Gott ist nicht der man mit dem langen weißen Bart - Jochen Harms - E-Book

Gott ist nicht der man mit dem langen weißen Bart E-Book

Jochen Harms

0,0

Beschreibung

Im Christentum geht es um die Selbstverantwortlichkeit des Menschen. Gleichzeitig weiß der Christ um seine Unzulänglichkeit und seiner Geborgenheit im Glauben. Gotteserkenntnis ist eine Frage der Vernunft und der Verstandesnotwendigkeit. Der Mensch in Erkenntnis seiner beschränkten geistigen Fähigkeiten findet im Glauben an ein göttliches Sein Geborgenheit und Gewissheit, dass alles Geschehen und letztendlich das Sein einen Sinn ergibt, ohne es verstehen zu müssen. Jede Epoche hat für die Menschen in der jeweiligen Zeit eine für sie verständliche und nachvollziehbare Darlegung des Glaubensinhalts. Der Glaubensinhalt und das Glaubensgeheimnis, hier Spiritualität, muss mit sprachlichen und gedanklichen Mitteln der menschlichen Vernunft zeitgemäß verständlich dargestellt werden, ohne es inhaltlich zu verändern und einer Beliebigkeit preiszugeben, so dass sich die Menschen in unserer Gesellschaft wieder neu entscheiden können.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 136

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Auszüge aus dem Inhalt:

Im Christentum geht es um die Selbstverantwortlichkeit des Menschen. Gleichzeitig weiß der Christ um seine Unzulänglichkeit und seiner Geborgenheit im Glauben

Die ethische Grundausrichtung der Christen, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, spiegelt die alltägliche Lebenserfahrung wider, dass derjenige, der nur sich selbst liebt, genauso wenig zur Menschenliebe fähig ist, wie der, der sich selbst nicht akzeptieren und lieben mag. Um sich selbst zu sein, also ganz Mensch zu werden, ist es erforderlich ehrlich zu sich selbst zu sein. In Abständen sich selbst zu reflektieren und so sich seiner selbst bewusst zu machen, wie man als Persönlichkeit ist. Dies ist die Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens. Selbstbestimmtes Leben hat zur Folge, eine innere Ausgeglichenheit zu verspüren, in sich selbst zu ruhen, welches unser Umfeld als Haltung wahrnimmt. Wer dauerhaft nicht sich selbst ist, verspürt eine innere Unruhe, ist unter Umständen permanent auf der Suche nach etwas, was er selbst nicht genau definieren kann und ist besonders anfällig für den Tanz um das Goldene Kalb.

Jede Epoche hat für die Menschen in der jeweiligen Zeit eine für sie verständliche und nachvollziehbare Darlegung des Glaubensinhalts. Der Glaubensinhalt und das Glaubensgeheimnis, hier Spiritualität, muss mit sprachlichen und gedanklichen Mitteln der menschlichen Vernunft zeitgemäß verständlich dargestellt werden, ohne es inhaltlich zu verändern und einer Beliebigkeit preiszugeben, so dass sich die Menschen in unserer Gesellschaft wieder neu entscheiden können.

Als geistige Projektion – Schöpfung - ist das Jenseits somit keine Illusion, sondern nur eine andere Form der Realität, welche in Wechselwirkung mit dem Diesseits steht. Diese Wechselwirkung ist in der Kontemplation im Glauben erfahrbar. Das Jenseits ist nicht im Reich der Fiktion angesiedelt, sondern eng verbunden mit der realen Welt. Das Jenseitige ist daher fortwährend präsent aus der Tatsache, dass es existent ist.

Ein Lesebuch ist im Gegensatz zum Sachbuch ein nicht strukturiertes Werk, welches die Möglichkeit eröffnet, an unterschiedlichsten Stellen in das Buch einzusteigen und sich seine eigenen Gedanken über die Themen zu machen.

