Mein Weg durchs Dicke - Hubertus Schmidtlein - E-Book

Mein Weg durchs Dicke E-Book

Hubertus Schmidtlein

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Beschreibung

Der Autor hat erst im Ruhestand sein an Risiken reiches Leben mit der Flucht und Vertreibung aus Schlesien, der nächsten unbegleiteten Flucht als 13-Jähriger nach Westdeutschland und dem dortigen Leben wie ein Waise vor seinem inneren Auge Revue passieren lassen. Dabei entstand das vorliegende Buch über seine schwierigste Zeit bis zum Abitur, das er 1955 in der Aufbauschule in Recklinghausen ablegte. Wenn man die Geschichte seines Lebens mit dem gegenwärtigen Geschehen vergleicht, dann kann man zu der Überzeugung gelangen, dass die Menschheit ziemlich schlecht, wenn nicht sogar überhaupt nicht lernt. Alles kehrt wieder. Auch heute bestehen wieder große, wenn nicht sogar tödliche Gefahren für die Menschen in allen Erdteilen, so auch in Europa. Das ist der Grund, weshalb sich der Autor im Jahr 2024 gezwungen hat, das Buch zu veröffentlichen. Viel lieber als zu schreiben würde er in seinem Garten arbeiten.

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Ja, es drängt mich, über das von mir erlebte Zeitgeschehen zu berichten. Aber ohne meine Frau Beate wäre dieses Buch dennoch nicht entstanden, weil ich für die Art meines Berichts zunächst Vorstellungen hatte, die man mit einem Buch nicht erreichen kann. Die ursprüngliche Version des Berichts auf meinem Rechner enthält z. B. viele Internet-Links zu Informationen, die die Schilderung ungemein verstärken könnten. Dazu einige Beispiele:

Da gibt es z. B. ein Link zu einem Video einer Luftkampfszene über Berlin, das fachlich hoch interessant ist, das in Form einer wörtlichen Diskussion für den Nichtfachmann nicht interessant ist, ihm als Film aber doch etwas anschaulich machen kann. Es gibt ein Link zum NKWD-01-Lager Mühlberg, aus dem man ersehen kann, wie viele Männer, denen gerichtlich keine Schuld nachgewiesen worden war, nach Beendigung des Krieges erst im Lager nachträglich zu Kriegsgefangenen gemacht wurden und in die Bergwerke der Sowjetunion verschleppt wurden. Es gibt ein Link zu Liedern, die in meiner Familie gesungen wurden, die mein musisches Elternhaus auf die beste Art – nämlich ohne Worte – kennzeichnen.

Meine Vorstellung war es ursprünglich, eine Tablet-Version zu erstellen, wo der Leser die Freiheit hat, das einzelne Link aufzurufen. Das Tablet kann ihm ausgesuchte Musik, Videos und Hintergrundinformationen liefern. So etwas hat sich aber bislang nicht durchgesetzt. Vielmehr könnte man heute an die Form des Podcasts denken, um meinem Bericht eine intensivere Wirkung zu geben. Ich habe mich entschieden, die Links drin zu lassen.

Beate hat mir mit ihrem Pragmatismus sehr geholfen, dass meine Geschichte nun als Buch auf den Markt kommt. Deshalb sage ich ihr meinen tief empfundenen Dank und widme ihr dieses Buch.

Inhalt

Kind aus Konradswaldau

Aufwachsen in Konradswaldau

Auf der Flucht

Spießrutenlaufen in Leuterwitz

Die Rochade meines Lebens, meine persönliche Flucht in den Westen

Punktlandung in Recklinghausen

Auf der Schippe des Todes

Ein erstes, halbwegs normales Jahr 1951/52

Glatt durch die Oberstufe

Finale: Abitur

Jenes Recklinghausen

Zum Autor

Übersicht

Bereits sein „Jahrbild“ zeigt einen Jungen, der empört sein konnte und lässt erahnen, dass er nie gewillt sein wird, unsinnige Grenzen zu akzeptieren, sondern alles selbst ausprobieren will. Er hatte das Glück, dass seine Eltern nie versuchten, seine Neugier zu begrenzen oder ihn „umzuerziehen“. So wurde das große Gut seiner Eltern in Konradswaldau, Kr. Brieg mit seinen Maschinen, Motoren, Tieren, Kutschen, Pferdeschlitten, Stallungen, Scheunen und Garagen ein einziger großer Abenteuerspielplatz, den er weitgehend unbeaufsichtigt mit seinen Spielkameraden nutzte. Er hatte schon früh seine eigene „Gang“.

Ergänzt wurde die Szene durch den Fliegerhorst in Brieg, von wo täglich Stukas aufstiegen, um unter Sirenengeheul den Sturzflug mit Abwurf von Zementbomben zu trainieren. Bald erscheinen die ersten polnischen Kriegsgefangenen auf dem Hof – wenig später - gefolgt von gefangenen Franzosen. Der Vater wird eingezogen und bald erscheinen die ersten gefangenen Russen auf dem Hof. Hubertus lernt von jeder Sprache das, was ihm die jeweiligen Gefangenen beibringen. Die Zugochsen z.B. steuert er – wenn er darf – auf Französisch, weil sie für gewöhnlich von einem Franzosen eingesetzt wurden und auf französische Worte am besten funktionierten.

Dann erscheinen die ersten Ausgebombten aus Köln, die im Dorf Unterkunft finden müssen. Er führt jede der Familien zu dem jeweils vorgesehen Quartier im Dorf. Seine Eltern haben ein Telefon, deshalb kommen erwachsene Ausgebombte oft zum Telefonieren. Er lernt sie alle kennen und hört, was sie Grausames erzählen.

Sein Vater bringt eine ukrainische Familie mit, Eltern mit zwei erwachsenen Kindern, alle vier sind ausgebildete Ärzte. Sie wollen weg von Stalin und irgendwie in die USA. Unter Hitler wollen sie nicht bleiben. Der Vater muss jetzt zum Einsatz nach Frankreich. Er erzählt von Partisanen in Frankreich, kommt glücklicherweise unversehrt zurück. Dann erscheinen die ersten Flüchtlingstrecks von der anderen Oderseite. Ein alter Mann stirbt im warmen Kuhstall, draußen ist es -20 Grad. Am 24.01.1945 gehen die Bewohner von Konradswaldau mit 131 Pferdewagen auf die Flucht. In Hirschberg wechselt seine Familie von den Pferdewagen auf die Bahn. Die Bomben auf Dresden verfehlen die Familie um einen Tag. So endet die Flucht ohne menschliche Verluste in Sachsen, wo sie den Vater wieder treffen. Jetzt sind sie mittel- und rechtlos. Sein Vater endet 1947 im NKWD-Lager 1 bei Mühlberg an der Elbe.

Das kommunistische System, das sich in der sowjetisch besetzten Zone etabliert, will ihm seine Ausbildung diktieren, da überzeugt er 1949 mit 13 Jahren seine Mutter, dass sie ihn mit Hilfe eines Flugzeuges der Luftbrücke von Berlin Tempelhof nach Lübeck allein fliegen lässt, von wo er mit dem Zug – ohne Begleitung – nach Recklinghausen findet, um dort in einem Schülerwohnheim zu leben und die Freiherr von Stein Aufbauschule zu besuchen. Hier gabelt er sich eine Lungentuberkulose auf, liegt kurz im Sterbezimmer, wird aber gerettet von Penicillin der britischen Streitkräfte. Im Jahr 1955 macht er das Abitur.

Das Buch schildert Szenen der Zeitgeschichte Deutschlands von 1935 bis 1955, gesehen mit den Augen eines schlesischen Jungen bzw. Heranwachsenden. Man erlebt die Auswirkungen des von Deutschland vom Zaun gebrochenen Krieges, die die Kriegsgefangenen und die deutsche Bevölkerung ertragen mussten. Man erlebt, wie sich die Überlebenden, die Kriegsblinden und -verletzten wieder finden und eine neue zusammengewürfelte Aufbaugemeinschaft bilden.

Kind aus Konradswaldau

Opa, erzähl mal!

Spätestens als mir meine Enkel Kim und Max Krause das Fragebuch „Opa, erzähl mal!“ vom Knaur Verlag zu Weihnachten 2016 schenkten, wusste ich, dass ich mit dem Schreiben der Saga meiner Familie nun wirklich Ernst machen musste. Es bleibt mir nicht mehr viel Zeit, möglicherweise zu wenig. Im Hinblick auf die Frage der verbleibenden Zeit: Lass die Frage der Zeit! Bleib gelassen! Beginn halt mit dem Schreiben und sei fleißig! Es kommt, wie es kommt, man wird nie wirklich fertig, aber schon gar nicht, wenn man gar nicht anfängt. Hochkommende Versuchung: Wenn du etwas gar nicht angefangen hast, dann brauchst du auch nicht fertig geworden zu sein. Doch: Lass die Sophistik!

Ich habe in Wahrheit schon vor mehr als 35 Jahren angefangen, immer mal wieder einige Gedanken und Vorgänge aufzuschreiben. Es entsprang – jeweils nach bewegenden Erlebnissen – meinem Bedürfnis, mir selbst Klarheit über meine jeweilige Situation zu erarbeiten. Dieser Stoff lag schon eine kleine Ewigkeit in Umzugskartons herum, wurde nach Umzügen nicht einmal ausgepackt. Jetzt, nach dem Umzug in unser neu gebautes Haus in Krusenhagen (meinem sechsten nach 11 Umzügen), bin ich dabei, alle Umzugskartons aufzulösen, jetzt will ich die Vergangenheit aufarbeiten und dabei verarbeiten. Wenn es nach mir geht, ziehe ich aus diesem Haus nicht mehr aus, nur noch, um in die ewigen Jagdgründe umzusiedeln. Aber man weiß nie!

