Meister der Dschinn (Gewinner des Nebula Award 2021 für Bester Roman & des Hugo Award 2022 für Bester Roman) - P. Djèlí Clark - E-Book

Meister der Dschinn (Gewinner des Nebula Award 2021 für Bester Roman & des Hugo Award 2022 für Bester Roman) E-Book

P. Djèlí Clark

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Beschreibung

Nebula-, Locus- und Hugo-Award-Gewinner P. Djèlí Clarks umwerfender Debütroman! Kairo, 1912: Fatma el-Sha'arawi ist die jüngste Frau, die je für das Ministerium für Alchemie, Verzauberungen und Übernatürliche Wesen gearbeitet hat. Dennoch ist sie keine blutige Anfängerin, besonders nachdem sie im letzten Sommer die Zerstörung der Welt verhindert hat. Als jemand alle Mitglieder einer geheimen Bruderschaft ermordet, die sich al-Jahiz, einem der berühmtesten Männer der Geschichte verschrieben hat, wird der Fall Agentin Fatma zugeteilt. Al-Jahiz verwandelte die Welt vor vierzig Jahren, als er den Schleier zwischen dieser Welt und der magischen lüftete, bevor er ins Unbekannte verschwand. Der Mörder behauptet, al-Jahiz zu sein, der zurückgekehrt ist, um das moderne Zeitalter für seine sozialen Ungerechtigkeiten zu bestrafen. Seine gefährlichen magischen Fähigkeiten sorgen für Unruhe auf den Straßen von Kairo, die sich weltweit auszubreiten drohen. Zusammen mit ihren Kollegen vom Ministerium und einer Person aus ihrer Vergangenheit muss Agentin Fatma das Geheimnis um diesen Hochstapler lüften, um den Frieden in der Stadt wieder herzustellen – oder die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er genau der ist, der er zu sein vorgibt …

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Für Claudette,die viele andere Liz nannten und ich einfach Mom.Danke für all die Büchereibesuche.

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL

1

Archibald James Portendorf konnte Treppen nicht leiden. Lächerlich lang waren sie und führten immerzu aufwärts, als wollten sie ihn veralbern. Manchmal glaubte er sie sogar kichern zu hören. Es wäre nicht beim Kichern geblieben, hätten sie Augen gehabt, um zu sehen, wie er durch seine lockigen rotbraunen Barthaare schnaufte und wie die kurzen Beine unter seinem runden Leib zitterten. Es war geradezu kriminell, dass man in dieser modernen Zeit noch immer duldete, dass Treppen existierten – schließlich gab es Aufzüge, die ihre Passagiere auf komfortable Weise beförderten.

Er blieb stehen, lehnte sich gegen die gigantische Replik einer kupfernen Teekanne, deren Tülle wie ein Schnabel gebogen war, und stellte die Last ab, die er getragen hatte. Schändlich, dass jemand in seinem Alter – in diesem Jahr 1912 war er einundsechzig geworden – noch so etwas über sich ergehen lassen musste. Zu dieser späten Stunde sollte er es sich eigentlich mit einem starken Drink gemütlich machen, statt diese verflixte Treppe hinaufzutrotten!

»Alles für König, Land und Firma«, murrte er.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wünschte sich, er könnte auch die Nässe auf seinem Rücken erreichen und an anderen unaussprechlichen Stellen, die sein dunkler Anzug zum Glück versteckte. Für November war es warm und in diesem überhitzten Land schien sein Körper vergessen zu haben, wie man nicht schwitzte. Er seufzte und spähte mit müden Augen durch eines der Bogenfenster. Selbst zu dieser Stunde konnte er die schrägen Konturen der Pyramiden ausmachen: Der Stein warf das Licht des Vollmondes zurück, der am schwarzen Himmel prangte.

Ägypten. Das mysteriöse Juwel des Orients, Land der Pharaonen, der legendären Mamluken und zahlloser Wunder. Im Laufe der letzten zehn Jahre hatte Archibald immer wieder drei, vier, sogar sechs Monate am Stück in diesem Land verbracht. Und eins war sicher: Er hatte genug davon.

Er hatte diesen elend heißen, trockenen Ort satt. Dreißig Jahre zuvor war Ägypten reif gewesen, eine weitere Eroberung des Britischen Weltreichs Seiner Majestät zu werden. Nun war das Land zu einer der Großmächte geworden, und Kairo lief London, sogar Paris, rasch den Rang ab. Die Einwohner stolzierten geradezu durch die Straßen und bezeichneten England spöttisch als »öde kleine Insel«. Das Essen hier machte seinem Magen zu schaffen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hörte man ihre Gebete. Und sie fanden Vergnügen daran, so zu tun, als verstünden sie kein Englisch, obwohl er wusste, dass sie es sehr wohl verstanden!

Dann waren da noch die Dschinn. Widernatürliche Wesen!

Abermals seufzte Archibald und fuhr mit dem Daumen über das lavendelfarbene G, das in sein Taschentuch gestickt war. Georgiana hatte es ihm vor ihrer Hochzeit geschenkt. Sie mochte seine Reisen ebenso wenig wie er, denn sie blieb jedes Mal allein in London zurück, wo sie nichts weiter tun konnte, als Diener herumzuscheuchen.

»Nur noch ein paar Wochen, meine Liebe.« Ein paar Wochen noch, dann wäre er auf einem Luftschiff Richtung Heimat. Wie er es begrüßen würde, seine »öde kleine Insel« wiederzusehen, wo es im November angemessen kalt und verregnet war. Er würde die engen Straßen entlanggehen und jeden üblen Geruch genießen. Zu Weihnachten würde er sich ordentlich betrinken – mit gutem hartem englischem Whisky!

Diese Gedanken hoben seine Stimmung. Er hievte sein Bündel hoch und marschierte weiter, wobei er »Rule, Britannia!« summte. Ein Anflug von Patriotismus konnte es allerdings nicht mit dieser unausstehlichen Treppe aufnehmen. Als er oben ankam, war nichts mehr von seinem Elan übrig. Stolpernd blieb er vor zwei hohen Türflügeln aus dunklem, beinahe schwarzem Holz stehen, die in einen steinernen Torbogen eingefügt waren. Vornübergebeugt hielt er inne, die Hände auf die Knie gestützt, und schnaufte.

Als er sich wieder aufrichtete, hörte er ein schwaches Klirren und legte den Kopf schief. Schon seit Wochen hörte er hin und wieder dieses eigenartige Geräusch – ein fernes Echo, der Klang von Metall, das auf Metall traf. Er hatte die Diener dazu befragt, doch die meisten hatten bisher nichts davon mitbekommen. Diejenigen, die etwas gehört hatten, behaupteten, das seien wahrscheinlich unsichtbare Dschinn, die in den Wänden lebten, und empfahlen ihm, etwas aus der heiligen Schrift zu rezitieren. Nichtsdestotrotz musste das Geräusch doch irgendwoher …

»Portendorf!«

Bei dem Ruf straffte sich Archibald unwillkürlich. Er strich sich das Jackett glatt und wandte sich den beiden Männern zu, die auf ihn zuschritten. Beim Anblick des ersten musste er sich beherrschen, nicht das Gesicht zu verziehen.

Wesley Dalton wirkte auf Archibald wie die Karikatur eines aristokratischen Edwardianers: das goldene Haar ordentlich gescheitelt, der Schnurrbart zu feinen Spitzen gewachst, seine Züge von den Augenbrauen bis zum Grübchen im Kinn voller überschäumender Selbstsicherheit. Zusammengenommen wirkte das alles einfach nur ekelerregend. Der jüngere Mann kam auf ihn zu und verpasste ihm einen deftigen Schlag auf den Rücken, der ihn fast umwarf.

»Dann komme ich wohl nicht als Einziger zu spät zur Soiree der Firma! Ich dachte schon, ich müsste mich bei dem alten Herrn entschuldigen. Aber wenn ich zusammen mit dem kleinen Kaiser reingehe, dürfte mich das vor einer Tracht Prügel bewahren!«

Archibald lächelte steif. Portendorf war schon seit Jahrhunderten ein englischer Name, der noch dazu ursprünglich aus Österreich stammte, nicht aus Deutschland. Aber es war schlechtes Benehmen, sich über einen Scherz zu entrüsten. Er grüßte Dalton und gab ihm die Hand.

»Bin gerade aus Fayyum hergeflogen«, berichtete Dalton. Das erklärte seine Aufmachung: ein hellbrauner Pilotenanzug, die Hosenbeine in schwarze Stiefel gestopft. Wahrscheinlich hatte er einen dieser Zwei-Mann-Segelapparate geflogen, die hier so beliebt waren. »Mir wurden Informationen über eine interessante Mumie mitgeteilt, die einen genaueren Blick wert sei. Hat sich aber als Schwindel erwiesen. Einheimische hatten sie aus Stroh und Gips gebastelt, können Sie sich das vorstellen?«

Archibald konnte es sich sogar sehr gut vorstellen. Dalton war besessen von Mumien: Er brauchte sie, um seine Theorie zu beweisen, dass die alten Herrscher Ägyptens in Wahrheit flachsblonde Verwandte der Angelsachsen gewesen seien, die über die dunkleren Horden ihres Reichs geherrscht hatten. Archibald war nicht weniger Rassist als alle anderen, doch selbst er fand solche Behauptungen unsinnig und hanebüchen.

»Moustafa«, fuhr Dalton fort, wobei er sich die Handschuhe abstreifte, »manchmal denke ich, es macht dir Spaß, mich auf solche törichten Expeditionen zu schicken.«

Archibald hatte den zweiten Mann beinahe vergessen, der still wie ein Möbelstück dastand. Moustafa war Daltons Diener, wenngleich es sich zunehmend schwierig gestaltete, Einheimische für diese Art von Arbeit zu finden. Mumien waren schwer zu bekommen, seitdem das Parlament Ägyptens den Handel mit ihnen eingeschränkt hatte. Dennoch gelang es Moustafa immer wieder, irgendeinen Anhaltspunkt für Dalton aufzutreiben – nur erwies sich jede Suche als fruchtlos und, so vermutete Archibald, äußerst kostspielig.

