Mein Stein in der Mauer - Katharina Kämpfer - E-Book

Mein Stein in der Mauer E-Book

Katharina Kämpfer

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Beschreibung

Mein Leben besteht aus einem einzigen Moment. Alles, was davor geschah, hat nur eine Berechtigung, mich auf diesen Moment vorzubereiten. Alles nach diesem Ereignis ist ein Resultat dieses Augenblickes. Der Tathergang war folgender, mit 20 Jahren, lernte ich den Mann kennen, der mich vom Fleck weg zu einer Angehörigen von Straffälligen machte. Denn bereits damals machte er keinen Hehl daraus, seinen festen Wohnsitz in der JVA Freiburg angemeldet zu haben. Aus diesem Abend entwickelte sich eine Beziehung. In seiner Zeit im Gefängnis hat er den Hauptschulabschluss nachgeholt, seine Ausbildung als Schreiner beendet, eine Therapie gemacht und er besuchte regelmäßig eine Selbsthilfegruppe. Somit erfüllte er eine Menge Voraussetzungen um auf Bewährung entlassen zu werden. Vor allem da er auch einen Arbeitsplatz außerhalb des Gefängnisses gefunden hatte, in einer Schreinerei. Mein Verhältnis zu ihm war durch meine Besuche auch ausreichend von den Beamten dokumentiert. So waren die Weichen gestellt für das was ich heute zu erzählen habe.

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Du brauchst einen Mann,

mit dem du durch

die Hölle gehen kannst.

Tuesday Weld

Für Frau Welle und ihren Gedanken zu einem Buch.

Für Bianca mit der Sicherheit darüber, das dieses Buch existieren müsse.

Für meinen Sohn, der mir am Ende keine andere Wahl mehr lies als diese Geschichte aufzuschreiben.

Für den Mann ohne den es diese Geschichte nicht gäbe. Trotz allem in Dankbarkeit.

Für die Menschen die aus beruflichen Gründen mit anderen Menschen in Kontakt kommen und immer noch nicht wissen das alle Menschen Angehörige haben, auch die die das Gesetzt brechen.

Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des „Andersseins“ als das „gewöhnliche Leben“.

