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William Siemens gehört zu den Gründerpersönlichkeiten des Unternehmens Siemens. In Deutschland geboren, wurde er zum vielfach geehrten Engländer. Er leitete den englischen Zweig von Siemens und betätigte sich darüber hinaus als selbstständiger Ingenieur und Unternehmer. Seine Arbeiten umfassten das globale Telegrafiesystem, metallurgische Innovationen sowie die Einsparung von Energie und die Schonung der Umwelt. Sein Name ist verbunden mit dem Siemens-Martin-Verfahren, dem für ein Jahrhundert weltweit wichtigsten Prozess der Stahlerzeugung. Wolfgang König wirft in seiner neuen Biographie Licht auf das bewegte Leben eines beeindruckenden Grenzgängers.
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Wolfgang König
SIR WILLIAM SIEMENS
1823–1883
Eine Biografie
C.H.Beck
William Siemens gehört zu den Gründerpersönlichkeiten des Unternehmens Siemens. In Deutschland geboren, wurde er infolge seiner Emigration zum vielfach geehrten Engländer. Er leitete die englische Siemens-Niederlassung und betätigte sich darüber hinaus als selbständiger Ingenieur und Unternehmer. Seine Arbeiten umfassten das globale Telegrafiesystem, metallurgische Innovationen sowie Fragen der Energieeinsparung und der Schonung der Umwelt. Sein Name ist verbunden mit dem Siemens-Martin-Verfahren, dem für ein Jahrhundert weltweit wichtigsten Prozess der Stahlerzeugung. Wolfgang König lässt mit seiner Biografie eine Zeit aufleben, in der sich die Industrialisierung durchsetzte und die Globalisierung begann, das Gesicht der Welt zu verändern. William Siemens bildete zusammen mit seinen Brüdern Werner und Carl einen «Geschwisterbund», der das Weltunternehmen Siemens aus der Taufe hob. William war insbesondere verantwortlich für den Aufbau des englischen Geschäfts. Er setzte sich bei Siemens nachdrücklich für ein Engagement auf dem Gebiet der transozeanischen Telegrafie ein, die einen zentralen Beitrag zur Globalisierung im 19. Jahrhundert leistete. Aus der Reihe der Siemens-Brüder stach er auf verschiedene Art und Weise hervor: Er war kein Elektrotechniker, sondern ein ausgebildeter Maschinenbauer; er wanderte aus und wurde vom Deutschen zum Engländer; und er betätigte sich neben seinen Pflichten bei Siemens als unabhängiger Erfinder und Unternehmer. Die Biografie Wolfgang Königs zeichnet das faszinierende Bild eines erfolgreichen Unternehmers, Erfinders und Ingenieurs, der in mehreren Disziplinen und in zwei nationalen Kulturen zuhause war. Damit liefert König auch einen Beitrag zum Kulturvergleich zwischen den Industrienationen Deutschland und England.
Wolfgang König ist Professor em. für Technikgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Für seine technikgeschichtlichen Arbeiten erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen.
Geleitwort
Einleitung
Kapitel 1: Herkunft, Jugend und Ausbildung
Die Familie Siemens und der Einfluss Werners
Der Maschinenbauer
Kapitel 2: Aufbruch nach England
Die prekäre Existenz eines Erfinders
Übersiedlung, Heirat, Naturalisierung
Kapitel 3: Das englische Siemens-Geschäft
Kommunikator Werners
Die Siemens-Firmen
Lebensentwürfe im Konflikt
Globalisierung durch Telegrafiekabel
Kapitel 4: Weltbürger zwischen Deutschland und England
Familie und Lebensführung
Technisch-wissenschaftliche Vereine
Personelle Netzwerke
Scientific Communities
Investoren und Geschäftspartner
Die deutsche Kolonie
Ansichten zu Politik und Gesellschaft
Die deutsche Frage
Wissenschaft, Religion und Gesellschaft
Kapitel 5: Cluster technischer Innovationen
Das Regenerativprinzip
Energie und Umwelt
Elektrotechnik
Eisen und Stahl
Kapitel 6: Wissenschaftliche Arbeiten zur Sonne
Kapitel 7: Eine Bilanz
William und seine Brüder
Werner und William
Carl und William
Friedrich und William
Der Ingenieur und Wissenschaftler
Der Unternehmer
Kapitel 8: Nachleben
Zwischen Innovationsstreben und Familienunternehmen – ein Fazit
Anhang
Anmerkungen
Einleitung
Kapitel 1: Herkunft, Jugend und Ausbildung
Kapitel 2: Aufbruch nach England
Kapitel 3: Das englische Siemens-Geschäft
Kapitel 4: Weltbürger zwischen Deutschland und England
Kapitel 5: Cluster technischer Innovationen
Kapitel 6: Wissenschaftliche Arbeiten zur Sonne
Kapitel 7: Eine Bilanz
Kapitel 8: Nachleben
Wilhelm Siemens: Schriftenverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archive
Zeitschriften
Literatur
Abbildungsnachweis
Personenregister
Orts- und Sachregister
Würden Sir William Siemens und seine Brüder heutzutage leben, so wäre es äußerst spannend für uns zu wissen, mit welchen Prioritäten sie ihre unternehmerischen Entscheidungen in unserer aktuellen Welt träfen. Diese Biografie vermittelt uns einen Eindruck davon, wie sich vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte dieser Technikpioniere Lösungen für die aktuellen Herausforderungen unserer Zeit – beispielsweise den Klimawandel – finden und die Möglichkeiten etwa der digitalen industriellen Revolution nutzen lassen. Das Thema Industrie 4.0 stünde wohl im Fokus dieser visionären und kompromisslosen Vorzeigeunternehmer.