Ich nahm mir vor, den gestellten Fragen des Buches nicht auszuweichen, erkannte aber sofort, dass ich mein Leben und meine Absicht, die ich mit dem Schreiben verbinde, nicht in der Form dieses Poesiealbums auf Papier abhandeln wollte. Es würde an manchen Stellen viele Einlegeseiten zusätzlich erfordern und an anderer Stelle darin gestellte Fragen als irrelevant unbehandelt lassen müssen. Außerdem würden die Antworten in einem papierenen Album stehen und genau so, wie es schon einmal passiert ist, und zwar mit der von Josef Schmidtlein aufgelegten Familiensaga, unbeabsichtigt verbrennen oder verfaulen und nie mehr gelesen werden können. Da mag ein noch so großes Interesse Späterer vorliegen. Ich bin ein „gebranntes Kind“, das das Feuer scheut.

Als ich das Fragebuch geschenkt bekam, störte es mich, vor einen ausgiebigen Fragebogen gezerrt zu werden, den ein cleverer Geschäftsmann hatte ausarbeiten lassen, ähnlich einem vorgedruckten Bogen des Finanzamtes. Ich fühlte, dass es nicht Fragen sind, die mir meine beiden Enkelkinder aus gegenwärtiger Neugier stellen. Sie bestellen meine Antworten auf standardisierte Fragen auf Vorrat, zur Deckung eines späteren Bedarfs, mag er eines Tages wirklich eintreten oder auch nicht.

Ich empfinde heute noch Schmerz darüber, dass die Familiensaga, die Josef Schmidtlein um 1800 begonnen hatte, und die seine Nachkommen fortgeschrieben hatten, bei der Flucht aus Schlesien auf Nimmerwiedersehen zurückgelassen worden war. Was ich davon als Kind den Erzählungen der Erwachsenen entnommen hatte, waren teils märchenhafte Geschichten, teils geheimnisvolle Wahrheiten, teils beängstigende Gefühlswelten. Sie waren bei mir auf einen durstigen Schwamm gefallen. Vieles weiß ich heute noch, manches sogar dem Wortlaut des Erzählenden gemäß.

Zwei Besonderheiten: Militärische Einflüsse und Alter des Berichtenden

Militärische Einflüsse: Die kindliche Entwicklung ist ein vielfältiger Reifeprozess, der idealerweise kontinuierlich und so breitbandig wie jeweils möglich fortschreitet und zu steigenden Reifegraden führt. Meine ersten gut neun Jahre verbrachte ich auf dem elterlichen Hof in Konradswaldau, Kreis Brieg, in Schlesien. Auf diesem Hof fand ich einerseits eine liebevolle und äußerst anregende Umgebung mit vielen Menschen, Tieren und Sachen und mit der Besonderheit, dass ich die Rolle des ersehnten Stammhalters genoss. Auf der anderen Seite fiel diese Phase in eine Zeit, in der Militärisches von dominierendem Einfluss war und keinen Lebens- und Seelenbereich aussparte.

Ich habe bei meinem Bericht zunächst versucht, meine Entwicklung aufzutrennen in einen Bereich, der unter den gewöhnlichen friedlichen und beglückenden Randbedingungen geschah, und einen, der den Einfluss des Militärischen beschreibt. Ich musste diesen Versuch aber verwerfen, weil die Randbedingungen meiner Entwicklung sich gegenseitig beeinflusst haben. Zum Beispiel: Da mein Vater 1941 zum Militär eingezogen wurde, ist die Frage nicht zu beantworten, was ich mit ihm erlebt hätte, wenn er nicht eingezogen worden wäre. Die Schilderungen meiner verschiedenen Erlebnisse und Szenen folgen für Sie als Leser daher in vielleicht wild und zufällig erscheinender Reihenfolge. Leider geht es nicht anders, die Ereignisse traten für mich selbst genauso unerwartet, teils widersinnig ein.

Ich nahm vom Militärischen das auf, was in Konradswaldau stattfand:

Die Stukas am Konradswaldauer Himmel (mit 4 Jahren),

die durch das Nadelöhr Konradswaldau (Ende der Autobahn) zur Oderbrücke in Brieg durchfahrenden Landtruppen (mit 4 Jahren),

die zahlreich einquartierten deutschen Offiziere (mit 4 bis 9,5 Jahren),

die Kriegsgefangenen von fremden Völkern, die auf unseren Hof kamen (mit 4 bis 9,5 Jahren),

die Ausgebombten aus dem Reich, die Sicherheit bei uns suchten (mit 8 Jahren),

die Bürger der Sowjetunion, die vor dem dortigen System zu uns geflüchtet waren (mit 8,5 bis 9,5 Jahren),

die deutschen Flüchtlinge von der östlichen Oderseite, die über die Oderbrücke kamen und durch unser Dorf fahren mussten (mit 9,5 Jahren),

die eigene Flucht (mit 9,5 Jahren).

Dagegen erreichten die fernen Ereignisse meine Aufmerksamkeit nur äußerst undeutlich und blieben weitestgehend unverarbeitet.

Alter des Berichtenden: Neben dem Einfluss ungewöhnlicher Kriegsereignisse liegt bei meinem Bericht noch eine andere Besonderheit vor. Ich schreibe erst jetzt, im Alter von über 80 Jahren, und zum ersten Mal über mein Leben. Das hat den Nachteil, dass mir sicherlich viele Details nicht mehr einfallen. Andererseits habe ich so die einmalige Chance, mir bewusst zu werden, was in meinem späteren Leben mit den Anfängen in der Kindheit korreliert. Auch das Umgekehrte wird aufgezeigt: Welche späteren Erkenntnisse erklären Besonderheiten meines Verhaltens in der Kindheit. In meinen Bericht über meine Kindheit in Konradswaldau mischen sich also zusätzlich Berichtsteile über spätere Jahre. Ich werde sie so kurz wie möglich halten.

Geboren am 3. September 1935

Nach zwei Töchtern und einer Fehlgeburt erblickte ich, der heiß ersehnte Stammhalter, das Licht der Welt. Es geschah am 3. September 1935, einem Dienstag, morgens um halb sechs im Schlafzimmer meiner Eltern auf dem Hof in Konradswaldau. Mutter und Kind waren wohlauf.

Vor diesem Tor stand meine Schwester Edith, damals 6 Jahre alt, schon kurz nach meiner Geburt und verkündete allen Passanten die frohe Neuigkeit: „Wir haben ein kleines Brüderchen bekommen!“

Ich wurde zum begehrtesten Objekt. Vierzehn Tage später, am 17. September 1935, wurde ich in Herzogswaldau römisch-katholisch getauft. Ich erhielt die Namen Hubertus Karl Wilhelm.

Erläuterung zu den Namen

Bevor ich meine Geschichte weitererzähle, möchte ich Ihnen zunächst erklären, warum ich so heiße, wie ich heiße? Am einfachsten ist die Antwort bei zwei Vornamen. Der eine ist „Karl“ und der andere ist „Wilhelm“. „Karl“ war der Rufname des Vaters meines Vaters. In manchen Akten ist er „Carl“, in anderen „Karl“ geschrieben. Ich schreibe mich „Karl“. „Wilhelm“ war der Rufname meines mütterlichen Großvaters. Schwieriger liegt die Sache bei meinen beiden anderen Namen.

Den Namen Hubertus hat meine Mutter bestimmt. Das einzige Buch, was sie in ihrer Jugend im Mädchenpensionat gelesen hat – sonst musste sie immer nur arbeiten –, hieß „Schloß Hubertus“, und das Buch hatte es ihr angetan. Ich möchte nicht anders heißen, denn ich mag meinen Rufnamen und fast alle anderen sagen auch, dass es der richtige Name für mich sei. Sie sagen dies, ohne seine Bedeutung zu kennen. „Hugh“ bedeutet Geist, „bert“ bedeutet glänzen und die Endung „us“ ist die römische Endung für das männliche Geschlecht. Mein Vorname bedeutet also: Der durch Geist Glänzende. Bitte glauben Sie nicht, dass ich beanspruche, dem Namen zu entsprechen.

Meinen Familiennamen „Schmidtlein“ bekam ich, weil auch mein Vater so hieß. Und auch mit diesem Namen war ich immer zufrieden, obwohl manche es für einen Witz hielten, wenn ich mich als „Schmidtlein“ vorstellte und sie mich später in meiner ganzen Länge von 1,93 m betrachteten. Die wissen halt nicht, was ein Schmidtlein ist. Das ist auch schwierig, weil ich ja nicht das mache, was der Name bedeutet. Einfacher wäre es, wenn mein Blut aus dem Rheinland stammen würde, dann hießen wir Kleinschmitt. Aber auch in diesem Fall würden die Leute darüber stolpern, weil ich einfach nicht das mache, was der Beruf eines Kleinschmitts oder Schmidtleins beinhaltet. Ich bin stolz, wenn ich die berühmten Burgen, Schlösser und Dome sehe, in denen das Produkt der Schmidtleins bzw. Kleinschmitts steckt, all die unterschiedlichen, individuellen Eisenbeschläge und Nägel, die über die Jahrhunderte bis heute alles zusammengehalten haben. Die modernen Architekten konstruieren so, dass man mit billig zu kaufenden Standardteilen gemäß der Deutschen Industrienorm zurechtkommt. Früher war das eine Heidenarbeit, jeden Nagel nach den Anforderungen der Baumeister an Ort und Stelle zu schmieden.