Huitinga

Die Spiele mögen beginnen

Mit zwanzig Jahren lernte ich den Mann kennen, welcher der Anlass dieses Buches ist. Heute steht er jenseits von Liebe und Hass, Glaube und Hoffnung, Gut und Böse, Ja oder Nein. Seither beeinflusst er mein Leben mehr als jeder andere. Mehr als meine Eltern, ja mehr sogar als meine Kinder und mein Ehemann. Er hat mein Leben genommen, es nach seinen Vorstellungen geformt. Ich musste lernen es zu leben. Nach achtzehn Jahren komme ich langsam zu der Einsicht, dass ich mich nie werde davon befreien können und er, sollte er vor mir sterben, auch über seinen Tod hinaus mein Leben leitet. Er ist meine Antwort auf Himmel und Hölle, Schuld und Sühne. Mein Maßstab, um meine Qualität im Leben zu messen, ist er. Die Richtschnur, nach der ich mein Leben beurteile, die intensiven Stunden, die sonnigen Tage, den dunklen, geheimnisvollen Wald, die Wurzeln auf meinem Weg, Höhlen und Sackgassen, über die er mich hinausgeführt hat. Und seitdem er mir nicht erlaubt hat wieder auf normalen Pfaden zu gehen. Jenseits aller Wege, ohne Trampelpfade, ohne Rückkehr und in dem Bemühen, mich von jeglicher menschlicher Begegnung fernzuhalten. Der Anfang wurde von ihm bestimmt, genau wie jede Wegkreuzung und Gabelung, die zu gehen war. Von ihm kommt der Untergang. Und meine Koffer stehen bereits gepackt vor der Tür. Gefunden hat er mich, endlich ausgezogen bei meinen Eltern, wo ich zu ersticken drohte, nach meinem Schicksal suchend. Beschlossen hatte ich damals mir das Recht zu leiden zu erwerben. In meinem Elternhaus hieß es immer: „Egal was dir passiert, es geht dir gut.“ Dort hatte ich kein Recht zu weinen, Schmerzen zu haben oder einfach mal traurig zu sein. Alles, was mir passierte, war eigentlich eine Lappalie im Vergleich zu der Tragödie der Kindheit, die meine Mutter erlebt hatte. Zu der die schwere Erkrankung meines Vaters kam, die er klaglos hinnahm. Ich hatte von klein auf gelernt, auf meinen Vater Rücksicht zu nehmen. Aber an alldem konnte ich sehen, dass mein Leben mich noch nicht dazu berechtigte, mit meinem Umfeld zu konkurrieren. Ich hatte noch nicht mitzureden in dem großen Drama, das in meiner Familie am Leben erhalten wurde, und sollte zuhören und dadurch verstehen, wie gut ich es getroffen hatte. Trotz der schlimmen Schläge, die ich nur all zu oft einstecken musste, war meine Kindheit immer noch eine behütete. So wurde es mir vermittelt, hatte ich es zu leben. Aber mein größter Wunsch war auch, etwas zu erleben, durch das ich das Recht erwerben würde, gelitten zu haben. So war ich auf der dringenden Suche nach dem ersten Schritt meines Lebens, der mich stark machen würde. Aber wohin es mich am Ende führen würde, so weit konnte ich nicht sehen. Nur eins weiß ich heute. Mein Recht zu sagen, es waren sehr schwere achtzehn Jahre, habe ich mir hart und stündlich verdient. Nun denke ich, bis hier her hat es gereicht und sollte jetzt genug sein. Meine Ziel ist erfüllt. Mit achtunddreißig Jahren habe ich meine Aufgabe in dieser Beziehung erfüllt. Mein Ziel ist erreicht, heute, und ich bin der Gefahr entkommen, ein schüchternes kleines Mäuschen zu werden, wie ich es zuvor immer befürchtet hatte. Denn damals wurde ich selten bemerkt, wenige Menschen bemerkten mich, als ich zwanzig war. Aber er. Er lehrte mich das Leben einer Wildkatze zu führen. Gefunden hat er mich, als ich noch viel unterwegs war, immer mit suchendem Blick umherwandernd, mit aller Kraft der Welt. Und ich wollte diese endlich eingesetzt wissen. Gefunden hat er mich in einer langweiligen Runde voller Menschen, die gerne etwas zu erzählen gehabt hätten, interessant sein wollten, originell, sicher auch schon etwas