Das heutige Unternehmen mit dem Namen Siemens hat sich in den zurückliegenden 170 Jahren dramatisch verändert – konkret seit dem Zeitpunkt, als der junge William Siemens zum ersten Mal als Lehrling nach London kam und das Patent seines Bruders für ein galvanisches Verfahren erfolgreich verkaufte. Was sich jedoch nicht geändert hat, ist der Fokus auf das Thema Innovation, der seit jeher die DNA von Siemens ausmacht.
Beim Vergleich der frühen Phase der Unternehmensgeschichte und der heutigen Zeit finden sich noch weitere Ähnlichkeiten: Die Globalisierung des Siemens-Geschäfts begann bereits mit Werner von Siemens in Deutschland, mit Carl in Russland und mit William in Großbritannien. Die Siemens-Brüder blickten immer über ihren unmittelbaren Horizont hinaus, indem sie in großen Dimensionen dachten und jede sich bietende Gelegenheit ergriffen. Ihre unglaubliche Ingenieursleistung, ihr Geschäftssinn und ihre Zuversicht beispielsweise bei der Verlegung der ersten Unterwasser-Telegrafenkabel auf der ganzen Welt sind beeindruckend.
Weniger bekannt – vielleicht nicht für Ingenieure, wie ich einer bin – ist der Katalog von Versäumnissen, die sich durch die Karrieren der Siemens-Brüder ziehen. Doch William Siemens und seine Brüder lernten aus den Fehlern, die sie machten. Es gab Zeiten, in denen William so wenig Erfolg hatte, dass er Hunger litt, und dann wieder Phasen, in denen das Geschäft in Großbritannien besser lief als das Geschäft in Deutschland und sich die Brüder gegenseitig halfen. Erst vor Kurzem sind heutige Unternehmen zu der Erkenntnis gelangt, dass es besser ist, Fehler aufmerksam zu verfolgen, sie zu reflektieren und aus ihnen zu lernen, anstatt sie zu fürchten.
Kollaboration ist ein weiteres Thema, das bei Siemens sowohl Tradition als auch Aktualität besitzt. William betrieb einen übermäßig hohen Aufwand, um ein Netzwerk mit anderen Ingenieuren, Institutionen, Gesellschaften und Clubs aufzubauen und um Kollegen wie auch seine Brüder um Rat zu fragen. Bei jedem neuen Projekt wurden lokale Partner und Investoren in den Entscheidungsprozess mit einbezogen und als William wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1883 von Königin Victoria zum Ritter geschlagen wurde, war er weithin bekannt und als Teil des britischen Establishments hoch angesehen.
Wie komme ich darauf anzunehmen, dass William Siemens sich heute auf Lösungen für den aktuellen Klimawandel konzentrieren würde? Ich vermute dies deshalb, weil ihn bereits Mitte der 1840er-Jahre das Thema Energieeffizienz so sehr beschäftigte, dass er intensiv daran arbeitete: Er kombinierte Dampfmaschinen mit einem Regenerator, um den Brennstoffbedarf zu reduzieren, er entwickelte Wasserzähler, um die Verschwendung von Wasser einzudämmen, und er stattete die ersten Untergrundbahnen in London mit einem Wärmetauscher aus, damit diese unter Tage mit dieser Energiequelle verschmutzungsfrei fahren konnten. Die Parallelen zu den aktuellen technischen Herausforderungen sind offensichtlich. Stellen Sie sich nur vor, wofür William Siemens das Internet der Dinge einsetzen würde!
Und dennoch gab es für die Siemens-Brüder noch weitaus mehr als nur die technische Lösung. Ihr Unternehmen verfolgte eine bestimmte Zielsetzung, und das tut Siemens heute immer noch: das Leben von Menschen zu verbessern und unternehmerische Rahmenbedingungen zu schaffen, die der Gesellschaft dienen.
Carl Ennis
CEO, Siemens Großbritannien und Irland
In den Jahrzehnten um 1800 setzte in Großbritannien die Industrielle Revolution ein. Sie führte zu einer welthistorischen Umwälzung, die im folgenden Jahrhundert weitere Staaten und schließlich die gesamte Welt erfasste. Die Industrie löste die Landwirtschaft als wirtschaftlichen Leitsektor ab. Zahlreiche Menschen zogen vom Land in die Städte. Die Produktion verlagerte sich von kleinen Handwerksbetrieben in Fabriken, die mit einem System von Kraft- und Arbeitsmaschinen ausgerüstet waren. Die dort auf rationelle Art und Weise hergestellten Investitions- und Konsumgüter steigerten – jedenfalls auf mittlere und lange Sicht – den Wohlstand der breiten Bevölkerung.
Zusätzlich kam es im 19. Jahrhundert zu einer Revolution von Verkehr und Kommunikation. Die Eisenbahnen steigerten den Verkehr zu Lande. Dies galt für den Transport von Gütern ebenso wie für Geschäftsreisen und Tourismus. Auf den Meeren leitete das Dampfschiff eine neue Phase der Globalisierung ein. Der Gütertransport nahm zu, und er wurde berechenbarer. Die elektrische Telegrafie ermöglichte erstmals eine nahezu zeitgleiche Kommunikation über größere Entfernungen. Dies begann mit Telegrafenstrecken über Land. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbanden transozeanische Telegrafiekabel bereits alle Kontinente.