Mein Name und mein Blut stammen aus Franken. Und auch darauf kann man stolz sein, haben doch die Franken Karl den Großen geliefert. Der trug z. B. meinen zweiten Vornamen. Das Erzbistum Bamberg hat außerdem mal über das Gebiet von Schlesien bis nach Kärnten geherrscht. Und da kommen die Bayern und wollen, dass sich die Franken unterordnen. Ich kann nichts dafür, dass sich mein Blut dagegen noch heute aufbäumt, obwohl es schon vor langer Zeit aus Franken, und zwar aus Bamberg ausgewandert ist. Ich muss einen Schuss Judenblut in mir haben, denn die haben noch nach zweitausend Jahren begonnen, das Land ihrer Väter wieder für sich zurückzuverlangen. Und ich weiß auch schon, wo ich bei mir nach dem Schuss Judenblut suchen muss: Bei den Mosischs. Allerdings habe ich vom Reichssippenhauptamt 1936 den Beweis, dass ich rein arisch bin. Aber die gucken ja nur zurück bis 1750, das ist ja fast nix.

Würde man die Namensgebungsregeln vom Trakehner Pferdezuchtverband übernehmen, quasi das Matriarchat einführen, dann wäre ich ein „Rasewerk“ nach der Eva Rosina Rasewerk. Die gebar Theresia, die wiederum brachte Anna, die brachte Gertrud und die brachte mich . Der Name „Rasewerk“ wäre sogar wahrscheinlich richtiger als Schmidtlein. Denn, dass ein Kind von einer bestimmten Frau stammt, ist besser kontrollierbar, als dass der angegebene Vater der tatsächliche ist.

Auf jeden Fall heiße ich: Hubertus Karl Wilhelm Schmidtlein.

Wie war die familiäre Situation?

Wie schon oben angedeutet, hatten sich meine Eltern seit Längerem um einen Stammhalter bemüht. Meine Schwestern Uschi, aber auch die jüngere Edith waren bereits aus dem Gröbsten raus.

Uschi (links) und Edith schlagen schon die Beine übereinander wie kleine Damen

Da griff meine Mutter Gertrud Schmidtlein, geb. Schmiegel, zu einem uralten Trick!

Erfolgreich mit einem Apfel wie Eva im Paradies!

Schicksalhafte Ausgangsbedingungen

Mit der Taufe war ich auch als Christenmensch geboren. Zwei Faktoren waren damit entschieden:

Erstens: Ich gehöre schicksalhaft zum Typ der Jungfraugeborenenhttp://www.sternregister.de/sternzeichen/jungfrau/jungfrau-mann.php

Man sagt den in diesem Tierkreiszeichen Geborenen nach, „dass ihre Fähigkeiten zu Analysen und Strukturen hervorstechen; nicht nur mathematisches und wirtschaftliches Kalkül ist ihnen zu eigen, sondern auch das Interesse für Systematiken, Prozessabläufe und logische Sprachen wie bei der Programmierung im IT-Bereich“. Mein spezieller Berufsweg war also nur noch von der zunächst unbekannten, sich aber mit jedem neuen Tag entwickelnden Umwelt abhängig. Das führt bei gleichem Tierkreiszeichen trotzdem zu unterschiedlichen Personen, siehe z. B. Franz Josef Strauß, Norbert Blüm, Johann Wolfgang von Goethe, Leo Tolstoi, Marietta Dobrick – alles Jungfrauen.

Zweitens: Das Deutsche Reich schaffte zu meiner Geburt spezielle Gesetze zu meinen Gunsten

Am 15. September 1935 wurden in Nürnberg die Rassengesetze vom Reichstag einstimmig angenommen. Hitler hatte den Reichstag extra für diesen Zweck nach Nürnberg beordert. Nach diesen Gesetzen gehörte ich zu den lupenreinen „Reichsbürgern“: Alle Vorfahren nachgewiesen arisch, mindestens ab 1750, per Stempel des Reichsippenhauptamtes in Berlin, blond, blauäugig, gerade gewachsen.

Mit diesen Rassengesetzen wusste die Kugel der Geschichte Deutschlands nun, welchen Lauf sie zu nehmen hatte. So zumindest dachte Hitler. Der tatsächliche Lauf der Kugel bestimmte alle Bedingungen meiner Entwicklung. Er war allerdings anders, als sich Hitler und die Seinen das gedacht hatten.

Max und Trudel, meine Eltern, am Tag meiner Taufe, deshalb festlich gekleidet. Trudels Körpersprache: Jetzt hab ich unseren idealen Stammhalter gebracht! Seine Körpersprache: Wunderbar, wir können es wiederholen. Ich ergänze: „Mich kann man nicht wiederholen.“

Übrigens: Am 20. September 1945 wurden die Rassengesetze durch die alliierten Kontrollratsgesetze wieder aufgehoben. Danach war ich wieder ein Normalbürger. Dazwischen passierte in Europa das, was bei meiner Geburt bereits seine unsichtbaren schicksalhaften Schatten vorauswarf.

Ein erster Eindruck vom Stammhalter

Ziemlich willensstark und selbstbewusst schaut der Stammhalter drein. Die Hebamme hatte gesagt: „Der wird mal die Peitsche halten können.“ Vater hatte einen kleinen Kopf, damals füllte ich seinen Hut noch nicht aus, später hätte er nicht gepasst.

Meine Mutter beobachtete an mir bald ein eigenartiges Verhalten, das sie von ihren beiden älteren Kindern nicht kannte. Auch wenn es ein gewaltiger Zeitsprung ist, muss ich an dieser zeitlichen Stelle auf eine Begebenheit eingehen, die sich erst viel später ereignete. Meine Schwestern, meine Mutter und ich, wir hatten uns Jahre nach der Vertreibung schließlich im Odenwald wiedergefunden.

Uschi hatte bereits zwei Jungen und es ging um Besonderheiten des Verhaltens von Kleinkindern. Da erzählte meine Mutter, dass ich beginnend im zweiten oder dritten Monat ein eigenartiges Verhalten gezeigt hätte. Wenn sie mich damals frisch gewickelt und in jeder Hinsicht versorgt ins Bettchen legte, dann hätte ich mit beiden Händen nach dem rechten Zipfel meines Kopfkissens gegriffen, um zu versuchen, es unter dem Köpfchen hervorzuziehen. Dabei hätte ich gekrächzt wie ein Schwerarbeiter. Wenn ich das Kissen auf meinem Gesicht spürte, hätte ich erleichtert mit dem Krächzen aufgehört und wäre sofort zufrieden eingeschlafen.

Von rechts: Edith, Uschi, Mutti, Hubertus und meine jüngere Schwester Gudrun bei einem Treffen in Kirchbrombach im Odenwald.

Als ich als erwachsener Mann diese Story hörte, wusste ich sofort den Zusammenhang, denn ich betrieb das Krächzen später als Junge bewusst fast bis zur Pubertät. Durch die Pubertät hat es sich dann erübrigt. Aber ich empfehle es jedem männlichen Säugling. Meine Mutter hatte offensichtlich beim Wickeln ganz ohne Absicht dafür gesorgt, dass mein Penis zwischen einem Bein und dem Schambein eingeklemmt wurde. Ich brauchte dann nur meine Bauch- und Oberschenkelmuskulatur rhythmisch anzuspannen, um einen Orgasmus herbeizuführen. Mir wurde im Erwachsenenalter klar, dass ich bereits als Säugling den Orgasmus kannte und nutzte, vielleicht nicht wichtig für Sie, aber für Fachleute.

Der Hubertus hat keen Sitzfleisch

Mit dieser Aussage war nicht vorrangig die Bemuskelung des Hinterns gemeint, obwohl die auch nie üppig war, sondern mein Bewegungsverhalten. Ich konnte nie in meinem ganzen Leben längere Zeit still sitzen, ohne dass mich eine immer größer werdende innere Unruhe besetzte. Konnte ich dieser Unruhe nicht nachgeben, dann steigerte sie sich so, dass ich mich auf nichts mehr geistig konzentrieren konnte, ich bekam Bauchschmerzen und Magendrücken. Diese Spezifität hat mich ganz wesentlich geformt, und zwar in all den verschiedenartigen Phasen meines ganzen Lebens. Und weil sie so wichtig für mein Leben war, möchten Sie natürlich jetzt wissen, worauf sie beruht. Bliebe ich in meinem Bericht streng bei der zeitlichen Reihenfolge der Ereignisse, dann müssten Sie auf die Erzählungen zum Jahr 2014 warten.

Mein Jahrbild. Endlich auf eigenen Füssen! Endlich! Der Fotograf hatte bereits 5 Platten vermanscht, bis ihm dieses Foto gelang. Auch bei diesem Schnappschuss wurden die Hände nicht still gehalten, sie sind unscharf.

Ich greife jetzt voraus: Morbus Nauenburg (Name erfunden)

Mein Hausarzt hatte mir versichert, dass dieses nun wirklich die letzte Untersuchung sei, die er für mich anordnen würde, um der Frage nachzugehen, was ich da willkürlich in meinem Leib bewegen könnte. Meine Beschwerden, die ich beseitigt haben wollte, erwähnte er in diesem Zusammenhang gar nicht. Mir war langsam klar geworden, dass Ärzte den Patienten zwar nach seinen gesundheitlichen Beschwerden fragen, ansonsten aber geradezu misstrauisch werden, wenn ein Patient eigene Ideen hat, was seine Beschwerden wohl verursacht. Für letztere Frage halten sie Patienten grundsätzlich nicht für kompetent.