erlebt hatten. Vielleicht eine Scheidung oder der Auszug den Eltern, die dachten, das wäre schon was, genau wie ich. Gefunden hat er mich, der eine helllila Jeanshose anhatte. Die nicht mal zur damaligen Zeit in Mode war und bei der gefragt werden konnte, wo es so was wohl zu kaufen gäbe. Dazu das passende Herrenhemd mit großen lila Blüten bedruckt. Das Jackett war weinrot. Es sah auf den ersten Blick recht abstoßend aus. Gefunden hat er mich an diesem Abend, in dieser Runde in der langweiligsten Stunde meines Lebens. Wo keiner der Anwesenden wusste, wer er war und woher er kam. Was er genoss und womit dem er mit sichtlichem Vergnügen spielte. Er kam rein und war von diesem Zeitpunkt an derjenige, welcher den Ton an diesem Abend angab. Den Namen gab er ja noch preis. Aber dann begann das Spiel. Seine Arbeit, sein Wohnort wurden zu einem Rätsel. Sein gesamtes Leben wurde befragt, nur um herauszufinden, wer er war. Er sprach im Unklaren und genoss das Unverständnis ringsherum. Er lachte viel. Ich war damals noch sehr schüchtern und traute mich nicht das, was für mich absolut klar vor mir zu sehen war, auszusprechen. Da ich niemanden beschämen wollte. Verstehen konnte ich nicht, dass er aus solch einer Tatsache ein so großes Theater, ein Unterhaltungsprogramm und ein heiteres Beruferaten machte. Er gab sachte Hinweise, und der ganze Abend verrann in dem Bemühen aufzudecken, was sein angebliches Geheimnis war und welches er offenkundig preiszugeben gewillt war, dem der die richtige Frage stellt. Ich war nicht in der Lage, diese auszusprechen, und saß still auf meinem Stuhl, lauschte dem Stimmengewirr und hörte auch, wie vermutet wurde, er sei wohnhaft im Altersheim. Alles wurde vermutet, nur die Wahrheit musste er nach endlosem Warten selbst aufdecken. Denn irgendwann musste zusammengeräumt und aufgebrochen werden. Die Realität stieß dann aber auf ein großes Interesse, und er wurde bestürmt mit allerlei Fragen zu seinen derzeitigen Lebensumständen. Ich war recht froh, als dieses Treffen sich dem Ende näherte, denn ich hatte noch interessantere Pläne für den späteren Abend. Ich hoffte, mich in der Disco nicht mehr langweilen zu müssen. War eine der Ersten, die aus der Türe ging. Das weinrote Jackett kam auch hintendrein und fragte, ob ich mit der Straßenbahn fahren würde, da käme er doch ein Stück mit. Das Ende unserer gemeinsamen Fahrt war vor dem sternförmigen Backsteinhaus, dessen Form nur denen bekannt sein konnte, die darin untergebracht waren. Oder denen, die eine Luftaufnahme davon gesehen hatten. Denn das Gebäude war von einer aus Backsteinen bestehenden Mauer umgeben. Welche von einem Maschendraht abgeschlossen wurde. Er ging zum Eingang und wurde eingelassen. Ich schaute auf die Drehtüre, durch die er verschwunden war. Welche hinter die Mauer der Justizvollzugsanstalt Freiburg führte. Welche ein Teil seines Rätsels darstellte, den Teil, welchen er an diesem Abend zur Belustigung einer kleinen Gruppe von Menschen freigelegt hatte. Der kleinste Teil eines Puzzles, welches ich bis heute nicht zu lösen vermag. Da ich immer auf die Teile angewiesen bin, welche er mir freiwillig überlässt. Auf einige auch, die ich ihm gewaltsam entreißen konnte, und auf zufällig verloren gegangene, die ich dann zum Puzzle nach eigenem Ermessen hinzufüge. Ich muss ihm wohl meine Telefonnummer gegeben haben, was sich jedoch ganz meiner Erinnerung entzieht. Denn als er das nächste Mal Freigang hatte, über ein Wochenende hinweg, waren wir plötzlich verabredet. Verabredet vor der Nordsee, um weiter durch die Stadt zu wandern und eine andere Hose zu suchen, zu kaufen. Diesmal eine weiße, mit schwarzem Hemd, und um