Meine erste Geschichte - Marlon Baker - E-Book

Meine erste Geschichte E-Book

Marlon Baker

0,0

Beschreibung

Wie das Cover des Buches zeigt, geht es hier um Geschichten, mit denen wir uns während der Schulzeit auseinandersetzten, bzw. unsere ersten Gehversuche im kreativen Schreiben widerspiegeln. Was hat uns veranlasst, zur Feder zu greifen? Was inspirierte uns, eine erste Geschichte aufzuschreiben? In diesem Buch wurden vor allem die ersten Geschichten veröffentlicht, die ein/e Autor/in zu Papier gebracht hat; aber auch Geschichten über das Schreiben selbst. Insgesamt sind es 22 Geschichten von 19 Autor/innen geworden, die der Herausgeber Marlon Baker in diesem 210 Seiten starken Buch zusammengetragen hat. Und nicht nur er veröffentlicht hier seine ersten Gehversuche, die er als Autor vor über 20 Jahren unternommen hat. Es gibt in diesem Buch Autor/innen, die zum ersten Mal eine Geschichte veröffentlichen, aber auch solche, die schon einige Veröffentlichungen vorzuweisen haben. Informieren Sie sich über die teilnehmenden Autor/innen: Norbert Pilz, Sofie Capasso, Carola Schulze, Britta Wisniewski, Lotte Maria Kaml, Jochen Hoff, Michael Nero, Britta Knuth, Tamara Holder, Kerstin Jordan, Wolfgang Tanke, Kai Rasmus Nissen, Rosa Ananitschev, Maria Schmittner, Kai Seuthe, Mairon Nröd und Sylvia Klinzmann

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 267

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Contents

Impressum

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Semmelblond

Nordseetraum

Pele, der verliebte Wurm!

Gedanken nach Mitternacht

Der Seewolf

Alle Vögel sind schon da

Der heimliche Herrscher

Aus Blut wurde Tinte

Hexenherz

Guten Tag! 
Tod mein Name. Der Tod.

Wolfsgesang

Wer hätte das gedacht?

Es war mal weiß

Nachtwandern

Der Junge, der nach zehnjährigem Koma spazieren geht und Satan kennenlernt

Jadeaugen

Gegen- oder Rückenwind –
ein Perspektivwechsel

Der Rosengarten

Mirna und Susa

Die Besucher

Es geschah eines Nachts

Das UFO in der Keksdose

Buchempfehlungen aus dem mysteria Verlag

Unsere aktuelle Ausschreibung für Autor/innen

Marlon Baker (Hrsg.)

Meine erste

Geschichte

Kurzgeschichten

Anthologie

Die mitwirkenden Autor/innen dieser Anthologie:

Norbert Pilz, Sofie Capasso, Carola Schulze,

Britta Wisniewski, Lotte Maria Kaml, Jochen Hoff,

Michael Nero, Britta Knuth, Tamara Holder,

Kerstin Jordan, Katja Guttmann, Wolfgang Tanke,

Rosa Ananitschev, Maria Schmittner, Kai Seuthe,

Kai Rasmus Nissen, Mairon Nröd, Sylvia Klinzmann

Und außerdem in diesem Paperback:

Marlon Baker mit seinen (ersten) Kurzgeschichten:

Die Besucher (1991)

Es geschah eines Nachts (1996)

Das UFO in der Keksdose (1992)

Weitere Informationen zu den Autor/innen finden Sie auf:

www.mysteria-Verlag.de

Alle Texte, Textteile, Grafiken, Layouts sowie alle sonstigen schöpferischen Teile dieses Werks sind unter anderem urheberrechtlich geschützt. Das Kopieren, die Digitalisierung, die Farbverfremdung, sowie das Herunterladen z. B. in den Arbeitsspeicher, das Smoothing, die Komprimierung in ein anderes Format und Ähnliches stellen unter anderem eine urheberrechtlich relevante Vervielfältigung dar. Verstöße gegen den urheberrechtlichen Schutz sowie jegliche Bearbeitung der hier erwähnten schöpferischen Elemente sind nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des Verlags und des Autors zulässig. Zuwiderhandlungen werden unter anderem strafrechtlich verfolgt!

Die Originalausgaben erschien Dezember 2013

im mysteria Verlag / www.mysteria-Verlag.de

© 2013 mysteria Verlag

Alle Rechte liegen bei den beteiligten Autoren.

Dieses Paperback wurde mit Genehmigung

der beteiligten Autoren veröffentlicht.

