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Martin lebt zusammen mit seiner Mutter und seinem Opa in Sprindt, nahe Insterburg in einem Siedlungshaus mit großem Garten nahe der Insterwiesen. Zum Ende des Krieges wurde das Flüchtlingsmädchen Ursula bei ihnen einquartiert. Martin zeigt ihr seine Heimat und sie verleben eine schöne Zeit bevor die Front immer näher kommt und alle fliehen müssen. Die Rahmenhandlung ist fiktiv. Sie dient dazu, dass der Autor - welcher deutliche Ähnlichkeit mit Martin hat - seine Liebe zu seiner damaligen Heimat in vielen kleinen Details beschreiben kann. Der Titel: "Mein Ostpreußen" bedeutet, dass es dem Autor ausschließlich um seine persönlichen Eindrücke geht.
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Seitenzahl: 307
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Ich schrieb dieses Buch, um noch oft, wenn auch nur in Gedanken, in meine damalige Heimat zurückkehren zu können. Wer mich dabei begleiten will, sei eingeladen!
Meine nach Möglichkeit auf den Tag genau geschilderten Erlebnisse habe ich auf die Personen Ursula und Martin übertragen. Das Mädchen wurde dabei zu der Verkörperung alles Guten, wie ich es gerade damals, in dieser schlimmen Zeit erfuhr.
Das beschriebene Geschehen liegt nun schon mehr als 40 Jahre zurück, hat aber nichts von seiner Bedeutung verloren, wenn es dazu beitragen kann, uns den Frieden zu bewahren.
Hamburg, im Jahre 1986
Räder müssen rollen für den Sieg! Diese Parole hatten Hitlerjungen in großen Buchstaben an einem Hügel, gut einsehbar von der Bahnstrecke Berlin - Königsberg, in den Neuschnee getreten. Nun fielen die letzten Strahlen der Abendsonne des 28. Januar 1944 darauf. Der Himmel war klar und versprach eine frostige Nacht.
Aus der Reichshauptstadt kommend näherte sich ein Zug. Er wurde von einem „Halt“ zeigenden Signal gestoppt. Seine Räder kamen zum Stehen, und die immer länger werdenden Schatten der Wagenreihe überdeckten schließlich die Schrift. Noch bevor das Signal wieder die Strecke freigab, kroch die Dunkelheit heran und verschlang Parole und Bahn.
Die Abteile des Zuges waren überwiegend mit Soldaten besetzt, die in dem nun schon mehr als vier Jahre dauernden Krieg langersehnten Heimaturlaub erhalten hatten. Jetzt fuhren sie zu ihren Einheiten an die Ostfront zurück. Die Männer sprachen kaum, aber schliefen nicht. Im spärlichen Licht der Verdunkelungslampen konnte man hin und wieder das Aufglimmen einer Zigarette sehen. In ihrer Urlaubszeit hatten sie gehört und erlebt, wie der Luftkrieg auch die Heimat immer mehr zur Front werden ließ. Nun nahmen sie die Sorge um ihre Lieben daheim als drückende Last in ihre Einsatzorte mit.
In einem der Abteile saß auf einem Fensterplatz ein Junge. Martin war 15 Jahre alt. Er versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Nun schob er den Fenstervorhang etwas zur Seite und preßte seine Stirn gegen das beschlagene Glas. Die Kälte der Nacht, die durch die Scheibe drang, tat gut, aber die Gedanken an den Tod seiner Eltern verscheuchte sie nicht. Der Junge blickte hinaus in die Dunkelheit. Nirgends sah er ein tröstendes Licht.
Seit den frühen Morgenstunden war Martin unterwegs. Sein Patenonkel hatte ihn in einem Vorort seiner Heimatstadt zur Bahn gebracht. Von dort wurden nach den schweren Luftangriffen Ende Juli die Fernzüge nach Berlin eingesetzt. Es war Mittag, als der Junge über Wittenberge auf dem Lehrter Bahnhof in der Reichshauptstadt eintraf. Er hatte damit die erste Umsteigestation seiner weiten Reise erreicht.
Für ihn als Großstadtkind hätte es leicht sein müssen, selbst in einem fremden Ort über dessen Schnellbahnnetz zum Schlesischen Bahnhof zu gelangen, aber der Luftkrieg hatte gerade in den letzten Monaten auch Berlin schwer heimgesucht. Martin atmete erleichtert auf, als er dann doch noch den Anschlusszug nach Tauroggen bekam.
Sein Ziel war das kleine ostpreußische Städtchen Insterburg, in dessen Vorort Sprindt der verheiratete Bruder seines Patenonkels lebte. Grafs, die er seit dem Kriegsausbruch nicht mehr gesehen hatte, boten ihm dort ein neues Zuhause an.
Noch immer fuhr der Zug durch die Nacht und erreichte schließlich Küstrin. Der Stationsname ließ sich bei der schwachen Beleuchtung nur erraten, die Stimme des Ausrufers war jedoch in der Stille gut zu verstehen. Eine Pumpe an der Lokomotive verursachte dann lange das einzige Geräusch, bis irgendwo Türen schlugen, und die Fahrt mit Verspätung weiterging.
Hinter Schneidemühl begannen Eisblumen auf dem vorher beschlagenen Fenster zu erblühen. Draußen musste es noch kälter geworden sein. Martin lehnte seinen Kopf an die Abteilseitenwand. Was nützte das Grübeln und in die Dunkelheit Schauen? Dadurch beschwor er doch nur die schrecklichen Bilder, die ihn seit dem Tode seiner Eltern verfolgten, aufs neue hervor. Gerade davor aber hatten ihn die Ärzte nach seiner Schockbehandlung in der Klinik gewarnt. Bewusst kämpfte der Junge gegen die ihn belastende Erinnerung an, bis ihm die Müdigkeit nach diesem langen Tag zu Hilfe kam. Schon im Einschlafen spürte er noch, wie der neben ihm sitzende, fremde Soldat fast väterlich seinen Militärmantel um ihn schlug.
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Heute früh hatte Herr Graf sein Patenkind zum Zug gebracht. Nun fuhr er mit einer Nebenbahn in das weit außerhalb der Stadt am Fluss liegende Kraftwerk zurück. Er war als Maschineningenieur der Leiter des Werkes und wohnte auch dort. Familie besaß er nicht.
Es war windstill und nicht sehr kalt. Die Sonne schien auf den nachts reichlich gefallenen Schnee und tauchte die Gegend in freundliches Licht. Aber Herr Graf nahm das alles kaum wahr. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Jungen zurück.
