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Seit 1971 praktiziere ich Shotokan Karate, so wie es die Japan Karate Association (JKA) von der Technik her lehrt. Ich hatte schon Anfang der 70er Jahre das Glück Karate-Vorführungen von Hiroshi Shirai, Keinosuke Enoeda, Koichi Sugimura und Hideo Ochi miterleben zu dürfen und mir schon früh die Frage gestellt, welches der Unterschied der Karatetechnik bei der Ausführung durch diese Koryphäen der JKA zu unserer Ausführungsform hier in Deutschland ausmachte, obwohl wir doch die gleiche Stilrichtung Shotokan praktizierten. Waren es lediglich die visuellen Unterschiede der körperlichen Physiognomie der Japaner zu uns Europäern oder waren es essentielle Unterschiede in der Ausführung der Karatetechniken. Diese Frage konnte ich für mich durch Training im Honbu Dôjô der JKA und im Hôzôji Dôjô von Norihiko Iida beantworten.
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Seitenzahl: 181
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Mein persönliches Karate-Lesebuch Autor: Jochen Harms Geb. 1955 in Rüdesheim am Rhein Polizeibeamter im Ruhestand; 43 Dienstjahre Karate seit 1971, 5. Dan Stilrichtung Shotokan
Durch das Karate habe ich in meiner mehr als 50-jährigen Aktivität viele besondere Menschen kennenlernen dürfen. Ihnen widme ich das vorliegende Buch.
Im Karate kommt es nicht darauf an, wie viel man austeilt, sondern wie viel man einstecken kann.
01 Prolog
02 Meine Anfänge im Karate – Jochen Harms
03 Hideo Ochi kommt nach Deutschland
04 Training in den 70er Jahren
05 Grundschul- und Prüfungsordnungskarate
06 Die Karate-Technik als solche
07 Die Grundtechniken des Karate
08 Die Karate-Technik am Beispiel eines Tsuki
09 Die Biomechanik der Karate-Technik
10 Die Atmung in der Technik – Hara –
11 Karatetechnik – Mehr sein als Schein
12 Anmerkungen zum Kumite
13 Essay über das Sport- und Wettkampfkarate
14 Mit Tetsuhiko Asai auf Deutschland-Tour
15 Mentale Einstellungen in den Kumite-Formen
16 Kampfkunst
17 Kampfgeist
18 Die Angst überwinden
19 Treffen in den Kumite-Formen
20 Kihon-Ippon-Kumite
21 Jiyû-Ippon-Kumite
22 Anmerkungen zur Kata
23 Tipps fürs Training!
Die Fehlerkorrektur
Trainingsgestaltung /Kreativität
24 Anmerkungen zum Mae-Geri
Haltung der Hände bei Mae-Geri
Fuß-Haltung bei Mae-Geri
Haltung des Knies bei Mae-Geri
Bewegung der Hüfte bei Mae-Geri
Treffen mit Mae-Geri
Entschlossenheit beim Tritt mit Mae-Geri
Vorteil des Mae-Geri als Technik
25 Schrittbewegung mit den einzelnen Stellungen
Bewegung Zenkutsu-Dachi/Kokutsu-Dachi
Gehen und Bewegen in den Fußstellungen
Übungsbeispiel für Wechsel in Fußstellungen
Vorwärts- und Rückwärtsgleiten
Vorgleiten mit Zenkutsu-Dachi
Mehrheitlich wird Zenkutsu-Dachi wie folgt gelehrt:
Häufige Fehler bei Zenkutsu-Dachi
Rückwärtsgleiten in Zenkutsu-Dachi
Kiba-Dachi
Übungsbeispiel für Bewegung mit Kiba-Dachi
Kokutsu-Dachi
Ausweichbewegung mit Abwehr bei gleichzeitiger Gleit- und Schrittbewegungen
26 Anmerkungen zum Makiwara
Treffen mit Mae-Geri am Makiwara
Zur Thema Handpratze
Beschreibung meines Makiwaras
27 Karate-Dô in Japan
28 Sensei bedeutet im japanischen Lehrer/Meister
29 Karate Do und spirituelle Erfahrung
30 Essay über uns Männer
31 Karate als Initiierungsritual zum Mann
32 Karate während des Älterwerdens
33 Karate als Tradition – Quo vadis, Karate
Kinder und Jugendtraining
34 Eindrücke von meinen Japanreisen
Meine Unterkunft in Tokyo
JKA Honbu-Dôjô in Tokyo Ebisu
Karate-Training im JKA Honbu-Dôjô
Training bei Masahiko Tanaka
Meine persönlichen Eindrücke in Tokyo