»Ich bemühe mich nur, Ihnen zu dienen, Mr Dalton«, sagte Moustafa in abgehacktem Englisch. Er nahm die Handschuhe entgegen, faltete sie und ließ sie in seinem blauen Gewand verschwinden.

Dalton brummte ungehalten. »Alle halten sie die Hand auf für ein kleines bisschen Bakschisch. Genauso schlimm wie die Schmuddelkinder in London, und wenn man sie lässt, ziehen sie einen aus bis aufs Hemd.« Moustafas Blick wanderte zu Archibald, ein kaum merkliches Lächeln auf den vollen Lippen.

»Ach, nein!«, rief Dalton. »Ist das etwa … der Gegenstand?«

Hastig hob Archibald das Bündel auf. Er hatte beim Kauf doch recht viel feilschen müssen und würde nicht zulassen, dass der Mann das kostbare Ding betatschte.

»Sie können es sich später zusammen mit allen anderen ansehen«, erklärte er.

Auf Daltons Miene spiegelten sich Enttäuschung und ein wenig Ärger wider. Doch dann zuckte er mit den Schultern. »Natürlich. Würden Sie dann erlauben?« Die schweren Türflügel schabten über Stein, als er sie aufzog.

Der Raum jenseits des Durchgangs war rund, die Wand mit Mustern verziert: Gold, Beige, Grün und Umbrabraun auf königsblauem Untergrund. Die glatte Oberfläche schimmerte im Licht des Messinglüsters, in den nach arabischer Art kleine Sterne geschnitten waren. An den Seiten standen Reihen aus Säulen, verbunden durch längs gestreifte Hufeisenbögen in hellen und dunklen Ockertönen. Eine beachtliche Zurschaustellung orientalischer Dekadenz, was nur angemessen war für die Hermetische Bruderschaft des al-Dschahiz.

Zwei Kesselblech-Eunuchen traten vor. Ihre ausdruckslosen unmenschlichen Gesichter waren nichts als starre Messingplatten. Jeder der Automaten hielt mit geschickten Metallfingern weiße Handschuhe, eine schwarze Robe und einen passenden schwarzen Tarbusch mit einer goldenen Quaste bereit. Archibald nahm seine Sachen entgegen, zog sich das lange Gewand über die Kleidung und setzte den Hut auf, wobei er darauf achtete, dass die Stickerei – der goldene Krummsäbel und der nach unten gedrehte Halbmond – nach vorn zeigte.

Im Saal befanden sich zweiundzwanzig Männer, einschließlich Dalton und seiner selbst. Moustafa war respektvoll draußen geblieben. Alle trugen die Insignien der Bruderschaft, manche mit farbigen Schurzen und Schärpen, die ihren Rang offenbarten. In Zweier- und Dreiergrüppchen standen sie zusammen und unterhielten sich, während ihnen Kesselblech-Eunuchen Erfrischungen reichten.

Archibald kannte hier jeden Anwesenden: Alle genossen hohes Ansehen in der Firma – es gab keinen anderen Weg, der Bruderschaft beizutreten. Sie hießen ihn willkommen, als er vorbeiging, und die Ehre gebot, stehen zu bleiben und sie mit dem korrekten Handschlag und einer Umarmung zu begrüßen, bei der sie Wange an Wange drückten – ein Ritual, dass sie von den Einheimischen übernommen hatten. Jeder beäugte das Bündel, das er gewissenhaft vor neugierigen Händen beschützte. Es war eine ermüdende Angelegenheit, und er war froh, als er sich loseisen und Dalton in dieser Gesellschaft zurücklassen konnte. Sobald er die Versammlung hinter sich gelassen hatte, erblickte er den Mann, dessentwegen er hier war.

Lord Alistair Worthington, Großmeister der Hermetischen Bruderschaft des al-Dschahiz, bot einen imposanten Anblick in seinem prachtvollen purpurnen, silbern verbrämten Gewand. Mit seinem schneeweißen Haar und den ausgeprägten patrizischen Zügen wurde das Oberhaupt der Firma Worthington seiner Rolle als oberster Priester des esoterischen Ordens durchaus gerecht. Er saß an einem schwarzen Halbmondtisch, auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der einem Thron ähnelte. Hinter ihm an der Wand hing ein langes weißes Banner mit den Insignien der Bruderschaft.

Archibald konnte sich dunkel an eine Zeit erinnern, als Lord Worthington noch nicht »der alte Herr« gewesen war. Die Bruderschaft hatte er damals im Jahre 1898 gegründet und ihr Ziel war, die Weisheit al-Dschahiz’ ans Licht zu bringen – jenes verschollenen sudanesischen Mystikers, der die Welt für immer verändert hatte.

Die Früchte ihrer Arbeit zierten die Wände: eine mit Blutflecken übersäte Tunika; eine alchemistische Gleichung, angeblich von seiner Hand niedergeschrieben; ein Koran, aus dem er gelehrt hatte. Archibald hatte geholfen, das meiste davon zu beschaffen, wie auch das Bündel, das er gerade trug. Doch bei all ihren Nachforschungen waren sie nicht auf göttliche Weisheit oder geheime Gesetze des Himmels gestoßen. Stattdessen war die Bruderschaft die Heimat von Romantikern geworden oder Spinnern wie Dalton. Archibalds Glaube war mit den Jahren geschwunden, wie der Docht einer Kerze, die zu lange brannte. Aber er hielt seine Zunge im Zaum. Schließlich war er der Firma treu.

Als er Lord Worthington erreichte, war der nicht allein: Edward Pennington war bei ihm, einer der Ranghöchsten der Firma und ein wahrhaft Gläubiger, wenn auch recht senil. Er saß zwischen zwei anderen und nickte mit seinem runzeligen Kopf, während sie von beiden Seiten auf ihn einredeten.

»Die Deutschen bringen furchtbare Schwierigkeiten über Europa«, merkte die einzige Frau im Raum an: eine dunkelhäutige Schönheit mit schwarzem Kajal unter den großen Augen und geflochtenem Haar, das ihr über die Schultern fiel. Um den Hals trug sie einen breiten Kragen aus Ketten grüner und türkisfarbener Steine, die auf ihrem weißen Kleid hervorragend zur Geltung kamen. »Der Kaiser und der Zar werfen sich nun täglich Beleidigungen an den Kopf – wie kleine Kinder«, fuhr sie fort. Ihr Englisch hatte einen starken Akzent.

Ehe Pennington etwas entgegnen konnte, meldete sich der Mann auf seiner anderen Seite zu Wort. Er trug – ausgerechnet – den Pelz einer getüpfelten Bestie über seinen breiten Schultern. »Vergessen Sie die Franzosen nicht. Die haben wegen der algerischen Territorien noch ein Hühnchen mit den Osmanen zu rupfen.«

Die Frau schnalzte mit der Zunge. »Die Osmanen sind zu weit verteilt. Erwarten sie etwa, den Maghreb zurückzugewinnen, während sie bis über beide Ohren im Balkan stecken?«

Archibald hörte den beiden zu, während sie fortfuhren und den armen Pennington nicht zu Wort kommen ließen. Die beiden waren ein mahnendes Beispiel dafür, wie weit die Bruderschaft vom Weg abgekommen war.

»Ich hoffe nur, Ägypten wird nicht in Ihre Konflikte hineingezogen«, seufzte die Frau. »Krieg wäre das Letzte, was wir gebrauchen können.«

»Es wird keinen Krieg geben«, sagte Lord Worthington. Es lag eine ruhige Bestimmtheit in seiner Stimme, die alle anderen am Tisch verstummen ließ. »Wir leben in einem Zeitalter der Industrie. Wir stellen Schiffe her, um die Meere zu überqueren, und Luftschiffe, um den Himmel zu durchstreifen. Wir wissen, mit giftigen Dämpfen umzugehen, und Ihr Land hat so viel an alchemistischem Können und mystischen Künsten wiedererlangt – überlegen Sie doch nur, welche neuen abscheulichen Waffen dieses Zeitalter hervorbringen könnte!« Er schüttelte den Kopf, als wollte er die albtraumhaften Bilder vertreiben, die seine Worte heraufbeschworen hatten. »Nein, diese Welt kann sich keinen Krieg erlauben. Genau darum habe ich Ihren König im Hinblick auf den kommenden Gipfel der Nationen unterstützt. Der einzige Weg nach vorn ist Frieden, sonst werden wir gewiss zugrunde gehen.«

Es entstand eine Pause. Dann hob die Frau ihren Kelch. »Ägypter schätzen Trinksprüche ebenso sehr wie Sie Engländer. Wir sagen oft: ›Fi sehetak‹ – auf die Gesundheit. Heute sollten wir vielleicht auf den Frieden anstoßen.«

Lord Worthington neigte den Kopf und hob ebenfalls seinen Kelch. »Auf den Frieden.« Die anderen taten es ihm gleich, selbst der senile alte Pennington. Noch während er allen zuprostete, erspähte der alte Herr den Neuankömmling.

»Archie! Ich habe schon befürchtet, wir würden Sie nicht zu sehen bekommen! Kommen Sie. Was, Sie haben ja noch nicht mal einen Kelch!«

Archibald murmelte eine Entschuldigung und nahm einen Kelch von einem Kesselblech-Eunuchen entgegen. Nach der üblichen förmlichen Vorstellungsrunde setzte er sich neben die Frau, die ein berauschend süßes Parfüm verströmte.

