Mein Name ist Monster - Katie Hale - E-Book

Mein Name ist Monster E-Book

Katie Hale

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Beschreibung

»Ich habe beschlossen, sie Monster zu nennen. Sie soll eine Kämpferin werden, sie soll überleben, und so wird mein Name mit ihr überleben. Ich werde ihr beibringen, wie man das Land bestellt. Ich werde ihr meine Sprache beibringen, damit sie mich und die Welt versteht. Ich werde ihre Mutter sein und sie mein Monster.« Während ihre Eltern starben und die letzten sicheren Städte zerstört wurden, hat eine junge Frau im Saatguttresor im arktischen Spitzbergen ausgeharrt und die Welt gemieden. Doch dort kann sie nicht bleiben. Auf ihrer Reise nach Süden wird sie an die Küste Schottlands angespült – und trifft auf ein verwildertes Mädchen. Für die beiden letzten Überlebenden einer versunkenen Welt ist es die Hoffnung auf einen Neuanfang. Doch wie soll man seinen Weg fortsetzen, wenn es kein Zuhause mehr gibt? Wie soll man ohne Wurzeln wieder wachsen? Wie neues Leben säen einzig unter Frauen?

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Seitenzahl: 359

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Katie Hale

Mein Name ist Monster

Roman

Roman

Aus dem Englischenvon Eva Kemper

FISCHER E-Books

Für meine Eltern,

die mir immer Geschichten erzählten.

Teil EinsMonster

Ich bin auf eine fürchterliche, menschenleere Insel geraten. Es gibt keine Hoffnung, sie je wieder zu verlassen.

Aber immerhin lebe ich noch und bin nicht ertrunken wie alle meine Kameraden.

 

Daniel Defoe, Robinson Crusoe

 

Wenn die Welt in Flammen steht, vergisst man leicht, dass es Eis gibt.

Die meisten vergaßen es, nicht alle. Ich kannte mehr als ein Jahr lang nichts anderes als eisige Kälte. Ich lebte mit dem Eis, auf dem Eis, im Eis – gefangen auf der Insel, während der Rest der Welt in Raserei und Krankheit versank. Während die Raketen einschlugen und tausend Grad heiße Feuer über die Städte hinwegfegten, konnte ich mich kaum warm halten.

Erfrierungen und eine Kälte, die bis ins Herz schneidet: Sie sind der Preis fürs Überleben.

Was dann?

Nachdem alle anderen gestorben waren, saß ich drei Tage lang am Fenster und sah zu, wie der Gletscher knarrte und brach. Als ich meine Hose auszog, schuppte sich meine Haut, und meine Beine juckten. Ich kratzte die tote Haut ab, bis ich rosig und wund war, dann zog ich mich wieder an.

Ich musste an die Wissenschaftler denken, die vor zwanzig Jahren in eine Spalte gestürzt waren und die man nie gefunden hatte, an ihre kleinen Körper, die eines Tages aus dem Gletscher hervorgleiten würden wie Babys bei der Geburt, starr gefroren und in ihren bunten Schutzanzügen perfekt erhalten.

Die Leute glaubten, Eis wäre weiß, aber das ist es nicht. Es steckt viel Geschichte in ihm, die nur darauf wartet, hervorzukommen.

*

Der Strand schmeckt nach Haut und Salz. Sand knirscht zwischen den Zähnen. Als ich die Hand bewege, spüre ich, wie sich die Sandkörner bewegen.

Langsam hebe ich den Kopf. Ich setze mich auf und huste. Zuerst, um den Hals freizubekommen, um die Kehle von Sand und Meerschaum zu befreien – dann breitet sich der Husten aus, er sinkt und quillt, bis ich aus dem Bauch huste, bis er meinen ganzen Körper durchschüttelt. Ich huste und übergebe mich auf den Sand, wieder und immer wieder, bis nur noch Galle kommt.

Ich wische mir den Mund mit dem Ärmel ab und atme mehrmals tief durch.

Hier hat das Meer mich also ausgespuckt.

Zu meiner Rechten erstreckt sich ein breiter Sandstrand, kilometerweit bis zum Nebel und der Meeresgischt am Horizont. Vor mir folgt ein niedriger Felshang mit vereinzelten Bäumen und Seemöwen dem Verlauf des Ufers. Möwen nisten auf Vorsprüngen und ziehen über den Felsen kreischend ihre Kreise. Jeder Stein ist mit weißen und grauen Schlieren überzogen. Es ist unfassbar laut. Nach der völligen Stille auf Spitzbergen stürmen die Geräusche regelrecht auf mich ein. Ich hatte vergessen, wie laut das Leben sein kann.

Hinter den Seemöwen, wo der Felshang auf den schweren grauen Himmel trifft, wachsen struppiger Farn und Heidekraut. Die Pflanzen sehen so zäh und knorrig wie die Bäume aus, mit Altmännerfingern krallen sie sich an den Stein.

Nach Wochen in der Kälte sind meine Hände gerötet und spröde, die Knöchel entzündet, die Finger sehnig und rissig. Wenn ich sie dehne, spüre ich, wie Luftbläschen im Knorpel knacken. Meine Mutter hatte die Finger einer Pianistin, elegant und schlank, die Nägel in Form gefeilt und akribisch poliert. Meine Hände sind besser.

Ich blicke nach links, wo eine Felsgruppe das Meer umlenkt und die Wellen gegen den Strand schleudert. Deshalb bin ich ausgerechnet hier gelandet.

Als ich mich zum Wasser umdrehe, sehe ich das Boot, mein Boot. An den Felsen vor dem Ufer zerschellt und angespült, wiegt es sich in der Dünung. Besser gesagt das, was noch von ihm übrig ist.

Wäre ich eine Seefahrerin, würde ich wahrscheinlich sie und nicht es sagen. Dann würde ich vielleicht an diesem einsamen Strand stehen und bedauern, dass ich nicht mit ihr untergegangen bin. Aber das bin ich nicht.

Als ich mich hochkämpfe, schmerzt meine rechte Körperhälfte, der das Meer und die Felsen übel mitgespielt haben. Wieder atme ich tief ein. Ich habe nicht so lange überlebt, um an einem vollgekackten Strand in Schottland zu sterben.

Ich wate ins Wasser. Der Sog zieht an meinen Füßen, nicht mehr mit dem festen Griff des Sturms, aber noch spürbar, wie ein Echo.

Wahrscheinlich finde ich nur noch Trümmer und ein paar durchnässte Überreste, doch zum ersten Mal seit Wochen kann ich erleichtert aufatmen. Die Kajüte ist unversehrt geblieben.