Karate-Training bei Iida Sensei
Kumite Übungen im Dôjô von Iida Sensei
Weitere Eindrücke in Japan
35 Resümee
Nach mehr als 50jähriger ununterbrochener Karatepraxis möchte ich in einem Art Lesebuch meine Erlebnisse schildern, welche ich im Zusammenhang mit meinem Karate gemacht habe. Einerseits die Erfahrungen beim Erlernen und Praktizieren der Karatetechnik, andererseits auch die spirituellen und kulturellen Aspekte in diesem Zusammenhang. Gerade was die Beschreibungen und Erklärungen der Karatetechnik betrifft, würde ich mir wünschen, dass der geneigte Leser das Buch immer wieder mal zur Hand nimmt, um zu verstehen, zu erlernen, sich weiterzubilden und insbesondere sich neu inspirieren zu lassen. Die Beschreibung der Karatetechniken erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Ein Sachbuch hätte anders strukturiert werden müssen und hätte dem Werk die Authenzität genommen. Somit waren einige inhaltliche Wiederholungen bei verschiedenen Themen unvermeidbar. Ich habe versucht die Themen herauszuarbeiten, welche nicht bei im Handel allgemein erhältlichen Karatelehrbüchern behandelt werden. Hierzu ist wichtig zu wissen, dass ich Shotokan Karate praktiziere, so wie es die Japan Karate Association (JKA) von der Technik her lehrt. Ich hatte schon Anfang der 70er Jahre das Glück Karate-Vorführungen von Hiroshi Shirai, Keinosuke Enoeda, Koichi Sugimura und Hideo Ochi miterleben zu dürfen und mir schon früh die Frage gestellt, welches der Unterschied der Karatetechnik bei der Ausführung durch diese Koryphäen der JKA zu unserer Ausführungsform hier in Deutschland ausmachte, obwohl wir doch die gleiche Stilrichtung Shotokan praktizierten. Waren es lediglich die visuellen Unterschiede der körperlichen Physiognomie der Japaner zu uns Europäern oder waren es essenzielle Unterschiede in der Ausführung der Karatetechniken. Diese Frage konnte ich für mich durch Training im Honbu Dôjô der JKA und im Hôzôji Dôjô von Norihiko Iida beantworten. Meine Erkenntnisse bezüglich der Japan Karate Association beziehe ich von meinen Reisen nach Japan im Zeitraum von 1980 bis 1986 und im Jahr 2003. Ich bin insoweit also nicht mehr auf dem neuesten Stand. Soweit möglich verfolge ich die Geschehnisse im Internet. Von den Karate-Wettkämpfen bei den Olympischen Spielen in Tokyo 2022 habe ich mir im Fernsehen fast alle Kämpfe angesehen. Manche Kämpfe mehrfach zur Analyse auch in der Mediathek. Das hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Ebenso die Betreuung und das tägliche Zusammensein mit Tetsuhiko Asai während seines Aufenthaltes in Deutschland in den Jahren 1997, 1998 und 2000 gaben mir neue Erkenntnisse und Impulse für meine schriftlichen Ausarbeitungen bezüglich des Karate. Zuletzt habe ich Asai Sensei im Jahr 2003 in Tokyo besucht.
Mein Art Karate zu praktizieren war von Anfang an philosophisch meditativ ausgerichtet. Ich habe gerade als Anfänger immer vom Karate praktizieren als Dô - Weg - gesprochen und wusste noch gar nicht, was damit eigentlich gemeint ist. Heute weiß ich, um was es dabei geht und bin auch diesen Weg gegangen. Nach jahrzehntelanger Karatepraxis würde ich nie in einem Gespräch das Thema Karate-Dô erörtern. Das Schweigen ist mir wichtiger. Es gibt unzählige Möglichkeiten Karate zu praktizieren. Jeder nach seiner eigenen Fasson.
Von der Karatetechnik her ist allerdings das Ziel, die qualitativ optimale Trefferwirkung – den Ippon - zu erreichen. In meinem Haus habe ich seit über 40 Jahren einen Makiwara installiert, an dem ich dies trainiere.