Eis essen zu gehen. Verabredet, um sich gut zu verstehen, um harmonisch nebeneinanderher zu gehen, sich etwas zu sagen zu haben. Ohne seltsame Anfangsschwierigkeiten, Schweigen oder Peinlichkeiten. Es lief einfach so reibungslos an einem sonnigen Freitagnachmittag. An dem wir auch auf dem Marktplatz spazierten und einem Mann, welcher einen Namen auf ein Reiskorn schrieb, zwei solche Ketten abkauften. Er kaufte sie. Ein Reiskorn an der Kette mit dem Namen Katharina für mich, Sven für ihn. Ich bekam Sonnenblumen geschenkt und einen Umschlag. Darüber, wohin das führen sollte, was ich wollte, wie das weitergehen würde, machte ich mir keine Gedanken. Es war klar. Er hatte es entschieden, und noch wollte ich mich nicht wehren. Ich genoss es, alles so einfach präsentiert zu bekommen. Es machte gar keine Mühe, flog so auf mich, zu und ich musste mich einfach mittreiben lassen. Außerdem, wer bekommt heute noch selbst angefertigte Einladungskarten? Selbst gemalt, gereimt, entworfen. Persönlich auf dich zugeschnitten. Denn eine solche war in dem Umschlag gewesen. Eine Einladung von ihm für den zweiten Tag seines Freigangtages. Es war klar, dass diese angenommen würde von mir. Da brauchte ich mir gar keine Gedanken zu machen. Natürlich geht man ins Kino, wenn man etwas gemeinsam unternehmen will. Dort zog es auch uns hin und anschließend in die Disco. An einer Wand stand ein Spielautomat. An dem Sven ein Spiel machte, bevor wir die Disco wieder um 1.00 Uhr nachts verließen. Wir besorgten uns ein Picknick, und mit diesem gingen wir an den See bei mir fast vor der Tür. Wir bestiegen den Aussichtsturm und breiteten dort unsere Decke aus. Aßen unter freiem Himmel. Sven hatte Ausgang, auch über Nacht. Diese Nächte verbrachte er offiziell bei seiner Großmutter. Die heutige Nacht mit mir auf dem Turm, und als es später und dunkler wurde, auch bei mir zu Hause. Er musste unsere Sachen tragen. Es war bereits 5.00 Uhr morgens. Ich legte mich ins Bett. Er legte alles im Flur ab, kam dann nach, blieb in der Tür stehen. Ich fragte ihn, was er jetzt noch vorhabe. So blieb er diese Nacht und den darauf folgenden Sonntag in meiner Nähe. Dieser Ausgang endete Sonntag um 22.00 Uhr. Das war die offizielle Zeit, zu der er wieder in der JVA einzutreffen hatte. Es hat durchaus etwas, zu einem Mann zu gehören, der durch äußere Umstände nicht dazu in der Lage ist, immer anwesend oder präsent durch Anrufe zu sein. Jemand, der nur zu vorher festgesetzten Zeiten zur Verfügung steht. So fällt aller Alltag von einem ab. Es ist klar, zu welchem Zeitpunkt er und ich gute Stimmung haben müssen, wann wir bereit sein müssen uns auf den anderen einzulassen, etwas zusammen zu unternehmen, für den anderen da zu sein. Ist diese Zeitspanne vorüber, bleibt wieder die Zeit für das eigene Leben. Er ist dankbar für die Stunden, die ich mit ihm verbringe, ist immer guter Laune und kommt nie gestresst, überarbeitet oder mit Anforderungen zu mir, die mein Können übersteigen. Er weiß und ist es auch, dankbar, hilfsbereit, freundlich, zuvorkommend. Froh eine Frau gefunden zu haben, welche das Gefängnis im Hintergrund nicht abschreckt. Für die es eher einen Vorteil darstellt. Da sie so nicht rund um die Uhr Frau sein muss, sondern immer in kleinem, abgesteckten Rahmen. Ich fühle mich in Sicherheit, als die Stärkere und in der Gewissheit, dass er nicht plötzlich auf der Matte stehen kann, um irgendwas von mir zu wollen. Er ist versorgt. Zusätzlich gibt es lange Telefongespräche, noch längere Briefe, mit rosa Tinte verfasst und mit selbst gemalten Bildern verschönert. Dann kommen natürlich auch Blumen an. Selbstverständlich Rosen mit Brief in der Art:

„Liebste,

wenn Du diese Zeilen liest, wirst Du gerade einen Strauß Rosen bekommen haben. Jedoch ist dies nur ein kleiner Teil von dem, was ich für Dich empfinde. Demnach müssten es Tausende von Rosen sein, um Dir zu zeigen, wie ernst ich es meine und wie sehr ich Dich mag. Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll, um Dein Herz zu erobern.

Sven“

Im Gefängnis hält er sich genau an die Tageseinteilung, die von der Anstalt vorgegeben wird, um einen reibungslosen Tagesablauf für alle vorauszusetzten. Er steht auf, wenn er zur Weckzeit geweckt wird, wäscht sich und zieht sich an. Lüftet seinen Raum und räumt ihn auf. Genau wie es in der Hausordnung steht. Sodass er sich pünktlich um 6.50 Uhr sich zum Frühstück einfindet. Um 7.05 Uhr befindet er sich dann in der Schreinerei bei der Arbeit. Wo es um 9.00 Uhr ein Arbeitsfrühstück gibt. Bis 12.15 Uhr wird dann gearbeitet, daraufhin folgt die Mittagspause. Die Arbeitszeit dauert bis 15.40 Uhr. Was er alles genau einhält. Dann darf er sich eine Stunde im Freien aufhalten. Auch abends gibt es Angebote. Wenn Sven die Anonymen Alkoholiker besucht und in den Trainingsraum geht. Ab 22.00 Uhr ist er in seiner Unterkunft und das Licht ist aus. Zweimal im Monat darf er im gefängniseigenen Laden etwas einkaufen. Bei ihm waren das meistens Kaffee und Gummibärchen. Auch hatten wir uns an die Besuchszeiten zu halten, die neunzig Minuten nicht überschreiten. Sowie an die Telefonzeiten. Seine Zelle reinigt er nach Anweisung einmal die Woche. Arbeitet auf eine gute Zukunft hin, hat seinen Hauptschulabschluss im Gefängnis nachgeholt. Anschließend noch die Ausbildung zum Schreiner gemacht und abgeschlossen. Sogar mit sehr guten Noten. Die Therapie beantragt, begonnen und durchgezogen bis zum Ende. Er ist zu den Beamten, welche im Gefängnis arbeiteten, immer höflich, sagt Bitte und Danke, denn sie können ja nichts dafür, dass er hier einige Jahre verbringen muss. Machen nur ihre Arbeit. Die Sozialarbeiterin bescheinigt ihm die besten Voraussetzungen für die Wiedereingliederung in unsere Gesellschaft, der Therapeut ist zuversichtlich, lädt ihn sogar dazu ein, mit ihm ein Fußballspiel des Sportklubs Freiburg anzusehen, wenn er Urlaub vom Gefängnis hat. Auch die Anstaltsleitung ist im Bezug auf Sven guter Hoffnung, dass sich ihre Arbeit auszahlen wird. Sven hat regelmäßig an den Treffen der Anonymen Alkoholiker teilgenommen, diese Gruppe wird auch im Gefängnis angeboten. Angehörige dieser Gruppe kommen regelmäßig zu Treffen ins Gefängnis, um ihren Mitgliedern dort die Möglichkeit zum Austauscht zu geben. Diese Treffen hat Sven auch mit großem Engagement und mit viel Einsatz mitgestaltet. Er baut in dieser Gruppe Freundschaften nach außen auf. Vor allem die zu einem betroffenen Anwalt, der die Treffen von außen besucht. Seine ganzen Bemühungen werden gesehen und als sehr gut aufgenommen. Nicht zu letzt spielt es eine Rolle, dass er soziale Kontakte nach außen hat. Welche ihm bei der Wiedereingliederung helfen. Auch ich komme in die Akten als positiver Pluspunkt.

Beim nächsten Ausgang erhalte ich ein Bild als Geschenk. Dieses stellt drei Rosen in einem Strauß da. Es wurde von einem Mitgefangenen, der wegen Brandstiftung sitzt, gemalt. Sven machte dazu in der Schreinerei selbst einen schönen Rahmen drum herum. Dann wird der Anwalt für die Treffen der Anonymen Alkoholiker gesperrt, denn es ist aufgeflogen, dass er Rauschgift von draußen mit nach drinnen genommen und dies an die Gefängnisinsassen verkauft hat.