Ich stopfe in meinen Rucksack, was hineinpasst, und trage ihn mit hochgereckten Armen zum Ufer. Als Kind habe ich einen Film gesehen, in dem ein Krieger einen Fluss durchquerte und dabei sein Schwert, seinen wertvollsten Besitz, dem Himmel entgegenstreckte wie als Segen, damit es nicht nass wurde. Mein Segen ist ein Rucksack voll mit Kleidung, Lebensmitteln, einem Schlafsack, zwei Rollen Pflaster, einem Schweizer Taschenmesser, einem Seil, einem Feuerzeug. Diese Dinge werden mich am Leben erhalten.

Vier Mal kehre ich zum Boot zurück und berge, so viel ich kann, hole erst alles Essbare und breche dann trockene Planken ab. Am Strand entzünde ich oberhalb der Flutlinie ein Feuer. Ich denke nicht daran, sie zu betrauern – ich verbrenne ihre Knochen, um mich zu wärmen.

Nachdem ich meine von Salzwasser triefende Kleidung gegen lediglich feuchte getauscht habe, suche ich den Strand nach allem ab, was noch angespült wurde. Ich sammle Tragetaschen ein, zwei verschiedene Socken, die ich am Feuer trockne, eine Plastikflasche, eine Schnur. Meine Sammlung lege ich in akkuraten Reihen auf den Sand, wie ein Kalender zeigt sie mir an, wie viel Zeit mir bleibt. Wenn ich nichts anderes finde, kann ich nur noch acht Tage überleben.

Ich packe meinen Schlafsack aus und schlafe ein, bevor die Sonne untergeht.

 

Als ich aufwache, ist das Feuer heruntergebrannt, und das Meer hat sich die Bootstrümmer geholt. Ich esse einen Teil der verderblichen Lebensmittel, packe meinen Rucksack und schnüre meine Stiefel. Als ich den niedrigen Felshang hinaufklettere, stürzen die Möwen kreischend auf mich herab, aber ich beachte sie nicht.

Oben angekommen, marschiere ich los.

*

Ich laufe weiter, weil es irgendwo Nahrung und Wasser geben muss. Ich laufe, um eine Zuflucht zu finden. Ein Ziel wähle ich nur aus, weil überall als Möglichkeit zu groß ist.

 

Meine Eltern haben gute sechzig Kilometer von Schottland entfernt gewohnt. Das schottische Festland ist fast fünfhundert Kilometer lang. Ich weiß nicht, wo ich gestrandet bin, aber wenn ich im Schnitt fünfzehn Kilometer am Tag schaffe, sollte ich in einem Monat zu Hause sein.

Natürlich werde ich viel länger brauchen. Ich werde mich verlaufen. Um Dörfer und Städte schlage ich einen Bogen, so gut es geht. Ich meide ihre zerbombten, zerstörten Häuser und die von der Krankheit gezeichneten Leichen, versteckt wie ein lauernder Virus im Blutkreislauf.

Auch die Straßen werde ich meiden, sie sind verstopft von den Autos der Menschen, die vor den Explosionen oder der Seuche fliehen wollten. Derjenigen, die nicht schon dem Krieg oder der ihm folgenden Krankheit zum Opfer gefallen waren, die es zu den sogenannten Schutzzentren schaffen wollten, bevor die ihre Tore verrammelten. Wer weiß denn, wie viele Blindgänger auf dem Asphalt liegen? Wer weiß, welche Sprengladungen oder Gase oder Krankheitserreger die Geschosse enthalten?

Ich werde mich an Felder, Moor und Heide halten. Die Natur war für mich schon immer berechenbarer – aber auch auf diesem Weg erwarten mich Hindernisse. Ich werde immer wieder Rast machen und nach Nahrung suchen müssen, und dazu kommt das unvermeidliche Ritual des Lebens. Das Überleben ist eine zeitaufwendige Sache.

Trotzdem verspüre ich tief in mir den Drang, nach Hause zurückzukehren. Ich bin wie eine Brieftaube, die es zu dem Ort zieht, an dem sie mit Futter und Wasser versorgt und vor herumstreifenden Füchsen geschützt wurde, auch wenn dort niemand mehr ist, der sie behütet. Es ist wohl so etwas wie eine Pilgerreise. Ein Opfer, das als Schmerzen und Blasen an den Füßen dargebracht wird – eine Absolution. Ich muss mit eigenen Augen sehen, dass es meine Eltern nicht mehr gibt.

Manchmal träume ich davon. Nicht von unserem Haus, sondern von der Reise, dem unablässigen Streben dorthin. In meinen Träumen steige ich den Hügel hinter dem Haus meiner Eltern hinauf, oder ich schleppe mich die schmale Straße zu ihrem Dorf entlang, aber jedes Mal wache ich auf, kurz bevor ich ankomme. Immer liegt noch ein weiteres Stück Weg vor mir.

*

Mein Vater hat mich Monster genannt. Es war ironisch gemeint, glaube ich – eine liebevolle Neckerei.

Als ich älter wurde, wollte meine Mutter, dass er damit aufhört, aber der Name umschloss mich längst wie ein fester Panzer. Es sei eine Schande, sagte sie, dass ein so hübsches Kind einen hässlichen Namen habe.

Meine Mutter klagte oft darüber, dass ich meinen Pausbäckchen und Locken nicht gerecht wurde. Sie hieß Beatrice und trug ihren Namen wie einen eleganten Pelzmantel. Ich passte mich mit der Zeit meinem Namen an und entwuchs meinen Locken. Ich glaube, wenn es alle anderen nicht schaffen, kann man nur als Monster überleben.

*

Ich setze mich auf einen bröckelnden Stein neben einem Gehölz, wo ich noch das Meer riechen kann.

Hier ist das Gelände weit und flach, und ich fühle mich wie auf einem hohen Berg. Der Boden scheint nur bis zur nächsten niedrigen Mauer und dem kalten Himmel dahinter zu reichen. Ich beobachte helle Wolken, die am Horizont entlangeilen, bis es mir so vorkommt, als würde sich die ganze Welt bewegen.

Einen Augenblick lang kann ich mir fast vormachen, es hätte keinen Krieg gegeben, keine Krankheit, keinen unabwendbaren Letzten Herbst. Dann bleibt mein Blick an dem Gras hängen, das den untersten Balken eines Weidetors überwuchert, eines der leisen Zeichen, die überall zu sehen sind. Alles liegt brach, die Menschen mussten der Natur die Kontrolle überlassen, nachdem der Krieg sie in die Städte getrieben und die Krankheit sich unter den letzten Dorfbewohnern ausgebreitet hatte.

Auf meiner rechten Ferse wölbt sich eine zwei Zentimeter große Blase. Ich zerdrücke sie mit den Fingernägeln, und eine klare Flüssigkeit rinnt über meinen Daumen. Ich bleibe dort sitzen, während die kalte Luft in die wunde Stelle sticht, bis mein ganzer Körper taub wird. Dann klebe ich ein Pflaster auf die Ferse und ziehe meinen Stiefel wieder an.

