außerdem das Buch der Lehrerin und Psychotherapeutin Heidemarie Schwermer ein, die ausprobieren wollte, wie es sich ein Jahr lang ohne Geld lebt. In einem Interview hat sie gesagt, dass sie sich durch das Experiment derart unabhängig fühlte und so viel an Lebensqualität gewann, dass sie dabei blieb – sie lebte schließlich sechzehn Jahre lang ohne Geld und mit wenig persönlichem Besitz.

Ich wandere durch meine Wohnung und greife nach den erstbesten Sachen, die mich stören. So verschwinden zwei der drei Wecker vom Nachttisch in einer Plastiktüte, in der ich erst mal sammeln will, was mir sofort entbehrlich erscheint. Ich stelle den verbleibenden Wecker auf neun und nehme mir vor, spätestens um Mitternacht ins Bett zu gehen. Müde bin ich jedenfalls noch nicht, vielleicht liegt’s am Jetlag, auch wenn ich ohnehin eher eine Nachteule bin.

Voller Elan sehe ich mich mit der Sammeltüte in der Hand um – und entdecke auf dem Küchenschrank eine angebrochene Flasche Rotwein vom Abend unserer Reiseplanung. Ich entkorke sie, stelle fest, dass der Wein sich bei den niedrigen Temperaturen exzellent gehalten hat, und beschließe, mich ihrer als Erstes zu entledigen – indem ich den Rest austrinke. Mit dem Glas in der Hand streife ich durch meine inzwischen aufgewärmte Bude und unternehme eine Regalbeschau, ziehe hier und da einen Gegenstand hervor und betrachte ihn im immer schwächer werdenden Tageslicht. Mit jedem Schluck Wein wird mir wärmer, meine Unruhe wird gedämpft, und ich fühle sogar eine gewisse Milde gegenüber den einzelnen Dingen in mir aufsteigen.

Ach, guck, denke ich, das Fury-in-the-Slaughterhouse-Shirt ist doch eigentlich noch ganz okay. Du findest die Band zwar inzwischen peinlich, und der Saum des Teils ist zerfleddert, irgendwann ist dir auch mal Tomatensoße draufgespritzt, aber es war ein Traumsommer, als du die Band auf dem Festival gesehen hast, du warst jung und unbeschwert, und deine Freunde warfen aus Jux Dixiklos um. Hat sich das T-Shirt mit dieser Erinnerung nicht ein Wohnrecht auf Lebenszeit in deinem Schrank erworben? Und schau hier, dieser Zierteller mit Rosenmuster von anno Tobak. Natürlich ist der schreiend hässlich, aber Tante Helga hat ihn dir vor zwanzig Jahren zum Geburtstag geschenkt – und falls sie mal zu Besuch kommt, willst du doch, dass sie sich bei dir wohlfühlt, dann holst du ihn wieder hervor. Und die alte Mittelformat-Kamera von Voigtländer – bestimmt mache ich damit ganz brillante Fotos, wenn ich mir nur mal Zeit nehme, herauszufinden, wie die eigentlich funktioniert und was für einen Film man braucht und ob den heute noch irgendwer entwickeln kann … Schließlich falle ich benebelt ins Bett.

Ich schrecke hoch, als ein nervtötendes Schrillen an mein Ohr dringt. Wie, schon so spät? Ich bin etwas desorientiert und habe leichte Kopfschmerzen. Als ich einen Blick auf meinen verbliebenen Wecker werfe, habe ich beinahe das Gefühl, dass er mich vorwurfsvoll ansieht, weil er jetzt ohne Gesellschaft auskommen muss. Geklingelt hat er nicht, es ist halb neun.

Der Wust um mich herum wirkt jetzt noch unübersichtlicher als bei meiner Ankunft gestern, weil die Sachen, die ich aus den Schränken gezogen habe, nun auch noch überall rumliegen. Kein guter Start für meinen Weg aus dem Überfluss. Bevor ich lange darüber nachdenken kann, was ich hätte besser machen sollen, schrillt es wieder, auch diesmal ist es nicht mein um seine beiden Gefährten beraubter Wecker.

Rrrrrringrrrrring! Das Telefon.

Ich unterdrücke einen Schmerzenslaut, als ich auf einen Kleiderbügel trete, der direkt vor dem Bett liegt, und haste in den Flur, wo das Telefon in seiner Station ruht. Das Display zeigt: Es ist Dirk, der es offenbar nicht abwarten kann, mich endlich wiederzusehen. Scheiß auf die Schläfrigkeit und den Suffkopp, auf einmal bin ich hellwach.

Ein paar Monate vor der Reise haben wir uns auf einem Konzert getroffen, und ich war froh, mich in der Zeit nach der Kündigung mal bei ihm anlehnen zu können. Ohne Freundinnen wie Petra und ohne ihn hätte es für mich noch düsterer ausgesehen.

Ohne zu zögern, drücke ich auf die Taste, um das Gespräch anzunehmen.