»Archie hat eine entscheidende Rolle gespielt beim Aufbau unserer Bruderschaft. Er hat den Erwerb ebendieses Hauses beaufsichtigt: ein Jagdsitz, erbaut für den früheren Pascha. Damals lag Gizeh noch weitab vom Schuss. Archie führt den Titel meines Wesirs, genau wie …« Der alte Herr brach ab und seine blauen Augen funkelten, als er das Bündel entdeckte, das an einem Stuhl lehnte. »Ist das …?«

»In der Tat, Sir«, sagte Archibald und legte es auf den Tisch. Mit einem Mal waren sämtliche Blicke auf den schwarzen Stoff gerichtet und die Gespräche im Saal verebbten. Selbst der senile Pennington machte große Augen.

Lord Worthington streckte begierig die Hand danach aus, hielt dann jedoch inne. »Nein. Wir werden es der Bruderschaft im angemessenen Rahmen präsentieren.« Wie bestellt, schlug eine Glocke laut die Stunde. »Ah! Tadelloses Timing. Wenn Sie dann zur Ordnung rufen würden, Archie?«

Archibald erhob sich und wartete, bis das Läuten verstummte, dann rief er: »Ordnung! Ordnung! Der Großmeister ruft die Bruderschaft zur Ordnung!« Das aufgeregte Tuscheln verklang, und die Männer wandten sich nach vorn. Sobald ihm die Aufmerksamkeit aller gewiss war, erhob sich Lord Worthington und brachte so auch den Rest des Tisches auf die Beine.

»Heil! Heil! Der Großmeister!«, rief Archibald.

»Heil! Heil! Der Großmeister!«, antworteten alle anderen im Raum.

»Danke, mein Wesir«, sagte Lord Worthington. »Und willkommen, Brüder, zu dieser bedeutsamen Zusammenkunft. Zehn Jahre trachten wir nun schon danach, in al-Dschahiz’ Fußstapfen zu treten, um die Mysterien zu ergründen, mit denen er unsere Welt gesegnet hat.« Mit dem linken Arm deutete er auf das Banner mit den Insignien des Ordens und den Worten Quærite veritatem, die in goldenen Lettern darauf prangten. »Strebt nach der Wahrheit. Der Bund unserer Bruderschaft beruht nicht auf Roben, geheimen Losungen oder Handschlägen, sondern auf einem höheren und nobleren Zweck. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern und uns nicht in Prunk und Ritualen verlieren!

Die Welt steht an einem Abgrund. Unsere Fähigkeit zu erschaffen hat unsere Fähigkeit zu verstehen überschritten. Wir spielen mit Kräften, die imstande sind, uns zu vernichten. Dies ist die Aufgabe, der sich die Bruderschaft stellen muss: Die heiligste Weisheit der Alten wiederzuerlangen und ein großartigeres Morgen herbeizuführen – hierfür müssen wir einstehen. Dies muss unsere größte Wahrheit sein.« Die Finger des alten Herrn bewegten sich zu dem Bündel. »Es ließe sich kein besseres Sinnbild für dieses Ziel finden als jenes, welches wir nun in Händen halten.« Er zog das Tuch zurück und hob den Schatz daraus hervor. »Sehet das Schwert des al-Dschahiz!«

Die Anwesenden sogen die Luft ein. Archibald hörte, wie die Frau neben ihm etwas murmelte, womöglich ein Gebet. Er konnte es ihr nicht verübeln, nun, da er das fein gefertigte Heft vor sich sah, aus dem eine lange, leicht gebogene Klinge ragte. Die Waffe war so tiefschwarz, dass sie alles Licht aufzusaugen schien.

»Mit diesem heiligen Totem«, erklärte Lord Worthington, »schwöre ich unsere Bruderschaft ein weiteres Mal auf ihren eigentlichen Zweck ein: Quærite veritatem!«

Die Versammlung wollte ebenfalls die Parole rufen – doch da klopfte es plötzlich.

Archibald und die anderen sahen überrascht zum Eingang hinüber. Es pochte erneut. Dreimal insgesamt. Die Flügel erzitterten unter jedem Schlag, als hämmerte eine gewaltige Hand dagegen. Es folgte eine kurze Stille – und dann flog die Tür gewaltsam auf. Der Balken, der sie verriegelt hatte, brach wie ein Zweig, und einer der Flügel sprang beinahe aus den Scharnieren. Bestürzte Schreie folgten dem hastigen Scharren von Füßen, als die Anwesenden vor der Zerstörung zurückwichen.

Archibald kniff die Augen zusammen und erspähte eine Gestalt, die durch den Torbogen trat. Ein Mann, ganz in Schwarz gewandet – mit einer bauschigen schwarzen Hose, die in hohen Stiefeln steckte, und einem eng anliegenden Hemd. Sein Gesicht war hinter einer schwarzen Maske verborgen. Nur die Augen waren durch ovale Schlitze zu sehen. Kurz hinter der Schwelle blieb er stehen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dann hob er eine behandschuhte Hand und schnippte mit den Fingern.

Und plötzlich waren es zwei.

Archibald riss die Augen auf. Der Mann hatte sich soeben … verdoppelt! Die Zwillingsgestalten wechselten einen Blick, dann schnippte die erste abermals mit den Fingern. Jetzt waren es drei. Schnipp! Schnipp! Schnipp! Schon sechs von diesen seltsamen Männern! Allesamt identisch und dem Anschein nach aus dem Nichts erschaffen! Wie ein Mann wandten sie ihre maskierten Gesichter der sprachlosen Versammlung zu und schlichen wie Schatten vorwärts.

Helle Panik erfasste den Raum. Männer stolperten rückwärts, als die Fremden wortlos näher kamen. Archibalds Gedanken überschlugen sich auf der Suche nach einem Sinn. Das hier war ein Trick, irgendein Schauspiel, ähnlich wie jene, die er schon öfter auf der Straße gesehen hatte. Dies waren Einheimische – Diebe vielleicht, die darauf aus waren, wohlhabende Engländer auszurauben? Als die sechs fast die Mitte des Raumes erreicht hatten, blieben sie stehen, reglos wie Statuen. In diesem Moment durchbrach Lord Worthingtons empörte Stimme das seltsame Schweigen.

»Wer wagt es, unbefugt dieses Haus zu betreten?« Statt einer Antwort blickten ihm lediglich sechs Augenpaare starr entgegen. Lord Worthington schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. »Dies ist der heilige Ort der Bruderschaft des al-Dschahiz! Gehen Sie Ihres Weges, sonst lasse ich Sie augenblicklich von der Polizei ergreifen!«

»Wenn dies das Haus des al-Dschahiz ist«, sagte eine unbekannte Stimme, »dann bin ich rechtmäßig hier.«

Eine Gestalt trat zwischen den Flügeln der aufgebrochenen Tür hindurch: ein Mann, hochgewachsen und in eine schwarze, beim Gehen wallende Robe gehüllt. Seine verschränkten Hände waren unter dunklen Panzerhandschuhen verborgen und eine schwarze Kapuze verwehrte ihnen den Blick auf sein Gesicht. Selbst reglos dastehend erfüllte er den gesamten Saal mit seiner Präsenz, und Archibald kam es so vor, als würde plötzlich ein Gewicht auf ihm lasten.

»Wer sind Sie, dass Sie ein solches Recht beanspruchen?«, verlangte Lord Worthington zu wissen.

Der seltsame Mann nahm seinen Platz an der Spitze seiner Gefährten ein und antwortete, indem er die Kapuze zurückschlug. Archibald stockte der Atem. Auch dieser Mann trug eine Maske – gestaltet wie das Gesicht eines Mannes und mit merkwürdigen Schriftzeichen verziert, die sich auf der goldenen Oberfläche zu bewegen schienen. Die Augen hinter den ovalen Schlitzen wirkten wie schwarze Löcher, in denen kaltes Feuer brannte.

»Ich bin der Vater der Mysterien.« Er sprach ein Englisch mit starkem Akzent. »Der Wanderer auf dem Pfad der Weisheit. Der Reisende zwischen den Welten. Einen Mystiker und einen Irren hat man mich genannt. Man hat mich verehrt und verflucht. Ich bin der, den ihr sucht. Ich bin al-Dschahiz. Und ich bin zurückgekehrt.«

Eine Stille senkte sich herab wie ein schwerer Schleier. Selbst Lord Worthington schienen die Worte zu fehlen. Archibald stand der Mund offen, und er war zu überwältigt, um mehr zu tun, als zu gaffen. Dann riss ein jähes Lachen ihn aus seiner Erstarrung.

»Unsinn!«, rief jemand. Archibald stöhnte lautlos. Dalton.

Der Mann schob sich mit der Schulter an den anderen vorbei, baute sich vor den schwarz gekleideten Gestalten auf und starrte den Anführer mit der gesamten Unverfrorenheit des Adels und der Jugend an. »Ich weiß ganz sicher, dass Sie nicht al-Dschahiz sind! Brüder! Sehen Sie sich dieses Exemplar genau an: groß mit langen Armen und Beinen, der typische Körperbau der Neger aus den tropischen Gefilden des Sudans. Ich behaupte aber, dass al-Dschahiz kein Neger war, sondern de facto ein Weißer!«

Archibald flehte innerlich, Dalton möge aufhören. Um Himmels willen. Aber der Narr machte weiter, gestikulierte dramatisch vor der Nase des Fremden herum. »Der wahre al-Dschahiz stammt von den Herrschern des alten Ägyptens ab. Das ist das Geheimnis seiner Genialität! Ich wage zu behaupten, er wäre inmitten des Gewimmels von Wentworth oder unter den Passanten auf der Baker Street nicht von anderen Londonern zu unterscheiden! Unter dieser Maske, davon bin ich überzeugt, werden wir nicht die helle Gesichtsfarbe unserer eigenen angelsächsischen Ahnen vorfinden, sondern das rußschwarze, ordinäre Gesicht eines …«

Der Fremde, der bis jetzt schweigend dagestanden hatte, hob einen Arm und brachte Dalton zum Schweigen. Mit einem Mal begann das Schwert in Lord Worthingtons Griff zu summen und zu vibrieren. Das Geräusch schwoll zu einem Heulen an, und der alte Herr begann, zusammen mit der Vibration zu zittern. Mit einem heftigen Ruck riss das Schwert sich los, schoss durch die Luft und landete in der gepanzerten Hand des Fremden. Seine Finger schlossen sich um das Heft. Er trat vorwärts, ließ die Klinge sinken und richtete sie auf Dalton.