Seine langjährige Freundschaft mit dessen Vater, dem Elektroingenieur im Werk, hatte zu der Patenschaft geführt. Als der Polenfeldzug begann, bewahrte die Aufgabe der beiden Männer diese zunächst vor dem feldgrauen Rock. Später, nach dem Fall von Stalingrad, als Goebbels den totalen Krieg ausrief, wurde jedoch auch Martins Vater Soldat.
Für den technisch interessierten Jungen änderte sich dadurch vieles sehr. Die Quelle, aus der er sein Wissen geschöpft hatte, war nun versiegt. Zwar besuchte er manchmal seinen Patenonkel im Werk, aber für die anschaulichen Erklärungen seines Vaters war das nur ein geringer Ersatz. So hatte sich Martin auch aus diesem Grunde sehr auf dessen Urlaub im Dezember 1943 gefreut.
Was am Tag nach Vaters Urlaubsantritt geschehen war, musste sich Herr Graf von Martins Nachbarn und den ihn behandelnden Ärzten erfragen. Der Junge sprach nicht darüber, selbst nicht, als es ihm wieder besser ging.
Martin hatte den am nächsten Vormittag erfolgten Luftangriff in der Oberschule seines Wohnortes erlebt. Als die Schüler den schützenden Keller verlassen durften, lag dunkler Rauch über mehreren Teilen der Stadt. In solchen Situationen fiel der weitere Unterricht aus, damit die Kinder sich zunächst Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen beschaffen konnten.
Auch Martin war nach Hause geeilt. In dem von Sprengbomben getroffenen Reihenhaus seiner Eltern fand man ihn später völlig verstört in den Schlafräumen des Obergeschosses. Seine Mutter hatte man während des Angriffes nicht in dem Sammelschutzraum am Ende der Straße vermisst, da sie oft beim Roten Kreuz im Bahnhofsdienst aushalf. Auch wusste keiner der Nachbarn, dass ihr Mann bereits seit dem Vorabend bei ihr war. Beide Eltern waren nun tot.
Herr Graf hatte Martin, so oft es sein Dienst und die außerhalb der normalen Arbeitszeit schlechten Zugverbindungen zuließen, im Krankenhaus besucht. Die ersten Male war der Junge kaum ansprechbar, wenn er nicht sogar die Besuchszeit verschlief. Das Begräbnis seiner Eltern, das Weihnachtsfest und auch den Beginn des neuen Jahres erfasste er nur in einer Art Dämmerzustand. Endlich hatte dann aber doch die ärztliche Kunst, vielleicht unterstützt von der Zeit, über Martins Krankheit gesiegt. Seine Entlassung kam ins Gespräch.
Herr Graf sah die zukünftige Bleibe seines Patensohnes bei ihm im Werk. Bestimmt würde er ihm ein guter Ersatzvater sein! Der Chefarzt jedoch widersprach. So schrieb der enttäuschte Mann noch am selben Tag seiner ostpreußischen Schwägerin und bat diese, Martin zu sich zu nehmen.
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Die Nacht im Zug verging. Bis zum Morgengrauen hatte dieser den ehemaligen Polnischen Korridor durchfahren sowie die großen Brücken bei Dirschau über die Weichsel und bei Marienburg über die Nogat passiert. Elbing war die nächste Station. Kalte, würzige Winterluft strömte durch das herabgelassene Fenster und verdrängte im Abteil den immer stickiger gewordenen Zigarettenqualm.
Auf der Weiterfahrt erlebte Martin, wie sich im Südosten der leichtverhangene Himmel durch langsam heller werdendes Licht von dem schneebedeckten Land abzuheben begann. Raureif lag auf den die Strecke begleitenden Telegrafendrähten und dem in der weiten Ebene vereinzelt stehenden Gebüsch. Ein einsames Gehöft inmitten einer Baumgruppe glitt in der Ferne vorbei. Aus dem Schornstein des Wohnhauses stieg Rauch steil in den windstillen Tag empor.
Nun durchquerten die Schienen einen tiefverschneiten Wald, hinter dem die Sonne als rotleuchtende Scheibe emporzusteigen begann. Sie tauchte zuerst die Wolken, dann die Wipfel und schließlich alles Weiß in ihre Pracht.
Dann sah man auf der Gangseite des Abteiles in der Ferne als riesige, eisbedeckte Fläche das Frische Haff. Der Junge verließ seinen Platz und blickte über das erstarrte Wasser hinweg. Ob ganz hinten am Horizont die Nehrung lag?
Noch begriff er dieses Land mit seiner endlos scheinenden Weite, seinem klaren Licht und seinen geheimnisvollen Wäldern nicht, aber alles, was er jetzt in sich aufnahm, vertrieb in ihm immer mehr die düsteren Schatten der stundenlang durchwachten Nacht. Gegen Mittag fuhr der Zug dann in Ostpreußens Hauptstadt Königsberg ein.
Im Sommer 1939 hatte Martins Mutter ihn am Schluss der großen Ferien von Grafs nach Hause geholt. Auf der Rückreise machten sie hier Station. Es war ein sonnendurchglühter Tag Ende August. Sie hatten einen ausgiebigen Stadtbummel gemacht und manche Sehenswürdigkeit besucht. Martin schien damals, dass Königsberg seiner Heimatstadt ähnlich sei. Der Hafen war fast wie bei ihnen zu Hause und auch dessen langer Wasserweg ins offene Meer. Auf seine Fragen danach gab seine Mutter ihm aber nur unter Vorbehalt Recht. Die wechselvolle Geschichte, die diese Stadt im Grenzland geprägt hatte, besaß seine Heimatstadt nicht.
Abends hatten sie dann müde von dem Erlebten ihre Reise fortgesetzt. Die Kühle der Nacht war wohltuend. Bei der Fahrt durch den Korridor schlief Martin schon fest. Erst kurz vor Berlin wurde er von seiner Mutter am nächsten Morgen wieder geweckt. Ganz deutlich erinnerte er sich jetzt an die so weit zurückliegende unbeschwerte Zeit.
Bald danach kam der Zug um Stunden verspätet in Insterburg an.