Buchsatz, Cover & Korrektorat: www.AutorenServices.de

Illustration für „Nachtwandern» © Bernhard Schwarzwald

Konzept, Illustration & Layout: © Marlon Baker

Vorwort des Herausgebers

Semmelblond ~ Norbert Pilz

Nordseetraum ~ Sofie Capasso

Pele, der verliebte Wurm ~ Carola Schulze

Gedanken nach Mitternacht ~ Britta Wisniewski

Der Seewolf ~ Lotte Maria Kaml

Alle Vögel sind schon da ~ Jochen Hoff

Der heimliche Herrscher ~ Michael Nero

Aus Blut wurde Tinte ~ Britta Knuth

Hexenherz ~ Tamara Holder

Der erste Satz ~ Katja Guttmann

Guten Tag, Tod mein Name ~ Kerstin Jordan

Wolfsgesang ~ Wolfgang Tanke

Wer hätte das gedacht ~ Rosa Ananitschev

Es war mal weiß ~ Rosa Ananitschev

Nachtwandern ~ Maria Schmittner

Der Junge, der nach zehnjährigem Koma spazieren geht und Satan kennenlernt ~ Kai Seuthe

Jadeaugen ~ Wolfgang Tanke

Gegen- oder Rückenwind – ein Perspektivwechsel ~

Kai Rasmus Nissen

Der Rosengarten ~ Sylvia Klinzmann

Mirna und Susa ~ Mairon Nröd

Die Besucher ~ Marlon Baker

Es geschah eines Nachts ~ Marlon Baker

Das UFO in der Keksdose ~ Marlon Baker

Buchtipps vom mysteria Verlag

Weitere Informationen zu den hier veröffentlichten

Autor/innen finden Sie auf:

www.mysteria-Verlag.de

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Mit Kurzgeschichten hat vor über 20 Jahren meine Karriere als Schriftsteller begonnen. Damals in den USA lebend, war es letztendlich einem Freund zu verdanken, der auf meine ersten Gehversuche des kreativen Schreibens aufmerksam wurde, dass ich es wagte, meine Geschichten einem Verlag zuzusenden.

Etwa ein Jahr später – ich war gerade einmal 21 Jahre alt – hielt ich mein erstes Buch mit zehn Kurzgeschichten in den Händen. Das dies der Startschuss einer Karriere werden sollte, hatte ich damals nicht wahrhaben wollen. Doch mich juckt es seitdem unentwegt in den Fingern, meine Gedanken aufschreiben; oder es klopfen Geschichten an meine Tür, die unbedingt von mir erzählt werden wollen.

Inzwischen lebe ich in Neuseeland und habe in den letzten 20 Jahren zahlreiche Kurzgeschichten und Bücher geschrieben, die allesamt veröffentlicht und zu Bestsellern wurden.

Und jetzt ist es an der Zeit, neuen Talenten eine Chance zu geben, ihre Werke einem größeren Publikum vorzustellen. Dafür hatte ich einen Aufruf gestartet, mir zum Thema „Meine erste Geschichte» Beiträge zu senden, und die besten Kurzgeschichten liegen nun in diesem Buch vor.

Und das Augenmerk des Lesers soll auf den Geschichten liegen, und nicht so sehr darauf, ob sie nun von einem Newcomer oder einem etablierten Schriftsteller geschrieben wurden. Denn eines haben diese Geschichten gemein: Sie bieten beste Unterhaltung auf einem sehr hohen Niveau. Und bei der Zusammenstellung der Geschichten sind mir viele Fragen durch den Kopf gegangen:

Warum schreiben wir?

Was fasziniert uns an Büchern?

Warum lesen wir Geschichten?

Jede einzelne Kurzgeschichte in diesem Buch ist eine Entdeckung wert, und manch ein Autor oder Autorin veröffentlicht hier nicht zum ersten Mal, sodass Sie, werter Leser, dazu aufgefordert werden, auf Entdeckungsreise zu gehen.

Kurzgeschichten sind oft der Einstieg für Autoren, die literarische Bühne zu betreten, und wenn dem Publikum gefallen hat, was der Autor dargeboten hat, freut er sich über Resonanz, Zuspruch und Kritik. Wir möchten daher unsere Leser dazu auffordern, uns auch ihre Meinung kundzutun, indem Sie uns bitte eine Rezension auf Amazon.de schreiben.

Ihre Meinung führt letztendlich dazu, dem Autor wissen zu lassen, ob er alles richtig gemacht hat oder ob er womöglich noch etwas Feinschliff benötigt.

Autoren, die gerade zu Schreiben begonnen haben, sind wie Rohdiamanten, die sich mit etwas Geschick zu wahren Kostbarkeiten verwandeln lassen.

Und so wünsche ich allen teilnehmenden Autor/innen an dieser Kurzgeschichten Anthologie alles Gute auf ihrem weiteren Weg, eines Tages den Erfolg einstreichen zu können, den sie verdienen.

Die in diesem Buch enthaltenen Geschichten zeigen sehr deutlich auf, wie unterschiedlich Menschen inspiriert werden, um zur Feder zu greifen. Doch eines verbindet uns alle:

Die Liebe zum Buch und die Liebe zum Schreiben.

Einige sind schon in früher Kindheit mit Büchern aufgewachsen, einige haben erst später zu diesen unglaublichen Welten gefunden, die sich auftun, sobald man ein Buch aufschlägt. Und auch in diesem Buch können Sie verschiedene Welten betreten und so manchem Autor über die Schulter schauen, der Einblick gewährt, wie aus anfänglichen Gedanken und Ideen erste Worte, erste Sätze und Zeilen werden … bis dann, nach einer kreativen Phase, die Geschichte vollendet ist.