*

Als ich fünf war, begann ich, in den alten Schuhkartons meiner Mutter Sachen unter meinem Bett zu horten. Ein Sammelsurium von Alltagsgegenständen: Ersatzkabel, alte Telefone, der Toaster, der weggeworfen werden sollte. Im Licht der Schreibtischlampe bastelte und tüftelte ich mit zusammengekniffenen Augen, bis sie wieder liefen oder ich aus den Teilen etwas Neues zusammensetzen konnte. Diese nüchterne Eindeutigkeit, mit der Geräte funktionierten oder nicht funktionierten, allein von ihrem technischen Zustand abhängig, fand ich wunderbar. An verregneten Tagen legte ich die Teile auf dem Boden meines Zimmers aus und sah sie mir einfach an. Jede Kante und jede Rundung war mir vertraut.

Meine Schrauben und Drähte leisteten mir Gesellschaft. Auf dem Spielplatz legte ich mich mit den Mädchen an, die hinter meinem Rücken tuschelten und Jungen die kalte Schulter zeigten, weil sie zu mir kumpelig waren und behaupteten, sie wollten mit mir befreundet sein. Als Callum Jenkins einmal in der Mittagspause angeschlurft kam und mir sagte, ich sei ziemlich cool für ein Mädchen, biss ich ihm in den Arm, bis ich Blut schmeckte.

Als Teenager wurde ich launisch und kämpferisch. Ich zickte Nachbarn an, wenn sie mich nach meinen Lieblingsfächern fragten, und beäugte mürrisch kritische Tanten und Onkel. Die Cousins und Cousinen, die scharenweise zu Besuch kamen, beschimpfte ich laut. Meine Mutter schenkte mir ein Buch: Menschen für sich gewinnen. Ich sagte ihr, sie solle mich mit dem Scheiß in Ruhe lassen.

Mit sechzehn hatte ich mir beigebracht, Monster zu sein.

*

Zwei Tage lang regnet es ununterbrochen. Ich finde Unterschlupf in einer Wanderhütte neben einem reißenden Bach, der über die Ufer zu treten droht. Das Holz, das ich aufstöbere, ist so verrottet und schleimig, dass es nicht brennen will. Ich verbringe den Tag eingehüllt in meinen Schlafsack, weil die vier Wände und das Dach, durch das der Regen tropft, nur spärlichen Schutz bieten. Der bröckelige Putz ist von schwarzem Schimmel durchzogen, es riecht nach toten Ratten. So eingeschlossen in der Dunkelheit kommen die Erinnerungen an den Saatgut-Tresor fast von selbst. Die Erinnerungen an Erik, ängstlich und mit großen Augen in der unterirdischen Kammer. Dann die Stille und die Welt draußen, die in Trümmer zerfiel. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf das Rauschen des Regens.

*

Die Grasdecke ist aufgerissen, die Erde nass und klumpig. Sie schmatzt bei jedem Schritt und klebt schwer an meinen Stiefeln. Hinter einer Hügelkuppe entdecke ich ein Dorf. Ein abweisender Ort – ein Dutzend alter Steinhäuser, die sich in einem Tal zusammendrängen. Die Abgeschiedenheit und die höllischen Winter sind immer noch spürbar, und eine Weile lang stehe ich nur da und betrachte es von weitem.

Außer dem halbherzigen Rauschen des Windes durch die Bäume höre ich keinen Laut. Das Dorf selbst liegt so still und zusammengesunken da wie etwas Totes. Am äußersten Rand ist ein verbrannter Flecken Erde, der wie ein Fußabdruck aussieht. Wenn ich den Arm ausstrecke, kann ich den jämmerlichen Anblick mit der Hand verdecken.

Mir bleiben noch zwei Tage, bis mir die Lebensmittel ausgehen.

 

Als Teenager habe ich meine Mutter ein einziges Mal in meinem Zimmer erwischt. Den mit Blümchenstoff bedeckten Rücken der Tür zugewandt, kramte sie die geklauten Dinge in meinen Schuhkartons durch, hob sie ans Licht und legte sie achtlos zurück.

Daran erinnert mich mein Streifzug durch das Dorf. Ich öffne die Türen der Häuser, drinnen mache ich Schranktüren und die Kartons und Vorratsdosen auf. Bei jedem neuen Versteck, das ich dem Licht preisgebe, zuckt ein Teil von mir zurück. Überall fällt mein Blick auf Bücher oder Fotos oder verkümmerte Zimmerpflanzen – all die kleinen Dinge, die zu einem Leben gehört haben. Könnten Orte sich bewegen, würden diese hier vor mir davonhuschen wie Asseln, wenn man einen Stein umdreht.

Ich sehe mich nur so weit um, wie es nötig ist. In Gedanken versuche ich, die Häuser so zu zerlegen, wie ich ein Gerät in seine Bestandteile zerlegen würde, damit ich sie als Reihe möglicher Proviantlager wahrnehme, damit ich nur darauf achte, wo Vorräte sein könnten. Ich weiß nicht, wie gut mir das gelingt, aber das letzte Haus verlasse ich mit einer halben Tüte Haferflocken, einer Vorratsdose Linsen, mehreren Konserven und einer Schachtel recht guter Pralinen, die ich in eine Tüte schütte. Mein Rucksack ist schwer, aber ich konnte meinem Überlebenskalender ein paar Tage hinzufügen.

 

Ich folge einer holprigen Straße voller Schlaglöcher, einem besseren Feldweg, der am Fuß eines Hügels verläuft. An einem Bach, über den eine schmale Brücke führt, fülle ich meine Wasserflaschen. Als ich die Böschung hinaufklettere, klappern zwei der Konservendosen in meinem Rucksack gegeneinander.

Ein paar Kilometer weiter trifft mein aufgerissener Asphaltweg auf eine breitere Straße mit grasbewachsenen Seitenstreifen und unterbrochener Mittellinie. Ein Schild weist den Weg zu einer Stadt in der einen und einem Naturschutzgebiet in der anderen Richtung. Ich nehme einen Schluck aus meiner Flasche und wäge die Aussicht auf Essen und Obdach gegen mein Bedürfnis nach Leere und Weite ab. Eine Stadt könnte dasselbe bedeuten wie das Dorf, nur größer – ein unerträglicher leerer Raum übersät mit Hinterlassenschaften von »normalen Menschen«, wie meine Mutter sie genannt hätte: Menschen, die sich an Regeln hielten, die Familien und eine Gemeinschaft hatten, die sich so sehr an ihre sogenannten Liebsten klammerten, dass es sie am Ende umgebracht hat.

Ich denke an meine Eltern. Sie erinnern mich an zwei Satelliten, die getrennt voneinander derselben Umlaufbahn folgten. An Erik und sein verhängnisvolles Bedürfnis nach Berührungen will ich gar nicht denken. Wenn man vollkommen allein ist, fällt es leichter, die Menschen zu hassen, als sich nach ihnen zu sehnen.