»Guten Morgen«, sagt Dirk. »Hab ich dich geweckt?«

»Nö.« Ich ziehe die Schultern hoch, mir ist in meinem dünnen Nachthemd kalt. »Ich, äh, war … im Bad.«

»Ich hätte Zeit«, meint er. »So in einer halben Stunde kann ich zum Frühstück bei dir sein.«

Es herrscht Chaos in meiner Wohnung, ich habe noch nichts an und auch nichts im Haus, um ihn zu bewirten.

Ich sollte sagen: Frühestens in einer Stunde.

Ich sollte sagen: Bring Brötchen mit.

Ich sollte sagen: Und Kaffee. Und Margarine. Und Marmelade.

Und dann sollte ich mich in aller Ruhe auf seinen Besuch vorbereiten, mich anziehen, Mascara auf meine Wimpern und Teller auf den Tisch tun.

Ich sage: »Okay, freu mich.«

Ich Idiot. Wieso mache ich mir schon wieder Stress?

Nachdem ich aufgelegt habe, kicke ich alle Sachen, die im Wohnzimmer rumliegen, ins Schlafzimmer und ziehe die Tür zu. Ich schaffe ein wenig Platz auf dem kleinen Küchentisch und stelle Geschirr raus.

Anschließend hetze ich ins Bad, putze mir unter der Dusche die Zähne, ziehe mir irgendwas an, setze mir die Mütze auf die nassen Haare und renne raus vor die Tür.

An diesem Januarmorgen ist der Winter strenger als der Ton meines ehemaligen Mathelehrers, scharf und kalt. Die Luft schneidet einem förmlich in die Haut, und es schneit vereinzelt diese hauchfeinen Kristalle, die noch kein richtiger Schnee sind und bei denen ich immer daran denken muss, dass sie aus dem weiten Saal von Andersens Schneekönigin geweht kommen könnten. Ich ziehe die Schultern hoch und reibe die Hände aneinander, mein Atem bildet kleine Wölkchen, während ich zum Bäcker und zum Supermarkt um die Ecke haste.

Das Klima im Rheinland ist meist mild, und ich bin stets darauf bedacht, in Kleidung nicht zu moppelig zu wirken. Also trage ich ein Jäckchen, das mir eine Verkäuferin mal als Übergangsmantel angedreht hat und das für diese Witterung viel zu dünn ist. Das ist mein übliches Frauengarderobe-meets-Wintertemperaturen-Problem: Die meisten fancy Sachen sind entweder ärmellos oder aus dünnem Stoff, Schneeanzüge oder Ganzkörperstrick gibt’s nicht in tragbaren Ausführungen. Und das, obwohl wir Frauen weithin für unsere Frostbeuligkeit bekannt sind. Man braucht mindestens noch ein Tuch oder einen Cardigan zum Überleben. Die da draußen in der Produktentwicklung denken einfach nicht richtig nach.

Während Männer nie frieren, aber im Anzug und oft noch mit schicker Weste unterm Jackett immer gut gewärmt sind, soll ich als Frau mich mitten im Winter in einen Fummel zwängen, der mir schon beim Anblick auf der Stange Gänsehaut verursacht. Alles, was wärmt, sieht hingegen meist nach Oma oder Yeti aus. Im schlimmsten Fall nach beidem. Leuten, die Frauenkollektionen entwerfen, würde ich gern sagen: Entwickeln Sie endlich einen Stoff, der dünn ist und wärmt. Konzipieren Sie ihn immer einen Tick wärmer, als Sie es für angemessen halten. Und dann legen Sie eine weitere Lage Stoff drauf. Einer der Gründe, warum ich so viele Klamotten habe, ist sicher, dass die wärmetechnisch oft vollkommen unzureichend sind. Hätte ich einen dicken Mantel, der erfrierungssicher und chic ist, oder ein Kleid, das wärmt und elegant aussieht, würde ich das Teil sicher öfter anziehen, statt auf der Suche nach der idealen Klamotte immer weiter zu shoppen.

Als ich völlig außer Atem mit den Einkäufen zurückkomme, meine Gesichtsmuskeln ganz starr gefroren, mit harten Haarspitzen, die wie braune Eiszapfen unter der Mütze hervorstaken, steht Dirk schon vor meiner Tür.

Als er mich an sich zieht, einmal fest umarmt und dann meine Oberarme rubbelt, fühlt sich der Morgen trotz der Kälte und der Hektik richtig schön an. Er nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst mich auf den Mund.

»Hey, du«, sagt er dicht an meinem Ohr. »Ist bestimmt ein ziemlicher Temperaturschock für dich. Wie viel Grad Unterschied sind das wohl?«

»Keine Ahnung, aber so viele, dass ich jetzt doch lieber reingehen würde.« Ich löse mich von ihm, auch, weil die Einkaufstasche langsam schwer wird, und schließe mit steifen Fingern die Tür auf. »Ich hab uns was zum Frühstück besorgt.«

»War echt scheiße in den letzten Wochen«, sagt Dirk, als wir im Hausflur die Treppe hochstapfen. »Wusste nie, wo ich ihn lassen kann. Steht um die Ecke.«