Gerade um meine Beschreibung der Karatetechnik zu verbessern war es erforderlich, auf Defizite bei der Vermittlung des Karate in der Vergangenheit hinzuweisen. Ich möchte meine Beschreibungen nicht als den erhobenen Zeigefinger verstehen, sondern ich weiß, was in der Vergangenheit alles geleistet wurde und dass man gar keine andere Möglichkeit hatte, die Technik so zu lehren, wie ich es heute teilweise in Frage stelle.
Bis 2009 habe ich in Frankfurter Karate-Dojos trainiert, überwiegend bei Efthimios Karamitsos. Im Oktober 2009 wechselte ich zum Karate-Dojo des Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) und leitete bis März 2020 dort in Mainz auf dem Lerchenberg einmal in der Woche zwei Trainingseinheiten. Ohne Wettkampforientierung und Prüfungsdruck habe ich hier wieder Freude an der Trainerarbeit bei der Gruppe 50 Plus gefunden. Meinen Karatefreunden Frank Fell-Bosenbeck, Mark Hugo und Gerhard Sund danke ich für ihre Anregungen und das Redigieren der vorliegenden Arbeit.
Mein eigener Karatewerdegang in den Anfängen ist wohl symptomatisch für diese Zeit: Meinen damals 20jährigen Trainer Ekkehard Schleis lernte ich 1971 als 16jähriger in einer Diskothek kennen. Er selbst hatte 1969 im Karate-Dôjô Lahnstein am Rhein bei Günther Holzer, Udo Philippzik und Harald Kwartitsch mit dem Karatetraining begonnen, ca. 50 km von seinem Heimatort Lorch am Rhein entfernt. Nachdem Ekkehard die Prüfung zum 7. Kyu bei Bundestrainer Hideo Ochi abgelegt hatte, fand er in der Nähe seines Heimatortes eine kleine Turnhalle und verlagerte sein Training ab sofort nach dort. Die Linoleumplatten hatten sich teilweise gelöst und die Halle wurde im Winter nicht beheizt.
Vorrangig für den neuen Trainingsort war die Verringerung der Entfernung zu den Trainingsmöglichkeiten, nicht aber das Ziel einer Dôjô-Neugründung, die sich dann aber automatisch ergab. Erste Mitglieder waren ein paar Interessierte aus dem Freundeskreis und schon wurde aus einem 7. Kyu ein Trainer. Die Kata Tekki Shodan brachte Ekkehard Schleis sich mittels eines Lehrbuchs von Masatoshi Nakayama selbst bei. Das Training fand dienstags und donnerstags in der Zeit von 20.00 Uhr bis 22.00 Uhr statt. Sonntags wurde zusätzlich von 10.00 Uhr bis 12.00 Uhr trainiert. Trainingsinhalt war das gesamte technisch bekannte Repertoire. Schon die Aufwämgymnastik, einschließlich konditioneller Übungen, dauerte ca. 45 Minuten. Nur noch Leistungssportler würden heute dieses Training konditionell durchhalten. Nach gefühlten 2 Minuten war unser Karate Gi (Marke Tokaido mit den Runenzeichen, welches Jürgen Seydel kreiert hatte) so nass, als hätte man ihn gerade aus dem Wasser gezogen. 9 Jahre später in Japan sollte sich dieses konditionsorientierte Training auszahlen. Wir wollten gute Karatekas werden und sahen Karate nicht als Sportart an, sondern wollten den Weg des Karate gehen – das Karate Dô. Was Karate Dô ist, wussten wir - heute ehrlicherweise eingestandendamals noch nicht. Sportliche Wettkämpfe, außer den jährlichen Deutschen Meisterschaften, gab es damals nicht und die Vorstellung, Karate irgendwann als Wettkampfsport auf breiter Basis betreiben zu können, gab es nicht. Die Disziplin während des Trainings war sehr streng. Wer zu spät zum Training erschien, machte erst mal drei Runden im „Entengang“ durch die Halle. Nur in den Oster- und Weihnachtsferien war Trainingspause. In den Sommerferien, wenn die Sporthalle geschlossen war, trainierten wir im Freien auf einer Wiese. Während dieser Zeit habe ich kein einziges Training versäumt. Nach 24 Monaten und ca. 240 