Während des Kriegs und später während der Krankheit verließen sich die meisten zu sehr auf die Menschen, die ihnen nahestanden. Aber das Überleben hat seinen Preis. Immer. Man bezahlt es mit dem Alleinsein, damit, Freunde und Familie wie ein Krebsgeschwür aus seinem Leben herauszuschneiden und die Wunde zu verschließen. Und wer den höchsten Preis zahlt, überlebt am längsten – deshalb bin nur noch ich übrig, und deshalb muss ich weitergehen.

Ich schätze ab, wie schwer die neuen Vorräte auf meinem Rücken sind, und wende mich von der Stadt ab.

*

Mittlerweile überzieht Eis den Boden. Ich verlasse die Straße und überquere freie Flächen. Unter meinen Stiefeln knirscht das gefrorene Gras. Die Welt um mich herum ist weit und silbrig, wie auf dem Wintergemälde, das im Gästezimmer meiner Eltern hing. Um mich vor der Kälte zu schützen, verhülle ich mein Gesicht. Ich spüre sie in den Zehen und Fingerspitzen. Jeden Tag schlinge ich die Arme um mich und bin dankbar für meine Thermokleidung. Nachts lasse ich ein Feuer brennen und schlafe so dicht wie möglich davor.

Wenn meine Zehen taub werden, stampfe ich fest mit den Füßen auf, bis ich sie wieder fühle. Wenn meine Gedanken abschweifen, wenn die gewaltige menschenleere Weite an ihnen zerrt und sie in alle Richtungen verstreuen will, wenn der Wind im hohen Gras wie Eriks Stimme klingt, die durch den Saatgut-Tresor hallt – dann zähle ich meine Schritte. Ich konzentriere mich auf den Rhythmus, und das holt mich fast ins Hier und Jetzt zurück.

*

Früher galt für das Überleben die Dreier-Regel. Es hieß, ein Mensch könne drei Tage ohne Wasser, drei Wochen ohne Nahrung und drei Monate ohne Gesellschaft überstehen.

Nach zwei Monaten und einundzwanzig Tagen habe ich aufgehört zu zählen. Wann genau sich die Einsamkeit zu Wahnsinn auswachsen würde, wollte ich nicht mitbekommen. Ich wollte nicht wissen, wann ich endgültig verrückt wurde.

Vielleicht bin ich es jetzt. Vielleicht ist all das nicht real, ich sitze immer noch im Saatgut-Tresor fest und habe diese Welt selbst erschaffen. Ich glaube, eine solche Welt könnte nur meinem Verstand entspringen. Wenn ich die verfallenen Häuser sehe, die ihre Rohre und Leitungen und ihr ganzes Innenleben bloßlegen, glaube ich, dass niemand außer mir diese technischen Details erfinden könnte.

 

Als Kind hatte ich einen einzigen Freund. Harry Symmonds.

Er bastelte aus Zahnstochern kleine Modelle und weinte, wenn andere Kinder sie anfassten. Harry Symmonds, dem ich in der Schule einmal eine knallte – und der die Ohrfeige als Freundschaftsbeweis betrachtete und mir nach Hause nachlief.

Ich ließ ihn draußen auf der Treppe warten, bis meine Mutter es mitbekam und ich ihn hereinlassen musste.

»Zeig ihm oben deine Sammlung«, sagte sie.

Was ich tat, wenn auch unfreiwillig. Ich breitete die Drähte und Dübel und all die geklauten Dinge auf dem Teppich aus und warnte ihn, er solle ja nichts berühren. Seine großen Augen glänzten.

Damals hatte ich schon in der hinteren Hälfte des Gartenschuppens mein Museum gegründet: eine zufällige Sammlung alter Knochen von den umliegenden Feldern. Vor allem von Vögeln und kleinen Säugetieren, zum Teil blankgeputzt, zum Teil mit Moos bewachsen, jeder mit einem ordentlichen Kärtchen, auf dem das Datum und der Fundort vermerkt waren. Einmal stellte das Museum volle zwei Wochen lang eine tote Ratte aus, an deren Knochen noch das feuchte Fell und der Schwanz hingen. Als die Maden schlüpften, landete sie auf dem Müll.

Das Prunkstück der Sammlung war der Schädel eines Schafbocks: vollständig erhalten, wunderschön und edel mit gewundenen Hörnern, die an geflochtene Zöpfe erinnerten. Ich zeigte ihn Harry Symmonds, der ihn lange anstarrte und mit den Füßen über die schmutzigen Dielen scharrte. Anfassen durfte er den Schädel nicht.

Harry Symmonds, der sich von mir jede Gemeinheit gefallen ließ, ohne sich zu wehren, und mir vier Jahre lang nicht von der Seite wich. Ich schlug oder biss jedes Kind, das zu nahe kam, und weil ich ihn beschützte, ertrug er meine bösen Sticheleien. Als wir an die weiterführende Schule wechselten, wurde Harry Symmonds von allen ignoriert, und ich hatte mir wie ein Käfer eine rundherum harte Schale zugelegt. Ein-, zweimal sagten ein paar Jungs, Harry Symmonds sei mein fester Freund und ich sei hübsch, und dann johlten und pfiffen sie und taten, als wären sie verknallt. Dafür beschimpfte ich sie wüst. Als Robin Fell im Handwerksunterricht einen derben Witz übers Nageln machte, schlug ich ihm einen Nagel fein säuberlich durch die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger – anschließend stand Harry Symmonds mir bei und behauptete, Robin habe seine Hand aus Versehen selbst am Tisch festgenagelt.

Harry Symmonds, den ich weder mochte noch scheußlich fand, sondern tolerierte, weil mir das Denken leichter fiel, wenn jemand da war, mit dem ich reden konnte. Harry Symmonds, der schon damals bewies, dass man zu zweit leichter überlebt.

*

Heute Morgen habe ich einen Spatz begraben. Keine Ahnung, was mich dazu getrieben hat.

Er lag vor einem verwitterten, getünchten Bauernhaus am Fuß eines Bergs. Ich dachte, die Küche würde vielleicht etwas zu essen hergeben – stattdessen fand ich einen gedeckten Tisch mit zwei Teetassen, in denen grün-weißer Schimmel wucherte. Oben wehten klamme Gardinen vor einem offenen Fenster, und etwas Langes lag mitten auf dem Bett. Als ich das Zimmer betrat, schreckte ich die Krähen auf, die sich die zarten Stücke holten. Sie krächzten und flatterten und schlugen mit den Krallen nach mir, während ich hektisch zurückwich.

Ich band mir meinen Schal fest vor Nase und Mund, durchsuchte die leeren Küchenschränke und verließ das Haus.