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Für Frau Graf in der Bismarckstraße 126 in Sprindt hatte der Briefträger heute zweimal Post. Mühsam stapfte er mit seinem Schäferhund durch den tiefverschneiten Vordergarten des Siedlungshauses und klingelte an der sonst nur von Fremden benutzten Tür. Zwar gab es auch den bequemeren, schneegeräumten Hintereingang durch die Veranda, aber dieser wurde von dem als Amtsperson in Uniform erscheinenden Postboten wohl absichtlich übersehen. Frau Graf öffnete ihm, wobei etwas von der draußen liegenden, weißen Pracht auf den sauberen Fußboden des Treppenhauses fiel und dort zu Wasser zerrann. Jedoch das kleine Übel bemerkte sie kaum, wichtig war jetzt allein der unfrankierte Feldpostbrief. Das Datum auf dem Stempel über Adler und Hakenkreuz lag nur drei Tage zurück. Da hatte ihr Mann noch gelebt und konnte ihr schreiben. In dieser unheilvollen Zeit war das ein wirklicher Grund zum Freuen! Zwar sagte die immer kürzer werdende Laufzeit der Ostfrontpost noch etwas Anderes, Bedrohliches aus, aber daran dachte Frau Graf jetzt nicht und las.
Danach öffnete sie den zweiten Brief, der aus dem Reich gekommen war. Die Freude in ihrem Gesicht erlosch, als sie in dem Bericht ihres Schwagers das Schicksal dessen Patenkindes erfuhr. Frau Graf erschrak. Würde sie der ihr angetragenen Aufgabe gewachsen sein, sie allein ohne ihren Mann? Aber wenn sie ablehnend antworten würde, käme Martin wie auch andere Kriegswaisen bestimmt in irgendein nazistisch geführtes Heim, denn Verwandte besaß er nicht.
Frau Graf musste an Martins letzten Ferienaufenthalt hier vor dem Krieg zurückdenken. Diesmal würde das kein zeitlich begrenzter Besuch sein. Sicherlich würde der elternlose Junge bis zu seiner Selbständigkeit viele Jahre bei ihnen bleiben. Günstigstenfalls bekäme sie vielleicht in ihm einen Sohn und Ursula das manchmal ersehnte Geschwisterkind. Jedoch gewiss war das nicht. Was sollte werden, wenn Martin sich in ihrer Familie nicht einleben konnte? Die jetzt von ihr erwartete Zusage würde später nur schwer korrigierbar sein!
Sie stellte sich den Jungen von damals vor. Er war wie Ursula ein Einzelkind, aber offenbar viel derber als diese. Heimweh hatte er nicht gekannt, obgleich er oft von seinen Eltern sprach. Die beiden fast gleichaltrigen Kinder hatten gut miteinander gespielt. Auch zu dem Opa, ihrem Vater, hatte er wissbegierig und geschickt schnell Kontakt bekommen und ihm viel in dessen Werkstatt helfen dürfen.
Martin war damals ein unkomplizierter, gut zu leidender Junge gewesen. Sicher würde er das auch jetzt noch sein. Jedoch, was war mit ihm beim Tod seiner Eltern geschehen? Ihr Schwager schrieb von einem erlittenen Schock und einem danach erforderlich gewordenen Klinikaufenthalt. Auch hatte man Martin deshalb für ein ganzes Jahr von jedem vormilitärischen Einsatz befreit. Wie schlimm es da um ihn stehen musste! Frau Graf beschloss, den Waisenjungen in ihre Familie aufzunehmen und war sich dabei auch der Zustimmung ihres Mannes gewiss.
Um die Mittagszeit kam Ursula mit dem Obus aus dem Insterburger Lyzeum heim. Ihre Mutter hatte heute noch häufiger als sonst nach ihr durch das Küchenfenster Ausschau gehalten. Nun hörte sie noch bevor die Verandatüre ging wie die Fünfzehnjährige auf der Außentreppe zum Hof mit Gepolter den Schnee von ihren Schuhen abtrat. Gleich danach stand das Mädchen mit einem frohen Gruß bei ihr.
Auch der Opa hatte aus seiner Werkstatt, dem Holzstall, Ursula kommen gesehen. Er legte den fast fertiggeschnitzten Löffel auf die Hobelbank und ging zum gemeinsamen Essen ins Haus.
Gleich nach der Mahlzeit besprach Frau Graf mit ihrem Vater und ihrer Tochter Onkel Hermanns Brief. Ihr Vorschlag, Martin aufzunehmen, wurde von beiden Zuhörern unterstützt. Als Ursula fragte, welcher Art Martins Krankheit sei, antwortete ihre Mutter nur allgemein. Alle hier sollten gut zu ihm sein, dann würde er bestimmt bald wieder gesund!
Der Opa war an seine Schnitzarbeit zurückgekehrt. Ursula hatte ihre Skier angeschnallt und fuhr den Weg abkürzend über die verschneiten Felder und Gräben zur Post. Wie lange brauchte eigentlich ein Telegramm bis zu seinem Empfänger im Reich, und wie lange dann Martin, bis er bei ihnen war? Dem Mädchen ging jetzt alles nicht schnell genug.
Damals, in den letzten Sommerferien vor dem Krieg, hatte Martin einmal nur mit einer alten Taschenlampenlinse und einem Stückchen Schnürsenkel auf einem abgeernteten Frühkartoffelfeld zum Abkochen aus Sonnenschein Feuer gemacht und so die fehlenden Streichhölzer ersetzt. Auch hatten sie gemeinsam nach seinen Vorschlägen einen recht eigenartigen, schwanzlosen Drachen gebaut, der schon bei schwachem Sommerwind flog. Eine hübsche, damals nach frischem Gummi riechende Badekappe, die er ihr von seinem Taschengeld kaufte, war sein Abschiedsgeschenk. Sie hatten einander versprochen, sich recht bald wiederzusehen, bei ihm in der großen Stadt oder auch wieder hier in Sprindt. Aber dann war im Herbst der Krieg dazwischengekommen.
Eine Zeitlang hatten sie noch Briefe und Bücher miteinander getauscht, bis auch das immer seltener wurde und schließlich unterblieb. Jedoch sie hatte Martin nicht vergessen. So manches Mal hatte sie ihn sich vorgestellt, größer und nun schon fast erwachsen geworden. Aber das alles war bis zum heutigen Tag lediglich ein Gedankenspiel geblieben. Wenn Martin jetzt Hilfe brauchen würde, wollte sie für ihn da sein, ganz bestimmt !
In der Zeit, in der Ursula zur Post fuhr, schrieb Frau Graf das Geschehene ausführlich ihrem Mann.
Martins Patenonkel erhielt noch am gleichen Tag das Telegramm. Es bestand nur aus einem einzigen Satz, in dem es hieß: „Wir freuen uns auf unser neues Familienmitglied.“ Darunter stand Ursulas Namen.