Für mich war nur wichtig, dass ich am 07. Mai 2014 in der Sprechstunde beim Oberarzt in der Hanse-Klinik in Wismar saß und vor einen Röntgenschirm durfte, der nicht nur Momentaufnahmen macht, sondern Vorgänge kontinuierlich zu untersuchen gestattet. Holbe hatte mir in der Überweisung Schluckbeschwerden angedichtet. Also erklärte mir der Röntgenarzt, dass ich Brei zu schlucken hätte, der mit einem Stoff durchsetzt würde, den man unter Röntgenbestrahlung besonders schön deutlich sehen könnte und wie ich mich vor den Schirm zu stellen hätte. Ich erkannte aus seinen Erläuterungen, dass er mit keinem Auge auf mein Zwerchfell schauen würde, sondern nur auf den Brei und reagierte diesmal sehr deutlich:

„Ich behaupte, dass ich meine beiden Zwerchfellhälften getrennt bewegen kann, was aber auch öfters unwillkürlich passiert, z. B. beim Fernsehen. Dies ist nach meiner Ansicht die Ursache für meine Probleme, derentwegen ich bei meinem Hausarzt vorstellig geworden bin.“

Ich sah in das blasse Gesicht des Arztes, das bis zu diesem Moment Langeweile ausgedrückt hatte und bemerkte, dass es seinen Ausdruck bei meinen Worten schlagartig veränderte. Es bekam einen ärgerlichen Ausdruck, als er sagte: „Ich mache diesen Job hier schon sehr lange und kann Ihnen meine Erfahrung mitteilen: Was Sie vermuten, das gibt es gar nicht!“

Ich hatte mir vorgenommen ganz beharrlich darauf zu bestehen, dass die entsprechende Untersuchung gemacht würde: „Ihre zweifellos große Erfahrung steht gegen meine aus meinem eigenen Körper stammende Empfindung. Ich werde heute nicht eher aus Ihrem Röntgenraum gehen, bis die von mir gewünschte Untersuchung gemacht wurde.“

Dieser Ton von einem Patienten war neu für ihn, man sah es seinem Gesichtsausdruck an. Nach einem Moment des Überlegens gab er nach: „Gut, wir machen erst die Breischluckuntersuchungen und dann untersuchen wir die Beweglichkeit Ihres Zwerchfells. Aber Sie werden anschließend selbst sehen, dass Sie die Empfindung aus Ihrem Bauchraum falsch interpretieren. Was mögen Sie lieber? Zitrone oder Waldmeister?“

Ich entschied mich für Zitronengeschmack des Breies. Zuerst ging es also um die Schluckbeschwerden. Sie förderten nichts Störendes zutage, weil ich gar keine derartigen Beschwerden hatte. Dann erklärte er mir, wie er bei der Untersuchung des Zwerchfells vorzugehen gedachte. Dabei sah er unverändert blass und genervt drein. Dann begab er sich vor seinen Monitor, der in einer Position stand, die ihn meiner Einsicht entzog. Ich musste mehrere verschiedene Aufstellungen am Röntgenschirm einnehmen und dabei sollte ich jedes Mal das tun, was ich als getrennte Bewegung einer Zwerchfellhälfte ansehe. Mal links aufwärts, mal rechts, mal langsam wechselnd, mal in schneller Folge wechselnd. Er nahm alles mehrmals auf.

„Jetzt können wir aufhören, ich hab die Ergebnisse auf dem Speicher. Kommen Sie mal bitte zu mir an den Monitor. Ich möchte Ihnen die Filme jetzt erläutern.“

Ich verließ das Podest vor dem Röntgenschirm, ging auf ihn zu und sah ihm ins Gesicht. Er hatte jetzt rote Ohren und Wangen und sein Gesicht strahlte vor Erregung: „Das hätte ich nie erwartet! Jetzt untersuche ich schon jahrelang, fast Jahrzehnte lang Menschen vor meinem Schirm, das aber ist mir noch nie begegnet. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Sie haben tatsächlich die richtige Empfindung.“ Er erklärte mir detailliert alle gefilmten Bewegungen der Organe in meinem Bauch und wiederholte: „So was ist mir noch nie untergekommen.“

„Das hatten sie bestimmt schon öfters vor Ihrem Schirm. Sie haben es aber nicht erkannt, weil sie es aus ihrer begrenzten Erfahrung für unmöglich hielten und nicht danach geschaut haben.“

„Das ist aber eine sehr mutige Meinung von Ihnen, eine Unterstellung. Das können Sie doch gar nicht wissen.“

„Ich kenne vermutlich einen weiteren Fall dieser Art. Sie könnten herausfinden, ob ich richtig liege. Denn Sie sind ja Arzt und kommen an die Infos ran. Gerade jüngst ist eine junge Frau zu Germanys Next Top Model gekürt worden, die wohl ebenfalls unter ‚Morbus Nauenburg‘ leidet. Ich nehme das an, weil sich die Fernsehleute sehr erstaunt über die Auswahl dieser speziellen Dame wegen eines Grundes wunderten: Sie fällt öfters aus gesundheitlichen Gründen aus, weil die Organe in ihrem Bauch nicht ordentlich an ihrer Stelle bleiben. Sie bewegen sich.“

Ich frage ihn: „Habe ich diese unnormale Fähigkeit bereits seit meiner Geburt?“

„Wahrscheinlich hatten Sie die bereits im Mutterleib. So etwas ist im Gehirn verschaltet.“

Jetzt wusste ich, was mein ganzes Leben lang verantwortlich war für ständige Verdauungsschwierigkeiten, Spannungen im Oberbauch, Magenschmerzen, Blähungen und Ungeduld. Ich hatte alles, was ich im Leben erreicht habe, trotz dieser Probleme erreicht. Auch das gekürte Top-Modell wird ihr Leben meistern.

Ich nahm fröhlich Abschied von ihm, dabei blieben seine Ohren rot. Der von mir erfundene Name ‚Morbus Nauenburg‘ wurde von ihm nicht kommentiert. Mir ist nicht bekannt, ob er sich nach dem von mir erwähnten deutschen Top-Modell erkundigt hat. Ich weiß auch nicht, ob er sich dafür einsetzt, dass die entdeckte „Krankheit“ einen Namen bekommt und bei den Krankenkassen in die Liste der Krankheiten aufgenommen wird. Vielleicht ist die Krankheit ja auch längst in der Ärzteschaft bekannt und es ist so, dass die Ärzte, mit denen ich zu tun hatte, zufällig alle zu uninformiert waren. Die CD mit den Aufnahmen habe ich als Beweisstück in meinen Unterlagen.

Was nutzte mir das Wissen? Mein Hausarzt hat einen Sportarzt konsultiert. Er riet zu osteopathischen Behandlungen. Abgesehen davon, dass mir der aufgesuchte Osteopath einen doppelten Leistenbruch zugefügt hat, helfen die Behandlungen mir tatsächlich. Man muss sie aber regelmäßig wiederholen.

Dagobert und Ferdinand, die gewieften Zigarettenraucher

Das Foto zu meinem zweiten Geburtstag hat Tante Male geschossen, eine Schwester meiner Mutter. Sie war die jüngste der drei sogenannten Schottgauer Rosen, zu denen man die jungen „Herren“ schickte, die auf der Freite waren. Male war nicht sehr viel jünger als ihre zwei Schwestern Käthel und Trudel, dennoch in vielen Aspekten völlig anders als diese. Sie trug Männerhosen und rauchte Zigaretten, was ihren Schwestern nie eingefallen wäre. Sie arbeitete vor ihrer Hochzeit lieber mit den Pferden auf dem elterlichen Feld und bewegte Zentner, als in schicker Kleidung im Kaufmannsladen Pfunde abzuwiegen. Sie pfiff bei der Arbeit ihre Lieblingslieder, was sich nach der Meinung ihrer Schwestern für Damen nicht geziemte. Außerdem besaß sie einen Fotoapparat mit einem Balg zur Einstellung der Brennweite und machte als einzige der drei Rosen selbst Fotos. Sie hatte gelernt, Blende und Belichtungszeit richtig einzustellen, sodass technisch gute Fotos entstanden.

Anlässlich des zweiten Geburtstags von Hubertus. Auf einer „Ritsche“ im Blumengarten: Ferdinand und Dagobert beim Zigarettenpaffen.

Für meinen zweiten Geburtstag hatte sie sich vorgenommen, die beiden Cousins, das heißt ihren fast gleichaltrigen Sohn Horst und mich als gewiefte Zigarettenraucher in ein überzeugendes Foto zu bannen. Dazu hatte sie sich mit Schokoladenzigaretten eingedeckt und mit Horst auch schon geübt, wie er das Zigarettenrauchen simulieren sollte. Er sollte es mir dann vormachen.

Ferdinand und Dagobert waren ihre Spitznamen für uns. Warum, das wissen wir beiden noch heute nicht. Wir wissen auch nicht, wer von uns Ferdinand und wer Dagobert war. Wahrscheinlich erinnerten sie irgendwelche Eigenarten von uns an das, was ihr in Walt-Disney-Heften gefallen hatte. Das angestrebte Foto sollte im Blumengarten in Konradswaldau entstehen. Und weil ich schlecht zu bewegen war, still zu stehen, würde sie uns gemeinsam auf eine Ritsche (schlesisch für Fußbank) platzieren. So vorbereitet ging sie mit uns im Blumengarten in Konradswaldau an die Arbeit. Uns zusammenzuführen war nicht schwierig, denn wir kannten uns gut, weil sie schnell mal zu Besuch kam. Auch ich folgte ihr gern in den Garten, denn sie hielt ein mitgebrachtes geheimnisvolles Geburtstagspäckchen hoch. Und Horst war eingeweiht, er war sozusagen Geheimnisträger.