Trainingseinheiten Karate bestand ich die Prüfung zum 9. Kyu bei Gerd Löw. Im Juli 1973 ging es dann zum ersten großen Sommerlehrgang nach Kiel mit Asano, Miura, Nagai, Kazuhiro Sawada, Hiroshi Shirai, Shinseki Takano und natürlich Hideo Ochi Sensei. Auf dem Zeltplatz hatten wir uns mit den Karatekas aus Montabaur (Uwe, Heidi Zimmermann, Gerd, Gerald, Norbert Schwickert, Marianne Pohl) und aus Gießen (Ronny Repp, Bernd Gerich) angefreundet. Meine Prüfung zum 8. Kyu legte ich bei Nagai ab. Während der gesamten Prüfung saß er auf einem Stuhl, hatte die Füße zum Schneidersitz angezogen und schaute permanent nach unten – bei allen Prüflingen. Eine junger deutscher Prüfungsbeisitzer rief die Prüflinge namentlich auf und sagte auch die Techniken an: Erst alle Prüflinge Kihon, dann Gohon Kumite und zuletzt Heian Shodan. Im Ausweis steht jedoch Ochis Namensstempel und Unterschrift. Nach der Heian Shodan bei der Prüfung kam ein Mädchen aus dieser Gruppe und sagte spontan, sie hätte noch nie so gut von jemandem die Kata Heian Shodan vorführen gesehen. Ich glaube auch heute noch, dass die Kata sehr gut von mir ausgeführt worden ist. Es war aber zu diesem Zeitpunkt auch die einzige Kata, welche ich kannte.
Wenn ich meine bis dahin absolvierten Trainingseinheiten (ca. 250) mit jeweils 5 Heian Shodan durchschnittlich im Training multipliziere, dann sind das 1250mal die Heian Shodan für den 8. Kyu. Die Prüfung zum „Orangegurt“ habe ich noch im Oktober 1973 bei Ochi Sensei in Montabaur abgelegt. So oft wie möglich fuhren wir dann zu Lehrgängen, insbesondere zu Ochi Sensei, welcher eine unbeschreibliche Begabung hatte, uns zu motivieren. Insbesondere wenn er zur Demonstration das Bein zu Mawashi Geri Jodan anhob, es in der Höhe hielt und die Fußhaltung von dem mit dem Spann getretenen Fuß zur Fußhaltung mit dem Fußballen wechselte. Ochi Sensei sah ich zum ersten Mal im Herbst 1971 auf einem Lehrgang in Montabaur. Er erschien im blauen Anzug mit Krawatte, in seinem Aktenkoffer hatte er ordentlich seinen Karategi verstaut; ganz Japaner. Die Aufbauarbeit von Ochi Sensei war für Generationen von Karatekas in Deutschland prägend.
Osterlehrgang 1992 in Frankenthal mit Hideo Ochi
Wegen Unstimmigkeiten mit den Funktionären beendete Hirokazu Kanazawa seine Arbeit für den DKB und führte auf seinem Abschiedslehrgang am 1. April 1970 in Krefeld seinen Nachfolger Hideo Ochi ein. Dieser wurde ab 1. Juni 1970 auch offizieller Bundestrainer des DKB. Im DKB sind zu diesem Zeitpunkt 104 Dojos gemeldet. Das Erfolgsrezept der nun beginnenden Ära liegt wohl an der Tatsache, dass der Bundestrainer (BT), eigentlich zuständig für den Spitzensport, an Wochenenden durch die Lande reist und bei den Vereinen Lehrgänge abhält. Es sind nicht wenige Enthusiasten, die BT Ochi zu den jeweiligen Lehrgängen quer durch die Republik nachreisen. Ochis charismatische Persönlichkeit und seine hohe Sachkompetenz sind weitere Ursachen des Erfolgs. Nationalkaderathleten und Breitensportler, einschließlich Karateanfänger, trainieren und übernachten gemeinsam in ein und derselben Sporthalle. Ein Funktionär, der nicht mehr aktiv Karate trainiert, ist die Ausnahme. Bis zu Beginn der 80er kommt es vor, dass Kaderathleten und Bundesvorstand gelegentlich gemeinsam trainieren. Hideo Ochi (Aussprache des Vornamens: Hide…o!) wurde am 29.02.1940 in Tajio /Ehime geboren. Im Alter von 16 Jahren begann er mit dem Karate-Training. Nach Abschluß seines Studiums 1962 an der Takushoku Daikagu (Daikagu heißt Universität) begann er bei der Japan Karate Association mit der