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Einige Tage danach, am Sonnabend vor Monatsende, hatte Ursula in der letzten Schulstunde mit Zustimmung ihrer Lehrerin gefehl, um Martin vom Bahnhof abholen zu können. Jedoch um zwei Uhr nachmittags war der Zug aus Berlin immer noch nicht da. Die Fahrschüler, die nach dem Unterricht hier vorbeigekommen waren, hatten ihr zunächst noch die Wartezeit verkürzt, danach aber wurde diese wirklich lang. Wann wohl würde sie mit Martin in Sprindt zu Hause sein? An Wochenenden fuhren auch nicht mehr die Busse so oft wie sonst.
Sie trat auf den Bahnhofsvorplatz und stieg die Stufen der über die Geleise führenden Fußgängerbrücke hinauf. Das Geschehen auf den Bahnsteigen lag gut überschaubar unter ihr und erinnerte sie an ihre daheim schon fast in Vergessenheit geratene elektrische Spielzeugbahn. Obgleich sie doch ein Mädchen war, hatte Vater ihr, wenn auch ein wenig verlegen, diese zum letzten Weihnachtsfest vor dem Krieg geschenkt. Außerdem hatte sie von beiden Eltern wunderschöne Skier dazubekommen. Vielleicht würde sich nun Martin über die Eisenbahn freuen! Endlich kündete der Lautsprecher die bevorstehende Einfahrt des Zuges an. Ursula lief schnell zum Bahnhof zurück und stand auf dem Bahnsteig, als die mit Eiszapfen behangene Dampflokomotive mit ihren Wagen zum Stehen kam.
An ihr strömten Menschen vorbei. Sie blickte hastig in jedes ihr zu Martin passend scheinende Gesicht, doch alle waren ihr fremd. Es wurde immer stiller um sie, jedoch dort hinten stand ein Junge allein neben seinem Gepäck. Ursula eilte zu ihm. Noch einmal, kurz bevor sie bei ihm war, zögerte sie, bis auch er sie erkannte. Wie groß sie doch in den vergangenen fünf Jahren geworden waren! Die Kinder gingen die letzten sie noch trennenden Schritte aufeinander zu und begrüßten sich freudig.
Martins Gepäck teilten sie untereinander auf. Nachdem Unterführung und Sperre passiert waren, stand zufällig auf dem Bahnhofsvorplatz ihr Bus. Sie bekamen sogar einen Sitzplatz, und warm war es im Wageninneren auch.
Auf der Fahrt durch die Hindenburgstraße zum Alten Markt zeigte Ursula stolz auf die vornehmen, in Bahnhofsnähe stehenden Hotels und auf große Geschäfte, in denen es früher viele verlockende Dinge gegeben hatte. Insterburg war ein Verkehrsknotenpunkt und besaß ein durch Kleinbahnen und Busse gut erschlossenes Umland. Seine großzügigen Sportanlagen im Angerapptal und seine Trakehnerrennen hatten vor dem Krieg viele Gäste hierher gelockt. Nun prägten Soldaten das Straßenbild und wiesen darauf hin, dass der ca. 35.000 Einwohner zählende Ort auch Garnisonstadt war. Neben einem riesigen Flugplatz, besaß er auch noch andere militärische Einrichtungen.
Am Alten Markt, ihrer Umsteigestation nach Sprindt, lenkte Ursula Martins Blicke auf die am Steilufer der Angerapp liegende Lutherkirche mit ihrem Zwiebelturm. In dieser Kirche sei sie getauft worden, und dahinter, in einem der altertümlichen Giebelhäuser hätte einstmals Ännchen von Tharau gewohnt. Die Fahrt ging weiter, vorbei an einer vom Ritterorden erbauten Burg, genannt das Alte Schloss und dann über die Angerappbrücke. Am Wasserwerk bog die Straße in das breite Flusstal der Inster ein. Den eisbedeckten Fluss konnte man jedoch darin nur erahnen, da man ihm hier, um ihn zu zähmen, ein künstliches Bett geschaffen hatte. Auf der gegenüberliegenden Talseite sah man die Georgenburg.
In Martin lösten sich alle Spannungen, die ihm während der langen Reise geholfen hatten, seinen Weg zu finden. Er hatte seinen Zielort erreicht und wurde nun die letzten Kilometer bis zu seinem neuen Zuhause geführt. Trotzdem durfte er jetzt nicht einschlafen. Damit hätte er Ursula, die ihm so begeistert ihre Heimat erklärte, gekränkt. Deshalb hielt er sich auch durch Fragen wach, wenn er etwas in ihren Schilderungen nicht sofort verstand.
So kamen sie zu dem Bahnübergang, wo hinter der Frontkämpfersiedlung die doppelgleisige Strecke Insterburg - Tilsit zusammen mit einer Kleinbahn die Straße kreuzte. Die von Insterburg kommende Streckenführung war vom Busfahrer nicht einsehbar und schwang sich auf der anderen Straßenseite auf einem ansteigenden Damm und einer daran anschließenden Brücke in weitem Bogen über das Instertal. Der Bus hielt. Ein Fahrgast verließ ihn vorübergehend, ging zu dem beschrankten Übergang und signalisierte von dort dem Busfahrer „Freie Fahrt“. Warum diese übertriebene Sicherheit?
Ursula hatte in ihrer Freude über Martin bei ihren Schilderungen den Grund seines Hierseins völlig vergessen. Unbekümmert antwortete sie deshalb auch auf seine letzte Frage. Sie bemerkte zu spät, wie weh sie ihm diesmal damit tat: An einem Sylvesterabend vor Jahren wurde hier ein Omnibus von einem plötzlich heranbrausenden Fernzug erfasst. Ein alkoholisierter Schrankenwärter hatte damals pflichtvergessen vielen Fahrgästen den Tod gebracht und mehrere Kinder in Sprindt zu Waisen gemacht.
Zu spät stutzte Ursula erst bei diesem letzten Satz. Ein kurzer Hinweis, dass es hier schon mal ein Unglück gegeben hätte, wäre ausreichend gewesen. Nun hatte sie ihren Begleiter mit dem ausführlichen Bericht ungewollt an sein eigenes Schicksal erinnert.
Spontan, aber verlegen zugleich glitt ihre Hand zu Martin hin. Dieser griff wortlos danach. Ihm war es, als hätte Ursula ihn an einen tiefen Abgrund geführt, ihn dann aber vor dem Hinabsturz bewahrt.
Die nächste Haltestelle hieß Park Sprindt. Am Ortseingang ihres Zieles lag hier von hohen Bäumen umgeben ein Ausflugslokal. Bald danach kam an der Alten Schule dann auch ihre Station in Sicht. Nur noch wenige Schritte, und die Kinder hatten das von einer hohen Hecke umgebene, große Gartengrundstück erreicht. Als Ursula das Hoftor hinter ihnen schloss, kam schon die Abenddämmerung über das Land.