Beim ersten Schritt auf die Straße trat ich auf etwas, das knackte. Ein Spatz – ein kleines gesprenkeltes Federbüschel auf dem nassen schwarzen Asphalt, das vergeblich versuchte, den Kopf zu heben und zu zwitschern. Ich hob ihn auf. Er war weich und fest wie ein Tennisball. Ein warmes, verängstigtes Bündel, das in meinen Händen zitterte.

Ende des letzten Jahrhunderts hat London in gerade einmal sechs Jahren drei Viertel seiner Spatzen verloren – eines der Dinge, die ich gelesen und aus irgendeinem Grund behalten habe –, und es war allen mehr oder weniger egal. Was machte da schon ein weiterer Spatz?

Aber es war, als hätte sich eine Wolke in meine Kehle gezwängt – ich konnte kaum atmen, meine Augen brannten. Ich sackte zu Boden und drückte diesen gewöhnlichen Vogel an die Brust.

Vielleicht lag es an seinem gebrochenen Flügel oder den streichholzdünnen herabhängenden Füßen unter seinem bebenden Bauch. Vielleicht lag es daran, dass ich zum ersten Mal seit Wochen etwas Lebendes berührte.

Mit einem Stein vom Straßenrand erlöste ich ihn von seinen Qualen, bevor ich ihn, so gut es ging, neben der Mauer begrub. Ich markierte die Stelle nicht – wer hätte sie finden sollen? Dann lief ich weiter Richtung Süden.

*

Als Kind begriff ich nicht, dass Menschen Berührungen, Begierde, fremde Körper brauchten oder wie diese Dinge unaufhaltsam in den Alltag einbrachen, bis sie jede Ebene ihres Lebens durchdrangen. Im Fernsehen und auf Bussen küssten oder umarmten Menschen sich oder berührten ihre eigene Haut. In den Zeitschriften meiner Mutter schlenderten Jungen mit Superheldenmuskeln in Badehosen am Strand entlang. Die Mädchen posierten in knappen Bikinis und taten, als nähmen sie die Kamera nicht wahr.

Als ich dreizehn war, schickte meine Mutter mich mit Geld für meinen Geburtstag in die Stadt. Ich stahl mich aufgekratzt und nervös in den Klamottenladen an der Hauptstraße. Überall waren Neonlicht und vollgehängte Kleiderständer, sie schienen von allen Seiten auf mich einzudrängen. Als eine Verkäuferin mit stark geschminkten Augen auf mich zutrippelte, schnappte ich mir den erstbesten Bikini, schlüpfte in eine Umkleidekabine und zog die Vorhänge fest zu, damit niemand hineinsehen konnte. Mit dem Rücken zum Spiegel zog ich mich um.

Ich weiß nicht mehr, was ich wollte. Ich kann mich nicht erinnern, was ich erwartet habe oder welcher Teil von mir die ganze Sache für eine gute Idee hielt. Ich weiß nur noch, dass ich ganz anders aussah als die Mädchen in den Zeitschriften meiner Mutter.

Das Oberteil hing flach vor meiner Brust. In den Zeitschriften hatten alle Frauen lange Haare, die ihnen über die Schultern fielen und ihrem Körper Kurven und gute Proportionen verliehen. Bei mir wirkte der Hals durch meine kurzen struppigen Haare zu lang, und alles war zu nackt. Meine Haut war blass und fleckig. Bei der Beleuchtung im Geschäft wirkte sie bläulich, nur mein Gesicht und die Arme waren von Sonne und Wind gerötet und wirkten beinahe wie abgetrennt. Die Bikinihose schnitt in die Leiste, was meine Oberschenkel betonte, sie sahen aus wie Äste, die zu dick in die falsche Richtung wachsen und mit Pfählen abgestützt werden müssen, damit nicht der ganze Baum umkippt. Die Schutzfolie auf dem Zwickel war hart und unangenehm und knisterte bei jeder Bewegung.

Ich kaufte den Bikini aus reinem Trotz. Zu Hause stopfte ich ihn in die Spalte hinter den Schubladen meiner Kommode, wo er mich meine Teenagerzeit hindurch verfolgte wie die Geister der Zeitschriftenmodels.

 

Einige der Jungen in der Schule kauften von ihrem Essensgeld mittlerweile Zeitungen mit Fotos von Frauen oben ohne. Am Ende wurden die Bilder in fremde Schließfächer gestopft, sie tauchten unvermutet in Übungsheften auf, oder jemand hielt sie einem auf dem Weg zum nächsten Klassenzimmer dicht vor die Nase und rief: »Du hast Titten im Gesicht!«

Ich machte mich klein, wich ihren Blicken aus. Ich sah mir keine Filme mehr an und ignorierte die Fotos der Models in den Schaufensterläden. Lernte, unter Menschen zu sein, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

*

Das offene Gelände wurde von einem Wald abgelöst. Nicht von einem schützenden Dickicht uralter Bäume wie in einer Abenteuergeschichte für Kinder, sondern von einer weitläufigen Kiefernplantage mit gleichmäßig verteilten Stämmen und einem dunklen, dick von Nadeln bedeckten Boden. Ich folge einem unbefestigten Weg, gerade breit genug für einen Geländewagen. Wahrscheinlich ist seit Jahren niemand mehr hierhergefahren. Nicht mehr, seit der Krieg britischen Boden erreicht hat und die Baubranche genau wie so viele andere zusammengebrochen ist. Jetzt verwildert der Wald. Farne und Schösslinge sprießen aus dem Boden, während sich Gras und Kräuter durch die nackte, verdichtete Erde der Fahrspuren schieben. Ein umgestürzter Baum mit morschen Ästen und kahlen Zweigen liegt schräg auf dem Weg. Ich klettere hinüber, nach ein paar Schritten bleibe ich stehen und zupfe die braunen Kiefernnadeln von meiner Kleidung und aus den Stiefeln.

Etwa anderthalb Kilometer weiter erreiche ich eine Lichtung. Sie ist nicht groß, nur ein verbreiterter Wegabschnitt. Vielleicht wurde sie früher als Ausweiche genutzt oder als Parkplatz. Aber durch die Lücke in den Bäumen wirkt die Luft frischer, und es fällt mehr Licht auf den Boden. Genau deshalb haben sie sich diese Stelle wahrscheinlich ausgesucht.

Auf dem Weg stehen drei Zelte nebeneinander, die Planen schlaff und zerrissen, die Stangen verbogen. Unter den Bäumen hinter ihnen stehen fünf verrostete Campingstühle um einen Steinkreis herum, der früher wohl eine Feuerstelle eingefasst hat. Hier draußen, fernab von jeglicher Zivilisation und den Grausamkeiten des Kriegs, als die Schutzzentren voll waren und ihre Tore schlossen, haben diese Leute sicher geglaubt, sie seien davongekommen. Die Krankheit würde sie hier nicht zu fassen kriegen, so weit entfernt von den Bomben, die den Erreger verstreuten, und den Menschenansammlungen, in denen sie sich ausbreitete.