Ausbildung zum Instructor, die er 1964 erfolgreich beendete. Für seinen Einsatz für die Völkerverständigung und für sein großes soziales Engagement wurde ihm 1997 das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Zu dem Beginn der 70er Jahre waren die Vereine und der Trainingsinhalt nicht so strukturiert, wie es heute ist. Unsere Trainer waren selbst noch Lernende und hatten erst gerade einen Kyu-Grad. Mein Trainer hatte als höchste Graduierung in unsere Karategruppe den 7. Kyu, als ich mit dem Karate anfing. Selten waren wir mehr als 6 Leute im Training. Es wurde von der Gymnastik und Kräftigungsübungen bis über die Karatetechniken alles ausgeführt, was dem Trainer bekannt war. Zu Beginn wurden bis zu 45 Minuten Gymnastik und Kräftigungsübungen durchgeführt. Nach heutigem Maßstab könnte die Mehrzahl der derzeitigen Karatesportler bezüglich des damals geforderten konditionellen Anspruchs jetzt erschöpft nach Hause gehen. Das Training insgesamt dauerte 2 Stunden (Anmerkung: Wir trainierten in Kaub am Rhein, dienstags und donnerstags von 20:00 Uhr bis 22:00 Uhr und sonntags von 09:30 Uhr bis 12:00 Uhr). Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als mein damaliger Trainer mit Hilfe eines Kata-Lehrbuchs von Masatoshi Nakayama sich selbst die Kata Tekki Shodan beibrachte.
Im Oktober 1972 fuhren wir dann sonntags nach Saarbrücken zu einem Ochi Lehrgang. Als wir ankamen, fanden gerade Dan-Prüfungen statt. Von gefühlt 16 Prüflingen zum Shodan-Diplom hatten nur 4 bestanden. Von der Tribüne aus hatte ich die Prüfung von Karatepionier Bernd Hinschberger zum 2. Dan mit Kumite-Partner Uli Buss beobachtet. Es war das erste Mal, dass ich einen Karateka mit offenen Händen kämpfen sah. Da mein Trainer Ochi Sensei bekannt war, konnte er noch die Prüfung zum 3. Kyu ablegen. Innerhalb der Prüfung war es für meinen Trainer das erste Mal, dass ihn jemand bei der aus einem Karate-Lehrbuch erlernten Kata Tekki Shodan korrigierte. Ochi Sensei stand kurz auf und zeigte ihm die einzelnen Sequenzen aus der Kata – bestanden.
Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass es zu den Anfangsjahren erst einmal um das Erlernen der Technik in der Grundschule und den Ablauf der einzelnen Katas ging. Der breiten Masse diese Basis zu vermitteln bedeutete, dem Karate einen seriösen Unterbau zu geben. Das Karate in Deutschland konnte lange Jahre von dieser Aufbauarbeit zehren, bevor es ins Mittelmaß abgeleitete. Heute kommt es mehr darauf an, den Ablauf der Prüfungsordnung zu beherrschen, als auf das Niveau der Technik. Wer dann in der Prüfung sich nicht außergewöhnlich täppisch anstellt, besteht locker die Prüfung zum 1. Dan. Die Karatekas, welche 1972 die Prüfung in Saarbrücken zum 1. Dan und 2. Dan nicht bestanden, könnten mit ihrem Technikniveau von damals mit Leichtigkeit heute die Prüfungen zum 4. und 5. Dan ablegen
Karate wird heute mehrheitlich als Breitensportart praktiziert. Die Betonung bezüglich der Technikausführung liegt im Verzicht auf Trefferwirkung und Schutz der körperlichen Unversehrtheit. Das ist ethisch und moralisch vollkommen richtig. In den halbfreien Kumiteformen hat das zur Folge, dass gar nicht mehr ernsthaft angegriffen wird. Es könnte ja etwas passieren.
Es hat sich ein Grundschul- (oder Basistechniken-Karate) und Prüfungsordnungskarate etabliert, bei dem die dynamischen Angriffsbewegungen in den halbfreien Kumiteformen mit dem ernsthaften Ziel zu treffen nicht mehr praktiziert werden. Ich beziehe mich hierbei auf die Mehrzahl der Karate Dôjôs in Deutschland, Ausnahmen gibt es immer.