Auch können Sie in diesem Buch lesen, wie anstrengend zuweilen es ist, von seiner Umwelt wahrgenommen zu werden, als das, was man ist: Ein Schriftsteller! Und sich für und mit einem Menschen zu freuen, der eine Geschichte geschrieben hat, um sie dann zwischen zwei Buchdeckel zu packen, kostet nicht mehr als ein Lächeln. Und so fordere ich Sie auf, jemandem Hoffnung zu schenken, der an einer Geschichte schreibt, statt ihn mit voreiliger Kritik dem Erdboden gleichzumachen. Denn sind es nicht zuletzt Geschichten, die unser aller Leben nachhaltig verändern.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen beste Unterhaltung mit diesem Buch,

Marlon Baker, Dezember 2013

www.MarlonBaker.com

Semmelblond

Semmelblond

Norbert Pilz

Es ist Sonntag, der kleine quirlige Junge mit den semmelblonden Haaren hat seine beste Hose und sein schönstes kurzärmliges Hemd, wunderschön grün, orange kariert, angezogen, um in den letzten warmen Sonnenstrahlen des Spätsommers 1958 einen guten Eindruck vor Gott und der Welt, aber wohl hauptsächlich vor seiner Mutter, zu machen.

Sieh her, schien er sagen zu wollen, bin ich nicht ein toller kleiner Kerl, den man lieb haben muss!? Aber, wie so oft, oder wie fast immer, ist die Mutti, wie er sie immer nennt, wieder einmal nicht da, um ihn bewundern zu können.

Also macht sich der kleine Mann ganz allein auf den Weg in den Spätsommer, um wenigstens von Freunden und Nachbarn gesehen zu werden. Spielen kann er heute nicht, nicht in diesen Sachen. Viel zu schade seien sie dazu, erklärte er es den fragenden Blicken von Harald und Lothar, die schon auf ihn warteten, um im endlos hohen, voller Geheimnisse steckenden, Hinterhof des Nachbarhauses gemeinsam auf Entdeckertour zu gehen. Unverständlich schauten sie dem kleinen semmelblonden Mann hinterher, als wollten sie fragen, warum er dann wohl dieses hässliche, aber scheinbar sehr kostbare Hemd angezogen hat, wenn es zu schade zum Spielen ist. Ehe sie aber die Frage aussprechen können, ist er schon verschwunden, in der schon tief stehenden Sonne nicht mehr zu sehen.

Zugegeben, einen kurzen Augenblick, einen Wimpernschlag lang, war er da, der Wunsch, sich mit Harald und Lothar ins Abenteuer zu stürzen und bewaffnet mit Taschenlampe und Holzschwert durch endlose Treppenaufgänge und unheimliche, verlassene Wohnungen zu räubern, um wertvolle Schätze zu finden oder geheime Türen zu öffnen.

Aber nicht heute – heute nicht. Heute geht er einfach nur spazieren in der großen, lauten, wunderschönen Stadt.

Spazieren, wie es viele Leute an diesem Tag tun – es ist schließlich Sonntag. Mit stolz erhobenem Haupt trippelt der kleine Mann zwischen den bunten und scheinbar rastlosen Menschenmengen durch die grauen, immer noch nach Woche riechenden Straßenschluchten. Nach Sonntag, wie bei Oma auf dem Dorf, riecht es hier nie. Ja, bei Oma riecht es am Sonntag nach Sonntag, aber hier eben nicht – schade. Und in diesem Gedanken versunken, passiert es.

Ein unachtsamer Schritt, eine übersehene, spärliche Absperrung, ein Loch – ein riesiges, glitschiges, mit Schmutz und Schlamm gefülltes Loch.

Was, um Gottes Willen, hat das hier zu suchen? Aber viel schlimmer, wieso sitze ich mitten drin – ich kleiner, semmelblonder Mann mit meiner besten Hose und dem schönsten Sonntagshemd?

Wie üblich hat es mich wieder einmal erwischt, so wie es mich immer erwischt – und besonders dann, wenn ich es überhaupt nicht gebrauchen kann. Es ist Sonntag, ich habe meine besten Anziehsachen an und … und Mutti weiß nichts davon. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, Mutti könnte mich so sehen. So, wie ich da saß, bis zum Hals im Schlamm. Und unter dem Schlamm, die neue Sonntagshose und das beste kurzärmliche Hemd.

Schon nur die Vorstellung allein, sie könnte es erfahren, ließ höllische Schmerzen in meinen Po fahren. Ich wusste genau wie das endet – erst eine halbe, naja aber mindestens eine viertel Stunde Geschrei, wie: „Hast du nichts anderes gefunden? Ausgerechnet die neuen Sachen. Du bist zu blöd zum Laufen. Man kann dich einfach nicht allein lassen. Du machst nur Ärger. Ich werd's dir zeigen!» – und wenn dieser Satz kommt und er kommt immer, dann heißt es Zähne zusammenbeißen und hoffen, dass sie diesmal nur den Kleiderbügel nimmt. Und dann kommt nur noch Eins – Schmerz.

Mutti nannte es „Fühlen». Wie immer das gemeint war, aber jedes Mal beendete sie diese Tätigkeit, die für sie offensichtlich sehr anstrengend war, denn sie war danach immer knallrot im Gesicht, mit der Bemerkung: „Wer nicht hören will, muss fühlen!» Dabei hör ich doch und das ziemlich gut. Soll einer verstehen … diese Erwachsenen.