Wie lange sie wohl hier waren, bevor sie begriffen, dass sie sich geirrt hatten? Haben Wildtiere die Krankheit zu ihnen gebracht? Oder hat sie einer von ihnen schon in sich getragen, als er herkam, wie ein Kabel unter Strom, das nur auf eine Berührung wartete? Vielleicht waren sie der Krankheit tatsächlich entkommen und sind am Ende verhungert.

Fünf Menschen, die alle Bequemlichkeiten ihres Zuhauses aufgegeben hatten, um zu überleben, aber nicht bereit waren, einander zu opfern. Die zu spät erkannten, dass eine fast vollständige Abschottung und ein minimalistisches Leben im Freien nicht ganz ausreichten, um sie zu retten.

Eilig passiere ich das Lager und halte dabei den Atem an, obwohl ich mir sage, dass es hier keine Erreger mehr geben kann. Erst nach mehreren Kilometern mache ich eine Pause. Werde ich mich retten können, indem ich immer weiterziehe? Meine Haare sind lang geworden. Sie fallen mir auf die Schultern und verfangen sich unter den Trägern meines Rucksacks. Seit Monaten besitze ich keine Haarbürste mehr, und meine Kopfhaut juckt. Ich könnte versuchen, sie zu schneiden, aber durch Haare werden Klingen stumpf, und ich brauche ein scharfes Messer. Stattdessen schneide ich ein Stück Schnur ab und binde meine Haare im Nacken zu einem dicken Knoten zusammen. Das muss vorerst reichen.

*

Ich war acht, als ich mir zum ersten Mal die Haare schnitt. Während meine Mutter telefonierte, klaute ich die Küchenschere und schloss mich im Bad ein. Nachdem ich den Handspiegel hinter die Armaturen der Badewanne geklemmt hatte, zog ich mich bis auf die Unterhose aus und setzte mich in die leere Wanne. Ich schnitt dicht an der Kopfhaut entlang, die Haare fielen und blieben in den Körperfalten hängen. Einmal verletzte ich mich an der Ohrmuschel, Blut lief mir über den Hals, es floss wie bei einer Kopfwunde – und ich drückte Toilettenpapier darauf und griff wieder zur Schere. Ich schnitt unbeirrt weiter, weil ich es auf jeden Fall zu Ende bringen wollte. Ich säuberte mich, zog mich an und warf die toten Haare in den Abfalleimer.

Erst dann erkundete ich meinen neuen Kopf. Mit den Fingerspitzen ertastete ich seine Konturen. Er fühlte sich kalt an und anders als erwartet. Im Spiegel sah ich, dass mein Schädel nicht rund war, wie ich immer geglaubt hatte, sondern voller kleiner Höcker und Vertiefungen, er glich einer Landschaft. Zum ersten Mal fand ich einen Teil von mir schön.

Meine Mutter kreischte, als sie mich sah. Ihre Hand flatterte hoch zur Brust wie ein erschreckter Vogel, und sie keuchte. »Oh, Monster!«, jammerte sie. »Was hast du gemacht?«

Ich fuhr mir mit der Hand über den wunderschönen Kopf.

Am Abend saß ich oben vor meiner Sammlung, hörte die Stimmen meiner Eltern durch den Dielenboden dringen und versuchte, aus der Platine, die ich aus dem Müllcontainer der Schule gezogen hatte, schlau zu werden.

 

Als ich am nächsten Morgen in die Küche kam, begrüßte mein Vater mich mit einem matten Lächeln, und meine Mutter knallte Löffel und Frühstücksschälchen auf den Tisch. Sie schürzte die Lippen, sagte aber kein Wort. Sie schwieg immer noch, während sie das Müsli wegräumte und mich zur Schule fuhr, Augen und Lippen missbilligend zusammengekniffen.

Die Kinder in meiner Klasse lachten natürlich, aber Kinder sind ja auch Idioten. Ich ignorierte sie, und bald wurde es ihnen zu langweilig. Sie wandten sich wieder ihren Spielen und Glitzerstiften zu, und ich saß neben Harry Symmonds und faltete Papiermodelle.

*

Ich denke an all die Menschen, die ich jemals gekannt habe. Jeden Tag fällt mir jemand anders ein, als wären sie in mir gehortet wie Bücher in einer Bibliothek, die nur darauf warten, dass mein Verstand seine Wahl trifft. Es ist erschreckend, wie vielen Menschen man in seinem Leben begegnet.

Gestern habe ich an die Chefin des Straßencafés gedacht, in dem ich einen Sommer lang gearbeitet habe. An ihren Namen kann ich mich nicht erinnern. Sie hatte eine ausdruckslose, schrille Stimme, wie eine Gabel, die über einen Teller kratzt, und bediente sich immer an dem Tisch mit dem aussortierten Gebäck. Ich höre noch, wie sie an ihren Fingern saugte und leckte, wenn sie sich zerbrochene Kekse in den Mund steckte.

Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich an Joe denke. Joe war der Hausmeister unserer Schule. Wenn meine Mutter sich mit dem Abholen verspätete oder ich die Pause nicht draußen bei den anderen Kindern verbringen wollte, saß ich mit Joe in seinem Büro und trank starken Tee.

Mein Vater hätte sich unter einem Büro etwas anderes vorgestellt – in dem Raum gab es weder Computer noch hohe Papierstapel oder verkümmerte Topfpflanzen. Joes Büro war eine Werkstatt, ein Wald aus Regalen und halbreparierten Elektrogeräten. An den Wänden hingen Werkzeuge wie Kunststücke, und der einzige Computer war ein Acorn Archimedes vom Schrott, an dem er seit zwanzig Jahren bastelte. Joes Pullover waren an komischen Stellen ausgebeult, weil er sie mit Klammern an die Wäscheleine hängte, und aus seinen Ohren und seiner Nase wuchsen graue Haarbüschel. Dafür konnte er einen Sicherungskasten mit verbundenen Augen in dreiundzwanzig Sekunden zusammensetzen.

Als ich sprechen lernte, saß ich oft bei meinem Vater auf dem Schoß und zählte alle Menschen auf, die ich kannte: Mummy, Daddy, Monster, Ganny, Alfie, Joan. Ich nannte die Namen immer wieder und steckte mit ihnen die Grenzen meiner kleinen Welt ab.

Als ich älter wurde, war meine Welt so groß, dass ich mich nicht an jeden erinnern konnte, selbst wenn ich es versuchte. So viele Menschen und Orte aus meinem Leben sind in meinen Gedanken verschollen.

 

Wenn mein Kopf so kalt wird, dass sich mein Gesicht taub anfühlt, liste ich alles auf, an das ich mich erinnere. Ich knüpfe eines an das andere, wie die Stufen einer Leiter. Wenn ich hinunterklettere, fällt mir manchmal etwas ein, das ich völlig vergessen hatte.