Martin wurde am Sonntagmorgen sehr spät wach. Durch die geschlossenen Fensterläden drang an einer Stelle ein schmaler Streifen goldenen Lichtes. Darin tanzten Sonnenstäubchen. Stille umgab ihn, nichts regte sich, dabei ging es vielleicht schon auf Mittag zu. Alles um ihn war fremd. Das sollte Ursulas Zimmer sein, in dem er nun wohnen durfte! Gestern hatte sie ihm das gesagt. Nun sah er sich von seinem Bett aus zum erstenmal darin genauer um.
An der Wand, ihm zu Füßen, hing ein Bücherbord. In einem Erker dahinter befand sich eine Waschgelegenheit auf einem niedrigen Schrank. Daneben stand ein eiserner Ofen. Ein größerer Tisch mit mehreren Stühlen, eine gemütliche Couch, sowie ein Kleiderschrank vervollständigten die Einrichtung des Raumes. Den Tisch zierte eine Schale mit Äpfeln, die sicher aus dem Garten stammten. Aber was war darauf auf einer Schiene aufgebaut, ein Personenwagen einer Spielzeugbahn? Martin stand neugierig auf und öffnete die Fensterläden. Sonnenlicht durchflutete den Raum. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Helligkeit. Der Wagen schien denen aus dem Zug zu gleichen, mit dem er gestern gekommen war.
Der Junge wusch sich schnell und zog sich an. Seine Gastgeber fand er im Erdgeschoss. Den Opa, der auf einer Couch saß und Radio hörte, Ursulas Mutter, die für ihn seit seinem ersten Besuch Tante Käte war und Ursula. Alle begrüßten ihn herzlich. Heiße Milch und Honigbrot standen bereit, und Ursula aß zur Gesellschaft noch mal ein Stückchen mit. Schon gestern hatte Martin gespürt, wie gut hier alle zu ihm waren.
Nach seinem Frühstück zeigte Ursula ihm Haus und Garten. An vieles konnte er sich noch erinnern, aber manches war ihm doch neu und fremd.
Draußen erwartete sie ein strahlender Wintertag. Im Hausschatten schien strenger Frost zu sein, jedoch in der Sonne konnte man bei der Windstille glauben, es sei herrlich warm.
Auf dem schneegeräumten Hof tummelten sich einige Hühner. Das Mädchen bat den Jungen, recht behutsam zu gehen, denn bei dem grellen Licht würden die Tiere schneeblind und dadurch schreckhaft sein.
In einem größeren Anbau an Haus und Veranda waren der Stall und die Sommerküche untergebracht. Die Stalltür hatte unten ein kleines, verschließbares Schlupfloch. Dahinter führte eine schmale Leiter an einer ehemaligen Schweinebox vorbei zu den Hühnerschlafplätzen hinauf.
Martin erfuhr, dass sich in der Decke darüber eine Luke befände, durch die man in einen geräumigen, mit einem Dachfenster versehenen Bodenraum gelangen könne. Dort läge das Winterheu für die Kaninchen. Die Luke, verborgen in den Deckendielen, würde er allein aber bestimmt nicht finden.
In der Sommerküche würde Ursulas Mutter in der warmen Jahreszeit das beim Obstbaumschnitt anfallende Holz zum Kochen verbrauchen. Dann gäbe es auch oftmals wohlschmeckende Waffeln, weil das altertümliche, noch zu wendende Eisen auf dem in der Wohnungsküche befindlichen Elektroherd nicht verwendbar sei. Heute standen in dem kalten Raum zwei Paar Skier.
In dem Anbau lag auch das Klo. Ursulas Eltern hatten längst im Haus ein Badezimmer geplant, aber der Kriegsausbruch war dazwischengekommen.
Den Abschluss des Hofes zum Garten bildete ein geräumiger Schuppen, in dem neben Brennmaterial Opas Werkstatt untergebracht war. Martin vergaß vor lauter Interesse an deren Ausstattung ganz, dass ihr Rundgang hier noch nicht zu Ende war.
Hinter dem Schuppen, zu erreichen auf einem an Büschen und Bäumen vorbeiführenden Gartenweg, lag ein großer, hochumzäunter Hühnerauslauf. Gleich neben dessen Eingang befand sich ein auf Pfählen abgelegtes Paddelboot.
Neu für Martin war der vom Opa gezimmerte, aus 10 Boxen bestehende, an den Schuppen unter einem weitausladenden Dach angebaute Kaninchenstall. Zur Zeit bewohnten ihn nur drei rasselose Häsinnen, ein Rammler und ein sehr hübsches Angorakaninchen. Alle Tiere wurden vom Opa betreut.
Ursula setzte das Angorakaninchen behutsam neben sich und den Jungen auf eine Bank. Es beschnupperte neugierig die Kleidung der Kinder. Zaghaft strich Martin ihm über das saubere, lange Fell. Um die Kinder herum schilpte erregt das vorher von ihnen aufgescheuchte Spatzenvolk und wollte in seinen Unterschlupf vor den Ställen zurück. Sollte es warten! Erst als Mutter zum Essen rief, verließen sie ihren Platz.
In der Küche war aufgedeckt. Der Opa sprach das Tischgebet. Dann gaben sich alle die Hände und wünschten einander guten Appetit.
Nach dem Essen wuschen die Kinder ab und stellten das Geschirr in die Schränke zurück. Ursula schien dabei traumwandlerisch sicher zu sein.
Anschließend wurde Martins Zimmer aufgeräumt. Dann ging das Mädchen zum Bettenmachen in das angrenzende Elternschlafzimmer, in dem es seit Vaters Soldatenzeit neben seiner Mutter schlief.
Bei so viel häuslichem Fleiß, der von Ursula und nun sicher auch von ihm erwartet wurde, gewann Martin den Eindruck, dass Tante Käte sehr streng sein müsse. Jedoch Ursula, die er danach befragte, nahm sie in Schutz. Erst Vaters Einberufung, die für Mutter manche zusätzliche Arbeit und viele Sorgen um ihn nach sich zog, hätte sie so streng werden lassen. Beschämt durch die Antwort, versuchte der Junge dem Gespräch eine Wendung zu geben und fragte nach der Herkunft des Eisenbahnwagens neben den Äpfeln. Ursula berichtete ihm von ihres Vaters Geschenk. Martin war über eine so interessante Spielmöglichkeit sichtlich erfreut. Dann probierten beide von Tante Kätes Äpfeln.