Alle diese Entwicklungen hatten ihren Anfang in Großbritannien. Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderte die Industrialisierung weitere Länder, darunter auch Deutschland. Die Nachfolgeländer im Industrialisierungsprozess bemühten sich, einen Technologietransfer in Gang zu setzen und von dem britischen Vorbild zu lernen. Bildungs- und – manchmal – Spionagereisen auf die britische Insel gehörten zum Standard der nachholenden Industrialisierung. Am ehesten zogen die kontinentaleuropäischen Länder noch bei neuen Technologien mit Großbritannien gleich. Hierzu gehörte die elektrische Telegrafie. So entwickelte das von Werner von Siemens um die Jahrhundertmitte gegründete Familienunternehmen telegrafische Apparate und Systeme, die sich mit den britischen messen konnten.
Werner von Siemens setzte seine Familie beim Aufbau des Unternehmens ein. Werner, Carl und William Siemens bildeten einen «Geschwisterbund»[1] unter Führung Werners, der die Geschicke der Siemens-Firmen im 19. Jahrhundert weitgehend bestimmte. In diesem Triumvirat gab Werner eindeutig den Ton an. Die Brüder Carl und William hatten jedoch eine maßgebliche Bedeutung für die Entwicklung von Siemens zum Global Player: Carl mit dem Aufbau des russischen und William mit dem Aufbau des englischen Geschäfts. Dabei kam dem englischen Geschäft eine besondere Bedeutung zu, denn im Vereinigten Königreich wurden die Seekabel konzipiert und gefertigt, die den Prozess der Globalisierung wesentlich beförderten.
Werners jüngerer Bruder Wilhelm wurde in Deutschland erzogen, wählte aber Großbritannien als seine neue Heimat, nahm die englische Staatsbürgerschaft an und nannte sich dort William. Im Folgenden wird er in seiner deutschen Zeit Wilhelm genannt, infolge der Emigration William. Er verstand sich durchaus als Mitglied des Siemens’schen Geschwisterbunds, brachte aber mehr als die anderen Brüder seine persönlichen Interessen in die gemeinsamen Unternehmungen ein. Er vertrat die Siemens-Firmen in England, agierte aber auch als selbstständiger Ingenieur, Wissenschaftler und Unternehmer. Dies ging nicht ohne Konflikte mit den Brüdern und vor allem mit Werner ab. Die ältere Siemens-Literatur hat William als «eigenbrödlerisch, eigensinnig, unberechenbar» charakterisiert,[2] mit «übellauniger Reizbarkeit»[3] ausgestattet, als «einen zum Choleriker neigenden Typ».[4] Diese Charakterisierungen stehen in eklatantem Widerspruch zu Beurteilungen englischer Zeitgenossen.[5] Man geht wohl nicht fehl, in dieser Differenz unterschiedliche nationale und unternehmerische Perspektiven im Hinblick auf Williams Tätigkeit zu sehen.
William Siemens, um 1880
William wollte das englische Siemens-Geschäft nach Möglichkeit forcieren. Von England ausgehend, so seine Auffassung, bestünde die Möglichkeit, Siemens zum weltweit führenden Telegrafie-Unternehmen zu machen. Seine Brüder Werner und Carl waren jedoch nicht bereit, William bei dieser risikoreichen Strategie zu folgen. Ganz zu schweigen von dem Geschäftspartner Johann Georg Halske, der die Berliner Fabrikation leitete. In der Folgezeit bemühte sich William, zumindest Teile seiner Aufgaben bei Siemens Brothers, dem englischen Teil der Firma, zu delegieren, ohne sein Engagement in dem Familienunternehmen ganz aufzugeben.
William Siemens war ein hoch qualifizierter und hoch angesehener Maschinenbauingenieur, für den die Telegrafie nur ein Interessensgebiet unter anderen war. Tatsächlich geriet sie bei ihm gegenüber dem Maschinenbau und der Metallurgie mehr und mehr ins Hintertreffen. Auf diesen beiden Feldern gelangen ihm aufsehenerregende Erfolge. Ohne dass er die selbst gesteckten Ziele erreichte, leistete er einen entscheidenden Beitrag zu einem neuen Verfahren der Stahlerzeugung, das nach ihm und französischen Eisenhüttenleuten Siemens-Martin-Verfahren genannt wurde. Über ein Jahrhundert war dieses Verfahren das weltweit wichtigste für die Herstellung von Stahl. Williams technisch-wissenschaftliche Leistungen und sein gewinnendes Wesen bereiteten ihm den Weg in einflussreiche Positionen der englischen Ingenieurwelt und der Wissenschaft.
Die Trilogie der Gründergeneration des Unternehmens Siemens, bestehend aus Werner, Carl und William, wird mit dieser Biografie Williams abgeschlossen. Sie behandelt eine Persönlichkeit, die in mehrerlei Hinsicht aus dem Rahmen der Siemens-Brüder fällt: ein zum Engländer mutierter Deutscher; ein Maschinenbauer, kein Elektrotechniker; ein universell tätiger Ingenieur und Wissenschaftler; ein antiborussischer Liberaler und eine selbstständige Persönlichkeit, die vor Konflikten weder im Unternehmen noch in der Familie zurückschreckte.