„Setzt Euch mal nebeneinander auf die Ritsche!“ Bei diesen Worten hielt sie zwei Zigaretten hoch in die Luft und wedelte damit. Schwups, beide Freunde saßen umgehend brav nebeneinander auf der eigentlich viel zu kleinen Ritsche, die sie im Blumengarten vor einem großen Strauch positioniert hatte. Hubertus hatte ganz gegen seine Art nicht darauf bestanden, zuerst die geschenkten Schokoladenzigaretten zu bekommen. Er war überrumpelt worden. Dann gab sie Horst eine Zigarette – der wusste, was er damit zu machen hatte, jedenfalls nicht gleich aufessen – und dann gab sie die zweite in die Hand von Hubertus mit den Worten: „Schau mal auf Horst! So sollst du jetzt auch mal an deiner Zigarette ziehen.“ Hubertus nahm sie nicht zwischen die Finger wie Horst, sondern in seine ganze Pranke und nahm sie nicht mit seinen Lippen auf, sondern mit den Zähnen. Kaum hatte er Schokolade geschmeckt, steckte er sie tiefer in den Mund, um sie samt Papier aufzuessen. Der Versuch von Tante Male, das zu verhindern, rief bei ihm lautes Heulen und Brüllen hervor. Es war immer dasselbe bei ihm: Was sich auch nur im Entferntesten wie Nötigung oder Einschränkung empfinden ließ, führte zu Heulen und Schreien, weshalb er als Heulkönig bezeichnet wurde, während Horst der Pfeifenkönig war. Er konnte nämlich schon seinen Mund zuspitzen und Lieder pfeifen wie seine Mutter.

Nach dem ersten Gebrüll von Hubertus hielt Tante Male die nächsten zwei Zigaretten hoch. Das ergab den gleichen Ablauf. So geschah es wohl 5- bis 6-mal, bis es ohne Gebrüll ablief. Hubertus hatte gelernt, dass er zum Schluss seine Schokolade immer essen durfte. So entschloss sich Tante Male im verewigten Moment schließlich dazu, die Kamera in die Hand zu nehmen und den Auslöser zu drücken.

Beide tragen ein Spielschürzchen, wie es damals üblich war. Einmal schonte man so die wertvolle Kleidung, zum anderen hatten diese Spielschürzen eine schöne große Tasche, in der man ein Spielzeug oder ein Vesperbrot oder eine Möhre oder alle der Sachen aufbewahren konnte. Beide Jungs trugen Leibchen mit den obligatorischen Strapsen, an denen man die langen Strümpfe einknöpfen konnte. Die Haare von Horst waren schon als solche zu erkennen und bereits geschnitten, frisiert und ließen keinen Zweifel zu, dass er demnächst in den Kindergarten aufgenommen werden könnte. Ganz anders die Situation auf dem Kopf von Hubertus. Sein Haupt war noch von ungeschnittenem Flaum bedeckt. Er gleicht insofern eher einem Küken als einem kleinen Hähnchen mit Federn.

Horst balanciert seine Zigarette gekonnt zwischen seinen Lippen und benutzt seine Hand beim Rauchen nicht. Er bleibt ganz gelassen, denn die Schokolade interessiert ihn vorerst nicht. Er simuliert das Rauchen. Dann würde er die Zigarette geordnet vom Papier befreien und aufessen. Ganz anders ist die eingefangene Situation bei Hubertus. Er verstand in dem Wort „Schokoladenzigaretten“ nur das Wort „Schokolade“, ein Wort für Genuss und nahm das ebenfalls enthaltene Wort „Zigaretten“ gar nicht richtig in sich auf. Er umschließt den Stengel fest mit den Lippen, kann ihn aber nicht von der Hand loslassen. Seine Backen werden nicht hohl wie die von Horst. Hubertus zieht nicht an der Zigarette wie ein Raucher, sondern kostet mit der ganzen Empfindlichkeit seiner Zunge an der Schokolade, seine Wangenmuskeln sind angespannt und wölben sich nach außen.

Horst, der brave und schon gut an der Schokoladenzigarette ausgebildete Junge, zur Linken von Hubertus, greift hinter dessen Rücken entlang und legte seine rechte Hand auf dessen rechte Schulter. So konnte er ihm mit etwas Handdruck und Handrütteln sagen: „Schau doch mal auf mich!“ Er legte dabei seinen Kopf etwas in den Nacken, sodass jedem aufnahmefähigen Menschen nur noch sein Gesicht und in diesem Gesicht nur noch der Mund und in diesem Mund nur noch die Zigarette aufgefallen wäre. Er versuchte die Aufmerksamkeit seines Cousins durch leichten Handdruck und Schütteln auf sich zu lenken. Allzu heftig durfte er es nicht machen, es nicht zur Nötigung ausarten lassen, denn das würde sofort ein lautes Gebrüll hervorrufen. Hubertus dagegen ist komplett und eifrigst auf die Schokolade konzentriert, die er aus dem Zigarettenpapier heraushöhlt. Dabei lässt er sich nicht stören, von nichts und von niemandem.

Tante Male nutzte den letzten Moment, um ihr Foto zu schießen, bevor die Geburtstagszigaretten aufgegessen waren. Sie hatte im Eifer des Geschehens völlig vergessen, ihrem Sohn das Strumpfband zu richten, das sich gelöst hatte. Der Strumpf liegt in Falten. Er ist in diesem Zigarettenmoment halt ein bisschen unordentlich „verewigt“ und Hubertus ist völlig verinnerlicht auf die Schokolade konzentriert. Keiner der beiden sieht wie ein gewiefter, kleiner Schwerenöter aus. Aber auf dem Foto sind sie wenigstens beide.

Zum Schluss kann man sich fragen, ob Tante Male nicht gerade mit diesem, gegenüber ihrem Vorhaben etwas misslungenen Schnappschuss besonders zufrieden sein kann. Sie hat die Art der beiden für die Ewigkeit eingefangen! Denn Horst ist sein Leben lang wirklich der bemühte kooperative Mensch geblieben und Hubertus braucht man nicht anzusprechen, wenn er auf etwas konzentriert ist. Aus dieser Konzentration, bis er jeweils sein momentanes Problem gelöst hat, holt ihn keiner heraus, und das blieb ebenfalls ein Leben lang so und dass er nicht still sitzen mochte, ebenso.

Dagobert und Ferdinand machen sich nützlich

Onkel Waldemar, der Vater von Horst, hat unsere schwere Kinderarbeit erkannt und sie im Fotoalbum richtig gekennzeichnet: „Dagobert“ und „Ferdinand“ machen sich einmal nützlich.

Horst (stehend) und Hubertus (in Aktion) beim Hühnerfüttern (mit 2 Jahren). Die Hühner nehmen – wie man sieht – unsere Arbeit ernst.

Horst und Hubertus konzentriert bei der Arbeit des Schuheputzens.

Spiele in der Kutschenremise

Bei schlechtem regnerischem Wetter verlegten wir unser Spielen in die geschützten Räume des Hofes. Da waren einmal die verschiedenen Ställe, aber in den Ställen hatte uns keiner so richtig gern. Daher blieben uns hauptsächlich die vielen Fächer der Scheune und die Wagenremise. Beide Orte boten uns ganz unterschiedliche Anregungen, entsprechend unterschiedlich waren auch die Spiele.

In der Kutschenremise standen unser Dogcart, der Jagdwagen, der Landauer-Plauwagen und zwei verschieden große Kutschschlitten für Fahrten im Winter. Außerdem befand sich darin ein Regal mit speziellen Ausrüstungen für die Passagiere und die Pferde der Kutschfahrzeuge, z. B. Fußsäcke, Regendecken, Glockengeschirre.

Bei den Spielen in der Remise hatten meist die Mädels das Sagen. Die hatten so viele Ideen vom Verreisen, zum Beispiel zu zweit mit dem Dogcart oder als Hochzeitsgesellschaft mit dem Landauer oder als Jagdgesellschaft mit dem Jagdwagen oder als Schlittenpartie mit Fußsäcken und den Glockengeschirren für die Pferde. Für die Frauen war es ganz wichtig, sich zu verputzen und Aufhebens zu machen. Auch musste jeder von uns seine Rolle und jede Rolle bis zum Gepäckboy ihre Besetzung finden. Da musste man als Mann Geduld lernen. Doch bei aller Geduld ging es dennoch meist ein bisschen chaotisch zu und war auch nicht ganz ungefährlich.

Eigentlich habe ich aber nur eine einzige unangenehme Auffälligkeit in Erinnerung behalten, und zwar: Wie es zum Spalt der Nagelwurzel des Ringfingers meiner linken Hand kam. Ganz einfach. Ich hielt mich gerade am Türrahmen fest, als ein anderer die Kutschentür zuschlug. Der Finger steckte zwischen Tür und Rahmen. Gott sei Dank, dass jemand die Tür auf mein Geschrei hin sofort wieder öffnete, denn sonst hätte ich meinen Finger nicht wieder frei bekommen. Nachdem die Verletzung ausgeheilt war, stellten meine Eltern fest, dass der Spalt im Nagel geblieben war. Die Wurzel des Nagels ist seither gespalten. Die Überlegungen der Eltern, ob man den Nagelspalt operieren lassen sollte, beendete ich mit Gebrüll. Der Nagel blieb, wie er war, und Mutter stellte fest: Räudel müssen gekennzeichnet sein. Diese Sonderheit war bedeutungslos für mein Leben, die Übungen im Geduldhaben mit Frauen nicht.

Steine verschmelzen

Im Garten gab es einen versteckten Platz, der ringsherum von Fliederbüschen umgeben war. Papa war der Meinung, dass sich da früher jemand ein schattiges Plätzchen geschaffen hätte. Die Büsche waren aber zu breit und hoch geworden und der Platz zu eng, und außerdem – und das war das Entscheidende – waren immer viele Spinnen und Mücken darin. Wir stellten unsere Gartenmöbel im Sommer nicht zwischen die Fliederbüsche, sondern außen vor sie hin. Den Innenraum benutzte keiner außer mir. Dort konnte ich machen, was ich wollte, und konnte alles stehen und liegen lassen, wenn ich abberufen wurde. Es störte keinen.