Also, mein Plan war – Mutti musste ja nichts erfahren, oder besser, sie durfte nichts erfahren. Plan hin Plan her, aber wie, angesichts der schwer in Richtung schwarz verfärbten Sonntagssachen. Zwangsläufig musste noch ein zweiter Plan her. Einer, wie der andere verwirklicht werden konnte. Als ich krampfhaft überlegte, wie die beiden, bislang noch gestaltlosen Pläne aussehen könnten, rief mir eine Stimme zu: „Junge, komm doch raus da, du bist doch völlig durchweicht.»

Erst jetzt erinnerte ich mich wieder daran, dass ich ja noch immer in dieser scheußlichen Schlammgrube saß, die offenbar zur Reparatur eines Wasserrohrbruches diente.

Die Stimme bekam jetzt auch ein Gesicht, das einer kleinen, sehr netten Frau, die schon etwas älter war, was bei einem fast 6-jährigen so zwischen 35 und 40 einzuordnen wäre. Im Moment war es mir auch ziemlich egal, wie alt sie war, denn ihre Stimme klang so liebevoll wie die eines Engels, jedenfalls stellte ich mir so die Stimme eines Engels vor. Sie reichte mir ihre Hand und sagte: „Na Männeken, da hat Muttern aber jleich wat zu waschen, wa?» und lächelte, wobei mir bei diesem Satz sofort meine zu erwartende Strafe aber, und das war wesentlich besser, auch Plan B einfiel. Waschen – das ist es! Waschen, kann doch nicht so schwer sein?

Meine Gedanken wurden von einem „Biste in Ordnung, Junge und wo wohnste denn?» unterbrochen.

Ich antwortete artig: „Ja und um die Ecke.»

Wobei ich schon bei dem Wort „Ecke» einen süßlich, blumigen Duft in der Nase und ein liebevoll umhäkeltes Taschentuch im Gesicht hatte. Die nette Frau mit der Engelsstimme versuchte mir mit diesem Tuch und natürlich mit einer gehörigen Portion Spucke, den Schlamm aus dem Gesicht zu putzen – sie können es einfach nicht lassen, die älteren Tanten.

Oma macht das auch immer. Bah, es ist einfach widerlich. Allerdings ließ ich es diesmal ohne Gegenwehr über mich ergehen. Ich dachte, wer so eine liebevolle Stimme hat, mich aus der Grube befreit und auch noch die Idee für Plan B geliefert hat, darf auch mal mit Spucke mein Gesicht putzen – bah!

Endlich war sie fertig damit, aber der Reinigungsprozess war wohl nicht zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen, denn mit den Worten: „Mein Jott, is det hartnäckich», wollte sie die Prozedur wiederholen, aber das war dann doch zu viel.

„Danke», sagte ich kurz und knapp, weil ich ahnte, was mir passiert, wenn der Satz länger wird und lief so schnell ich konnte im Slalom durch die vielen Sonntagsspaziergänger, von denen diejenigen, die noch rechtzeitig sahen, was da auf sie zukam, panisch aus dem Weg sprangen.

Während meiner Flucht vor dem feuchten Taschentuch, dachte ich noch kurz darüber nach, ob es Engel mit „Berliner Schnauze» gibt – ich wusste es nicht.

Zu Hause angekommen und froh darüber, dass mich niemand aus unserem Block gesehen hatte, was sich später als Fehleinschätzung herausstellen sollte, wollte ich so schnell wie möglich in unsere Wohnung. Und da war schon das nächste Problem. Dagegen waren die schmutzigen Sonntagssachen ein Witz – mein Schlüssel war weg. Ich dachte nur noch: „Das ist mein Ende.» Wie mache ich meiner Mutter klar, dass ich an einem einzigen kurzen Nachmittag ohne Erlaubnis die besten Klamotten angezogen habe, damit auf die Straße gegangen, in eine mit Schlamm gefüllte Baugrube gefallen bin und zur Krönung auch noch meinen Hausschlüssel verloren habe. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschieht, war mein Gedanke, als vom Hof her eine Stimme, die mir bekannt vorkam, rief:

„Mann Männeken, wat rennste denn so, als wenn der Leib-haftige hinter dir her wäre?» Der Engel mit dem Taschentuch, total außer Atem. „Ick hätte dir beinahe nich mehr einjekricht, so wie du rennst, mene Knochen sin doch nich mehr de jüngstn, wa», japste sie und schwenkte dabei etwas in ihrer Hand. Ich dachte, ich sehe nicht richtig – mein Wohnungsschlüssel.

Langsam beschlich mich der Gedanke, dass es sich wirklich um einen Engel handelt. Aber das kann ja nicht sein, warum hat er mich dann erst reinfallen lassen, in die blöde Grube. Engel hin oder her, mein Schlüssel war wieder da, ich war gerettet, wenigstens teilweise.

„Hier wohnste also», stellte die Engelsstimme noch fest, ehe ich ihr den Schlüssel entriss und eiligst damit die Wohnungstür aufschloss. Gott sei Dank war ich endlich drin und konnte mich Plan B widmen, als es an der Tür läutete. Mach ich auf oder nicht, stellte ich mir selbst die Frage und wer kann das sein? Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte durch den Türspion – der Engel. Was will er denn noch? Zaghaft öffnete ich die Tür einen Spalt und fragte: „Ja bitte?»