Inhaltsverzeichnis

01 Prolog

02 Gott ist nicht der Mann mit dem langen weißen Bart

03 Gedanken zum Christlichen Glauben

04 Säkularisierte Gesellschaft

05 Christliche Sozialisierung der europäischen Gesellschaften

06 Die Verleugnung der metaphysischen Ebene

07 Wer Gott spüren will, muss es zulassen

08 An Gott glauben aus Vernunftgründen

09 Essay über die Zeit - Gibt es Zeit

10 Philosophischer Exkurs über das Sein

11 Was ist Geist – Der Mensch als Ebenbild Gottes

12 Leben nach dem Tod

13 Spiritualität s

14 Über das Beten

15 Atheismus

16 Der sonntägliche Gottesdienst

17 Adam und Eva, eine etwas andere Sichtweise auf die ersten Menschen!

18 „Wenn dir einer auf die linke Wange schlägt

19 Wer dieses Brot isst!

20 Das Prinzip der Dreifaltigkeit

21 Meine persönlichen Erfahrungen mit der Kirche in meiner Jugend

21.1 Ein Blick zurück in Kindheit und Jugend

21.2 Rückblende in meinen Heimatort

22 Auszeit zweier Polizeibeamte im Kloster auf Zeit

23 Kloster auf Zeit

23.1 Unsere Gruppe im Kloster auf Zeit

23.2 Spiritualität

23.4 Resümee Kloster auf Zeit

24 Meine persönlichen Gedanken zum Synodalen Weg

24.1 Synodaler Weg

24.2. Die Kirche befindet sich seit 2000 Jahren in der Krise

24.3. Das Problem der Kirche in Europa ist die Glaubensfrage

24.4. Spirituelle Erfahrung und Ausrichtung

24.5. Sexualität

24.6 Homosexualität

24.7. Sexueller Missbrauch

25 Mein Weg im Karate

25.1 Karate Dô und spirituelle Erfahrung

25.2 Das Wesen des Senseis (Lehrer) in der fernöstlichen Kultur

26 Reife Persönlichkeit

27 Was würde ich im Gespräch mit einem Brautpaar mitteilen

27.1 Christliche Haltung als Familie

27.2 Einsichten über die Liebe von Mann und Frau

27.3 Und warum Religion innerhalb der Ehe oder Lebensgemeinschaft

28 Oder Gott ist doch der Mann mit dem weißen Bart!

29 Theologische Erstarrung der Institution Kirche

30 Epilog

01 Prolog

Im Januar 2017 bin ich nach 43 Jahren im Polizeidienst des Landes Hessen in Ruhestand gegangen. Nach 50jähriger Abstinenz besuche ich wieder regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst. Um mir Klarheit über meine eigene Position zum christlichen Glauben zu verschaffen, habe ich angefangen über verschiedene Themen zu schreiben. Da ich kein Sachbuch schreiben wollte, habe ich ein persönliches Lesebuch verfasst. Ein Lesebuch ist im Gegensatz zum Sachbuch ein nicht strukturiertes Werk, welches die Möglichkeit eröffnet, an unterschiedlichsten Stellen in das Buch einzusteigen.

Einige inhaltliche Wiederholungen waren bei der Darstellung der verschiedenen Themen nicht vermeidbar. Gerade aus der Tatsache, dass ich kein Theologe bin, keine neue Religion oder Glaubensrichtung gründen will und manchmal selbst im Zweifel über meine Thesen bin, machen meine Arbeit interessant. Meine Ausführungen hier sind nicht wissenschaftlich, spiegeln meine persönliche Meinung und sind in verständlicher Ausdrucksweise wiedergegeben. Spätestens seit Anfang der 70er Jahre des vorherigen Jahrhunderts kann man davon sprechen, dass mehrere Generationen zwischenzeitlich religionslos aufgewachsen sind. Und wenn man nichts über Religion und den christlichen Glaubensinhalt weiß, dann kann man sich auch nur für das Nichts entscheiden. In Philosophie und Religion werden die Fragen nach dem großen Woher und Warum hörbar überhaupt nicht mehr gestellt und im universitären Wissenschaftsbetrieb in immer abstraktere Wissenschaftstheorien verpackt, welche die Menschen nicht mehr erreichen. Ich möchte nicht den erhobenen Zeigefinger heben und den geneigten Leser belehren, sondern zum Nachdenken anregen, damit er sich seine eigene Meinung zur Thematik bildet.

Uns Menschen ist aufgrund unserer Denkstruktur eine widerspruchslose Einsicht in die letzten Gründe unseres Daseins nicht gegeben. Der Christ hat sich durch sein Vertrauen in Gott für die Hoffnung entschieden, dass in letzter Konsequenz alles, was geschieht seinen Sinn hat, auch wenn wir es durch unser Menschsein nicht immer erkennen können. So ist unser Dasein und Glauben auch immer durch die symbolische Darstellung aus unserem Menschsein heraus zu verstehen.