Eines Tages hatte ich mir vorgenommen, ein tiefes Loch zu graben. Es sollte so tief sein, wie ich groß war, mindestens. Ich musste was ausprobieren. Es war eine Heidenarbeit. Man kriegte den Spaten nicht rein, weil der Boden zu hart war, und war die Erde dann lose, dann musste sie aus dem Loch rausgeschaufelt werden. Je tiefer das Loch wurde, umso schwieriger wurde das Schaufeln. Zur Vorbereitung hatte ich einen Eimer voll Kieselsteine gesammelt und bereitgestellt. Da hörte ich Papa nach mir rufen: „Bertus, komm rein. Es gibt Abendbrot. Ich antwortete: „Es wird aber noch bissel dauern, ich muss erst noch schnell was fertig machen.“ Er sagte nix drauf und so schaufelte ich weiter. Aber plötzlich stand er neben mir:

„Was machst denn du da?“

„Wenn das Loch noch bissel tiefer ist, dann lege ich die Kieselsteine unten rein und schütte das Loch zu.“

„Und dann?“

„Dann warte ich paar Tage und dann guck ich nach, ob sie schon zu einem großen Stein zusammengeschmolzen sind.“

„Wie kommst du denn auf diese Idee?“

„Du hast mir doch letzt gesagt, dass es in der Erde umso heißer wird, je tiefer man kommt.“

„Stimmt! Das habe ich dir erklärt, als du mich gefragt hast, wozu man in den Steinkohlengruben das viele Holz vom Onkel Konrad braucht. Aber um zu dem Punkt zu kommen, bei dem selbst Steine schmelzen, musst du tiefer graben, als Brieg entfernt ist. Komm ok jetzt rein, das Loch zuschütten kannst du morgen.“

Er reichte mir die Hand und zog mich aus dem Loch.

Ich hätte mir die Arbeit ersparen können, wenn ich früher gefragt hätte.

Spiele in der Scheune

Unsere 50 Meter lange Scheune hatte für die Erntewagen vier Durchfahrten. Jede Durchfahrt hatte rechts und links je eine Scheunenkammer für die unterschiedlichen Ernteprodukte. In wenigen Kammern wurde Heu, in den meisten anderen Getreide gelagert, denn das meiste Heu lagerte über den Tierställen unter dem Dach und nicht in der Scheune.

In jener Zeit wurde das Getreide nicht gleich auf dem Feld gedroschen, sondern mühsam gemäht, in Garben gebunden, zum Trocknen in Puppen aufgestellt und trocken in die Scheunen gefahren. Erst im Winter wurde es aus den Scheunen geholt und auf dem Hof gedroschen. Folglich bargen die meisten unserer Scheunenkammern am Anfang des Winters ungedroschene Getreidegarben. Mit dem Fortschritt beim Dreschen fiel ausgedroschenes Stroh an, das durch ein Gebläse in die zwischenzeitlich leeren Scheunenkammern geblasen wurde. Das war dann unser idealer Spielplatz. Einige der Kammern waren so voll, dass die Balken im Stroh ganz versteckt waren. In den anderen, nicht so vollen Kammern schauten die Balken aus dem Stroh heraus. Das lud uns dazu ein, von den Balken ins weiche Stroh zu springen. Anfangs geschah das mit den Füßen voraus, später wagten wir den Sprung mit Überschlag.

Hier mein Cousin Horst bei der Landung nach einem Dreiviertelüberschlag.

Am Schluss der „Springsaison“ hatten wir alle unseren Mut gefestigt und unser Balancegefühl entwickelt. Jetzt hätte das Springen vom Dreier ins Wasser anschließen können. Aber das gab’s nicht.

Die mit Stroh komplett gefüllten Kammern boten dagegen völlig andere Anreize. Stellen Sie sich Stroh vor, das aus der Höhe der Dachspitze über die Dachpfetten hinweg zu Boden fällt. Anfangs bildet sich über jedem Balken ein Häufchen Stroh, später füllt das Stroh langsam alles komplett aus. Nur unter den Balken bleibt ein leerer Spalt ohne Stroh. Direkt unter den Balken würde ja auch senkrecht fallender Regen nicht hinkommen. In diesen Spalt krabbelten wir als Kinder hinein und verbreiterten ihn mit den Ellbogen seitlich stark. In den so entstandenen Gängen konnten wir auf allen vieren schnell krabbeln, sogar recht schnell. Die Gänge waren aber total dunkel, und viele bekamen zunächst Platzangst darin. Die Platzangst verlor sich aber beim Zuhören, wenn andere darin spielten.

Einer durfte Hänschen spielen und musste sich in einem Gang verstecken, während alle anderen in einer Ecke standen, aus der sie nicht beobachten konnten, an welcher Stelle Hänschen im Gangsystem verschwand. Dann riefen die zwei oder drei ausgewählten Verfolger: „Hänschen, piep mal!“ Hänschen musste zweimal piepen. Probieren Sie es einmal! Es ist gar nicht so einfach, den Ursprung des Piepens mitten in einem großen Strohhaufen zu lokalisieren. Vor allem durfte Hänschen seine Position unter den Balken ständig ändern.

Wenn die Suchenden selbst ins Gangsystem krochen, was am Schluss immer notwendig wurde, wurde es für sie noch schwerer zu erraten, woher das Piepen kam. Selbst dann, wenn man einem im Dunklen begegnete, wusste man ja nicht, wer es war und musste das erst einmal rausfinden. An den langen Loden und an der Kleidung sowie am Körperteil, auf das man gerade fasste, konnte man herausfinden, ob man einem Jungen oder einem Mädchen begegnete. Dieses Spiel blieb viele Tage lang interessant, so lange, bis zu viel Stroh aus einer Kammer entnommen worden war. Dann nutzten wir die nächste, solange noch eine voll war. Anderenfalls konnten wir „Springen vom Balken“ spielen.

Einmal fasste ich in etwas Schleimiges und fragte mich: Wo bin ich denn da mit meiner Hand? Es war eine ziemlich große Menge von Schleim. Verflischt noch mal, so viel Rotz ist doch in keiner Nase drin! Der Schleim war außerdem kalt und mit scharfen Blättchen vermischt. Eine Leiche? Es gruselte mich. Ich verließ eiligst den Gang im Rückwärtsgang. Im Hellen angekommen stellte ich fest, dass die scharfen Blättchen Stücke einer Eierschale waren. Des Rätsels Lösung: Ein Huhn hatte schon mehrere Eier auf eine Stelle gelegt und wollte sie wohl ausbrüten. Vor diesen Hühnern war man sich nirgends sicher. Überall, wo wir spielten, wollten sie auch spielen. Erst füttert man sie und zieht sie groß, und dann lassen sie einem keinen einzigen Platz mehr auf dem ganzen Hof!

Spiele auf dem Sandhaufen

Auf einem Hof gibt es oft etwas zu mauern. Ein gewisser Sandvorrat lagerte deshalb immer vor der Mistmauer. Daneben stand die Bude unseres gelben Schäferhundes Rolf. Auch ein idealer Spielplatz für Kinder. Rolf war alt und geduldig. Ich konnte seinen Strick an der Mauer abbinden und ihn an der Hand führen. Ich konnte mich von ihm ziehen lassen, dabei erreicht man ein höheres Tempo als ohne Hund. Direkt daneben im Sandhaufen hatte ich zahlreiche Formen und konnte damit Sandburgen bauen. Blöd nur, dass auch die Hühner den Sand für sich beanspruchten. Nicht, dass ich sie nicht wegtreiben konnte, aber der Platz war dann immer vollgeschissen. Da musste man Sand darüber streuen. Mama wollte nicht, dass ich auf dem schmutzigen Sand spielte. Aber Mama konnte nicht überall sein.

Mit dem Eintritt in die Schule habe ich den Platz gemieden. Das kam so: Mit einer vollen Schultüte haben sie mich in die Schule gelockt. Dort bekam ich sie feierlich überreicht. Anschließend habe ich ihren gesamten Inhalt aufgegessen. Als ich am nächsten Tag auf dem Sandhaufen spielte, rief mich Mutter gegen 10 Uhr, damit ich mich für die Schule sauber anzöge. Ich war total überrascht: Was wollen wir denn schon wieder in der Schule? Ich habe doch meine Tüte schon bekommen. Da erklärte Mutter, dass ich heute wieder zur Schule gehen müsste, dass ich ab jetzt sogar jeden Tag außer sonntags zur Schule gehen müsste. Ich fragte meine Mutter, ob sie mir nicht die Tüte wieder mit Süßigkeiten füllen könnte. Ich möchte sie dem Lehrer zurückgeben. Doch Mutter blieb hart: „Gegessen ist gegessen! Jetzt bist du ein Schulkind. In Deutschland gehen alle Kinder ab 6 zur Schule, damit sie schlau werden. Und du willst doch auch ein schlauer Mann werden, nicht wahr?“ Ich dachte mir: Verflischt noch mal! Jetzt bin ich gefangen. Ich schmiss meine Schaufel auf den Sandhaufen und zertrat alle Sandformen und nahm mir vor, so schnell zu lernen, dass ich schon nach einem Jahr alles wissen würde. Danach hätte ich wieder den ganzen Tag frei für meine eigenen Ideen. Damals wusste ich nicht, was in der Schule und nach der Schule noch alles kommt.

Spielen im Kuhstall?

In unserem Kuhstall durften Kinder nicht spielen. Unser Schweizer, der Herr Müller, ließ das nicht zu. Wenn wir’s trotzdem versuchten, dann durfte er uns nicht dabei erwischen. Wenn er uns erwischte, dann schrie er drohend und jagte uns aus dem Stall. Er verteilte sogar Koppstückel, auch an mich. Ich hab mich mal bei Vater über ihn beschwert. Aber der hatte für Herrn Müller Partei ergriffen: „Je mehr Milch die Kühe geben, desto besser verdient der Herr Müller und wir auch. Wenn ihr im Kuhstall aber Unruhe reinbringt und Lärm macht, dann geben die Kühe weniger Milch.“ Es half also nichts, dass Vater über ihm stand. Was den Stall angeht, redete er dem Herrn Müller nicht rein. Das war ein Kreuz!