„Bist du etwa der Sohn von der Wirtin der Jartenklause? Der Name jedenfalls is der selbe und die soll ja hier inne Jejend wohnen.»

Na super, jetzt kennt die auch noch meine Mutter, das fehlte mir gerade noch und ich log: „Nee, bin ick nich» und drückte die Tür wieder ins Schloss. Ein paar Minuten wartete ich und als ich nichts mehr hörte, sah ich im Hausflur nach, ob sie noch da war, die Frau mit der Engelsstimme. Aber sie war weg, so konnte ich mich endlich mit den wichtigen Dingen befassen.

Ich zog meine völlig verdreckten Sachen aus und bemerkte dabei, dass bereits die halbe Wohnung eingesaut war. Jetzt hieß es, kühlen Kopf bewahren und erst mal mich und dann die Sachen waschen. Mich hab ich relativ schnell und problemlos geschafft, aber die Sachen, das wird wohl schwerer. Nun, wir hatten eine Waschmaschine und ich wusste zumindest, welchen Zweck sie erfüllte – schmutzige Wäsche waschen.

Die Waschmaschinen dieser Zeit hatten oben eine große Öffnung mit einem Deckel. In diese, so hatte ich öfters beobachtet, gab man die schmutzige Wäsche hinein. Das tat ich dann auch, war ja auch irgendwie logisch. Aber wie geht's weiter? Oma, wenn sie zu Besuch bei uns war und das war sie oft, hat immer gewaschen und dabei an den beiden Knöpfen gedreht, die an der Vorderseite der Maschine angebracht waren und wie zwei strenge Augen ins Badezimmer starrten, als wollten sie sagen: „DU, fasst uns nicht an, DU lässt schön deine Fingerchen von uns, DU hast nämlich keine Ahnung, wie wir zu drehen sind!»

Und da hatten sie verdammt noch mal recht. Aber ich musste was tun, wenn ich wollte, dass Mutti nichts von meinem Unfall erfährt. Mutig näherte ich mich den beiden, mit Zahlen und Buchstaben versehenen Knöpfen und da wurde mir klar, dass ich den Beiden hilflos ausgeliefert war. Ich konnte nämlich noch nicht lesen. Zahlen kannte ich schon, jedenfalls bis 20 oder so, nutzte mir aber nicht viel.

Plötzlich hatte ich die zündende Idee – ich drehe einfach beide Knöpfe nicht ganz sondern nur halb herum. Ganz rum ist bestimmt zu viel und nur einen Strich bestimmt zu wenig – genau, halb ist gut. Gesagt getan.

Ich wartete, es geschah, NICHTS. Ich hob den Deckel an und schaute in den Bottich mit meiner schmutzigen Wäsche.

Irgendwas fehlt da, dachte ich. Aber da fiel es mir schon wie Schuppen von den Augen – Wasser! Na klar, Wasser. Ohne Wasser kein Waschen, geht ja mit den Händen und den Füßen und so auch nicht ohne Wasser. Also Wasser rein. Mit dem Wischeimer, der immer hinter der Tür stand, holte ich Wasser von der Badewanne und goss es in die Waschmaschine bis die Wäsche bedeckt war. Mann, was war ich stolz auf mich, dass mir a) das eingefallen ist und b) dass ich das ganze Wasser alleine da hineinbekommen habe. Jetzt muss die Maschine nur noch angehen.

Als ich so überlegte, wie sie das wohl tut, fiel mein Blick auf das Regal neben dem Fenster. Dort stand eine große bunte Schachtel. Oh je, das hätte ich beinahe vergessen, Waschpulver.

Ich nahm den Karton und schüttete etwas von dem gut riechenden Pulver in das Wasser. Na, ob das reicht? Lieber ein bisschen mehr, als zu wenig, soll ja den ganzen Dreck wegwaschen. Ich kippte mit einen ordentlichen Schwung fast das halbe Paket in die Maschine und schloss den Deckel, aber es rührte sich immer noch nichts – verdammt.

Verzweifelt drehte ich ein wenig an den Knöpfen und siehe da, es bewegte sich was. Im Inneren der Waschmaschine gurgelte und rumpelte es – okay, sie wäscht, dachte ich froh und ging aus dem Bad, um in der Wohnung die restlichen Spuren zu beseitigen. Das gelang mir recht schnell und ich atmete erleichtert auf, denn ich meinte, alles im Griff zu haben.

Worüber ich mir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keine Gedanken machte, war die Tatsache, dass frisch gewaschene Wäsche nass ist – und zwar klatschnass. Meine Sonntagssachen machten da keine Ausnahme. Aber wie gesagt, das kam erst viel später und war relativ harmlos im Gegensatz zu dem, was mich als Nächstes erwartete.

Da ich wusste, dass Wäschewaschen einige Zeit dauert und die verräterischen Geräusche aus dem Bad noch deutlich zu hören waren, beschloss ich, in der Küche nach Essbarem zu suchen, denn die ganzen Strapazen hatten mich doch etwas hungrig werden lassen. In der Speisekammer stand noch Eintopf vom Vortage, der, wie Oma immer behauptete, am nächsten Tag noch viel besser schmecken soll. Also das hielt ich damals schon für eine glatte Lüge, denn was am Vortag nicht schmeckt, kann unmöglich einen Tag später „noch viel besser» schmecken.