Vor meinen Besuchen im Freiburger Gefängnis hatten wir erst noch formelle Dinge zu erledigen. Das hieß, erst mal eintragen lassen in die Besucherkartei. Was Sven machen musste und dann einen Termin ausmachen. Das erste Mal ins Gefängnis zu gehen, als Besucher, ist eigentlich sehr spannend. Wer sieht so was schon mal von der anderen Seite? Ich lernte, dass man pünktlich zu kommen, den Ausweis abzugeben hat, und ich erfuhr, dass die Zellen im Gefängnis nicht durch Gitter begrenzt waren, sondern auch nur Mauern hatten. Eine meiner ersten Fragen war: „Stört es dich nicht, wenn die anderen in ihrer Zelle rauchen und du dann den ganzen Rauch durch die Gitterstäbe abbekommst?“ So wurde ich belehrt, dass es die Gitterstäbe, welche die Zellen voneinander trennten, wohl nur im Fernsehen gibt, und hier, zumindest in Freiburg, ganz altmodische Wände um die Gefangenen herumgebaut waren. Was mich auch erstaunte war, das der Empfangsbereich, Aufenthaltsraum, sowie der Besucherbereich genau so aussahen wie meine Berufsschule, in die ich gegangen war. Rote Wände, wegen der Backsteinmauern, wo es ging Holz, ein Parkettboden und viele Grünpflanzen, die so groß wie möglich dastanden. Das fand ich sehr erstaunlich, denn so war mir der Raum nicht wirklich fremd oder ich fühlte mich auch nicht unwohl. Nach der Anmeldung durfte ich noch etwas bezahlen, um später einen Kaffee trinken zu können, und bei der Gelegenheit überreichte ich dem diensthabenden Beamten eine Schachtel Tee. Welche noch geschlossen und voll mit Teebeuteln war, dessen Konsum bei Kopfschmerzen helfen sollte. Sven hatte darüber geklagt, und dass man Medikamente nicht mit ins Gefängnis bringen durfte, war mir vollkommen klar. Da dachte ich, Tee kann da auch helfen, und so brachte ich diesen mit. Der Beamte schaute die Schachtel kurz an, gab sie mir zurück und machte Zeichen, dass es okay ist, wenn ich die Schachtel mit hinein nehme. Zur damaligen Zeit machte ich mir keine Gedanken über Sicherheitsvorkehrungen und hatte auch noch keine Vorstellungen davon, für was Teebeutel alles verwendet werden. Wenn ich heute daran denke oder nach achtzehn Jahren das jemandem erzähle, der Erfahrungen mit den Besuchen im Gefängnis hat, ist es für uns jetzt nicht mehr vorstellbar, auf den Gedanken zu verfallen Tee mit rein nehmen zu wollen. Es ist fast ein Witz und immer ein Grund zum Staunen, dass so etwas irgendwann mal durchging. Die restlichen Sicherheitsmaßnahmen waren, wie man sich das eben so vorzustellen hat. Ich wurde mit einem Stab abgetastet, musste durch eine Schleuse. Sven kam mit meinem einbezahlten Geld in Joggingkleidern in den Besucherraum. Dort hielten sich auch alle anderen Insassen der JVA, welche an diesem Tag Besuch bekommen hatten, auf. Jedem war ein Tischchen zugewiesen, und eine Wand bestand aus einem Spiegel. Da konnte man sich denken, wer da dahinter saß. Bei unserem Tisch an der Wand hing ein großes Plakat. Weiß, mit vielen selbst geschriebenen Sätzen darauf. Einer davon ist mir heute noch im Gedächtnis. “Papa, warum hast du das getan?“ Da sitzt man also zwischen all den anderen an Tischen, auf Stühlen, trinkt einen Kaffee aus dem Automaten, isst vielleicht dazu einen Schokoriegel und hat neunzig Minuten Zeit, sich etwas zu erzählen. Angeblich ist das schon länger, als wie sich ein „normales“ Ehepaar zu Hause im Schnitt im Monat unterhält. Wenn man der Statistik glaubt. Eigentlich ist es ganz nett, so zu reden, denn das tut man so ausführlich sonst wirklich nicht. Es wird viel gesprochen; durch die Besuchszeit, die Telefonate, die Briefe erfahre ich viele Lebensumstände. Aber natürlich alles unter Bewachung und Aufsicht, ein