Die Biografie Williams eröffnet über die Charakterisierung der Persönlichkeit hinaus die Möglichkeit, England und Deutschland hinsichtlich der politischen Verhältnisse, des Ingenieurwesens sowie der Unternehmenskultur miteinander zu vergleichen. In den zwischen Werner und William gewechselten Briefen findet sich vielfach der Hinweis, der jeweils andere solle doch eine gewisse Zeit in London beziehungsweise Berlin verbringen, um die dortigen Bedingungen unternehmerischer Tätigkeit besser zu verstehen.
Die englischen Siemens-Aktivitäten haben in der Literatur eine umfangreiche und ansprechende Behandlung erfahren. Die ältere Arbeit von Richard Ehrenberg (1906) ist immer noch unverzichtbar. Die Studie Ehrenbergs bezieht sich auf zahlreiche Quellen und besitzt dadurch dokumentarischen Charakter. J.D. Scott (1958) bietet eine aus den Firmenakten erarbeitete Gesamtgeschichte von Siemens Brothers. Sigfrid von Weihers Geschichte der englischen Siemens-Werke (1990) ist sorgfältig mit Quellen belegt. Allerdings leidet die Arbeit darunter, dass von Weiher bedingungslos den Berliner Standpunkt Werners einnimmt. In Werners «Lebenserinnerungen» haben insbesondere die Charakterisierungen Williams einen hohen Quellenwert. Die Biografien über Carl von Siemens von Lutz (2013) und über Werner von Siemens von Bähr (2016) geben den aktuellen Forschungsstand wieder und gehen auch auf die Beziehungen zwischen den Brüdern ein.
Die relevante biografische Literatur über William beschränkt sich auf die 1888 in englischer Sprache und 1890 in deutscher Übersetzung erschienene Darstellung von William Pole.[6] Pole, ein Freund und Berufskollege Williams, wurde nach dessen Tod von der Familie mit der Abfassung der Biografie beauftragt. Er wertete Briefe und Akten aus, die teilweise heute nicht mehr zur Verfügung stehen.[7] Er holte Erkundigungen bei Verwandten, Kollegen und Freunden Williams ein sowie bei Institutionen, in denen William Mitglied war. Im Einzelnen kontaktierte Pole den langjährigen Privatsekretär Williams, Edward F. Bamber, die Sekretäre der Institution of Civil Engineers und der Society of Arts, Bruder Werner, Williams Frau Anne und den Ziehsohn Alexander Siemens sowie die Freunde Frederick Joseph Bramwell, William Thomson, William Henry Barlow und Edward A. Cowper. Die Arbeit Poles ist unverzichtbar, weil sie die umfangreichsten Informationen über William bietet und wichtige Quellen abdruckt. Allerdings weist sie nach heutigen historiografischen Kriterien eine Reihe von Schwächen auf. Pole bemüht sich zwar, das Leben Williams in die allgemeine Entwicklung der Technik und der Elektrotechnik einzuordnen, allerdings mündet selbst diese verkürzte Perspektive mehr in eine Chronologie als in eine kontextualisierte Darstellung.
Der aktuellen Biografie von William Siemens liegen zahlreiche Quellen aus vielfältigen Beständen zugrunde. Von diesen haben aber nur zwei eine herausgehobene Bedeutung. Den ersten zentralen Bestand bilden die Briefe Williams an Familienangehörige im Unternehmensarchiv des Siemens Historical Institute. Erhalten sind unter anderem 2236 Briefe zwischen William und Werner sowie 580 zwischen William und seinem jüngeren Bruder Friedrich, der mit William eine Reihe von Jahren zusammenarbeitete und sich Verdienste um die energiesparende Fabrikation von Glas erwarb.[8] Die Briefe Williams sind in aller Regel knapper gehalten als die seiner Brüder.[9] Und vielfach befassen sie sich mit Einzelheiten technischer Innovationen. Eine wertvolle Ergänzung erfuhr dieser Quellenbestand durch ein Bündel von Briefen, welche die English Electric Company 1953 von einer Cousine von Williams Frau Anne erwarb und edierte.[10] Diese Briefsammlung folgt keiner besonderen Ordnung, sie scheint mehr oder weniger zufällig zustande gekommen zu sein. Eine begrenzte Anzahl weiterer Briefe Williams liegt in einigen englischen, deutschen und Schweizer Archiven und Bibliotheken.
Den zweiten wichtigen Quellenbestand bilden die Publikationen Williams. Die allermeisten englischsprachigen Veröffentlichungen liegen in einer von seinem Privatsekretär Bamber erstellten mustergültigen Edition vor.[11] Eine Reihe von Werken wurde ins Deutsche übersetzt; einige Beiträge sind ausschließlich auf Deutsch erschienen. Besonders im Interesse einer bisher nicht vorliegenden vollständigen Zusammenstellung der deutschsprachigen Publikationen ist dieser Biografie ein Schriftenverzeichnis Williams beigegeben. Zu erwähnen ist noch, dass Williams Wirken in den technisch-wissenschaftlichen Vereinen einerseits aus deren historischen Darstellungen, andererseits aus den Vereinszeitschriften erschlossen worden ist. Die Briefe Williams, seine technisch-wissenschaftlichen Publikationen und die Vereinszeitschriften sind dafür verantwortlich, dass in der vorliegenden Biografie die Innovationen Williams einen großen Raum einnehmen. Aufgrund der Quellenlage steht dagegen die Schilderung Williams als Unternehmer und Privatmann zurück.