02 Gott ist nicht der Mann mit dem langen weißen Bart

Wer weiß denn, ob es Gott überhaupt gibt? Diese Frage stellte ein Journalist, welcher in einer Tageszeitung hier im Rheingau über den Synodalen Weg berichtete. Ich schrieb ihm folgende Antwort, welche auch veröffentlicht wurde:

„Unsere Frage heute lautet eher: Wer weiß denn, ob es Gott überhaupt gibt?“ Eine Frage, die sehr leicht zu beantworten ist: Niemand! Die Frage nach der Existenz Gottes, ist immer eine Glaubensfrage. Glauben heißt im wissenschaftlichen Sinn, ich weiß es nicht, bin aber der festen Überzeugung, dass es so ist. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass Gott existiert, liegt bei 50 %. Kann sein, kann nicht sein! Für uns Christen wurde die Welt und alles Sein von einem allmächtigen und liebenden Gott aus dem göttlichen Geist heraus erschaffen. Für den Atheisten war es der Zufall, dass die Materie aus dem Nichts gekommen ist bzw. schon immer existent war. Dies würde bedeuten, dass sich der Geist, das Bewusstsein (Ebenbild Gottes) in Form von Ich, ich bin, erst im Lauf der Evolution herausgebildet hätte. Geneigter Leser: Stellen sie sich stellvertretend für die Materie einen Haufen Sand vor oder ein „Nichts“, aus dem durch göttlichen Willen die Materie geschaffen und der Geist in die Welt gesandt wurde. Der Atheist hat sich für den Haufen Sand entschieden, der schon immer existent war, aus dem der menschliche Geist entstanden ist in der Hoffnung, dass sein Leben ein für ihn günstigen Verlauf nimmt. Spiritualität im Glauben heißt, die Gegenwart Gottes spüren. Intuitives Erkennen und Verstehen, ohne es in Worte fassen zu können. Wer Gott spüren will, muss es zulassen. Wer Christ sein will, muss sich dafür entscheiden. Man muss es zulassen. Man kann niemanden von etwas überzeugen, der es letztendlich nicht will.“

03 Gedanken zum Christlichen Glauben

Im Christentum geht es um die Selbstverantwortlichkeit des Menschen. Gleichzeitig weiß der Christ um seine Unzulänglichkeit und seiner Geborgenheit im Glauben. Gotteserkenntnis ist eine Frage der Vernunft und der Verstandesnotwendigkeit. Der Mensch in Erkenntnis seiner beschränkten geistigen Fähigkeiten findet im Glauben an ein göttliches Sein Geborgenheit und Gewissheit, dass alles Geschehen und letztendlich das Sein einen Sinn ergibt, ohne es verstehen zu müssen. Jede Epoche hat für die Menschen in der jeweiligen Zeit eine für sie verständliche und nachvollziehbare Darlegung des Glaubensinhalts. Der Glaubensinhalt und das Glaubensgeheimnis, hier Spiritualität, muss mit sprachlichen und gedanklichen Mitteln der menschlichen Vernunft zeitgemäß verständlich dargestellt werden, ohne es inhaltlich zu verändern und einer Beliebigkeit preiszugeben, so dass sich die Menschen in unserer Gesellschaft wieder neu entscheiden können. Sprache und die inhaltliche Ausdrucksweise unterliegen einem permanenten Wandel. Literatur von Goethe und Schiller in ihrer inhaltlichen und sprachlichen Ausdrucksweise berühren die Menschen nicht mehr, geschweige denn, dass ein allgemeines Interesse an diesen Werken noch vorhanden wäre. Nur wer aus beruflichen Gründen sich mit diesen Werken befasst oder als Schüler im Deutschunterricht damit traktiert wird und wenige, statistisch nicht messbare Literaturliebhaber, lesen diese Bücher noch.

Das frühe Christentum war eine Bewegung der Armen und Entrechteten. Als das Römische Reich im 4. Jahrhundert nicht mehr zu weiteren gesellschaftlichen und politischen Entfaltungen in der Lage war, wurde dieses Vakuum von der Institution Katholische Kirche gefüllt, indem sie offizielle Religion des Römischen Reiches wurde. Anstelle wie zuvor, die herrschende weltliche Macht in Frage zu stellen, wurde nun die kritiklose Unterstützung der Kirche als Institution bei ihrer Machtausübung gefordert. Die hierarchische Übernahme der Machtstruktur des Römischen Reiches, zuvor der Kaiser als oberste Autorität und Prinzipal, wurde nun der Papst der Katholischen Kirche. Der Habitus des Imperators, die roten Schuhe und purpurfarbene Gewänder, wurden eins zu eins übernommen. Diese hierarchische, bis heute unveränderte Machtstruktur, das patriarchalische System, kann in Europa die Bedeutungslosigkeit der Katholischen Kirche als Institution bewirken.