gefiltertes Gespräch nach dem anderen. Ob es daran liegt, dass doch nur immer Themen besprochen werden, die mich nicht wirklich auf all das Bevorstehende vorbereiten? Zum Abschluss meines Besuches erhielt ich von Sven ein kleinen Päckchen, welches ich mit hinausnehmen durfte. Darin war ein grünes Seidentuch, auf dem viele Sonnenblumen abgebildet waren, ein Gedicht lag auch mit dabei. Beides selbst entworfen und gestaltet. Abends rief er an, und er redete darüber, wie er verliebt wäre; das alles war neu für ihn, da er es das erste Mal mit klarem Kopf mitbekäme. Denn früher wäre er immer betrunken gewesen. Auch als er verliebt war. So stellt das alles für ihn einen neuen Erfahrungsbereich dar. Obwohl er neun Jahre älter ist als ich, bin ich die Erste, mit der er das bei vollem Bewusstsein erlebt. Was durch die Tatsache des Gefängnisaufenthaltes zustande kommz. Der nächste Urlaub brach für Sven heran, den wir gemeinsam verbrachten mit Stadtrundgängen. Besuchen bei seiner Großmutter. Irgendwann, bei mir zu Hause, kam eine Bote von einem Blumenladen, der mir einundzwanzig rote Rosen von Sven überbrachte. Ich weiß nicht, ob er der Grund auch hierfür, wie für so viel anderes ist. Für meine Abneigung gegen Blumen. Ich kann einem Blumenstrauß nicht mehr etwas Positives abgewinnen. Er ist für mich immer ein Symbol für Verrat, Vertuschung, Täuschung. Es ist eigentlich etwas geschehen, was durchaus als negativ angesehen werden kann. Das verdecken wir erst mal hinter einem Strauß Blumen. Blumensträuße sind Botschafter kommender Katastrophen. Welche bereits geschehen sind, die aber noch nicht bis zu mir vorgedrungen sind. Doch noch bevor diese Sträuße anfangen ihren Geruch nach Tod zu verbreiten, hast du schon erfahren, was sie verschleiern hätten sollen. Wir unternahmen auch einen Ausflug zum Feldberg, wobei ich damals noch nicht wirklich auf das Wandern stand und wir zudem in ein Gewitter kamen und total nass wurden. Auch eine Erfahrung, die er länger schon nicht mehr gemacht hatte. Generell lernt man als Begleiterin eines Mannes, der einige Zeit im Gefängnis verbracht hat, die Welt wieder mit anderen Augen zu sehen. Alles erscheint neu, und ich machte mir einige Gedanken darüber, was sich alles verändert hatte, seit er das letzte Mal in unserer Welt herumgelaufen war. Da einiges doch neu war für ihn. Auch die aktuellen Preise für Zigaretten erschreckten ihn das erste Mal. So habe ich verstanden, dass wir uns hier ziemlich schnell um uns selbst drehen, ständig in Veränderungen, leben die uns nicht mehr wirklich bewusst sind. Abends bereitete ich ein schönes Essen für uns vor. Legte im Wohnzimmer Decken und Kissen aus und stellte dort das Abendessen auf. Wie bei einem Picknick. Wir unterhielten uns lange, und dabei erzählte er mir, dass er, bevor er ins Gefängnis hätte gehen sollen, abgehauen ist. Dreiundzwanzig Tage war er auf der Flucht vor dem Gefängnis. Während dieser Zeit hat er Diebstähle begangen und unter falschem Namen in Hotels gewohnt, die er dann nicht bezahlt hat. Am nächsten Morgen bekam ich das Frühstück ans Bett, und später gingen wir auf eine Ausstellung von vielen verschiedenen Möbelanbietern. Dort suchten wir den Stand auf, an dem die Schreinerei, in der Sven einen Arbeitsplatz erhalten sollte, ihre Möbel ausstellte. Wenn alles unter Dach und Fach sein wird, kann er dann nach Waldkirch verlegt werden. Wo es einen offenen Vollzug gibt und von wo er täglich zu der Schreinerei nach Umkirch fahren und dort arbeiten gehen kann. So lernte ich Svens neuen Chef kennen. Das Sehenswerteste des Standes war ein ausgestelltes Waschbecken aus Holz, das mich sehr beeindruckte.