Na, wie auch immer – mir jedenfalls war absolut nicht nach Eintopf, also durchforschte ich die Speisekammer weiter, in der Hoffnung, doch noch etwas zu finden, was auch mir schmeckt. Natürlich fand ich nichts, denn heute ist Sonntag und sonntags gab's immer erst am Abend warmes Essen, das Mutti aus ihrer Kneipe mitbrachte.

Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen, mit Muttis Kneipe war nicht etwa eine gastronomische Einrichtung gemeint, in der Mutti ständig rumhängt, sondern die schon erwähnte „Jartenklause», also Gartenklause, eigentlich „Gasthaus zur Goldenen Aue», ein von Mutti gepachtetes Restaurant. Aber alle, jedenfalls alle Stammgäste und es gab 'ne Menge Stammgäste, sagten einfach nur Jartenklause, weil es im Hinterhof einen kleinen Biergarten gab.

Von dort also, brachte Mutti am Abend irgendein warmes Essen für mich mit. Sonntag war der einzige Tag, an dem Mutti früher nach Hause kam als sonst, weil sie für Sonntagabend eine Aushilfe hatte. Sie sagte immer, der Sonntagabend gehört der Familie. Allerdings war davon nichts zu merken, denn meistens kamen noch Freunde oder Bekannte, die dann die halbe Nacht im Wohnzimmer saßen, Wein und Schnaps tranken, furchtbar laut redeten und die ganze Wohnung mit Zigarettenrauch voll stänkerten.

Ja, das war also der Familienabend. An den anderen Tagen blieb Mutti allerdings bis nach Mitternacht, außer am Ruhetag oder wenn ein Feiertag war. Dann war sie den ganzen Tag zu Hause – dazu sage ich jetzt nichts. Mein Papa half meiner Mutti fast jeden Tag in der Kneipe, wenn er von seiner Arbeit nach Hause gekommen war und an den Wochenenden sowieso.

Armer Papa, dachte ich oft.

Ich hatte meine Suche nach Essbarem inzwischen aufgegeben und vertröstete mich auf den Abend, als ich aus dem Bad ein sehr merkwürdiges Geräusch vernahm, ein ganz dumpfes „Schrung – Schrung – Schrung …»

Dieses seltsame Geräusch war mit Sicherheit nicht von Anfang an zu hören und machte mir ein wenig Angst. All meinen Mut zusammengenommen, öffnete ich vorsichtig die Badezimmertür und erstarrte. Der Deckel der Waschmaschine wurde von einer nicht enden wollenden Schaumwalze nach oben gedrückt, die sich unaufhörlich in Richtung Tür bewegte und drohte, nach dem Bad auch den Flur zu füllen. Der bedrohlich näherkommende Schaum hatte bereits die stattliche Höhe von mindestens einem Meter erreicht und schien weiter zu wachsen – in alle möglichen Richtungen. Panik – ich wusste im Moment einfach nicht, was ich tun sollte.

Waschmaschine aus, schoss es mir durch den Kopf. Ja, aus machen, aber wie? Normalerweise, so wusste ich, ging sie von alleine aus, wenn sie fertig war mit der Wäsche. Das, übrigens, war mir auch so ein Rätsel, woher wusste die Waschmaschine, wann die Wäsche sauber ist? Aber darüber weiter nachzudenken, hatte ich jetzt keine Zeit. Das Einzige, was mir in diesem Moment einfiel, war den Stecker der Maschine aus der Steckdose zu ziehen, denn so viel wusste ich schon.

Dass wenn man bei Apparaten, die einen Stecker haben, den aus der Dose zieht, diese einfach ausgehen. Mit einem kühnen Sprung durch den Schaum griff ich nach der Schnur, an deren Ende ich den Stecker vermutete, denn ich sah ja nichts, und zog heftig daran. Gott sei Dank war es die richtige und das unheimliche „Schrung – Schrung» verstummte und außer einem tausendfachen, leisen Knistern, dass aus dem Schaum kam, war nichts mehr zu hören.

Ich atmete auf, aber das Problem war damit nicht gelöst. Der viele Schaum, was mache ich mit dem Schaum? In der Badewanne verschwindet der Schaum immer nach einer Weile, vielleicht sollte ich einfach warten? So viel Zeit hatte ich aber nicht, warum war heute auch ausgerechnet Sonntag?

Dann kam mir eine, wenn auch ziemlich verrückte Idee, die aber klappen könnte. Wir hatten ein Fenster im Bad. Was für ein Glück. Das machte ich zunächst erst mal auf. Aus der Küche holte ich ein Kuchenblech und schaufelte damit den Schaum aus dem Fenster. Einfach war das nicht, denn der Schaum flog immer wieder vom Blech, wenn ich mich zu hastig bewegte. Aber nach einer guten halben Stunde hatte ich die Massen bewältigt und bis auf ein paar kleine Schaumreste in den Ecken und Nischen, alles aus dem Fenster bugsiert.