»Noch ein Wort«, warnte er, »und es wird dein letztes sein.«

Daltons weit aufgerissene Augen bewegten sich aufeinander zu, um auf die Spitze des Schwerts hinunterzublicken. Ein weiteres Mal drängte Archibald innerlich den Mann dazu – bei allem, was heilig war –, ausnahmsweise einmal den Mund zu halten! Aber ach, es sollte nicht sein. Die Einheimischen scherzten oft über Engländer, die keine Warnung beherzigten und stur in die sengende Mittagssonne hinausspazierten, bis sie vor Erschöpfung umkippten. Dalton schien entschlossen, diesem Klischee zu entsprechen. Er fixierte den Fremden mit einem Blick, in dem der gesamte Hochmut des britischen Stolzes und der imperialen Anmaßung lag, und öffnete den Mund, um zu einer weiteren unausgegorenen Tirade anzuheben.

Der maskierte Mann bewegte sich nicht, dafür jedoch einer seiner Gefährten. Es geschah schnell und wirkte, als würde eine Statue aus Stein unerwartet zum Leben erwachen. Behandschuhte Hände griffen nach Dalton und verschwammen – ein seltsamer Ruck durchfuhr ihn –, dann nahm die Gestalt wieder ihre reglose Pose ein. Archibald blinzelte. Er brauchte einen Moment, um sich einen Reim auf das zu machen, was er vor sich sah. Dalton stand noch immer am selben Platz. Doch sein Kopf war komplett herumgedreht. Vielleicht auch sein Körper. Jedenfalls ruhte sein Kinn nun unmöglicherweise auf der Rückseite seiner Robe, während er die Arme hinter sich ausgestreckt hatte. Torkelnd drehte er sich einmal im Kreis, was beinahe ulkig aussah, als versuchte er, sich selbst wieder zu sortieren. Dann hielt er inne, warf ihnen allen noch einen letzten verdatterten Blick zu und kippte aufs Gesicht – in die falsche Richtung: Die schwarzen Stiefelspitzen ragten in die Luft.

Ringsherum schrien die Leute auf. Einige würgten. Archibald versuchte, sich ihnen nicht anzuschließen.

»Das muss doch nicht sein«, flehte Lord Worthington, das Gesicht aschfahl. »Es besteht kein Grund zur Gewalt.«

Der Fremde musterte den alten Herren aus schwarzen Pupillen. »Es besteht jedoch ein Grund zur Vergeltung. Männern gegenüber, die meinen Namen beanspruchen. Masr ist zu einem Ort der Dekadenz geworden, befleckt von ausländischen Interessen. Doch ich bin zurückgekehrt, um mein großes Werk zu vollenden.«

»Ich bin sicher, wir können helfen«, sagte Lord Worthington dringlich. »Wenn Sie in der Tat derjenige sind, als der Sie sich ausgeben. Geben Sie uns irgendein Zeichen, dass Sie wahrhaftig al-Dschahiz sind, und ich werde mich Ihnen ganz und gar zur Verfügung stellen. Mit meinem Vermögen. Meinem Einfluss. Ich würde Ihnen alles geben, was mir lieb und teuer ist, falls Sie sich des Namens würdig erweisen, den Sie für sich in Anspruch nehmen!«

Archibald wandte sich schockiert um. Dem alten Herrn stand ins Gesicht geschrieben, dass er dem Fremden unbedingt glauben wollte. Dass er ihm glauben musste. Es war das Entmutigendste, was Archibald je gesehen hatte.

Der schwarz gewandete Mann betrachtete Lord Worthington mit abschätzigem Blick, wobei seine Augen noch dunkler wurden. »Alles, was dir lieb und teuer ist«, sagte er bitter. »Das würdest du mir also geben, ja? Ich brauche nichts mehr von dem, was du mir anbieten kannst, alter Mann. Wenn du aber ein Zeichen willst, dann sollst du auch eines bekommen.«

Der Fremde hob das Schwert und richtete die Klinge auf die Umstehenden. Es wurde dunkel im Raum, das plötzlich gedämpfte Licht schaffte es kaum, die Schatten zu durchdringen. Die deutlich spürbare Präsenz des Mannes wurde noch stärker, baute sich auf, bis Archibald glaubte, seine Beine würden unter ihm nachgeben. Erneut drehte er sich zu Lord Worthington um – und stellte fest, dass der alte Herr brannte. Hellrote Flammen krochen über seine Hände, sodass die Haut zusammenschrumpelte und Blasen warf. Doch Lord Worthington schien es nicht zu bemerken. Der starre Blick seiner weit aufgerissenen Augen war auf den Saal gerichtet, wo nun jedes Mitglied der Bruderschaft ebenso lichterloh brannte, in einem rauchlosen Feuer, so rot wie Blut. Die seltsamen Flammen ließen ihre Kleider unberührt, verbrannten jedoch Haut und Haare, während ihre Schreie von den Wänden widerhallten.

Nicht nur ihre Schreie, wie Archibald abrupt klar wurde. Auch er selbst schrie.

Er blickte auf das Feuer hinab, das sich um seine Arme kräuselte und unter der unversehrten Robe sein Fleisch verzehrte. Neben ihm kreischte die Frau, und ihre Todesschreie mischten sich in die schreckliche Kakofonie. Irgendwo unter dem Schmerz, dem Schrecken, ehe das letzte bisschen seiner selbst den Flammen anheimfiel, trauerte er um sein London, um Weihnachten, um seine liebe Georgiana und um Träume, die niemals in Erfüllung gehen würden.

KAPITEL

2

Fatma beugte sich vor und zog an ihrer Shisha. Der Maassel war eine kräftige Tabakmischung, in Honig und Sirup getränkt, mit Spuren von Kräutern, Nüssen und Obst. Aber da war noch ein anderer Geschmack, so süß, dass er auf der Zunge kitzelte: Magie. Er brachte die feinen Haare in ihrem Nacken zum Kribbeln.

Die kleine Menge, die sich versammelt hatte, beobachtete sie erwartungsvoll. Ein Mann mit großer Nase und einem weißen Turban hatte sich so dicht über ihre Schulter gelehnt, dass sie den Ruß riechen konnte, der ihn bedeckte – dem Gestank nach zu urteilen ein Eisenarbeiter. Er brachte einen Kameraden zum Schweigen, was lediglich andere zum Murren anregte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Khalid den beiden Männern einen vernichtenden Blick zuwarf – sein breites Gesicht wirkte angespannt. Niemals eine gute Idee, den Buchmacher zu verärgern.

Sicher hatten auch sie wie die meisten hier auf Fatmas Gegner gewettet, der ihr an dem achteckigen Tisch gegenübersaß. Auf nicht mehr als siebzehn schätzte sie ihn: Sein Gesicht war noch jungenhafter als ihres. Allerdings hatte er schon Männer bezwungen, die doppelt so alt waren wie er. Wichtiger noch: Er war ein Mann, was nach wie vor von Bedeutung war, selbst in der Modernität, die Kairo zur Schau trug – und dies erklärte das Lächeln auf seinen dunklen Lippen.

Einige traditionellere Ahwas bewirteten noch immer keine Frauen, vor allem nicht, wenn dort Shisha geraucht wurde – was auf den Großteil zutraf. Aber in dieser schäbigen Spelunke in einer verrufenen Hintergasse achtete man nicht darauf, was für Gäste herkamen. Dennoch konnte Fatma die Frauen im Raum an einer Hand abzählen. Die meisten überließen das Glücksspiel den Männern. Drei, die an einem recht weit entfernten Tisch saßen, gehörten unverkennbar zu den Vierzig Leopardinnen: Sie trugen hellrote Kaftans und Hidschabs und dazu blaue türkische Hosen. Ihren verächtlichen Blicken nach hätte man annehmen können, dass sie zur Schickeria gehörten – nicht zur berüchtigtsten Diebesbande der Stadt.

Fatma blendete sie alle aus – die spielenden Männer, die selbstgefälligen Jungen und die hochnäsigen Diebesdamen gleichermaßen – und konzentrierte sich auf das blubbernde Wasser in der bauchigen Flasche der Shisha. Sie stellte es sich als einen rauschenden Fluss vor, so lebensecht, dass sie feuchte Fingerspitzen bekam, als sie den Rauch inhalierte. Sie zog ausgiebig an der hölzernen Pfeife, ließ zu, dass der verzauberte Maassel sie durchströmte, und blies schließlich eine dicke Säule aus Qualm in die Luft.

Wie gewöhnlicher Rauch sah er nicht aus – eher silbern als grau. Er bewegte sich auch anders, ballte sich zusammen, statt sich zu verflüchtigen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich zu einer Form verdichtete, doch als es geschah, konnte Fatma nicht anders, als ein wenig Siegesfreude zu verspüren. Ein Fluss aus Dampf schlängelte sich durch den Raum, auf dessen Oberfläche eine Feluke dahinglitt, das dreieckige Lateinersegel straff gespannt, und gekräuseltes Fahrwasser hinterließ.