Somit sind auch die essentiellen Herausforderungen im Karate verloren gegangen. Dynamisches Karate bedeutet mit dem Willen zu treffen anzugreifen. Nur so kann sich Kampfgeist entwickeln. Grundvoraussetzung für eine dynamische Technik ist, dass ich innerlich körperlich locker bin und die Phase der statischen Angriffstechnik überwunden habe. Ebenso dazugehörig ist, dass die Angst des Treffens und Getroffenwerdens überwunden wurde.
Was verstehe ich unter Treffen. Sollen beide Übenden sich eine blutige Nase holen und mit einem Höchstmaß an Trefferwirkung aufeinander einschlagen und eintreten? Nein, hier muss man grundsätzlich den Unterschied zwischen der grundschulmäßigen Ausführung eines Tsuki und dem schnellen dynamischen Tsuki unterscheiden. In der Grundschule ist die Faust des ausführenden Armes schon an der Hüfte gespannt. Und auch der Weg zum Endpunkt der Fausttechnik reicht nicht aus, den Unterarm zu entspannen. Die Technik ist zwar sehr schnell, erreicht aber nicht die optimale Geschwindigkeit. Kommt jetzt bei der Ausführung der Gedanke hinzu, die Technik wird im Endpunkt mit höchster Anspannung gestoppt, hat das zur Folge, dass die Arretierungsphase zu lange dauert und es bei Kontakt zu Verletzungen kommt. Ich möchte jedoch betonen, dass das Praktizieren von „Grundschul-Karate“ eine seriöse und sinnvolle Art darstellt, sein eigenes Karate zu betreiben. Es entwickeln sich auch hier sehr starke Techniken, welche in der Praxis ihre Trefferwirkung entfalten können. Dieser Art des Karate fehlt es jedoch an Beweglichkeit, welche die Fähigkeit zum „Freikampf“ erheblich beeinträchtigt.
Karate-Technik heißt mittels Schlagen, Stoßen und Treten die Techniken so schnell wie möglich (Schnelligkeit) ins Ziel zu bringen unter Einnahme einer günstigen Ausgangs- und Endposition, in dieser Endposition alle Muskeln für den Bruchteil einer Sekunde anzuspannen (Kraft/Kime), wobei die dabei ausgehende Energie in einem einzigen Punkt einer kleinen Trefferfläche fokussiert wird. Trifft diese Technik den richtigen Vitalpunkt am menschlichen Körper, so zeigt sie Wirkung und ist unter Umständen tödlich. Jissen – mit einer Technik töten.
Die Fachliteratur, bei denen die Karate-Techniken nach sportwissenschaftlichen Aspekten behandelt werden, ist sehr überschaubar. Die Beschreibungen der einzelnen Techniken entsprechen in der Ausführung den Grundformen (Grobform). Die Ausführung der Techniken in der Stilrichtung Shotokan richten sich grundsätzlich nach dem Buch Karate-Dô - Dynamic Karate - von Masatoshi Nakayama. So ist es auch in der Prüfungsordnung der Stilrichtung Shotokan im Deutschen Karate Verband e.V. verzeichnet. Das Buch erschien Anfang der 60er Jahre in Japan und wurde von Jürgen Seydel aus dem Englischen übersetzt und erschien 1968 in Deutschland. Für die damalige Zeit ein sehr umfangreiches Werk über die Basistechniken des Shotokan Karate. Von der Beschreibung der einzelnen Techniken her kann man dies heute als „Grundform“ der Basistechniken bezeichnen. Den heutigen Ansprüchen nach sportwissenschaftlichen Aspekten der Technikbeschreibung wird dieses Werk nicht mehr gerecht. Wer fachkundig in dem Lehrbuch etwas nachlesen will wird feststellen, dass die Texte mit der Technikbeschreibung ermüdend sind.