Aber noch mal einen Schritt zurück: Beginnend mit der Aufklärung glaubten immer mehr Menschen, dass mythologische Aussagen sich nicht wirklich auf Existierendes beziehen. Gerade in der theologischen Weitergabe hatte die wörtliche Bedeutung mit dem Inhalt der Botschaft nichts gemein. Den Menschen zur Zeit von Jesus in Galiläa mit ihrem kulturellen Umfeld war dies geläufig. Es musste ihnen nicht erst erklärt werden. Die Bildhafte Beschreibung der Botschaft wurde sowohl inhaltlich als auch mit erhebendem Herzen verstanden.

Heute, 2000 Jahre später haben wir nur noch die konkrete Aussage mit ihrem bloßen Wortsinn. Die wahre Bedeutung wird nicht mehr verstanden. Und selbst wenn man Jugendlichen und Heranwachsenden den Inhalt erklärt stellt man fest, dass sie emotional damit nicht mehr zu bewegen sind. Die finden das Bestenfalls interessant.

Der spirituelle Glaube, gerade auch im Denken vieler Christen, wurde ersetzt durch rationales wissenschaftliches Denken. Also nur was durch den verifizierbaren Versuch bestätigt wurde, galt als real. Der Glaube machte sich breit, die Welt und alle Zusammenhänge anhand der Wissenschaft erklären zu können. Allein der Faktor Zeit wäre hierfür erforderlich, sofern die Methode stimmig ist. Nun stellte man in diesem Zusammenhang fest, dass wir Menschen aufgrund der Struktur unseres Denkens, alles linear zeitlich und räumlich zu beurteilen, gar nicht in der Lage sind Realität zu erfassen. Hier ein kleiner Exkurs: Gibt es Farben, Farben rot, grün, weiß, blau usw.? Antwort: Nein! Alle Dinge werden über elektromagnetische Wellen auf die Netzhaut unserer Augen übertragen und von dort zu unserem Gehirn weitergeleitet. Erst hier wir die Wahrnehmung als Farbe erzeugt. Welche Farben wir wahrnehmen, hängt von einem bestimmten Frequenzspektrum der elektromagnetischen Wellen ab. Außerhalb dieses Frequenzspektrums werden elektromagnetische Wellen als Wärme wahrgenommen (Herzliche Grüße von unserem Mikrowellenherd). Unser Gehirn interpretiert das Frequenzspektrum als Farben. Mit der Realität hat dies nichts zu tun. Elektromagnetische Wellen bleiben immer was sie sind: elektromagnetisches Wellen.

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Welt und den Menschen gefährden nicht die Stabilität der Theologie, sondern bestätigen sie. Evolution und Schöpfungsglaube stehen nicht im Widerspruch zueinander und schließen sich nicht gegeneinander aus. In unserer unreflektierten Alltagswelt halten wir Menschen die von uns konkret erlebte Wirklichkeit als die Realität schlechthin. Transzendentale Realität ist um nichts weniger real als die von uns erlebte Welt. Da wir aber Realität nicht so wahrnehmen können, wie sie letztendlich ist, müssen wir uns bei der Beschreibung von Religion und Glauben der Sprache der Mythologie und der Hilfskonstruktion von Metaphern bedienen. Umgekehrt können wir zur Bestätigung christlicher Glaubenswahrheiten naturwissenschaftliche Erkenntnisse anführen, welche mit großer tendenzieller Wahrscheinlichkeit die Aussagen des Glaubens bestätigen.

Kritisch betrachtet, brauchen wir den Glauben an einen Gott in Form des praktizieren einer Religion? Können wir ohne Teilhabe an religiöser Ausübung des Glaubens zur Spiritualität des Aufgehobenund Angenommenseins unseres Selbst gelangen? Ist die Sinnhaftigkeit der Welt und des Lebens auch ohne religiöse Institution praktizierbar? Ist der Mensch und damit die Menschen insgesamt ihrem Wesen nach religiös; damit meine ich, vom Glauben an einen Gott oder allumfassendes höheres Sein beseelt? Ist die Abkehr der Menschen von den Kirchen nicht als Abkehr von Gott, sondern als Abkehr von der Institution Kirche mit ihrer Machtstruktur und Machtgehabe zu verstehen. Kann es sein, dass sich die Christen die Freiheit genommen haben, welche das Christentum beinhaltet. Ist das Machtgehabe der Kirchen als Institution um der Macht willen nicht einfach nur gelebter Atheismus, dessen sich die Ausübenden gar nicht bewusst sind. Im Gegenteil: Sie sind der Meinung, im Glauben tief verwurzelt und durch ihr studiertes Wissen anderen geistig überlegen, im Besitz der Wahrheit von richtig und falsch für andere und beseelt vom heiligen Geist zu sein.