Jeder Blick im Café folgte dem ätherischen Gefährt. Selbst die Mitglieder der Vierzig Leopardinnen spähten staunend herüber. Auf der anderen Seite des Tisches wich das Lächeln ihres Herausforderers einem Ausdruck der Entgeisterung. Als die Magie verbraucht war und der Rauch sich verzog, schüttelte er den Kopf und, stellte das Rohr seiner Wasserpfeife ab und gab sich geschlagen. Die Menge brüllte.

Fatma lehnte sich zurück und ließ sich lobpreisen, während Khalid aufstand, um sein Geld einzukassieren. Verzauberter Maassel war eine verbotene Substanz, die eine Droge nachahmte, auf die Schnelle zusammengerührt aus Hexerei und alchemistischen Verbindungen. Die Süchtigen opferten ihr Leben, immer auf der Jagd nach der nächsten großartigen Beschwörung. Glücklicherweise war eine mildere Form am Frauencollege in Luxor beliebt gewesen. Und als Studentin hatte Fatma an ein, zwei Duellen teilgenommen. Oder drei. Vielleicht auch mehr.

»Ya salam!«, rief der Junge. »Shadia, du bist so gut, wie der Usta behauptet hat.«

Al-Usta war Khalids Spitzname. Diesen alten türkischen Titel gab man Fahrern, Arbeitern, Mechanikern oder Handwerkern – eigentlich jedem, der das, was er tat, sehr gut beherrschte. Sie war sicher, dass Khalid keinen Tag seines Lebens mit ehrlicher Arbeit verbracht hat. Aber wenn es ums Abwickeln von Wetten ging, gab es keinen Besseren.

»Sie gehört zu den Besten, das sag ich dir«, fügte der Buchmacher hinzu, während er dasaß und ein Bündel Scheine zählte.

Khalid hatte sich diesen Namen für sie einfallen lassen: Shadia. Der kräftige Mann war ihr Fremdenführer auf dieser zwielichtigeren Seite Kairos, wo Fatma el-Sha’arawi, Sonderermittlerin beim Ägyptischen Ministerium für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen, unerwünschte Aufmerksamkeit erregt hätte, wenn sie nicht unter einem Pseudonym aufgetreten wäre.

»Wallahi!«, rief der Junge. »So eine realistische Beschwörung hab ich ja noch nie gesehen. Na, was ist dein Geheimnis?«

Ihr »Geheimnis« war, was jeder im ersten Studienjahr in Vorlesungen über die mentale Manipulation von Elementen aufschnappte: Wähle tatsächliche statt ausgedachter Erfahrungen. Bei ihr war es die Erinnerung an das Boot eines Onkels, auf dem sie viele Male gesegelt war.

»Khalid – der Usta – hat es ja schon gesagt: Ich gehöre zu den Besten.«

Der Junge schnaubte. »Hätte ich nicht gedacht.« Er deutete mit dem Kinn auf ihren Anzug, komplett weiß, mit einer passenden Weste, der auf ihrer rostbraunen Haut grandios zur Geltung kam. Sie strich mit den Fingern an ihrer goldenen Krawatte herab, wobei sie darauf achtete, die funkelnden Manschettenknöpfe an ihrem dunkelblauen Hemd in Szene zu setzen.

»Neidisch?«

Der Junge schnaubte erneut und verschränkte die Arme über dem hellbraunen Kaftan. Definitiv neidisch.

»Wie wär’s, wenn du mir gibst, weswegen ich hier bin, und dann schick ich dich zu meinem Schneider.«

»Gamal«, sagte Khalid. »Kommen wir zur Sache. Shadia hat sich lange genug geduldet.«

Mehr als das. Geduld war nicht ihre Stärke. Für diese Art von verdeckter Arbeit war sie aber nun einmal unerlässlich. Diebe waren von Natur aus misstrauisch und entspannten sich nur, wenn man eine Neigung für ihre Laster offenbarte. Sie warf einen Blick auf ihre goldene Taschenuhr, die wie ein antikes Astrolabium geformt war. Halb elf.

»Die Nacht wird nicht jünger.«

Der Junge legte den Kopf schief. »Was meinst du, Said? Sieht Shadia wie eine Geschäftspartnerin aus?«

Gamals Begleiter, der neben ihm saß, unterbrach kurz sein unablässiges Nägelkauen und murmelte: »Bringen wir’s hinter uns, okay?« Mit seinen abstehenden Ohren und den Locken, die sein Gesicht umrahmten, wirkte der schlaksige Mann sogar noch jünger als Gamal. Er begegnete Fatmas Blick kein einziges Mal; sie hoffte, das lag an der Figur, die sie darzustellen versuchte: eine junge Salonlöwin, die bereit war, für geklaute Güter eine Menge zu bezahlen.

»Dann gehen wir doch irgendwohin, wo wir ungestört sind«, schlug Khalid vor. Er wies auf ein Hinterzimmer und erhob sich. Fatma strich sich die kurzen schwarzen Locken zurück, setzte ihren schwarzen Bowler auf und begann aufzustehen. Auf halbem Weg hielt sie inne: Ihr fiel auf, dass die beiden jungen Männer sich nicht gerührt hatten.

»Nein«, sagte Gamal. Said schien ebenso perplex wie sie beide.

»Nein?« Die Art, wie der große Mann das Wort in die Länge zog, hätte jeden einschüchtern müssen. Doch nicht diesen Jungen.

»Wenn man sich in irgendwelche geheimen Zimmer zurückzieht, kommen die Leute auf Gedanken. Passen vielleicht einen von uns auf dem Weg nach draußen ab und versuchen rauszukriegen, was man für Geheimnisse hat. Wir können unser Geschäft auch hier besprechen. Was ist denn groß dabei? Wallahi, es achtet doch überhaupt niemand auf uns.«

Fatma war sicher, dass alle auf sie achteten, und zwar sehr genau. In Etablissements wie diesem wuchsen einem Augen am Hinterkopf, an den Schläfen und auf dem Scheitel. Dennoch hatte der Junge nicht ganz unrecht. Sie erwiderte Khalids fragenden Blick. Er sah so aus, als wäre er bereit, ihn am Kragen zu packen und von seinem Stuhl zu heben. Das wäre zwar sehr unterhaltsam gewesen, aber es war wohl besser, keine Szene zu machen. Sie ließ sich wieder auf ihren Platz sinken. Khalid seufzte und tat es ihr gleich.

»Na, dann zeig mal her«, verlangte Fatma.

Said nahm eine braune Umhängetasche von der Schulter und stellte sie auf den Tisch. Als er hineingriff, krampften sich Fatmas Finger um den Löwenkopfknauf ihres Gehstocks. Geduld.

»Warte.« Gamal streckte einen Arm aus, um ihn zurückzuhalten. »Zeig uns erst das Geld.«

Fatma packte noch fester zu. Der Junge ging ihr allmählich auf die Nerven.

»So machen wir unsere Geschäfte nicht«, tadelte Khalid.

»Ich aber, Onkel.« Er fixierte Fatma. »Hast du’s?«

Sie antwortete nicht sofort. Stattdessen hielt sie seinem Blick stand – bis sein Wagemut ein wenig schwand. Erst dann griff sie in ihr Jackett und zog eine Rolle Banknoten hervor. Das blau-grüne Papier mit dem königlichen Siegel brachte die Augen des Jungen zum Funkeln. Er leckte sich über die Lippen und nickte dann. Said schien erleichtert und holte einen Gegenstand aus der Tasche. Fatma stockte der Atem.

Es sah wie eine Flasche aus, allerdings aus Metall statt aus Glas. Unten war sie birnenförmig, und ein goldenes Blumenmuster lief an ihrem langen Hals empor. Die Oberfläche war zu einem matten Bronzeton angelaufen, aber Fatma vermutete, dass es sich um Messing handelte.

»Sie ist alt«, bemerkte Said und fuhr mit den Fingern die Gravuren entlang. »Von den Abbasiden, vermute ich. Das wären mindestens tausend Jahre.«

Ein gutes Auge hatte er. Hinter der nervösen Miene verbarg sich also ein Gelehrter.

»Wir haben sie beim Fischen gefunden. Erst dachte ich, sie sei für Parfüm gedacht gewesen oder frühe Alchemisten hätten sie benutzt. Aber das hier …« Seine Hand bewegte sich zu einem Stöpsel oben an der Flasche und fuhr an einem jadegrünen Keramiksiegel entlang, in das ein Drache eingraviert war. »So was hab ich noch nie gesehen. Chinesisch vielleicht? Tang? Die Schrift erkenne ich auch nicht wieder. Und das Wachs ist frisch, als wäre es erst gestern aufgetragen worden …«

»Ihr habt doch nichts davon entfernt, oder?«, fiel ihm Fatma ins Wort.

Er weitete die Augen, als er die Schärfe in ihrer Stimme hörte.

»Usta Khalid hat es uns verboten. Das intakte Siegel war eine Bedingung für den Kauf.«

»Gut, dass ihr auf ihn gehört habt. Sonst hättet ihr unser aller Zeit verschwendet.«

»Aywa«, seufzte Gamal. »Eins wüsste ich bloß gern: Was ist so besonders daran? Said und ich finden eine Menge Ramsch. Jeden Tag, wallahi. Alles, was die Leute in den Nil werfen, kommt wieder hoch. Und wir verkaufen’s dann reichen Leuten wie euch. Aber so viel hat noch niemand geboten, wallahi. Ich hab gehört, dass andere Sachen …«

»Gamal«, unterbrach ihn Said. »Das ist nicht der richtige Moment, wieder damit anzufangen.«

»Ich finde, es ist der perfekte Moment«, entgegnete Gamal, den Blick auf Fatma geheftet. »Meine Oma hat mir immer Geschichten von Dschinn in Flaschen erzählt, die ins Meer geworfen wurden – lange bevor al-Dschahiz sie wieder in unsere Welt zurückgebracht hat. Sie meinte, manchmal würden sie von Fischern gefunden, und wenn sie die Dschinn befreien, würden sie ihnen ihre sehnlichsten Wünsche erfüllen. Wallahi! Drei solche Wünsche könnten einen zu einem König machen oder zum reichsten Mann der Welt!«

»Sehe ich etwa aus wie deine Oma?«, fragte Fatma. Aber diesmal geriet seine Kühnheit nicht ins Wanken.