Gleich danach sprangen sie wieder die Treppe hinab. Ursula hielt warnend einen Finger auf ihren Mund, weil der Opa auf der Couch ein wenig schlief. In der Küche saß Tante Käte vor einem an ihren Schwager gerichteten Brief. Die Nachmittagssonne schien auf den Tisch. An der Wand dahinter war auf einem, wie eine Schiebetür zur Seite rollbaren Fensterladen eine Russlandkarte angebracht. Der Frontverlauf war darauf mit buntköpfigen Nadeln markiert. Im Krieg, draußen in der Wirklichkeit, würde jetzt sicher Ursulas Vater an einer dieser markierten Stellen stehen.
Die Skier wurden aus der Sommerküche geholt. Nachdem die Bindungen des Paares, das dem Vater des Mädchens gehörte, Martins Schuhen angepasst waren, stand dieser unsicher darauf. Vorsichtig fuhr er hinter Ursula von Hof. Für ihn war es nicht leicht, die Straße zu überqueren, denn die von den Obusreifen glattgewalzte Schneedecke bot kaum einen Halt. Dahinter lagen dann jedoch ein zugewehter Graben und ein verschneites Feld. Darüber hinwegzugleiten machte schon Spaß, besonders dann, wenn der Vordermann die Spuren zog und gegen alle Anfängerdummheiten Rat und Hilfe bot.
Bald hatten die Kinder den zum Eichwalder Forst führenden Trakisweg erreicht. Die Endhaltestelle des Busses mit dem unter alten Linden stehenden Wartehäuschen lag am Anfang davon. Hinter der Haltestelle war der Weg tief verschneit. Nur wenige Schlittenspuren markierten ihn. Den Bürgersteig hatten die Anwohner jedoch geräumt
Balzats und Lobinskis wohnten hier in den letzten Doppelhäusern am Ortsausgang. Deren Kinder, nach denen Ursula fragte, waren mit ihren Schlitten im Badewäldchen auf dem Rodelberg. Martins Führerin zögerte einen Augenblick. Der Weg dorthin war nicht weit, aber der Abhang für ihn wohl noch zu steil. Auch schien ihr die dort herumtollende Dorfjugend einem Anfänger gegenüber nicht rücksichtsvoll genug zu sein. So zogen sie allein zum Ortsausgang weiter.
Sie überquerten einen kleinen Bach, der so langsam floss, dass er eine geschlossene, von Luftblasen durchsetzte Eisdecke trug. Rechts neben ihrem Weg lag ein Erlenbruch, in dem der Bach entsprang. Dahinter stiegen sie eine sanfte Anhöhe hinauf. Von hier aus sah man weit in das winterliche Land.
Im Südwesten, wo jetzt die Sonne niedrig am Himmel stand, kreuzte in der Ferne die Bahnlinie nach Tilsit das zu ihren Füßen liegende, breite Tal und den Fluss. Durch die fünf Bogen der Insterbrücke leuchtete gleißendes Licht. Jenseits des Tales, welches der Fluss in einer von Eis und Schnee bedeckten, kaum wahrnehmbaren Vertiefung in gewundenem Lauf durchzog, lag ca. drei Kilometer von ihnen entfernt das kleine Dörfchen Insterblick. Nach Osten gesehen, wo hinter dem Horizont die Inster entsprang, schien die Welt endlos zu sein. In diese weiße Ebene hinein, hinab ins Tal, führte ihr von alten Kopfweiden beidseitig umsäumter Weg bis hin zum Wald.
An die Anhöhe angelehnt, befand sich am Flussbett ein einsames Gehöft. Ursula berichtete Martin von dem darin wohnenden, betagten Ehepaar, den beiden Urbschats und dessen an der Front stehenden Sohn. Sie schilderte die drei Menschen ihrem Begleiter in einer sehr warmen Art und fügte erklärend hinzu: „Immer ist Frieden in deren Haus, ich gehe gern zu ihnen hin.“ Martin erfuhr dabei, dass Herr Urbschat nicht nur Bauer, sondern auch Fischer sei. Als Vater noch zu Hause war, hätte dort unten während der Sommermonate Grafs Paddelboot an einer Boje im Fluss gelegen. Dann wies das Mädchen noch auf das große Nest auf dem Scheunendach hin. In jedem Sommer würde darin ein Storchenpaar mehrere Junge aufziehen.
Nach dieser Schilderung gab sich Ursula auf dem abschüssigen Weg einen Schwung und glitt ins Instertal hinab. Martin blieb nichts anderes übrig, als es ihr gleichzutun. Auch er kam in der vorgezeichneten Spur unten gut an und freute sich darüber. Ursula bemerkte das und änderte ihren Plan, mit ihm zunächst nur Laufen zu üben.
Der Wald mit der davor liegenden Zigeunerwiese, die alte Holzbrücke über den auch bei strengem Frost durch sein warmes Quellwasser offenbleibenden Bach, der einsame Friedhof am Waldesrand und die Kiesgruben beim Ritter Neusaß, all das hatte auch noch Zeit. Sie stiegen wieder die Anhöhe hinauf und übten das Hinuntergleiten, bis die Dämmerung kam.
Vom Wald her näherten sich Stimmen. Bald danach hielten zwei Skiläufer, etwa so alt wie sie, bei ihnen. Ursula machte Eva und Rudi mit Martin bekannt. Dann fuhren sie noch einige Male gemeinsam ins Tal hinab, und Martin erhielt von den Hinzugekommenen ein erstes, bescheidenes Lob.
Als es dunkel und kalt wurde, schlugen sie im Flusstal den Heimweg ein. Durch ein Fenster des Bauernhauses schimmerte schwaches Licht. Der Rodelberg am Badewäldchen war schon verwaist. Bald sah man auf der Anhöhe die ersten Dächer Sprindts. Am Schulwäldchen trennten sie sich. Rudi, der in der Vogelweide wohnte, fuhr im Tal weiter. Evas Familie lebte im Lehrerhaus der Alten Schule, und bis zu Grafs war es auch nicht mehr weit. Martin kam müde, aber innerlich froh, mit Ursula zu Hause an. Sie hatte ihn auch durch den zweiten Tag seines Hierseins geführt.
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Am Montag meldete sich Martin in der Insterburger Oberschule an. Frau Graf hatte das zwar schon vorher getan, aber noch ohne bestimmten Termin. Ursula begleitete ihn auf seinem ersten Weg dorthin und nahm, um selbst nicht zu spät zum Unterricht zu kommen, einen Bus früher als sonst.