Mir ist als Karateka, welcher über Karate schreibt bewusst, dass meine Beschreibung der Techniken bei der Ausführung der Techniken stark stilrichtungsbedingt geprägt sind. Bedingt durch die Karate-Stilrichtungen gibt es im Karate eine bereichernde Vielfalt, welche von einem einzelnen nicht in der Gesamtheit erfasst werden kann. Meine Aufzeichnungen beziehen sich auf die Techniken der Stilrichtung Shotokan oder leiten sich davon ab, insbesondere den Techniken, wie sie bei der Japan Karate Association (JKA) in Japan gelehrt und ausgeführt werden.
Gleichzeitig möchte ich jedoch anfügen, dass ich sehr viel von anderen Karatestilrichtungen gelernt und übernommen habe. Die Stilrichtung Goju Ryu Seibukan, insbesondere Sensei Dom Maldonado (US Air Force Wiesbaden, 1985), half mir, das richtige Atmen zu verstehen. Ich kann nur jedem interessierten Karateka empfehlen, sich mit anderen Karatestilrichtungen zu befassen, um so sein eigenes Karate zu vervollständigen und zu bereichern.
Das Shotokan-Karate, wie es in Deutschland gelehrt und praktiziert wird, damit meine ich in den drei Grundsäulen Kihon, Kata und Kumite, würde ich als Grundschulkarate oder Grundtechniken-Karate bezeichnen, weil es ihm an Beweglichkeit fehlt. Ich möchte jedoch betonen, dass auch diese Form Karate zu praktizieren eine seriöse und sinnvolle Art darstellt. Es entwickeln sich auch hier starke Techniken, welche in der Praxis ihre Trefferwirkung entfalten können.
Ich bin ein Karateka, welcher anfangs der 70er Jahre die Grundtechniken des Karate erlernt hat. Als ich 1980 zum ersten Mal in Japan im Honbu Dôjô der JKA in Tokyo, Ebisu, zum Training war, sah ich sofort, dass die Japaner die Techniken „lockerer“ und vor allem schneller ausführten. Seither orientiert sich meine Ausführung der Karatetechnik, wie sie von der Japan Karate Association (JKA) in Japan praktiziert wird. Ich war es gewohnt, die Techniken mit äußerster Anspannung auszuführen und hatte in den 9 Jahren meiner bisherigen Karatepraxis, ohne es zu merken mir antrainiert, die Techniken dadurch verspannt auszuführen. Mein Tsuki hatte auf dem Weg zu viel Anspannung. Bedingt durch meine starken Techniken an sich, ließ ich mich darüber hinwegtäuschen, als ob alles so in Ordnung wäre. Schon bevor meine Faust von der Hüfte aus nach vorne startete, war sie fest geschlossen. Hierdurch hatte auch der Unterarm zu viel Spannung. Heute setzte ich nur so viel Muskelkraft ein wie erforderlich, damit die Faust geschlossen bleibt. Erst im Fokus ist die Faust maximal für einen Bruchteil einer Sekunde angespannt. Als ich nach 6 Wochen Aufenthalt wieder nach Deutschland zurückkam und mit anderen Karatekas darüber sprechen wollte stellte ich fest, dass mich niemand verstand und auch verstehen wollte. Alle praktizierten die Techniken mit voller Anspannung. Mein Freund Efthimios Karamitsos war einer der ersten in Deutschland, welche die Schnelligkeit der Technik praktizierte mit Fokussierung der Spannung im Endpunkt.
Meine Beobachtung bezüglich des Erlernens und Verfestigens der Technik ist die, dass zu viele Karatekas zu früh mit der Entwicklung ihrer Technik aufhören oder besser gesagt auf einem bestimmten Niveau stehen bleiben. Nur den Bewegungsablauf der Technik in der Grundform (Grobform) zu beherrschen und die Technik entsprechend auszuführen, reicht meines Erachtens nicht aus. Der Karateka muss die Technik voll und ganz verstehen, nur dann entwickelt er ein entsprechendes Feingefühl. Übertragen in den Fußballsport heißt das, dass ein Spieler auch Ballgefühl benötigt. Sobald die Fausttechniken schnell ausgeführt werden sollen, ist bei nicht wenigen Karatekas zu beobachten, wie plötzlich die Fäuste in allen Variationen zunächst geöffnet werden. Bei manchen Karatekas sogar in der Endphase der Technik. Nach einigen Jahren sind dann diese Techniken verfestigt. Ich schreibe dies nicht als Kritik, nein, ich schreibe für den Karateka, der sich mit seiner Technik auseinandersetzt und entsprechend weiterentwickeln will.