»Kein Deal«, sagte er plötzlich. Er packte die Flasche und steckte sie wieder in die Tasche. Fatma heulte innerlich auf.

Said machte ein verwirrtes Gesicht. »Ya Allah! Was machst du denn? Wir brauchen das Geld!«

Gamal gab ein tadelndes Geräusch von sich. »Wallahi, du bist nur schlau, wenn’s um Bücher geht! Denk nach! Wenn das hier das ist, was ich glaube – was sie glaubt –, dann könnten wir es selbst benutzen! Drum bitten, dass Geld vom Himmel regnet! Oder eine ganze Pyramide in Gold verwandeln!«

»Ihr beide macht einen Fehler«, warnte Khalid. Sein dunkles Gesicht verdüsterte sich wie der Himmel bei einem heraufziehenden Sturm, und das weiße Haar, das es umgab, war wie dräuende Wolken. »Nehmt das Angebot an und geht eures Weges. Beim Barmherzigen, es ist nicht weise …«

»Nicht weise?«, spottete Gamal. »Bist du jetzt ein Shaikh? Fängst du gleich an, Hadithe zu rezitieren? Du machst uns keine Angst, alter Mann. Konntest es kaum erwarten, uns die Flasche abzunehmen, als wir auf dich zugekommen sind. Und als wir abgelehnt haben, warst du noch begieriger darauf, diesen Handel abzuschließen. Macht ihr beide gemeinsame Sache? Wollt ihr uns betrügen? Seid lieber vorsichtig. Sonst verbrauchen wir vielleicht einen unserer Wünsche für euch, wallahi!«

Fatma hatte genug gehört. Sie hätte ja wissen müssen, dass der Junge kein ehrlicher Händler war, bei all den Wallahis, mit denen er um sich schmiss. Wer so gewohnheitsmäßig bei Gott schwor, dem konnte man nicht trauen. So viel dazu, es auf die einfache Art zu versuchen. Sie griff nach hinten in ihr Jackett, holte ein Stück Silber hervor und legte es flach auf den Tisch. Der alte Ministeriumsausweis war ein Satz sperriger Papiere gewesen, mit einer daran befestigten Daguerreotypie. Voriges Jahr war man zur Verwendung dieser metallenen Dienstmarke übergegangen – in die ein alchemistisches Foto geprägt war. Sich zu enttarnen, war nicht ihre erste Wahl gewesen. Aber die Dreistigkeit aus Gamals Gesicht weichen zu sehen, war es wert.

»Du gehörst zum Ministerium?«, krächzte Said.

»Wär sonst ziemlich schwer, an so eins ranzukommen«, antwortete sie.

»Das ist ein Trick«, stammelte Gamal. »Es gibt keine Frauen im Ministerium.«

Khalid seufzte. »Ihr beide solltet mehr Zeitung lesen.«

Gamal schüttelte den Kopf. »Ich glaub euch nicht. Du bist keine …«

»Challas!«, zischte Fatma und neigte sich nach vorn. »Es ist vorbei! Jetzt hört mir zu: Es sind noch vier weitere Agenten im Raum. Seht ihr den Mann an der Tür?« Sie blickte sich gar nicht erst um, als die beiden über ihre Schulter spähten. »Da drüben am Tisch zu eurer Rechten ist noch einer und kaut allen anderen ein Ohr ab. Und links sitzt ein dritter, der seine Shisha schmaucht und eine Partie Tawla spielt. Wo der vierte ist, werde ich euch nicht verraten.«

Sie drehten den Kopf hin und her wie Erdmännchen. Said zitterte sichtlich.

»Ich erkläre euch nun, wie’s weitergeht. Ihr gebt mir die Flasche. Ich gebe euch die Hälfte dessen, was wir vereinbart haben – weil ihr’s uns schwer gemacht habt. Und dafür nehme ich euch nicht hops, um euch zu befragen. Haben wir einen Deal?«

Said nickte so heftig, dass seine Ohren flatterten. Bei Gamal sah die Sache anders aus: Er war erschüttert, wollte sich jedoch nicht so leicht geschlagen geben. Sein Blick huschte zwischen ihrer Dienstmarke und der Tasche hin und her. Als er den Kiefer anspannte, fluchte sie innerlich. Kein gutes Zeichen.

Dann warf der Junge mit einer ruckartigen Bewegung den Tisch um. Khalids Stuhl kippte unter ihm weg und er stürzte. Fatma konnte sich gerade noch rechtzeitig abfangen und stolperte rückwärts. Gamal stand breitbeinig da, die Flasche in der einen Hand und ein kleines Messer in der anderen. So viel dazu, keine Szene zu machen.

»Jetzt stell ich die Bedingungen! Lasst uns hier raus! Sonst brech ich dieses Siegel und guck, was passiert!«

»Gamal!«, protestierte Said. »Wir können doch einfach gehen! Wir müssen nicht …«

»Sei nicht dumm! Sie wird uns nicht gehen lassen! Die nehmen uns mit, und unsere Familien hören nie wieder von uns! Die machen Experimente mit uns! Oder verfüttern uns an Ghule!«

Fatma runzelte die Stirn. Die Leute hatten höchst seltsame Vorstellungen davon, was im Ministerium vor sich ging. »Ihr wisst nicht, was ihr tut. Und ich werde euch nicht einfach gehen lassen. Nicht damit. Also übergebt es mir. Ich frage nicht noch einmal.«

Ein Muskel zuckte in Gamals Gesicht. Er knurrte durch zusammengebissene Zähne und zog seine Klinge über das Wachssiegel. Es brach und fiel herab.

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Alle Leute im Ahwa hatten sich zu ihnen umgewandt, um den Tumult zu beäugen. Aber ihre Blicke ruhten nicht länger auf der kleinen Frau in dem weißen Westleranzug, dem großen Mann, den sie als örtlichen Buchmacher kannten und der sich gerade vom Boden aufrappelte, oder den beiden jungen Männern, die hinter einem umgeworfenen Tisch standen.

Stattdessen starrten sie mit offenem Mund den Gegenstand an, den einer der jungen Männer hochhielt: eine antike Flasche, aus der hellgrüner Rauch quoll. Wie verzauberter Maassel, allerdings in größerer Menge. Es bildete sich etwas, das solider wirkte als jede Illusion. Der Dunst verzog sich, und zurück blieb ein lebendiger, atmender Riese: Seine Haut war mit smaragdgrünen Schuppen bedeckt, sein Haupt mit glatten Elfenbeinhörnern gekrönt, die sich hochbogen und die Decke streiften. Er trug nichts als eine bauschige weiße Hose, die von einem breiten goldenen Gürtel gehalten wurde. Sein gewaltiger Brustkorb hob und senkte sich, während er tiefe Atemzüge nahm. Dann öffnete er seine drei Augen – und sie brannten wie kleine, helle Sterne.

Selbst in der Welt, die al-Dschahiz hinterlassen hatte, erlebte man es nicht jeden Tag, dass ein Marid-Dschinn einfach … erschien. Das Szenario, das Fatma unbedingt hatte verhindern wollen, spielte sich nun direkt vor ihrer Nase ab. Kurz spülte Panik über sie hinweg, dann fand sie ihre Entschlossenheit wieder.

»Bewegt euch nicht. Lasst mich reden …«

»Nein!«, rief Gamal. »Er gehört uns! Du kriegst ihn nicht!«

»Er gehört euch ni…«

Doch der Junge fuchtelte bereits mit der leeren Flasche vor dem Dschinn herum. »Du! Sieh mich an! Ich bin der, der dich befreit hat!« Der Marid, der sich schweigend im Raum umgesehen hatte, wandte ihm seinen flammenden Blick zu. Jeder andere hätte sich dadurch einschüchtern lassen, aber der Junge – dumm, wie er war – blieb wacker stehen. »Ja, genau! Wir haben dich befreit! Said und ich! Jetzt bist du uns etwas schuldig! Drei Wünsche!«

Der Marid starrte die beiden an, dann sprach er ein Wort, das grollte und nachhallte: »Frei.« Abermals formte er das Wort mit Lippen, die von einem lockigen weißen Bart eingerahmt wurden. »Frei. Frei. Frei.« Dann lachte er, ein dröhnendes Bellen, das Fatma durch Mark und Bein ging.

»Eine Ewigkeit ist es her, dass ich die Sprache der Sterblichen sprechen musste. Aber ich erinnere mich, was ›frei‹ heißt. Ungebunden sein. Nicht gefesselt oder eingesperrt.« Sein Gesicht verzerrte sich, nahm einen schrecklichen Ausdruck an. »Doch ich war nicht gebunden, gefesselt oder eingesperrt. Niemand hat mich gefangen gehalten. Ich habe geschlummert, aus eigenem Willen. Und ihr habt mich aufgeweckt, ungebeten, ungefragt, unerwünscht – auf dass ich eure Wünsche erfülle. Also gut. Einen einzigen Wunsch werde ich euch gewähren. Ihr müsst wählen. Wählt, wie ihr sterben wollt.«

Das genügte, um die Anwesenden aus ihrer Schockstarre zu holen. Leute sprangen von Stühlen und Tischen auf und rannten überstürzt zum Ausgang. Selbst die Bediensteten beteiligten sich an der panischen Flucht. Der Besitzer des Ahwas verschwand in einem Abstellraum und schloss die Tür hinter sich. In Sekundenschnelle hatte sich das Lokal geleert, und zurück blieben nur Fatma, Khalid, zwei junge Männer und ein äußerst übellauniger Marid.