Beide stellten sich, wie es meistens die Fahrschüler taten, hinten auf den Perron, denn der Bus war zu dieser Zeit mit Berufstätigen voll besetzt. Das Mädchen freute sich, als Martin sogleich interessiert durch die Rückscheibe des Wagens den Lauf der Stromabnehmer zu verfolgen begann, besonders, wenn es durch Kurven oder über Weichen in der Oberleitung ging. Das Geschehen am Bahnübergang wurde ihm dadurch sicher gar nicht erneut bewusst. Am Alten Markt stiegen sie aus und kamen am Rathaus, der früheren Arbeitsstätte Ursulas Vaters, vorbei. Durch Nebenstraßen erreichten sie ihr Ziel.
In der Forchestraße, wo Martins Schule lag, trennten sie sich. Martin hatte es so gewollt. Ursula blickte ihm nach, bis er den Haupteingang betrat und setzte dann ihren Weg zum nahen Lyzeum fort.
Martins Erledigung der Anmeldeformalitäten verschlang viel Zeit, weil er dabei auch alle von ihm benötigten Lehrbücher, die es längst im Handel nicht mehr gab, leihweise aus dem Schulbestand erhielt. Danach wurde er zu seinen zukünftigen Mitschülern geführt.
Der Unterricht hatte längst begonnen, und der Lehrer, ein schon älterer Herr, war über die Störung durch den hinzukommenden Jungen nicht erfreut. So unterblieb Martins offizielle Einführung. Jedoch Helmut nahm sich als Klassensprecher seiner an und erklärte ihm das Wichtigste über den Unterrichtsablauf sowie die Lehrerschaft.
Bald nach Kriegsbeginn, als die Altstoffsammlung eingeführt wurde, hatte man Papierreste in einem stillgelegten Ofen verbrannt. Durch ein daraus im Dachstuhl des Hauptgebäudes entstandenes Feuer wurden die Physik- und Chemiesäle im Obergeschoss und auch die Aula mit den imposanten Gemälden über die Irrfahrten des Odysseus zerstört. Der Krieg hatte die Wiederherstellung dieser Räume blockiert. Deshalb fand der Unterricht in den beiden naturkundlichen Fächern im Lyzeum statt, natürlich von den Mädchen streng getrennt. Als Aulaersatz wurde die Turnhalle mitbenutzt.
Der früher ausschließlich aus Männern bestehende Lehrkörper war jetzt überaltert. Neuerdings wurde er durch junge Frauen, die ihre Berufsausbildung gerade abgeschlossen hatten, aufgefrischt. Ohne größere Unterrichtsausfälle wurde hier fast noch wie im Frieden gepaukt. Jedoch häufig erhielten Schulabgänger nur noch das Notabitur, da der Krieg die älteren Jahrgänge immer früher zu den Soldaten rief.
Auch in anderen Dingen, die Martin selbst betrafen, wusste Helmut Rat. Zum Beispiel, dass sich gleich neben der zerstörten Synagoge ein Fotogeschäft befand, das noch nicht wegen der Einberufung des Besitzers geschlossen war. Man konnte sich dort Passbilder für die Schülermonatskarte der hiesigen Verkehrsbetriebe anfertigen lassen. Schulhefte gab es nicht weit davon in einem winzigen, von einer alten Frau geführten Laden. Martin solle diese artig bitten, dann bekäme er dort auch ohne die Ablieferung alter Hefte das Nötigste bestimmt.
Eigentlich lief an diesem ersten Tag in der Schule alles recht gut. Das blieb auch so. Zwar stürmte auf Martin täglich noch viel Neues ein, sodass er gar nicht zum Nachdenken kam, jedoch Schwierigkeiten mit dem Lehrstoff hatte er kaum. Die geliehenen Bücher nützten ihm viel, und wenn notwendig, so sprangen auch einmal Helmut oder daheim Ursula helfend ein.
Dennoch gab es für ihn ein immer deutlicher werdendes Problem. Der Anschluss an seinen Klassenverband fiel ihm schwer. Zwar hatte er sich auch früher nie sonderlich um Freundschaften bemüht, die ergaben sich meistens von selbst und hielten dann gut, jedoch hier bahnte sich nichts dergleichen an. Er blieb der Fremde aus dem Reich.
Als Martin einmal mit Helmut darüber sprach, ermunterte der ihn, mehr aus sich herauszugehen. Helmut schien ihn also zu verstehen, aber wie stellte sich dieser denn so etwas vor? Er konnte doch nicht einfach vor die anderen treten und sie bitten, ihm gegenüber nicht mehr so gleichgültig zu sein.
Und doch ging Martin diesen Weg, nicht freiwillig, sondern von einem, der stärker als er war geführt.
Im Deutschunterricht stand Schillers „Glocke“ auf dem Programm. Der Lehrerin, die nichts vom Auswendiglernen langer Gedichte hielt, kam es darauf an, dass möglichst viele ihrer Schüler zu einem Thema des darin beschriebenen Geschehens aus heutiger Sicht, vielleicht sogar auf eigenen Erlebnissen aufbauend, Stellung nahmen.
Das Handwerk und Familienleben, immer im Vergleich zwischen damals und jetzt, boten sich leicht dazu an. Darüber war es in den Stunden davor zu interessanten Gesprächen gekommen. Nur zu der von dem Dichter so packend beschriebenen Feuersbrunst fehlte es an einem passenden Parallelbeispiel, denn der Dachstuhlbrand am Kriegsanfang nahm sich dagegen recht harmlos aus. Vielleicht konnte hier der neue Schüler aus dem Reich helfend einspringen? Der hatte bei einem Luftangriff bestimmt schon mal ein größeres Schadenfeuer gesehen. Die Lehrerin fragte ihn danach.
Martin trat aus seiner Bank. Er saß als einziger in der Klasse allein, da sich nach seinem Dazukommen die Schülerzahl nicht mehr durch zwei teilen ließ. Was sollte er tun? Bisher wusste sicher nur Helmut vom Tod seiner Eltern. Den anderen und auch der Lehrerin hatte er nichts davon gesagt. Die Lehrerin hätte ihm sonst bestimmt auch nicht dieses Thema gestellt. Ihm fiel die Aufgabe schwer, jedoch sie sollten seinen Bericht über das Höllenfeuer aus Menschenhand hören, an dessen Ende es nicht wie im Gedicht tröstend hieß: „Und sieh, ihm fehlt kein teures Haupt.“
Seine Mitschüler merkten auf. Was der Neue vortrug, war nicht nur interessant, es war mehr, so als berichte er über sich selbst.
Da standen Nacht für Nacht am Rande einer Millionenstadt Oberschüler, nur ein Jahr älter als er und sie, in luftwaffenblauer Uniform zusammen mit Soldaten an Flakgeschützen und Peilgeräten auf Wacht. In einer Julinacht kam dann der Feind. Funkmessgeräte hatten ihn schon an der Küste erspäht, als er über See einfliegend auf ablenkenden Umwegen schließlich Kurs auf Martins Heimat nahm.