Es gab ein Zitat – ich weiß nicht mehr, von wem es war, es geisterte durchs Internet, versehen mit einem Schwarzweißfoto und einer ausgefallenen Schriftart –, dass die Geschichte nur eine Reihe von Lügen sei, auf die man sich geeinigt habe. Jetzt muss sich niemand mehr einigen. Jetzt gehört alles mir.

 

Woran ich mich erinnere:

Ich erinnere mich daran, dass die Normannen 1066 die Schlacht bei Hastings gewonnen haben – aber ich weiß nicht, was das noch bedeutet, weil es keine Könige, keine Ortsnamen, keinen Kalender mehr gibt.

Ich erinnere mich an meinen fünften Geburtstag mit dem Kuchen, der wie ein Löwe aussah.

Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter am neunten Oktober Geburtstag hatte.

An ihre Finger, die über den Tasten des ewig verstimmten Klaviers schwebten.

Daran, wie es war, wenn ich jemanden im Nebenzimmer hörte – an die leisen Geräusche und stillen Momente, die einem sanften Herzschlag glichen.

Ich erinnere mich an Bahnhöfe zu Stoßzeiten.

Ich erinnere mich daran, wie zusammengedrängt die meisten Menschen lebten, daran, dass man nie genug Platz hatte.

Ich erinnere mich an Satelliten. Manchmal auch daran, dass sie noch über mir sind, Metall und Schrauben und Drähte, die ihren Umlaufbahnen folgen.

Ich erinnere mich an die Zeitkapsel, die ich im Schulgarten vergraben habe, verschlossen in einer Tupperdose, damit keine Würmer hineinkamen.

An Luke Denham, der in der Schule neben mir saß und ein Muttermal auf dem Nasenrücken hatte und dessen Vater sechs Jahre in Folge den Dart-Wettbewerb in unserem Dorf gewann.

Daran, dass Luke Denham sich immer mit dem Pulloverärmel die Nase abwischte.

Ich erinnere mich an die Augenbrauen meines Vaters, die wie Raupen aussahen.

Ich erinnere mich an Gesichter – daran, dass zierlich und symmetrisch als schön galt und das Ungewohnte als hässlich.

Ich erinnere mich an Eriks Gesicht, an das lange quälende Warten, den schrecklichen Hunger in seinen Augen. Ich erinnere mich an seine hilflose Verzweiflung.

Dann versuche ich, mich nicht mehr zu erinnern.

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Manchmal kommt es mir vor, als würde mich jemand beobachten. Wenn ich schlecht schlafe, wache ich mit dem Gefühl auf, eine Hand würde meine Schulter drücken und ich müsste mich umdrehen und nachsehen. Ich stelle mir den ganzen Tag lang Augen vor – unzählige, starrende Augen, die meinen Weg auf den Trampelpfaden verfolgen oder mich aus den Hecken heraus anstarren. Ihre Blicke lasten auf mir wie die Geister all der Menschen, die durch den Krieg und die Krankheit gestorben sind, wie die Geister meiner Eltern oder der Geist von Erik mit seinen blauen Augen. Ich habe nie an Geister oder ein Leben nach dem Tod geglaubt, trotzdem wirbeln sie um mich herum wie eine Meeresströmung, sie zerren an mir, als hätte ich sie verraten, weil ich überlebt habe. Nachts träume ich vom Tresor.

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Der Saatgut-Tresor ragt wie eine Klinge aus Metall und Beton aus dem Permafrost. Starrt man ihn zu lange an, beginnen die Augenlider wegen des funkelnden Schnees und der Sonne auf dem spiegelnden Stahl zu flattern. Als ich ihn zum ersten Mal sah, erschien er mir wie ein vollkommener Teil dieser eisigen Welt, als das letzte Puzzlestück, das plötzlich das ganze Bild zum Vorschein bringt.

Im Innern ist es anders. Hinter den wuchtigen Türen spiegelt nichts die Anmut der Landschaft wider. Das Gebäude entblößt sein technisches Innenleben, es ist eine graue und weiße Welt aus Röhren und Leitungen, Beton und Wellstahl und einem langen, kalten Tunnel, der zum Tresor führt.

Als Kind habe ich mir Tresore als sagenhafte Orte vorgestellt, als Verstecke für geheime Dinge, angefüllt mit schimmernden Schätzen wie das Grab Tutanchamuns. Orte, die nur darauf warteten, dass jemand in sie einbrach.

Der Saatgut-Tresor hat nichts von einer Schatzhöhle an sich. Eher wirkt er wie ein Lagerhaus: Auf Metallregalen stapeln sich Hunderte identischer schwarzer Plastikbehälter. Er ist ein Ort, der von Ordnung und Zweckmäßigkeit bestimmt wird. Ein Ort, über den die Zeit keine Gewalt hat, in dem alles zum Stillstand kommt. Ein Ort, an dem man den Weltuntergang abwartet.

 

Ich wurde zwei Jahre vor dem Letzten Herbst in den Saatgut-Tresor versetzt, als die sterbende Menschheit noch an eine Heilung von der Krankheit glaubte, bevor die Schutzzentren schlossen und alle vor ihren Toren dem Tod überließen. Als der Tresor noch ein wissenschaftliches Projekt und kein militärisches Ziel war, als die Menschen noch glaubten, sie könnten um ihre Zukunft kämpfen.

Ich stieg aus dem Flugzeug und wurde von schneidend kalter Luft umhüllt. Trotz der arktischen Sommersonne biss sie mir sofort in die Finger, weil ich keine Handschuhe trug. Ich blieb am oberen Ende der Treppe stehen und betrachtete diese Welt aus Stein und Beton.

Am Eingang des Flughafenterminals wartete ein blonder Mann mit einem selbstbeschrifteten Pappschild, auf dem nur MEKANIKER stand.

Damit war ich gemeint. Die Frau, die Sachen reparieren sollte.

Ich ging zu ihm und streckte ihm die Hand entgegen. »Monster.«

»Was?« Sein Akzent war schneidend, wie ein Eissplitter.

»Monster«, wiederholte ich. »Mein Name ist Monster.«

»Monster? Was, wie ein Monster?«

»Ja. Und du?«

»Oh.« Er klemmte sich die Pappe unter den Arm und schüttelte meine Hand. »Alles klar. Ich bin Erik.«

»Erik.«

»Biologe«, sagte er, »oben im Tresor.«

Der Tresor. Später fand ich heraus, dass Erik nicht an Gott glaubte und von Religion und Spiritualität nichts hielt. Aber wenn er über den Saatgut-Tresor sprach, klang es, als habe er ein höheres Ziel gefunden, nach dem er sein Leben ausrichten konnte. Er widmete sich ganz dem Tresor. Den Bestand zu katalogisieren war Eriks Rosenkranz. Fehlende Pflanzensorten anzufordern war seine Form des Gebets und der Tresor selbst seine Kirche.