Blankes Entsetzen spiegelte sich auf Gamals Miene – und Said wirkte, als fiele er gleich in Ohnmacht. Fatma schüttelte den Kopf. Genau darum lief man nicht herum und öffnete nach Belieben irgendwelche mystischen Flaschen. Warum war das für die Leute nur so schwer zu begreifen? Nun, es wurde Zeit, dass sie sich ihren Lohn verdiente.

»O Erhabener!«, rief sie. »Ich möchte für diese beiden sprechen, die dir unrecht getan haben!«

Der Marid drehte seinen gehörnten Kopf und musterte sie mit seinem feurigen Blick. »Du warst in Gesellschaft anderer Dschinn.« Er sog die Luft ein und rümpfte angewidert die scharfkantige Nase. »Neben anderen Geschöpfen. Bist du eine Zauberin, Sterbliche?«

»Keine Zauberin. Es gehört bloß zu meinem Beruf, mich mit Magie zu befassen.«

Der Marid schien diese Antwort gelten zu lassen. Oder es war ihm gleich. »Du begehrst eine Unterredung im Namen dieser beiden«, er wies mit einer klauenbewehrten Hand auf Gamal und Said, »Narren?«

Fatma verkniff sich ein Lächeln. »Ja, Altehrwürdiger. Diese beiden Narren.« Sie gönnte Gamal einen gezielten Blick. »Sicher bist du großherzig genug, um über die Kränkung hinwegzusehen, die einem solch Mächtigen und Weisen wie dir von zwei dummen Kindern zugefügt wurde.«

Der Marid mahlte mit seinen spitzen Zähnen. »Die heuchlerischen Schmeicheleien der Sterblichen. An die erinnere ich mich ebenfalls. Weißt du, warum ich mich an den Schlummer gebunden habe, Nichtzauberin? Weil ich euresgleichen überdrüssig war. Gierig. Selbstsüchtig. Stets trachtet ihr ausschließlich danach, eure Bedürfnisse zu befriedigen. Ich konnte euren Anblick nicht länger ertragen. Euren Gestank. Eure hässlichen kleinen Gesichter. Ich schlief, um euch allen zu entfliehen. In der Hoffnung, wenn ich das nächste Mal erwachte, wäret ihr fort. Niedergestreckt von einer segensreichen Krankheit. Oder hingeschlachtet in einem eurer endlosen Kriege. Dann müsste ich euer äffisches Geplapper nie wieder hören. Nimmermehr in euren unartikulierten Zungen sprechen. Doch hier bin ich. Und ihr seid immer noch da.«

Fatma blinzelte angesichts dieser Tirade. Von all den Dschinn, die die beiden hätten aufwecken können, musste es ausgerechnet einer mit Vorurteilen sein. »Richtig. Du kannst wieder schlafen gehen, Altehrwürdiger. Schlaf, so lange du möchtest. Ich werde sogar Sorge dafür tragen, dass dein Behältnis an einen fernen Ort gebracht wird. Dort wirst du ungestört sein.« Vielleicht ins Herz eines Vulkans, dachte sie insgeheim.

Der Marid musterte sie wie ein Schlachter eine Ziege, die ihm ein Gnadengesuch entgegenmeckerte. »Und warum, Nichtzauberin, sollte ich mich zu solch einem Handel herablassen? Wenn ich dir doch einfach den Kopf vom Hals rupfen könnte? Diese Wände mit deinen Eingeweiden beschmieren? Oder deinen Bauch mit heißhungrigen Skorpionen füllen?«

Fatma zweifelte an keiner dieser Drohungen. Unter den verschiedenartigen Dschinn gehörten die Marid zu den mächtigsten und ältesten; sie besaßen übernatürliche Stärke und beachtliche Magie. Wenn dieser schlaftrunkene Tyrann jedoch glaubte, sie ließe sich einschüchtern, dann würde er sich noch umschauen. Sie schob ihren Bowler zurück, bis er auf ihrem Kopf thronte wie der Hut eines Feldwebels, trat näher auf den hoch aufragenden Marid zu und verrenkte sich den Hals, um ihm in seine drei brennenden Augen blicken zu können.

»Mindestens tausend Jahre hast du in dieser Flasche verbracht, im selbst gewählten Exil. Also lass mich dich auf den neuesten Stand bringen. Es gibt mehr von uns plappernden Sterblichen, als du ahnst. Weit mehr. Es sind auch mehr von deiner Art in diese Welt übergewechselt. Dschinn leben jetzt in unserer Mitte. Arbeiten mit uns zusammen. Befolgen unsere Gesetze. Du willst mich zu Brei zerstampfen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Nur zu. Aber du wirst dafür bezahlen. Und die Leute, für die ich arbeite, wissen genau, wie sie selbst den ewigen Schlummer in einer Flasche extrem unerfreulich gestalten können. Riskier doch mal einen Blick mit deinem dritten Auge. Sieh selbst, was aus der Welt geworden ist, während du geschlafen hast.«

Der Marid reagierte nicht sofort. Schließlich schloss er beide Augen und weitete zugleich das dritte auf seiner Stirn, bis es hell aufflammte. Als er die übrigen Augen wieder öffnete, lag Bestürzung darin.

»Du sprichst die Wahrheit. Deine Art hat sich tatsächlich vervielfacht. Wie Heuschrecken! So viel mehr Dschinn auf dieser Welt, die Hand in Hand mit Sterblichen arbeiten. Unter ihnen leben. Sich mit ihnen paa…«

»Ja, all das«, unterbrach ihn Fatma.

»Abscheulich.«

»So sieht nun mal die Realität aus. Damit wären wir wieder bei unserem Handel. Ich bin sicher, du würdest dich lieber wieder schlafen legen. Abwarten, wie sich alles entwickelt. Mein Angebot steht. Du hast mein Wort.«

Der Marid schnaubte. »Das Wort einer Sterblichen? Leer und schwach wie Wasser. Es liegt kein Wert darin. Biete mir etwas Verpflichtendes an. Etwas, das dein Angebot gültig macht.«

»Dann meine Ehre.«

»Was bedeutet mir die Ehre einer Sterblichen? Du stellst meine Geduld auf die Probe. Unterbreite mir ein würdiges Angebot oder lasse es ganz.«

Fatma knirschte mit den Zähnen. Die verdammten Dschinn und ihr Gefeilsche. Eins hatte sie noch, was sie geben konnte. Wenngleich es ihr widerstrebte. Doch anscheinend blieben ihr nur wenige Optionen.

»Um mein Angebot gültig zu machen, biete ich dir meinen Namen an.«

Nun hob der Marid seine Augenbrauen. Dschinn hatten viel für Namen übrig. Ihre eigenen wahren Namen verrieten sie niemals, benannten sich stattdessen nach geografischen Orten: Städten, Flüssen, Gebirgsketten. Entweder das, oder sie gaben sich majestätische Titel wie Königin der Magie oder Lord des Donnerstags. Sie waren ein unausstehlicher Haufen. Seinem Gesichtsausdruck nach hatten jedoch selbst die Namen Sterblicher einen gewissen Wert.

»Deinen wahren Namen«, forderte er.

Sie sträubte sich bei dem Gedanken, nickte jedoch.

»Ich nehme dein Angebot an. Nun bleibt allerdings noch der Wunsch dieser Narren zu erfüllen.«

Fatma zuckte zusammen. »Wie meinst du das? Darüber haben wir uns doch gerade geeinigt!«

Der Marid verzog seine dunkelgrünen Lippen zu einem Grinsen. »Unsere Abmachung, Nichtzauberin, betrifft dein Angebot, dass ich in mein Behältnis zurückkehre, wobei du mir ungestörten Schlummer zusicherst. Nicht dass ich das Leben der beiden verschone. Der Wunsch ist nach wie vor bindend.«

»Das war doch impliziert!« Während sie die Worte aussprach, wusste sie bereits, dass es ihr eigener Fehler gewesen war. Man musste vorsichtig sein, wenn man mit Dschinn schacherte. Sie nahmen alles wörtlich.

Deswegen gaben auch in diesem Zeitalter so viele von ihnen ausgezeichnete Anwälte ab. Fatma verfluchte ihren Fehler und versuchte, sich das Ganze durch den Kopf gehen zu lassen.

»Also besteht der Wunsch weiterhin?«, fragte sie.

»Was erbeten worden ist, wird auch gewährt.«

»Aber du hast bereits die Parameter bestimmt.«

Der Marid zuckte mit den Schultern und warf einen unheilvollen Blick zu Gamal und Said hinüber, die sichtlich zitterten. »Die Bittsteller hätten sich eben genauer überlegen müssen, was sie wollen.«

»Also bekommen sie von diesem Wunsch nicht mehr als den Tod?«

»Letztendlich ereilt er alle Sterblichen.«

Das war nun wirklich nicht fair. Aber Fairness galt für gewöhnlich kaum etwas, wenn man es mit Unsterblichen zu tun hatte. Fatmas Verstand suchte fieberhaft nach einer Lösung. Dieser Marid hatte zahllose Menschenalter durchlebt und war sehr gut darin, Händel wie diese einzugehen. Aber sie war eine Ministeriumsagentin. Das bedeutete, Menschen vor der Welt des Übernatürlichen und Magischen zu beschützen – selbst wenn sie sich törichterweise kopfüber hineinstürzten.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte sie schließlich und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Was ihren Wunsch betrifft, so bitte ich dich, diesen beiden Narren den Tod zu gewähren – als alte Männer, in ihren Betten, an ihrem Lebensende, das sie auf natürliche Weise ereilt.«

Es war herrlich, mitanzusehen, wie sich der Hochmut im Gesicht des Marid verflüchtigte. Sie erwartete, dass er protestieren würde, irgendeinen kleinen Riss in ihrer Logik fand. Stattdessen nickte er nur, taxierte sie erneut – und dann bedachte er sie mit einem schrecklichen Lächeln.