Die Geschütze reckten, gelenkt von den durch die Dunkelheit, ja selbst durch Wolken schauenden „Himmelsaugen“, ihre Mündungen zu den anfliegenden Maschinen hinauf, und die Scheinwerfer, noch ohne Licht, nahmen die gleiche Richtung an. Von nahen Flugplätzen stiegen Abfangjäger auf, auch diese vom Boden aus bis auf Sichtweite an die feindlichen Verbände herangeführt. Wie schon oft, verlief auch diesmal alles nach Plan.
Jedoch dann fielen auf rätselhafte Weise die Peilgeräte aus und erweckten den Eindruck, als wären die angreifenden Bomber plötzlich überall. Gleich danach erblickte man über der Stadt einen mehrfarbigen Schein. Pfadfinderflugzeuge hatten Zielmarkierungen gesetzt. Dann erfolgte Detonation auf Detonation. Nach einem ausgeklügelten Programm fielen Luftminen, Brand- und Sprengbomben auf das vorher gekennzeichnete Gebiet.
Endlich schoss die Flak, jedoch noch immer ungeführt. Scheinwerfer suchten den Himmel ab, und Jäger verfolgten Flugzeugverbände, die sich oft in nichts auflösten.
Noch immer war die deutsche Abwehr blind. Aus den gegnerischen Flugzeugen abgeworfene Metallpapierstreifen, Lamettafäden gleich, die langsam zur Erde schwebten, hatten das erstmalig in diesem Krieg vollbracht. Fast schutzlos bot die Stadt sich dem Feind.
Schwere Bomben deckten Häuser ab oder rissen am Boden Kabel- und Rohrnetze entzwei. Brandbomben zündeten tausendfach, und ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf, sodass man noch am nächsten Tag die Sonne nicht sah.
Aber damit war es nicht genug. Zwei Nächte danach brach im erneuten Bombenhagel ein Feuersturm los. Der durch die Hitze aufsteigende Wind hatte gebieterisch von allen Seiten Luft herangesaugt und dadurch die Einzelbrände zu einem riesigen, von orkanartigen Stürmen gepeitschten Feuermeer vereint. Daraus gab es kein Entrinnen.
Die Menschen in den Luftschutzkellern wagten sich nicht in die über ihnen tobende Hölle hinauf. Wenn doch, so liefen sie in den sicheren Tod. Die meisten blieben in ihren Verstecken und hörten, wie draußen alles zerbarst. Es war dunkel um sie und wurde unerträglich heiß. Trotzdem griff eine seltsame Müdigkeit nach ihnen, bevor sie durch Sauerstoffmangel bewusstlos wurden. Nur wenige erwachten wieder aus diesem Schlaf und erblickten oft erst nach Tagen rettendes Licht. Fast alle, die man fand, als endlich die Glut in den Trümmern erlosch, waren gestorben.
Der von dem Dichter beschriebene Brand war durch ein Naturgeschehen entstanden. Dieses Feuer jedoch, welches so viele Menschen tötete, wie Insterburg Einwohner zählte, wurde durch menschlichen Wahn entfacht.
Der fremde Junge hatte seine Aufgabe erfüllt, aber er setzte sich nicht. Sein Gesicht war fahl. Ohne einen Grund anzugeben, verließ er schleppenden Ganges den Raum, als trüge er an einer schweren Last. Hinter ihm schloss sich fast lautlos die Tür. Helmut stand auf und ergänzte kurz, dass Martin bei einem der letzten Angriffe vor wenigen Wochen seine Eltern verloren hatte.
Die Lehrerin erschrak und forderte ihn auf, Martin wieder hereinzuholen, jedoch im gleichen Augenblick korrigierte sie sich und ging selbst hinaus. Sie fand den Jungen auf einer Fensterbank sitzend. Behutsam sprach sie ihn an und entschuldigte sich. Martin blieb still, aber er sah in das zu ihm hinuntergebeugte Gesicht und bemerkte die Anteilnahme und Sorge darin. Er war mit seinem Kummer nicht mehr allein, das gab ihm Kraft.
Als seine Lehrerin nach einer Weile vorschlug, doch zusammen mit ihr zu den anderen zu gehen, stand er willig auf. In der Klasse wurde es still, und Helmut bat ihn zu sich. Der Platz neben diesem war plötzlich leer. Martin zögerte noch, dann setzte er sich. Von dieser Deutschstunde an gehörte er fest zu seinem neuen Klassenverband.
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Die Zeit verging. Fast drei Wochen war Martin nun schon bei Grafs. In sein Leben kehrte allmählich der Alltag ein.
Morgens wurde er von Ursula geweckt. Wenn beide ins Erdgeschoss hinunterkamen, hatte Tante Käte bereits den Frühstückstisch gedeckt. Manchmal war auch der Opa schon aufgestanden und aß dann mit ihnen.
Danach gingen die Kinder noch im Dunkeln zum Bus, der auch bei hohem Neuschnee oder strengem Frost recht pünktlich fuhr. Nur Raureif auf den Oberleitungen machte ihm Schwierigkeiten. Die Stromabnehmer gaben dann keinen guten Kontakt und zogen lange Funken hinter sich her.
Martin lernte durch seine Begleiterin schnell alle Sprindter Fahrschüler kennen. Am Alten Markt stiegen sie aus und gingen dann in getrennten Gruppen zu den verschiedenen Lehranstalten.
Wenn der Stundenplan günstig war, trafen sich beide Kinder mittags wieder im Bus. Sonst wartete Tante Käte mit dem Essen auf den letzten.
Nach dem Mittag, wenn es draußen noch hell war, fuhren sie meistens ein Weilchen Ski. Nicht weit, nur soviel, dass man nach der Schul- und Zimmerluft mal richtig zum Durchatmen kam. Der Junge hatte vorher noch in seinem bei den Schularbeiten von ihnen gemeinsam benutzten Zimmer den Ofen angeheizt. So war es bei ihrer Rückkehr schon warm.
Nach den Schularbeiten fingen ihre kleinen, nicht schweren häuslichen Pflichten an. Martin bekam sogar Freude daran, wenn er beispielsweise dem Opa beim Schneeräumen helfen konnte.
Allmählich kannte der Junge jeden Winkel im Haus. Er hatte mit Ursula deren Eisenbahn und das im Keller untergebrachte, kleine Fotolabor ihres Vaters inspiziert. Hier gab es auf lange Sicht vieles, was Spaß machen würde, zu tun.