Die Besuche im Gefängnis bei ihm schlichen sich zu einer gewissen Regelmäßigkeit ein, und auch seine Ausgänge wurden immer mehr ein Stück meines Alltags. Er freute sich sehr über jeden Tag, den er Urlaub aus dem Gefängnis bekam, und natürlich wollte er diesen immer mit mir verbringen:

„Liebes Engelchen,

ja, nun war es endlich soweit. Ich komme soeben von unserem Telefonat, und es war einfach super, wieder mal Deine Stimme zu hören. Musste mich schwer zusammen nehmen. Hätte so gern einen Jubelschrei losgelassen, aber dann wärest Du ja gleich wieder geschockt gewesen. Und sie waren auch wieder da, die Schmetterlinge im Bauch. Eigentlich wollte ich Dir nichts sagen wegen des Urlaubes. Hatte mir vorgestellt Dich am ersten Urlaubstag zu überraschen. Aber als wir uns dann unterhalten haben, dachte ich mir, egal, sag es ihr. Vielleicht freut sie sich auch darüber, und ich glaube, Du hast dich gefreut, oder? Freut mich immer sehr, wenn ich Dich lachen höre. Warum kann nicht schon Dienstag, 8.30 Uhr sein? Na ja, abwarten. Wir hatten ja mal das Thema schlechte Angewohnheiten, und gerade in letzter Zeit ist das bei mir die Ungeduld. Wünsche mir, dass es besser wird damit. Du hast mich ja nach meinen Urlaubsplänen gefragt. Pläne und Wünsche hätte ich viele, doch sind diese meist in Verbindung mit Dir. Du kennst meine Gefühle und Empfindungen für Dich. Und gerade deshalb weiß ich nicht, ob es dir recht wäre. Immer irgendwo die Angst im Hinterkopf, etwas falsch zu machen. Warum mache ich mich ständig nur selbst so verrückt? Draußen regnet es. Finde ich toll. Es ist doch schön, im Regen spazieren zu gehen. Und dann noch krank zu werden und sich gesund pflegen zu lassen von Katharina. So, nun aber genug für heute.

Sven“

Während dieser Zeit versucht man alles schön vorzubereiten, es werden Stunden im Bad verbracht und mit der genauen Planung der Abläufe. Da die gemeinsamen Zeiten von einer anderen Macht geleitet und begrenzt werden, müssen sie auf das Beste genutzt werden, und meine Lebensumstände werden auf die Gefängniszeiten abgestimmt. Um zu dem Zeitpunkt da zu sein, der von anderen dafür geplant wurde. Sven war sehr genau in diesen Abläufen. Was seine vorgegebenen Zeiten der Wiederankunft „drinnen“, den Alkohol und das Autofahrverbot betraft. Auch die gelegentlichen Anweisungen, wozu der Ausgang genutzt werden soll. Wie zum Beispiel zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Und da er seinen Anweisungen so korrekt nachkam, er eine Arbeitsstelle gefunden hatte und es keinerlei Probleme mit ihm gab, wurde er schließlich auch verlegt nach Waldkirch, zu den Freigängern. Was bedeutete, dass er unter der Woche morgens das Haus verlässt, zur Arbeit geht und, wenn diese beendet ist, wieder zum Schlafen hinter die Mauern zurückkehrt. Die Verlegung und die Umstellung waren für Sven jedoch mit einer gewissen emotzionalen Spannung verbunden. Er hatte Bedenken vor dem, was dort auf ihn zukommen mochte. Sodass er mit gemischten Gefühlen übersiedelte. Aber sobald er angekommen war, seine Einweisung hinter sich gebracht hatte, ausgepackt war, rief er mich an, und ich machte mich nach seinen Anweisungen auf den Weg, ihn zu besuchen. Was einfach so, ohne lange Voranmeldung dort möglich war. Dieser Besuch überzeugte mich dann auch davon, dass er gut dort angekommen war und sich seine Bedenken in Luft aufgelöst hatten. Seine privaten Sachen durfte er jetzt benuzten, er konnte auch von „draußen“ angerufen werden, und ich durfte sogar ganz offiziell eine Packung Kaffee mitbringen. Das Wichtigste daran aber war, das sman alleine in einem Besuchsraum sein durfte mit geschlossener Tür und ohne Bewachung. Die vielen Blumensträuße, welche ich von ihm erhalten sollte, nahmen in dieser Zeit noch etwas zu. Die Blumen und meine veränderten