Wenn es nämlich im Winter eisekalt war, dann war es im Kuhstall trotzdem mollig warm, viel wärmer als in allen anderen Ställen. Und wenn draußen alles vereist und eingeschneit war, dass man mit nix, was Räder hatte, draußen fahren konnte, ließ sich der Herr Müller trotzdem nicht erweichen: Fahrt halt Schlitten! Und wenn wir ihm sagten, dass uns ins Maul friert*1: Dann haltet die Klappe und bindet Euch ’nen zusätzlichen Schal um. Es war sehr ärgerlich. Der ganze schöne lange und breite gepflasterte Gang im Kuhstall durfte nicht genutzt werden. Er war nur da für den Bullen und seine vielen Milchkühe; und nicht für uns. Dabei brauchten die Rinder den Gang gar nicht, weil sie sowieso die Wand entlang an den Futtertischen angebunden waren. Zusätzlich zu den Kühen durften nur noch die frisch geborenen Kälbchen in kleinen Boxen im Stall bleiben. Die brauchten es mollig warm, bis sie später in den Jungviehstall auf der anderen Hofseite konnten. Das sieht man ja auch ein.

Was uns alles wegen der Sturheit von Herrn Müller entging, muss man sich mal vor Augen halten. Man könnte sich so gut zwischen den Kühen verstecken, weil die alle ganz brav waren. Der Gang war so breit, dass wir hätten Völkerball spielen können. Er war so lang, dass wir Zielwerfen hätten veranstalten können. Die Fläche war so groß, dass wir mit mehreren Rollern und Dreirädern hätten herumknattern können. Wir hätten Papierflieger falten und fliegen lassen können. Die Kühe hätten so einen Papierflieger auf ihrem Rücken doch gar nicht gemerkt. Aber nix war erlaubt.

Die Ställe der anderen Tiere kamen nicht infrage. Sie waren zu eng, aber auch zu kalt. Und im Schweinestall durfte ich von meiner Mutter aus sowieso nicht spielen. Machte ich es trotzdem mal, dann musste ich beim Reinkommen meine Sachen schon im Flur ausziehen, weil sie den Geruch der Schweine nicht in der Küche oder im Wohnzimmer haben wollte. Mein Cousin Horst, den zog es, wenn es Abend wurde, von selber ins Haus. Dann wusch er seine Hände, zog Potschen an und machte es sich am Kachelofen gemütlich oder spielte mit den Mädeln Mensch ärgere Dich nicht. Er wurde mir immer als Vorbild dargestellt: Sieh mal den Horst! Der spielt auch gern draußen, aber der findet abends wenigstens ein Ende. Dich muss man immer erst einfangen. Wenn der Horst reinkommt, dann stinkt er auch nicht nach Schweinen, aber du stinkst immer wie ein Wiedehopf. „Was soll denn das wieder sein? Ein Wiedehopf?“

*1. Übrigens kritisiert Beate als Lektorin meine primitive Ausdrucksweise: Was sollen denn Leser denken, wenn du schreibst „uns friert ins Maul“? Da kann ich nur antworten: Es ist die einzige Ausdruckweise, bei der ein Konradswaldauer sofort wusste, dass das Ensemble aus Nase, Lippen, Lefzen, Wangen und Kinn, aber ohne die Augen gemeint ist. Die Antwort von Herrn Müller „Bindet euch ’nen Schal davor“ ließ uns verstehen, dass wir einen breiten Schal vor den ganzen Bereich inklusive Nase und Kinn binden sollten. Haben Sie es jetzt verstanden? Das war Hoch-Konradswaldauerrisch!

Verlängerung der Spielzeit im Winter

Im Winter wird es schon früh dunkel. Wenn das nicht das Ende unseres Spielens und Tollens auf dem Hof sein sollte, dann musste man draußen etwas Essbares finden. Denn wenn ich beim Duster-werden auf der Suche nach einem Vesperbrot reinkam, ließ mich Mutter nicht mehr wieder raus auf den Hof. Sie hatte wohl den Eindruck, dass die Schweine im Dunkeln besonders heftig stinken. Mutter mochte den Geruch von Schweinen nicht. Ich blieb deshalb immer draußen und hungerte, bis die Kartoffeldämpfe aufgeschraubt wurden und die Kartoffeln fertig waren zum Verfüttern. Die für die Schweine gedämpften Kartoffeln rochen und schmeckten viel besser, als die von Mutter gekochten. Mit etwas Viehsalz oder Melasse drauf waren sie ein Genuss. Sonst schmeckten mir Kartoffeln gar nicht so gut. Ich mochte sie nur, wenn sie schon als Klöße auf den Teller kamen, am liebsten aus geriebenen rohen Kartoffeln. Das geht mir auch noch heute so.

Im Pferdestall gab es den Winter über immer Pferdemöhren, die großen gelben. Die schmeckten nicht ganz so süß wie die roten. Sie hatten aber gegenüber den heißen Schweinekartoffeln aus der Dämpfe einen großen Vorteil, nämlich dass man sie fest in der Hand halten konnte und beim Essen im vollen Tempo rennen und spielen konnte, was mit den heißen Kartoffeln nicht gut ging.

Dann hatten wir noch Futterrüben und Zuckerrüben. Beide Sorten konnte man auch essen. Aber die waren nicht so beliebt. Die Futterrüben bekamen die Rinder und die Hühner. Von den Zuckerrüben behielten wir nach der Ernte nur wenige zum Sirup kochen. Fast alle wurden zur Zuckerfabrik gefahren. Von der Zuckerfabrik holten wir mit unserer sauber gewaschenen Jauchetonne Melasse zurück. Die Melasse wurde hauptsächlich an die Schweine verfüttert. Das hat uns Kinder immer gewundert, weil sie richtig gut schmeckte. Wir durften sie trotzdem nicht essen. Das heißt: Wir durften uns nicht erwischen lassen. Vielleicht stammte bereits aus dieser Zeit der Helicobakter Pylori, der im Jahr 2013 bei mir im Magen-DarmTrakt entdeckt wurde.

Die Zuckerrüben wurden beim Sirupkochen nach dem Waschen auch noch zerkleinert und kamen dann in die Dämpfe. Wenn sie gar waren, dann wurden sie in eine zylindrische Presse geschaufelt und ausgepresst. Der Saft ist anfangs dünn und etwas süß. Im Waschkessel wurde er stundenlang gekocht und wurde dabei immer süßer und dicker, wurde allmählich zu Sirup. Es bildete sich ständig Schaum und meine Mutter musste mit einer großen Kelle die ganze Zeit Sirup aus dem Kessel schöpfen und ihn aus der Höhe wieder in den Kessel stürzen lassen. Das kühlte ihn ab und verhinderte, dass er aus dem Kessel überläuft. Am Schluss hatten wir dann drei große Milchkannen voll Sirup. Die Reste, auch der Schaum kamen in eine Bratpfanne und wurden mit Butter solange gebraten, sodass die Masse nach dem Erkalten fest war. Das waren die besten Bonbons meines ganzen Lebens. Sie reichten leider immer bloß ein paar Tage. Den fertigen Sirup verwahrte Mutter in der Speisekammer. Der war wie der Speck in der Mausefalle, an den ich abends nicht mehr rankam.

Eine jüngere Schwester, Gudrun

Wir erwarteten ein weiteres Geschwisterchen. Ich freute mich darauf und fragte Papa, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein würde. „Das wissen wir nicht“ war seine Antwort. Ich wünschte mir einen Bruder zum Spielen, denn zwei Schwestern hatte ich schon. Ich fragte Papa: „Und wie können wir herausfinden, was Mama bekommt?“ „Du kannst ja mal den Klapperstorch fragen“, war seine Antwort, bei der er mich vielsagend anschaute. Mir war klar, dass Mama das Baby gebären würde und dass der Storch damit nichts zu tun hat. Der Hinweis von Papa machte mich aber unsicher: Vielleicht bestimmt der Klapperstorch ja, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Ständig blieben ja die Schulkinder auf ihrem Weg von der Schule ins Unterdorf am Zaun unseres Hofes stehen und trugen ihre Wünsche dem Storchenpaar auf unserem Scheunendach vor. Daher schloss ich mich der Gruppe der Kinder an. Hilft’s da hilft’s, hilft’s nich, dann schadet’s nich. Ich brüllte so laut ich konnte: „Storch, Storch Guter, bring mir einen Bruder!“ Die andere Gruppe schrie: „Storch, Storch Bester, bring mir eine Schwester!“ Wenn uns die Störche gehört hatten, fingen sie an zu klappern. Aber wir verstanden die Storchensprache nicht. Wir wussten nicht, wem sie was zugesagt hatten. Es war auch gemein, dass das Wort „Schwester“ viel mehr zischte und besser durch die Luft drang, als das Wort „Bruder“. „Bruder“ klingt so ruhig und lässt sich gar nicht so richtig schmettern. Deshalb brüllte ich so laut, wie ich konnte: „Storch, Storch, du bester Guter, bring mir einen Bruder.“

1997: Die Störche kehrten jedes Jahr wieder.

(Das Gebäude rechts steht heute nicht mehr.)