»Geschickt gelöst, Nichtzauberin«, erklärte er. »So soll es sein.«

Eine halbe Stunde später stand Fatma mitten im Raum und wischte ihre Dienstmarke ab. Als der Tisch umgestoßen worden war und die Gäste die Flucht ergriffen hatten, war sie halb durch den Raum geflogen. Khalid hatte sie in einem Haufen verschütteter Holzkohlenasche gefunden.

»Es waren keine anderen Agenten da, oder?«, fragte der große Mann, eine Tasse Tee in der Hand. Es war ihm gelungen, den Eigentümer des Cafés aus seiner Abstellkammer zu locken und ihn zu überreden, ihm eine Kanne zu kochen.

Fatma ließ die Schulter kreisen und spürte ein leichtes Ziepen. Sie hatte sie sich letzten Sommer bei einem Sturz verletzt. Zwar war die Schulter bemerkenswert schnell geheilt, doch hin und wieder beschwerte sie sich noch. »Gut, dass die beiden das nicht wussten.«

Khalid lachte und blickte zu Gamal und Said hinüber, die benommen dasaßen, während schwarz uniformierte Ministeriumsagenten sie befragten.

»Schlau, wie Sie die beiden gerettet haben. Eine Weile lang dachte ich, der Marid hätte Sie am Wickel.«

»Dachte ich auch, für einen Augenblick.«

Khalid grinste. Dann wurde sein Gesicht ernst. »Sie wissen aber, was Sie getan haben, oder? Was Sie den beiden gewährt haben?«

Fatma hatte es in dem Moment gewusst, als sie die Worte ausgesprochen hatte. Es stand praktisch fest, dass Gamal und Said ein hohes Alter erreichen würden. Sie würden sich niemals Sorgen machen müssen, dass sie starben, weil ein Automobil sie überfuhr. Oder sie vom Sims eines Gebäudes stürzten. Nicht einmal eine Kugel würde ihnen den Tod bringen. Die Macht des Marid würde sie den Rest ihres Lebens über davor bewahren.

»Ich glaube, sie haben es noch nicht begriffen«, überlegte Khalid. »Aber sie werden es im Lauf der Zeit rauskriegen. Said, denke ich, wird etwas Gutes daraus machen. Der Junge wollte das Geld tatsächlich, um eine Berufsschule besuchen zu können. Obwohl er an einer Universität vermutlich besser aufgehoben wäre. Gamal hingegen … Der könnte einem den Kajal aus dem Auge klauen und wäre immer noch nicht zufrieden.«

»Es ist noch schlimmer. Der Wunsch gewährt ihnen zwar ein langes Leben, legt jedoch nicht fest, auf welche Weise es abläuft. Sie könnten bis zu ihrem Tod unter einer schrecklichen Krankheit leiden, nicht in der Lage zu sterben. Oder ein Unfall könnte dafür sorgen, dass sie bis zum Ende mit unerträglichen Schmerzen leben müssen. Ihr ›Geschenk‹ könnte leicht zu einem Gefängnis werden.«

Khalid ließ langsam seine Teetasse sinken und murmelte ein Gebet. Dies war, was die Leute nicht verstanden: Magie verabscheute Ungleichgewicht und forderte stets einen Preis.

»Dann behalte ich sie wohl lieber im Auge«, sagte er nüchtern und fügte hinzu: »Dank sei al-Dschahiz.«

Fatma nickte, als sie den vertrauten Kairoer Slangausdruck hörte, mit dem der lang verschwundene sudanesische Mystiker angerufen wurde, wenn jemand Lob oder Ärger ausdrücken oder eine sarkastische Bemerkung machen wollte. Derselbe, der vor etwa vierzig Jahren ein Loch in den Qaf gebohrt hatte, das Andersreich der Dschinn. Sie war jung und in die Welt hineingeboren, die al-Dschahiz hinterlassen hatte. Bisweilen war dies noch immer eine geradezu schwindelerregende Angelegenheit.

»Der Junge hatte recht, wissen Sie.« Fatma beäugte ihn. »Sie hätten mir keinen Hinweis geben müssen. Hätten die Flasche einfach für sich selbst behalten können. Selber versuchen, Wünsche erfüllt zu bekommen.«

Khalid gab ein höhnisches Geräusch von sich. »Und Muhammad Alis Fluch riskieren? Ich würde mich hüten!«

Ein weiterer Ausdruck aus dem Kairoer Slang. Muhammad Ali Pascha, der Große, hatte Gerüchten zufolge mithilfe eines Dschinn-Ratgebers seine Macht gefestigt – doch der hatte ihn genau im Moment größter Not im Stich gelassen und das Flehen des alten Khediven mit Gelächter beantwortet, das unaufhörlich in seinem Kopf widerhallte. Als der alternde Herrscher zum Abdanken gezwungen gewesen war, hatten viele dem Fluch des Dschinns die Schuld an der Schwächung seines Geistes gegeben.

»Im Gegensatz zur Jugend«, fuhr Khalid fort, »kann ich unterscheiden: Was will ich, was brauche ich und was könnte mich schlicht das Leben kosten? Außerdem dachte ich, das ganze Zeug über Dschinn, die in Lampen eingeschlossen sind, sei nur das schlechte Geschreibsel irgendeines Franzosen.« Sein Blick wanderte zu den Leuten von der Abteilung für übernatürliche Forensik hinüber, die gerade behutsam das Behältnis des Marid in eine hölzerne Transportkiste stellten. Sie würden es aufs Neue ordentlich versiegeln und irgendeinen Platz finden, wo sie es aufbewahren konnten – so konnte der grantige Bewohner den Untergang der Menschheit abwarten.

»Das mit den Lampen wird übertrieben«, sagte Fatma. »Flaschen hingegen …«

Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn sie bemerkte, dass ein Mann auf sie beide zukam. Der rote Kaftan verriet, dass er nicht zur Abteilung für übernatürliche Forensik gehörte. Auf den zweiten Blick war es nicht einmal ein Mann – sondern ein Kesselblech-Eunuch. Dem schlanken Körperbau und dem geschmeidigen Gang nach eins der neueren Botenmodelle.

»Guten Abend und verzeihen Sie die Störung.« Der Maschinenmensch blieb vor ihr stehen. »Ich überbringe eine Botschaft für die Adressatin: Agentin Fatma el-Sha’arawi. Der Absender lautet: Ministerium für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen.«

»Das bin ich«, meldete sich Fatma. Eine Nachricht zu dieser Stunde?

»Die Nachricht ist vertraulich«, erklärte der Maschinenmensch. »Identifikation erforderlich.«

Fatma hielt ihre Dienstmarke vor die Sensoren unter dem ausdruckslosen Gesicht des Kesselblech-Eunuchen.

»Identifikation bestätigt.« Die mechanischen Finger holten einen schmalen Zylinder hervor und reichten ihn Fatma. Sie öffnete die Hülse, entrollte die Notiz und überflog sie rasch.

»Mehr Arbeit?«, fragte Khalid.

»Aywa. Sieht nach einem Ausflug nach Gizeh aus.«

»Gizeh? Da kriegen Sie heute Nacht aber nicht viel Schlaf.«

Fatma steckte den Zettel ein. »Schlaf ist für die Toten. Und ich hab vor, noch viel zu erleben.«

Der große Mann lachte. »Gehen Sie in Frieden, Ermittlerin«, rief er ihr nach, als sie fortging.

»Gott beschütze Sie, Khalid«, antwortete sie und trat aus dem Ahwa in die Nacht hinaus.

KAPITEL

3

Die Fahrt nach Gizeh mit einer der automatisierten Kutschen dauerte zu dieser späten Stunde etwa fünfundvierzig Minuten. Fatma wäre jedoch glücklicher gewesen, wenn die Erweiterung der Luftbahn dorthin bereits in Betrieb gewesen wäre. Das Beförderungsministerium behauptete, damit bräuchte man für die Strecke nur noch ein Viertel der Zeit.

Während der Fahrt ging sie im Kopf die Ereignisse der Nacht durch. Sie hatte Tage gebraucht, um Khalids Hinweis nachzugehen. Die Flasche zu identifizieren. Das Treffen zu arrangieren und eine Tarnidentität für sich selbst zu erfinden. Sie hatte sich sogar einen neuen Anzug beschafft – um den Look der exzentrischen Salonlöwin zu perfektionieren. Es war nicht exakt so gelaufen wie geplant. Aber war das überhaupt jemals der Fall? Wer hätte dem Jungen schon zugetraut, einen Marid-Dschinn herbeizurufen und Wünsche zu fordern?

»Narren tragen ihr Herz stets auf der Zunge«, murmelte sie. Eine der Redensarten, die ihre Mutter, aus jedem Grund und zu jedem Anlass zum Besten gab. Natürlich war das hier Ägypten. Solche Sinnsprüche hörte man in diesem Land überall, praktisch aus jedem Mund, noch dazu meist ungebeten. Nur schien ihre Mutter sie in jedem zweiten Satz zu verwenden. Das musste so etwas wie ein Rekord sein. Und es waren nicht nur ägyptische Weisheiten: Sie schien sie von wer weiß woher zu beziehen. Fatmas Vater scherzte gern, sie habe sie sicher schon bei ihrer eigenen Geburt von sich gegeben, um ihre Hebamme zu schelten, und einfach so weitergemacht.