Die Biografie beginnt chronologisch und behält diese Darstellungsweise bis zur Gründung von Siemens Brothers 1865 bei. Dem folgt eine unter systematischen Gesichtspunkten strukturierte Gliederung, die auch frühere Ereignisse berücksichtigt. Ein längeres Kapitel ist Williams Positionierung zwischen England und Deutschland gewidmet. Dies betrifft seine private Umgebung, seine wissenschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen und seine politische Einstellung. Ein weiteres Kapitel geht auf seine technisch-wissenschaftlichen Arbeiten ein. Es wird besonderes Augenmerk auf den Erfolg und Misserfolg seiner Innovationen und ihre jeweiligen Ursachen gelegt.
Abschließend werden einige seiner bislang nur angerissenen Lebensbereiche bilanzierend zusammengefasst. Hierzu gehört Williams Beziehung zu den beiden anderen Exponenten des brüderlichen Triumvirats, zu Werner und Carl. Friedrich wird in diese Skizze mit einbezogen, weil er eine Zeit lang besonders intensive Arbeitsbeziehungen mit William unterhielt. Die Kapitel über William als Ingenieur und Wissenschaftler sowie William als Unternehmer charakterisieren seine Arbeit und seinen Lebensentwurf. Den Abschluss der Biografie bilden die Reaktionen auf seinen Tod sowie die Würdigungen seiner Freunde und Kollegen.
Die Biografie verarbeitet Material aus zahlreichen Archiven und Bibliotheken. Ich habe überall freundliche Unterstützung erfahren und möchte an dieser Stelle allen Beteiligten herzlich danken. Besonderer Dank gebührt dem Siemens Historical Institute. Es hat die Arbeit in vielfältiger Weise gefördert. Äußerst wertvoll war es für mich, dass Johannes von Karczewski, Ewald Blocher und Frank Wittendorfer die Zwischenergebnisse der Arbeit mit mir diskutiert haben. Diese Gespräche haben mir zahlreiche Anregungen vermittelt. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich für die Darstellung letztlich ganz allein verantwortlich bin. Mein abschließendes Dankeschön gilt Benjamin Gruber, der mich als Studentische Hilfskraft unterstützt und die Register angefertigt hat.
Norddeutschland um 1850
Kapitel 1
Wilhelm Siemens kam am 4. April 1823 als siebtes Kind der Eltern Christian Ferdinand Siemens (1787–1840) und Eleonore Siemens (1792–1839), geb. Deichmann, auf die Welt.[1] Insgesamt hatten die Eltern 14 Kinder, elf Söhne und drei Töchter, von denen allerdings vier früh starben. Der Vater bewirtschaftete ein Gut im Königreich Hannover. Das Jahr 1823, in dem Wilhelm geboren wurde, gestaltete sich für die Familie besonders turbulent. Aufgrund der napoleonischen Kriege und der sich anschließenden Agrarkrise war das Pachtgut in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, sodass es der Vater aufgeben musste. Er suchte und fand ein neues Gut in Menzendorf bei Lübeck im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz, einem der deutschen Kleinststaaten. Wilhelms Geburt erfolgte in der Übergangszeit zwischen den beiden Pachtverträgen.
Pächterhaus der Domäne Menzendorf, 1910
Wilhelm wuchs also in Mecklenburg auf einem landwirtschaftlichen Gut auf. Über seine früheste Jugend ist wenig bekannt. Weil der Weg zur nächsten Schule weit war, stellte der Vater ab 1829 Hauslehrer ein. Der erste dieser Lehrer wird in der Familienüberlieferung positiv gewürdigt, der zweite eher negativ. Der erste litt unter Depressionen und beging nach einem Jahr Selbstmord, der zweite starb nach zwei Jahren. Danach war die Familie für die Erziehung ihrer Kinder wieder auf die Schulen in der Umgebung angewiesen.
Bei den Eltern der Siemens-Kinder handelte es sich nicht um einfache Landwirte. Sie waren gebildet und legten Wert auf eine gute Erziehung der Söhne. Der Vater hatte das Gymnasium und die Universität besucht. Seine Briefe waren mit pädagogischen Ratschlägen an die Kinder versehen. So mahnte er Wilhelm, sich um gutes Deutsch zu bemühen.[2] Die älteren Brüder Werner (1816–1892) und Hans (1818–1867) schickte der Vater auf ein bekanntes Lübecker Gymnasium. Beide verließen die höhere Schule vor dem Abitur – möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen. Darin dürfte auch ein Grund dafür zu sehen sein, dass Wilhelm kein Gymnasium, sondern – ebenso wie seine jüngeren Brüder Carl (1829–1906) und Friedrich (1826–1904) – eine private Realschule in Lübeck besuchte. Zudem kamen die Eltern damit den Neigungen der Söhne nach, die sich mehr für Wirtschaft und Naturwissenschaften als für alte Sprachen interessierten. Wilhelms Groß’heimsche Realschule fungierte damals als Kaufmanns- und Handelsschule für Knaben.[3] Schwerpunkte lagen bei den modernen Sprachen, das heißt Englisch und Französisch, dem Rechnen und der Naturkunde. 1838, im Alter von 15 Jahren, verließ Wilhelm die Schule; die erworbenen Kenntnisse werden in etwa dem entsprochen haben, was später Mittlere Reife genannt wurde.
Lübeck, um 1850
In Lübeck kam Wilhelm bei Verwandten unter. Die räumliche Entfernung zum elterlichen Gut dürfte seiner Entwicklung eher gutgetan haben, denn zu Hause häuften sich die familiären und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Der Vater tat sich schwer, das Gut finanziell über Wasser zu halten. Die Mutter kränkelte, geschwächt durch die vielen Geburten, und starb 1839 im Alter von 47 Jahren. Der Vater litt ebenfalls unter Krankheiten sowie unter den wirtschaftlichen Belastungen. Er überlebte seine Frau nur um ein Jahr.