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Früher sagten die Leute, Wandern sei gut für die Seele, Kilometer um Kilometer zu gehen würde den Körper in einen Rhythmus versetzen, der den Verstand für das Unbewusste öffne, und all so ein Mist.

Ich habe zu viele Tote gesehen, um an eine Seele zu glauben. Weiterzugehen ist nur für eines gut, nämlich für das Überleben. Einen von Blasen geplagten Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt den Tag überstehen.

Ich wache auf, ich esse, manchmal wasche ich mich, ich packe meinen Schlafsack ein, wärme mir die Hände am fast erloschenen Feuer, bandagiere meine Füße, schnüre meine Stiefel zu, setze meinen Rucksack auf und gehe los. Ich gehe, bis ich die Schmerzen in meinen Füßen nicht mehr ignorieren kann. Dann setze ich mich, ziehe die Stiefel aus, ruhe mich ein wenig aus, verarzte meine Füße neu, schnüre meine Stiefel wieder zu und gehe weiter. Unterwegs meide ich die Städte, die größtenteils unversehrt und gespenstisch leer sind, nachdem die Krankheit wie ein verzehrendes Feuer durch sie hindurchgefegt ist. Nur Häuser und die Habe der Menschen sind noch übrig. An den Ortsrändern zeigen schwarze Stellen auf dem Boden, wo die Toten verbrannt wurden.

Ein paarmal komme ich an ausgebombten Orten vorbei. Sie liegen verstreut da wie unbeachtete Puzzleteile. Hier und da ist eine Straße oder eine Reihe von Geschäften erhalten geblieben. Sie meide ich auch. Als der Krieg alles verknappte, wurden die Orte, die ihn überstanden, zu einem begehrten Ziel der Plünderer. Bei den Menschen, die mit ihnen überlebten, brachte der Kampf gegen den unvermeidlichen Untergang ihre schlimmste Seite zum Vorschein.

Nach wie vor durchkämme ich nur die kleinsten Dörfer. Selbst sie verlasse ich so schnell wie möglich und immer, bevor es dunkel wird.

Sobald es abends dämmert, suche ich einen Unterschlupf, entzünde mit allem, was ich finde, ein Feuer, esse, was ich habe oder leicht beschaffen kann, verkrieche mich in meinen Schlafsack und schlafe. In meinen Träumen laufe ich immerzu. Sie haben einen Rhythmus angenommen, ein ständiges Eins-zwei-eins-zwei.

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Diese Dinge lerne ich über das Gehen:

Beim Gehen kommt es genau wie beim Laufen darauf an, das richtige Tempo zu finden. Ist es zu zügig, wird man schnell müde und mutlos. Trödelt man zu sehr, kann einem die Reise schwer im Magen liegen.

Man durchquert ein Gebiet nicht. Man spürt, wie es unter einem hinwegzieht, als würde man bei jedem Schritt die Füße in den Boden stemmen und die Erde weiterdrehen, wie beim Balancieren auf einem riesigen Ball.

Man geht nicht mit seinen Füßen. Man geht mit seinen Stiefeln. Mit schlechten Stiefeln fällt das Gehen schwerer.

Wenn man zu Fuß unterwegs ist, nimmt man die kleinen Dinge wahr. Man bemerkt die Farben und Formen und jede Bewegung in der Nähe, von Grashalmen über Vögel bis zu den Tieren, die durch das Unterholz huschen, und so wird einem die Umgebung vertraut.

Das Gehen auf ebenen Straßen ist zu einfach. Dabei denkt man zu viel.

In unwegigem, steinigem Gelände kann man seinen Gedanken entkommen.

Nasse Schuhe hängen wie Blei an den Füßen.

Mit vollem Magen zu gehen fühlt sich an, als wäre man krank.

Mit leerem Magen zu gehen ist schlimmer.

Schritte verursachen nicht nur an der Stelle, an der ein Stiefel auf den Asphalt trifft, ein Geräusch, man hört sie auch im eigenen Kopf. Sie klingen nach wie ein Orgelton in einer Kathedrale.

Selbst wenn man am Körper schwitzt, bleiben die Fingerspitzen kalt.

Füße können gleichzeitig heiß und kalt sein.

Hat man sich die Haut aufgescheuert, erinnert jeder Schritt an alles, was in der Welt kaputt ist. Ich kann mir die Nachrichten aus dem Krieg vorstellen – das Bildwackeln, wenn Druckwellen auf die Kameras zurasten, die Auswirkungen der mit Erregern bestückten Sprengkörper, festgehalten auf zittrigen Handyvideos, auf den Gehwegen Menschen mit leerem Blick und den bläulichen Verfärbungen, die sich von den Lippen her ausbreiteten, die offenen Münder und fassungslosen Mienen, dass es hier passieren konnte, in diesem Land, in den Vororten und Dörfern, auf den von Läden gesäumten Hauptstraßen. Bei jedem Gedanken an die Krankheit fällt mir jemand anders ein, der gestorben ist. Nach besonders schlimmen Nächten wache ich zitternd auf.

Jeden Tag, an dem ich weitergehe, fällt es mir gleichzeitig leichter und schwerer aufzubrechen.

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Meine Eltern lebten in einem mittelgroßen Haus neben der Kirche eines mittelgroßen Dorfs umgeben von Feldern. Es war Bauernland, wenigstens vor dreißig Jahren noch, aber meine Eltern waren keine Bauern.

Meine Mutter arbeitete unter der Woche nachmittags im Dorfladen. Sie brachte meinem Vater nicht verkaufte Ausgaben der Racing Post mit, und er saß dann abends lange in seinem Sessel, analysierte die Quoten, rechnete sich aus, welches Pferd gewinnen könnte, welchem dieser oder jener Boden eher lag und bei welcher Wette am meisten herausspringen würde. Tatsächlich gewettet hat er nie, soweit ich weiß.

Tagsüber war er Buchhalter. Er arbeitete in der Stadt in einem kleinen Büro ohne Heizung, und an Winterabenden verdiente er für uns nebenbei ein wenig Geld, indem er für die wenigen verbliebenen Bauern im Dorf die Steuererklärungen erledigte. »Damit wir uns mal was Schönes gönnen können«, sagte er. Sobald der Herbst anbrach, tauchten vor unserer Tür abends Bauern oder ihre Frauen auf, mit Plastiktüten voller Quittungen und bündelweise zusammengeschnürten Kontoauszügen. Mein Vater breitete alles auf dem Küchentisch aus und versuchte, eine Ordnung zu erkennen, bis meine Mutter wütend wurde und ihn mit dem ganzen Durcheinander ins Gästezimmer verbannte.

Wenn die fahlen Frühlingsabende zurückkehrten, waren die Unterlagen aus dem Haus verschwunden, und mein Vater widmete sich wieder seinen Wettquoten. Ich