Was draußen im Hof vor sich ging, konnte ich nur ahnen. Die unverkennbar quietschigen Stimmen der Kunze-Schwestern aus dem Erdgeschoss waren die ganze Zeit zu hören. Sie amüsierten sich offensichtlich sehr über die kleinen Schaumwölkchen, die da aus dem 3. Stock in den rötlichen Spätsommerhimmel tanzten. Ein kurzer Blick aus dem Fenster bestätigte es mir.

Langsam verflüchtigten sich auch die letzten Schaumflöckchen in den Zimmerecken und ich rieb mit einem Handtuch alles schön trocken. Dann riskierte ich einen Blick in den Waschmaschinenbauch und musste zu meinem Erstaunen feststellen, dass außer etwas Schaum und meinen Sachen nichts mehr drin war – also kein Wasser.

Deshalb wohl das „Schrung – Schrung», ein Geräusch das wohl entsteht, wenn Wäsche ohne Wasser herumgewirbelt wird. Vorsichtig nahm ich meine Hose und stellte fest, dass sie klatschnass war (ich sagte ja, das kommt später). Mit meinen kleinen Händchen versuchte ich, relativ erfolglos, die Hose auszuwringen. Aber es kam kein Wasser, sondern nur lauter Schaumbläschen heraus. Irgendwo in meinem Kopf saß eine Erinnerung darüber, dass man Wäsche nach dem Waschen in klarem Wasser spült und diese Erinnerung, woher sie auch stammen mag, machte ich mir jetzt zunutze und warf die Hose und das Hemd in die Badewanne und ließ kaltes Wasser drüber laufen.

Allerdings war mir sofort bewusst, dass dadurch die Sachen auf keinen Fall trockener wurden, aber das war ja eigentlich mein Ziel – saubere, trockene Sonntagssachen und ich wusste nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte.

Was mich heute noch wundert, dass ich trotz allem nicht vergaß, die beiden Knöpfe der Waschmaschine wieder auf die Ausgangsposition, das heißt mit dem roten Strich nach oben, zu stellen. Meine Sachen lagen derweilen immer noch in der Badewanne und waren immer noch klatschnass.

Mühsam quetschte und knetete ich sie, drehte sie zusammen und entlockte ihnen lediglich ein paar Tropfen. Ob die Schleuder bereits erfunden war, wusste ich nicht, jedenfalls gab es in unserem damaligen Haushalt so etwas nicht. Ich resignierte, wie sollte ich meine Klamotten trocken bekommen?

Nachdenken, nachdenken, spornte ich mich wieder an – und es half. Was tat Oma? Genau, sie hängt die Wäsche auf die Leine, manchmal im Hof, wenn das Wetter schön ist und sonst auf dem Dachboden. Dort hängen alle, die im Haus wohnen, ihre Wäsche auf. Das war DIE Idee, wenn ich die nassen Sachen auf den Dachboden bringe, sind sie zwar nicht trocken, wenn Mutti nach Hause kommt, aber sie merkt bestimmt nicht, dass sie nicht im Kleiderschrank liegen. Ja, und morgen, wenn sie wieder in der Kneipe ist, hole ich die Sachen einfach runter und lege sie in den Schrank und niemand merkt etwas.

Super – ich bin ein Genie!

Wo der Schlüssel zum Dachboden war, wusste ich, also setzte ich meinen Plan in die Tat um und brachte die nassen Sachen hinauf und wollte sie auf die Leine hängen, was sich aber als äußerst schwierig gestalten sollte, da ich zu klein war, um an die Wäscheleine zu kommen. Zum Glück wurde der Dachboden auch als Speicher genutzt und es standen allerlei Kisten und Gerümpel herum. Schnell wurde ich fündig, ein alter Küchenstuhl half mir, an die Leine zu kommen und die Sachen mit Holzklammern an dieser zu befestigen.

Geschafft, jetzt kann mir nichts mehr passieren, ich war erleichtert. Schnell stellte ich den Stuhl zurück und lief zur Tür, um ganz entspannt zurück in die Wohnung zu gehen, und auf mein Abendessen zu warten. Aber was war denn das? Die Dachbodentür war abgesperrt. Den Schlüssel hatte ich von außen stecken lassen. Das war's dann, dachte ich, wie komme ich jetzt hier wieder raus und wer hat mich hier eingesperrt?

Heute blieb mir aber auch nichts erspart. Das Einzige, was mir einfiel, war mich irgendwie bemerkbar zu machen. Von einem Gerümpelhaufen holte ich einen gusseisernen Kerzenständer, mit dem ich wie von Sinnen gegen die schwere Metalltür hämmerte. Außerdem brüllte ich wie am Spieß, denn ich hatte wahnsinnige Angst, ich müsste die Nacht auf dem Dachboden verbringen. Das nackte Entsetzen befiel mich, ich schrie noch lauter.

Zwischendurch hielt ich ab und zu inne, um zu lauschen, ob jemand kommt, aber scheinbar hörte mich niemand. Lange hätte ich das wahrscheinlich nicht mehr ausgehalten, als plötzlich eine mir bekannte Stimme rief: „Was ist los, da oben? Wer macht denn da so einen Radau?»