Mit 17 Jahren war Wilhelm also wie seine Schwestern und Brüder Vollwaise. Verwandte und Bekannte übernahmen die Vormundschaft. Darüber hinaus wuchs der sieben Jahre ältere Bruder Werner in die Funktion eines Mentors und Erziehers hinein. In der vielköpfigen Familie kümmerten sich die älteren, insbesondere Werner, um die jüngeren Geschwister. Die persönlichen Interessen Werners richteten sich ganz explizit auf die Naturwissenschaften, die Technik und die Mathematik. Für ein angedachtes Studium an der Berliner Bauakademie reichten die Mittel der Familie jedoch nicht aus. Werner entschied sich stattdessen – nach Absolvierung seiner militärischen Dienstzeit in Magdeburg – für den Besuch der Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin. Die dabei zwischen 1835 und 1838 erworbenen Kenntnisse konnte man durchaus mit denen eines Ingenieurs vergleichen. 1838 kehrte er als Artillerieleutnant nach Magdeburg zurück.
William Siemens, um 1847
Werner von Siemens, um 1842
Nach Abschluss der Realschule 1838 galt es für Wilhelm, eine Berufswahlentscheidung zu treffen. Die Familie liebäugelte mit einer Banklehre in Köln bei einem Verwandten der Mutter. Unter Einfluss Werners wählte man für Wilhelm schließlich die Ingenieurlaufbahn und schickte den 15-Jährigen zur Vorbereitung auf die Gewerbe- und Handlungsschule in Magdeburg. Dabei handelte es sich nicht um eine Ingenieurschule, sondern um eine Mischform aus allgemeinbildender Schule und Ausbildungsstätte für Handwerker und Kaufleute. Der Schwerpunkt lag auf den «realistischen» Fächern Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften, bezogen auf das, was man für den späteren Beruf brauchte. In den drei Jahren bis 1841, in denen Wilhelm die Schule besuchte, führte sie bis zu einer Art Fachabitur.[4] Die Ausstattung und die Qualität der Schule ließen zu wünschen übrig. Rückblickend sprach Wilhelm selbst von einer «begrenzte(n) Schulbildung».[5]
In Magdeburg wohnte Wilhelm eine Zeit lang mit Werner zusammen.[6] Werner gab dem jüngeren Bruder Nachhilfeunterricht in Mathematik und erteilte ihm auch sonst zahlreiche Ratschläge. In der Zeit zwischen 1838 und der Mitte der 1840er-Jahre, bis sich Wilhelm in England niederließ, dürfte der Einfluss Werners besonders groß gewesen sein. Wilhelm war zwischen 15 und 22 Jahre alt, Werner sieben Jahre älter. Die beiden besaßen ähnliche fachliche Interessen, aber Werner hatte seine Ausbildung bereits abgeschlossen; Wilhelm war dabei, sie zu beginnen, wobei er vom Wissen seines Bruders profitierte. Werner hatte einen relevanten Anteil an den Karriereentscheidungen für Bruder Wilhelm: dem Besuch der Gewerbe- und Handlungsschule in Magdeburg, dem – worauf noch einzugehen sein wird – Studium an der Göttinger Universität, der Lehre in einer Maschinenfabrik und den Reisen nach England. Zudem machte er Wilhelm mit seinen Erfindungen vertraut. Hinter Werners Erfindungstätigkeit stand sein technisch-naturwissenschaftliches Interesse, aber er suchte auch sein Offiziersgehalt aufzubessern, um die Familie durchzubringen. Wilhelm dürfte in Werner nicht nur einen älteren Bruder, sondern auch einen Mentor, Lehrer, Ingenieur und Wissenschaftler, kurz: ein mehrfaches Vorbild, gesehen haben.
Mathilde und Carl Himly, um 1840
Nach Abschluss der Magdeburger Schule ging Wilhelm 1841 an die Universität Göttingen. Ein solcher Studienaufenthalt war bereits 1839 im Gespräch gewesen.[7] In Göttingen wohnte Wilhelms ältere Schwester Mathilde (1814–1878), die 1838 den Chemiker Carl Himly (1811–1885) geheiratet hatte. Himly lehrte als Privatdozent an der Göttinger Universität. 1842 ging er mit seiner Frau nach Kiel, wo er zuerst eine außerordentliche, ab 1846 eine ordentliche Professur bekleidete. Mit den Brüdern Siemens unterhielt Himly in den folgenden Jahrzehnten nicht nur verwandtschaftliche, sondern auch wissenschaftliche und geschäftliche Verbindungen, aus denen aber nichts Bedeutendes hervorging. Die Himlys nahmen Wilhelm während seiner Studienzeit in ihrer Wohnung auf. Zu Himlys Gattin, seiner Schwester Mathilde, hatte er Zeit seines Lebens ein besonders herzliches Verhältnis, wovon ein umfangreicher Schriftwechsel und wechselseitige Besuche zeugen.
Bibliothek der Universität Göttingen, Kupferstich Ende 18. Jh.