An einem Samstag, und zwar am 18. Februar 1939 war es so weit. Papa rief mich, ich hätte ein Schwesterchen bekommen und ich könnte mal vorsichtig zu Mama ins Schlafzimmer gehen. Die Nachricht bedeutete, dass mich die Störche nicht erhört hatten. Mama hatte das Baby bei sich im Bett: „Schau mal, wie ruhig sie in meinem Bett schläft.“ Ich staunte sie an und wusste im gleichen Moment, dass ich noch lange würde darauf warten müssen, bis sie mit mir spielen könnte: „So ein kleines Mottele! Wie heißt sie denn?“ „Das haben wir uns noch gar nicht überlegt. Die Namen von Uschi, Edith und dir hatte ich mir schon vor der Hochzeit überlegt. Jetzt darf mal der Papa auswählen.“ Nach ein paar Tagen war klar, dass sie Gudrun Anna Friederike heißen sollte.

Stukas

Wenn man von Konradswaldau mit der Kutsche nach Brieg fuhr, kam man zwischen Pampitz und Brieg an einem Fliegerhorst vorbei. Wie wir heute wissen, wurde er allein aufgrund der Kriegspläne Hitlers in den Jahren 1936 und 1937 angelegt. Auch danach gingen die Bauarbeiten weiter. Er wurde zunächst für Aufklärungsflugzeuge genutzt. Von Mai bis September 1939 war die erste, später dritte Gruppe des Sturzkampfgeschwaders 77 (mit Ju 87 Stukas) auf ihm stationiert. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde er ab 1994 eingestampft. Ich habe ihn 2019 besucht. Zwischen den Betonplatten der Rollbahn wuchsen Büsche. Am Rand standen noch heute die alten Bunker zur Unterstellung von Kampfflugzeugen. Angeblich werden 750 ha als Gewerbegebiet ausgewiesen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Fliegerhorst_Brieg

Auf dem Fliegerhorst waren damals mehrere Hangars erstellt worden, einerseits für den Service der Flugzeuge zwischen den Einsätzen, wie auch für die Reparaturen beschädigter Flugzeuge. Davon sieht man heute nichts mehr. Spätere Bauarbeiten erbrachten die heute noch vorhandenen Bunker.

Der Flugplatz war damals von einem Zaun umgeben. Man konnte nicht einfach zum Gucken mal reingehen. Das war sehr schade, denn auf dem Platz konnte man aus der Ferne ab und zu Flugzeuge stehen sehen. Arbeiter in gestreifter Kleidung leisteten auf dem Flugplatz die Arbeit. Man munkelte, dass es Juden seien. Ich wusste nicht, was ein Jude ist. Nach dem Gepisper muss ein Jude ein schlechter Mensch gewesen sein. Wenn sie nicht grad arbeiteten, klauten sie den Bauern die Kohlköpfe vom Acker und hausten nachts in einem offenen Lager hinter Stacheldraht. Unsere Mutter hatte uns trotzdem darauf eingeschworen, den Wachmännern nichts zu sagen, wenn wir einmal beim Vorbeifahren einen Arbeiter beim Klauen beobachten würden. Das sei Mundraub und keine Sünde. Man sollte den Leuten lieber satt zu Essen geben und sie anständig unterbringen und behandeln, wenn sie schon für uns arbeiten müssten.

Mit ihrem Auftreten ab Mai 1939 drangen die Stukas sofort in die Köpfe aller Menschen:

Erstens verursachten die Flugmotoren einen nicht zu überhörenden Lärm, zweitens kam ein noch stärkeres Geheul während des Sturzfluges hinzu, das von einer Sirene an Bord des Flugzeugs stammte.

Der Sturzflug selbst ließ uns zittern, ob die Piloten rechtzeitig abfangen oder in den Boden stürzen würden.

Außerdem befanden sich den ganzen Tag lang ständig mehrere Stukas zu Übungszwecken in der Luft.

Das Ganze war ein Schauspiel des Hitler’schen Wahnsinns.

Wir beobachteten die Flüge von Konradswaldau aus, wann immer wir Zeit hatten. Die Beobachtergruppen enthielten aber bald keine Erwachsenen mehr, weil die arbeiten mussten. Vielleicht hatten sie aber auch schon genug gesehen. In unserer Kindergruppe führten die Schulkinder das Wort, und wir alle lebten von ihren Neuigkeiten. Ich selbst war ja noch nicht einmal 4 Jahre alt.

Zwei Stukas vom Typ Ju 87-01

Die Stukas blieben die große Attraktion. Das einzelne Flugzeug begab sich bei seinem Einsatz auf irgendein uns unbekanntes Zeichen hin plötzlich mit lautem Geheul in den steilen Sturzflug. Kurz über dem Boden wurde der Sturzflug abgebrochen und die Maschine stieg wieder aufwärts. Danach kurbelte sie sich immer höher, um dann aus großer Höhe den Sturzflug noch einmal durchzuführen. Wir hatten beobachtet, dass bei einigen der Sturzflüge sich ein Paket vom Flugzeug löste und geradeaus in den Boden schlug. Uns hielt es nicht mehr länger im Dorf, sondern wir stürmten aufs Feld. Eine ganze Gruppe von Jungs – auch mit älteren aus den höheren Klassen – machte sich auf den Weg, das abgeworfene Paket zu suchen. Wer weiß, was das für ein Paket war. Schließlich kamen wir an einem Schild noch weit weg vom Fliegerhorst an, das in einem Entwässerungsgraben, wie sie für die Entwässerung unseres flachen Landes früher zwischen den Feldern angelegt worden waren, aufgestellt war. Das Schild war weiß angestrichen und enthielt in der Mitte einen roten Kreis. Nicht weit von diesem Schild war das Paket eingeschlagen, das wir beobachtet hatten. Es war ganz schön tief in die Erde eingedrungen. Man sah nur noch sein Ende im Erdloch und konnte erkennen, dass es hinten aus Beton war. Zu Hause erzählte man uns, dass es die Aufgabe dieser Flüge war, den Bombenabwurf aus dem steilen Sturzflug zu üben. Wir Kinder bewunderten die Piloten. Das waren sicherlich schneidige Kerls, und die meisten von uns wollten jetzt Pilot werden. Sogar Mädchen waren darunter. Das fanden wir Jungs lächerlich.

Dass Stukas am Himmel waren, wurde Alltag; auch, dass manchmal Fallschirmspringer am Himmel zu beobachten waren: „Die müssen üben auszusteigen, falls die Maschine mal getroffen ist.“ Ganz aus der Reihe fiel aber, als wir eines Tages beobachteten, dass ein Stuka brennend in den Hochwald geflogen war. Als wir an die Absturzstelle kamen, war die Feuerwehr schon am Spritzen. Sie verjagte uns laut schimpfend. Am Tag darauf war ein älterer Schüler auf die Idee gekommen, Fluginstrumente aus dem zerstörten Cockpit auszubauen. Das Flugzeug war aber schon abtransportiert. Das Einzige, was uns geblieben war, waren verbrannten Äste und ein paar Splitter der Scheibe des Cockpits. Wir sammelten sie ein und untersuchten sie auf dem Heimweg genauestens. So etwas hatten wir noch nie gesehen: Glas, das brennt, wenn man es ansteckt, oder das schmilzt, wenn es erhitzt wird. Die Älteren sagten, dass es Plexiglas wäre. Auf jeden Fall wollten viele von uns nun nicht mehr Pilot werden.

Cockpit der Ju 87-01. Wenn ein Pilot während des Fluges aussteigen musste, blieb der Sitz im Flugzeug. Ein Ausstieg aus der Enge dieses Cockpits war für den Piloten zwar möglich, aber gefährlich.

Dr.-Ing. Hubertus Schmidtlein, fest verschnallt in einem modernen Schleudersitz. Gelb ist die Rakete zum Heraussprengen des Piloten samt Sitz. Im Februar 1966 feierte ich meine Promotion an der TH in Darmstadt. Jetzt war ich so weit, meiner Mutter ihre Frage des Jahres 1939 zu beantworten: Warum kann ein Ding, das so schwer ist wie ein Flugzeug, überhaupt fliegen?

Ich fragte zu Hause meine Mutter, warum denn ein Flugzeug so enge Kurven fliegen kann. Ihre Antwort war nicht so gut. Sie schob den Ball wieder zu mir zurück: Sag mir erst einmal, warum so ein schweres Ding wie ein Flugzeug überhaupt fliegen kann, dann sag ich dir, warum die Flugzeuge so enge Kurven fliegen können. Ich habe dann 27 Jahre gebraucht, um ihr die Antwort zu geben. Zu diesem späten Zeitpunkt brauchte ich dann ihre Antwort auf meine Frage nicht mehr.

Buxtehude und Piepenbrink

Auf dem Zaun vor unserem Hof war ein Schild aus Emaille befestigt: Bullenhalterei. Das Schild war eigentlich übrig, denn es wusste doch jeder in unserem Dorf, dass wir einen Zuchtbullen hatten. Es stammte wohl noch aus den Jahren, als wir im Dorf neu waren. Eines Tages musste Vater weit wegfahren, um einen neuen Zuchtbullen zu kaufen. Der alte musste ersetzt werden. Ich wunderte mich, warum er so weit fahren müsse, um einen Bullen zu kaufen. Wir hätten doch selbst jedes Jahr neue. Er erklärte, dass jede Familie ihre Fehler habe, dass das auch bei den Rindern so wäre. Deshalb dürfte unser Bulle weder seine Töchter noch seine Schwestern decken. Sonst würden die Kälber immer schlechter. Das leuchtete mir ein, aber richtig verstanden habe ich es erst viel später im Biologieunterricht.

Nach vier Tagen kam er wieder heim, aber ohne Bullen. Ich war neugierig auf den neuen Bullen und wollte seine Familienfehler suchen. Ich war daher sehr enttäuscht: „Warum kommst du denn ohne einen Bullen wieder?“ Er antwortete: „Wart’s ab, du Neugierdel. Der kommt morgen in einem Güterwagon in Brieg an. Dann können wir ihn abholen. Ich konnte ihn ja nicht auf dem Schoß mitbringen.“ Das hatte doch auch gar keiner erwartet. Dann setzte sich