Nie hätte ich gedacht, dass ich mal froh wäre, Herrn Schmiedels Stimme zu hören. Schmiedel war ein hagerer alter Mann aus dem obersten Stock, der jeden Tag fluchte, weil er die vielen Treppen steigen muss. Wenn ihm der Dieter aus dem Zweiten nicht die Kohlen aus dem Keller in seine Wohnung tragen würde, könnte er gar nicht mehr hier wohnen, sagte er immer, aber umziehen in eine andere Wohnung, das käme nicht in Frage, weil er doch schon sein ganzes Leben hier wohnt.

Ich antwortete schreiend: „Ich bin hier eingesperrt, können Sie mich bitte rauslassen?»

Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich das erlösende Schlüsseldrehen hörte und Herr Schmiedel die schwere Tür aufzog und erstaunt fragte: „Was machst denn du hier, Bengel?»

Heulend erklärte ich ihm, dass ich Wäsche aufhängen war und mich jemand eingesperrt hatte. Wo denn mein Schlüssel sei, wollte er wissen. Aber darauf hatte ich natürlich auch keine Antwort, denn den hatte ich ja außen im Schloss stecken lassen.

„Dann hat dich also jemand mit deinem eigenen Schlüssel eingesperrt», lachte Schmiedel und nahm mir den Kerzenständer aus der Hand, mit der Bemerkung, „wusste gar nicht, dass ich den hier oben gebunkert habe.»

Sichtlich erfreut über die Neuentdeckung seines Kerzenständers, sperrte er die Bodentür hinter uns wieder ab und verschwand mit dem alten, gusseisernen Monstrum in seiner Wohnung, nachdem er mir noch zu rief: „Musst du jetzt nur noch rausfinden, wer deinen Schlüssel hat.»

Na toll, das nächste Problem. Was ist heut bloß für ein Tag?

Wer könnte meinen Schlüssel haben? Diese Frage begleitete mich auf dem Weg durchs Treppenhaus zum Hof. Unten angekommen, gab es auch sofort die Antwort. Mein Schwung, den ich vom Dachboden mitbrachte, wurde durch einen massigen Körper, der mit gespreizten Beinen unmittelbar im Hofeingang stand, abrupt abgebremst. Zu allem Überfluss hatte der massige Körper auch noch einen Kopf, dessen Vorderseite mit einer mir wohlbekannten, aber abscheulichen Fratze versehen war. Mit anderen Worten, ich prallte mit voller Wucht gegen Koloss, der eigentlich Bernd hieß aber nur Koloss genannt wurde, weil er mit 11 Jahren bereits das Gewicht und den Umfang eines Kleinwagens hatte.

Dieser Koloss, also Bernd, stand nun direkt vor mir und grinste mich mit seiner dreckverschmierten Visage provozierend an und ließ einen Gegenstand vor meiner Nase baumeln, von dem ich einige Details erkennen konnte, die die Hoffnung in mir aufkommen ließ, dass es sich um meinen Schlüssel handelt. Als er mit der Fuchtelei vor meiner Nase aufhörte und den Abstand zwischen meinem Gesicht und dem Gegenstand vergrößerte, konnte ich es genau erkennen – es war mein Schlüssel – an seinem Schlüsselbund.

„Na Bubi, wo ist denn deine Kriegsbemalung oder warst du beim Schlammringkampf?», waren die ersten Fragen, die er mir stellte und welche meine Illusion, mich hätte niemand gesehen, jäh zerstörte. Da er aber offensichtlich keine Antworten erwartete, fragte er gleich weiter: „Was hältst du von einem Tausch? Du bekommst deinen Schlüssel wieder und streichst dafür mein Fahrrad neu an.»

Angesichts seiner gigantischen Ausmaße und den beiden Blödmännern Rolf und Harri, die er ständig mit sich herumschleppte und die sich selbst als Leibwächter bezeichneten, fiel mir nichts weiter dazu ein, als erst mal „Okay» zu sagen.

Was ich aber eigentlich gar nicht wollte aber trotzdem tat und mich damit selbst sehr verwunderte – ich verlangte als Bedingung zuerst den Schlüssel zurück, bevor ich das Rad streiche. Verblüfft über meinen Mut, ihm dem großen Koloss eine Bedingung zu stellen, schaute er zuerst Rolf und dann Harri an und meinte, nicht ohne eine gönnerhafte Mine aufzusetzen:

„Von mir aus. Meine Jungs passen schon auf, dass du ordentlich arbeitest.»

Das oder etwas Ähnliches hatte ich zwar erwartet, war aber äußerst erleichtert. Immerhin hatte ich meinen Schlüssel wieder. Es dauerte eine Weile, bis er mit seinen Wurstfingern den kleinen Schlüsselring unter Kontrolle hatte und mir meinen Schlüssel zuwarf. Aber dafür ging es umso schneller, dass Rolf und Harri mich bei den Armen packten und in den Nachbarhof schleiften, wo ich Bernds Fahrrad streichen sollte. Während meines Transportes verrieten mir die beiden Leibwächter noch, dass ich das gute Stück selbstverständlich vorher noch putzen müsse.

„Na klar», erwiderte ich. „Hätte ich doch sowieso gemacht.»

Und dann stand es vor mir, das Rad – MEIN Rad. Ich konnte es nicht fassen, da klaut mir dieses A… mein Fahrrad und ich soll es umlackieren, damit es keiner mehr erkennt.