Zwischen Mai 1841 und März 1842 belegte Wilhelm an der Universität ein buntes Potpourri an Fächern mit einem Schwerpunkt auf den Naturwissenschaften, angereichert durch Mathematik, Physische Geographie und Technologie.[8] Bei Friedrich Wöhler (1800–1882) hörte er Theoretische Chemie, bei Himly Angewandte Chemie und Physik und bei dem Privatdozenten Moritz Stern (1807–1882) Höhere Mathematik. Daneben assistierte er dem Physiker Wilhelm Weber (1804–1891) auf dessen Sternwarte. Weber hatte 1833 in Göttingen telegrafische Experimente durchgeführt. 1837 war er als Mitglied der Göttinger Sieben, die gegen die Aufhebung der Hannoveraner Verfassung protestiert hatten, seines Universitätsamtes enthoben worden. Werner schaltete sich in das Studium seines Bruders ein, indem er die Physik und Mathematik für wichtiger als die Chemie erklärte und Wilhelm zum Zeichnen und zum Selbstunterricht in der Maschinenkunde anhielt.[9] In der Göttinger Zeit dürfte Wilhelm ein breites, wenn auch oberflächliches naturwissenschaftliches Grundlagenwissen erworben haben. Dieses soll in Form eines Zeugnisses mit guten Beurteilungen attestiert worden sein.[10]
Nach seinem Abgang von der Universität Göttingen besaß Wilhelm eine befriedigende Allgemeinbildung mit Schwerpunkt auf modernen Sprachen, der Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern. In technische Bereiche dürfte er kleine Einblicke gewonnen haben. Ungewöhnlich war die Kürze seines Studiums an der Universität, das ihm zumindest naturwissenschaftliche Herangehensweisen nahegebracht haben dürfte. Ingenieur konnte man sich mit einem derartigen Ausbildungsprofil nicht nennen.[11] Der ganz überwiegende Teil der deutschen Ingenieure stammte in dieser Zeit aus der Praxis. Sie hatten in einer Maschinenfabrik gelernt, sich dort bewährt und weitere Erfahrungen in anderen Firmen gesammelt. Am besten auch in England, dem damals mit Abstand fortgeschrittensten Industrieland. Von den angehenden Ingenieuren erwartete man, dass sie ihr Wissen durch Selbststudium anreicherten, teilweise auch mithilfe technisch-wissenschaftlicher Abendkurse. Die im frühen 19. Jahrhundert gegründeten Polytechnischen Schulen, die Vorläufer der Technischen Hochschulen, besuchte in dieser Zeit nur eine Minderheit, und diese ging eher in den Staatsdienst als in die Industrie.
Dampfkesselschmiede, Ölgemälde von Joseph Huber-Feldkirch, 1891/92
Den nächsten Schritt auf Wilhelms Weg zum Ingenieur bildete eine Lehre in einer Maschinenfabrik. Werner brachte seinen Schützling im März 1842 als «nachträgliches Weihnachtspräsent» in der Stollberg’schen Maschinenfabrik in Magdeburg unter.[12] Dabei handelte es sich um ein renommiertes Unternehmen, das neben vielen anderen Produkten Dampfmaschinen anfertigte, gewissermaßen die Königsdisziplin des damaligen Maschinenbaus. Ein in der Fabrik getroffenes Arrangement verdeutlicht den damals üblichen Wissenstransfer: Wilhelm erteilte dem Sohn des leitenden Ingenieurs theoretischen Unterricht, und er wurde von diesem – wie von Bruder Werner gewünscht – in die Feinheiten des Maschinenzeichnens und -entwerfens eingewiesen. Bereits in Magdeburg bewies Wilhelm seine erfinderischen und konstruktiven Ambitionen, indem er die Regulierung der Dampfmaschinen zu verbessern suchte. Insgesamt blieb er bis Ende 1843, an die zwei Jahre, in der Fabrik, obwohl ihm Magdeburg inzwischen sehr provinziell vorkam.[13] Damit hatte er seine Ausbildung als Maschinenbauer abgeschlossen. Das ihm erteilte Zeugnis hob besonders seine zeichnerischen Fähigkeiten hervor.
Buckingham Palace, 1837
Kapitel 2
Werner hatte 1842 ein galvanotechnisches Verfahren entwickelt, mit dem sich dünne Schichten aus Gold, Silber oder Kupfer auf unedlere Metalle aufbringen ließen.[1] Man stellte auf diese Art und Weise prächtig aussehende, aber noch erschwingliche Kunst- und Gebrauchsgegenstände her, wie Pokale, Büsten und Gefäße. Die Zentren der galvanotechnischen Industrie befanden sich in Paris und Birmingham, mit Firmen wie Christofle und Elkington, Mason & Co. Die Grundzüge dieser Methode stammten von Werner, Schwager Himly und Bruder Wilhelm steuerten Anregungen für Verbesserungen und die Vermarktung bei.[2]
Mit dem Verfahren im Gepäck brach der 20-jährige Wilhelm im Februar 1843 nach England auf. Die Reise sollte der Vermarktung des Verfahrens dienen, aber sie erfüllte auch Wilhelms «sehnliche(n) Wunsch, England gesehen zu haben».[3] Dabei gelang es ihm schon unterwegs, eine Lizenz für die Verkupferung von Fenstersprossen an einen Hamburger Fabrikanten zu veräußern. In England erwarb er – nach Überwindung einiger Schwierigkeiten – ein Patent auf das Verfahren, bei dem er eine neuartige Stromquelle einsetzte.[4] Wilhelms Meisterstück bestand im Verkauf des Verfahrens an die beiden Besitzer des in Birmingham ansässigen galvanotechnischen Marktführers George Richard Elkington (1801–1865) und Josiah Mason (1795–1881).[5] Die beiden Unternehmer waren zwar nicht unbedingt von der Neuheit der Siemens’schen Erfindung überzeugt, ließen sich aber durch die von Wilhelm präsentierten praktischen Ergebnisse beeindrucken. Schließlich zahlten sie Wilhelm 1600 Pfund. Dies war – so Werner – eine «kolossale Summe, die unserer Finanznot für einige Zeit ein Ende machte».[6] Für Schwester Mathilde wurde Wilhelm durch diesen Erfolg zum «Goldbruder».[7]
London, Trafalgar Square, um 1865
Galvanisieranstalt Elkington, Mason & Co. in Birmingham, undatiert
Die beiden Brüder sahen ihre erfinderischen Anstrengungen durch den Verkaufserfolg belohnt. Da ließ es sich verschmerzen, dass die Erfindung kaum praktische Bedeutung gewann.[8] Elkington, Mason & Co. zogen letztlich doch andere Herstellungsverfahren vor. Wilhelms Überlegungen zur Errichtung einer Galvanisieranstalt in Berlin zerschlugen sich. Und auch andere Anwendungen wie die Herstellung von Kupferwalzen für den Textildruck ließen sich nicht realisieren.