04 Säkularisierte Gesellschaft

Es ist die Frage, ob eine säkularisierte Welt, die sogenannte Wertegesellschaft, die sich auf Menschenrechte, Gleichheit von Mann und Frau und Demokratieverständnis beruft, auf Dauer ohne Spiritualität auskommt. Ich sage nein. Die Menschen suchen sich Ersatzreligionen und Ersatzgötter. Und wer sich nicht selbst gelegentlich reflektierend in Frage stellt, ist sich dessen noch nicht einmal bewusst. Nicht wenige, denen es materiell gut geht tanzen ums Goldene Kalb und merken es nicht. Die Mehrheitsgesellschaft wundert sich, dass sie trotz allem Fun und Genuss nicht mehr in sich selbst ruht; ihr fehlt die Geborgenheit in der Gewissheit des Glaubens, der Spiritualität. Die Aussage „verschenke alle Kleider und folge mir!“ bedeutet nicht, sich von allen materiellen Gütern zu befreien, sondern sein alltägliches Handeln nicht ausschließlich nach der Prämisse auszurichten, welchen persönlichen Vorteil ich davon habe; insbesondere den materiellen Wert. In demokratischen Staaten wird gegenwärtig das selbstlose Handeln ersetzt durch faires Verhalten und strukturelle Institutionen. Anders ausgedrückt: Ich gebe dir 10 Äpfel und du gibt mir 10 Birnen. Im Prinzip ist dies ein archaisches Verhalten. Die innere geistige Befriedigung im Handeln erfolgt jedoch über die Selbstlosigkeit und das damit verbundene Erlebnis etwas zu erschaffen und zu bewerkstelligen. Wenn Beruf und Arbeit nur noch Mittel zum Gelderwerb sind, dann geht die Freude und damit ein Teil der Lebensfreude verloren.

Geld nur als Mittel zum Konsum, zur hedonistischen Lebenseinstellung, führt zur Dekadenz und Sinnlosigkeit und in letzter Konsequenz zum Unglücklichsein. Konsumieren heißt, dass das Handeln nicht aus meinem Selbst kommt, sondern von außen nach innen geleitet wird und nicht von innen nach außen. Meine Wünsche und Bedürfnisse werden von außen erzeugt, so dass ich meine innere Freiheit verliere und somit auch meine Seele.

Die säkularisierte westliche Gesellschaft entwickelt sich zu einem dominanten Materialismus, in dem zunehmend das Einkommen entscheidet, wer zu den Gewinnern oder Verlierern des Systems gehört. Wer wo und wie viel einzahlt glaubt entsprechend, dass ihm von diesem und jenem mehr zusteht. Persönliches Engagement, zum Beispiel das Ehrenamt, Mitgefühl und Hilfe in der Not, wird zunehmend auf staatliche Institutionen abgewälzt und von Personen erwartet, welche eine entsprechende Berufstätigkeit gewählt haben. Der Staat soll es allein richten, nicht mehr die Gemeinschaft als Teil der Sozialität. Der Sozialstaat wird immer mehr überfordert und verliert sein Fundament, die homogene Sozialisierung der Gemeinschaft. Aus dem Wesen der Solidargemeinschaft entwickelt sich das Anspruchsdenken der Gesellschaft. Der Missbrauch von Sozialleistungen wird nicht als Schädigung der Sozialgemeinschaft empfunden, sondern als besondere Cleverness im Anspruchsdenken. Der Staat wird als abstrakte Institution empfunden und nicht als solidarischer Zusammenschluss einer Gemeinschaft, zu der letztlich jeder Bewohner des Landes gehört. Indem man die abstrakte Institution betrügt, schädigt man nicht Menschen. Dieser Rückschluss ist falsch. Im Augenblick verspielen wir Europäer nach meiner Meinung unser christliches Fundament mit der Leichtigkeit des Seins, ohne uns über die Folgen im Klaren zu sein.

05 Christliche Sozialisierung der europäischen Gesellschaften