Der finanzielle Erfolg des Galvanisierungsverfahrens schien den Brüdern den Weg in eine glänzende berufliche Zukunft zu weisen: Erfindungen zu machen und diese – vor allem in England – zu vermarkten. Als Wilhelm im Januar 1844 zu seiner zweiten England-Reise aufbrach,[9] hatte er zwei weitere Erfindungen im Gepäck: einen neuartigen Dampfmaschinenregler sowie ein neues Druckverfahren. Dampfmaschinen laufen nicht gleichmäßig. Ihre Geschwindigkeit hängt von dem Druck und der Temperatur des Dampfes ab sowie von der verrichteten Arbeit. Für einen gleichmäßigen Gang, der für eine Reihe von Anwendungen erforderlich war, benötigte man eine Regelung. Die damals am weitesten verbreitete Regelung stammte von James Watt (1736–1819). Bei dessen Zentrifugalregler trieb die Dampfmaschine ein an Hebeln befestigtes rotierendes Kugelpaar an. Abhängig von der Geschwindigkeit der Maschine veränderte sich die Hebelstellung und schloss bzw. öffnete eine Drosselklappe oder einen Schieber und regulierte damit den Dampfzutritt und die Maschinengeschwindigkeit. Das Problem des Watt’schen Reglers bestand darin, dass er nicht sehr schnell auf Änderungen der Geschwindigkeit reagierte.
Bereits 1842, während seiner Lehre in der Magdeburger Maschinenfabrik, hatte sich Wilhelm an einer Verbesserung der gebräuchlichen Schiebersteuerung versucht.[10] Als Ergebnis des Austauschs der Brüder über das Problem der gleichförmigen Bewegung entwickelte Werner einen «chronometrischen Regulator».[11] Dieser arbeitete mit der Differenz zweier Bewegungen: (1) Ein Gewichtsantrieb sorgte für eine stets gleichmäßige Rotation eines Körpers, (2) die Dampfmaschine erzeugte die andere (gegebenenfalls ungleichmäßige) Rotation. Die beiden Bewegungen wurden in Drehungen einer Mutter und einer Schraube umgesetzt. Drehten sich beide mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, dann steuerte dies den Dampfzutritt, sodass die Maschine wieder gleichmäßig lief. An der Ausarbeitung der Erfindung beteiligten sich Wilhelm und der Berliner Uhrmacher Ferdinand Leonhard, mit dem Werner in dieser Zeit kooperierte.[12] Das Schraube-Mutter-System wurde später durch konische Räder ersetzt.
Die Brüder ließen sich den Regler in mehreren Ländern patentieren. Sie machten sich Gedanken über mögliche Einsatzbereiche und entwickelten hierfür geeignete Varianten.[13] Dabei ging es um die Regelung von Schiffsantrieben, Windmühlen, Pumpwerken, Getreide-, Papier-, Säge- und Ölmühlen, Schmiedehämmern, Walzwerken und anderem mehr. Wilhelm tat sich für die Vermarktung des Regulators und anderer Erfindungen in England mit dem auf solche Arbeiten spezialisierten Ingenieur Joseph Woods (gest. 1849) zusammen.[14] Der Regler wurde in einer Reihe deutscher und englischer Maschinenfabriken zur Zufriedenheit erprobt. Siemens und Woods schlossen mit der Maschinenfabrik von John Hick (1815–1895) eine Vereinbarung zum Bau mit ihrer Regelung ausgestatteter Dampfmaschinen, eine Zusammenarbeit, die bis zum Ende der 1850er-Jahre andauerte.[15] 1846 stellte Woods den Regler in der Institution of Civil Engineers vor, der traditionsreichsten und prestigeträchtigsten englischen Ingenieurvereinigung.[16] Die anwesenden Ingenieure, darunter der Eisenbahnpionier Robert Stephenson (1803–1859), waren anschließend des Lobes voll. Ähnliche positive Erfahrungen machte Wilhelm Siemens ein paar Jahre später in der Institution of Mechanical Engineers.[17] Auf der Londoner Weltausstellung 1851 erhielt die Konstruktion eine Auszeichnung.[18] Die meisten der Käufer waren mit dem Regler zufrieden.
Chronometrischer Regler, Patentzeichnung 1845