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Eine Novelle im Universum des alternativen Kairos aus "Meister der Dschinn". Kairo im Jahr 1912: Zunächst scheint das Ministerium für Alchemie, Zauberei und übernatürliche Wesen mit einem recht einfachen Fall konfrontiert: Es handelt sich um nichts weiter als um einen besessenen Straßenbahnwagen. Doch schon bald lernen Agent Hamed Nasr und sein neuer Partner Agent Onsi Youssef eine ganz neue Seite Kairos kennen. Suffragetten, Geheimbünde und empfindungsfähige Automaten befinden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit. Es gilt, die Stadt vor einer drohenden Gefahr zu schützen, angesichts derer die Grenzen zwischen dem Magischen und dem Alltäglichen verschwimmen … Als Bonus: Die Kurzgeschichte EIN TOTER DSCHINN IN KAIRO Ein ungewöhnlicher Selbstmord führt die Sonderermittlerin Fatma el-Sha'arawi in die Unterwelt Kairos: Dort stolpert sie über randalierende Ghule, kecke Attentäter, Aufziehengel und eine Verschwörung, die die Zeit selbst zunichtemachen könnte … Finalist des Hugo Award Finalist des Locus Award Finalist des Mythopoetic Award Finalist des Nebula Award
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Seitenzahl: 210
Ein toter Dschinn in Kairo
Der Spuk in Luftbahnwagen 015
Fatma el-Sha’arawi, Sonderermittlerin beim Ägyptischen Ministerium für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen, blickte durch ihre Spektralbrille auf die Leiche hinab, die in sich zusammengesunken auf dem gewaltigen Diwan saß.
Ein Dschinn.
Und einer der Alten noch dazu, fast doppelt so groß wie ein Mensch, mit Fingern, die in geschwungenen Klauen ausliefen, lang wie Messer. Seine Schuppenhaut war von einem Aquamarinblau, das im Licht der flackernden Gaslampen türkis wirkte. Unbekleidet saß er inmitten von lavendel- und burgunderfarbenen Kissen mit Quasten, die muskulösen Arme und Beine von sich gestreckt, sodass nichts der Fantasie überlassen blieb.
»Das ist mal beeindruckend«, sagte jemand hinter Fatma. Ein flüchtiger Blick über ihre Schulter offenbarte einen zuckenden Schnurrbart, lang, ergrauend und im altmodischen Stil der Janitscharen frisiert, der ein molliges Gesicht zierte. Er gehörte zu einem Mann in kakifarbener Uniform, die ein bisschen zu stramm um seine stämmige Statur saß, vor allem um den Bauch. Der Mann deutete mit seinem rasierten runden Kinn auf den entblößten Penis des toten Dschinns: Mitternachtsblau war er und hing ihm fast bis zum Knie herab. »Ich hab ausgewachsene Kobras gesehen, die kleiner waren. Als Mann wird man unwillkürlich neidisch, wenn man so was direkt vor der Nase hat.«
Fatma wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, ohne sich zu einer Antwort herabzulassen. Kommissar Aasim Sharif gehörte zur örtlichen Polizeitruppe, die den Kontakt mit dem Ministerium pflegte. Kein schlechter Kerl, bloß vulgär. Die Kairoer Männer gaben zwar gern vor, modern und offen zu sein, aber es war ihnen nach wie vor unangenehm, an der Seite einer Frau zu arbeiten. Und sie drückten ihr Unbehagen auf eigentümliche, ungeschickte Weise aus. Es war schon schockierend genug, dass das Ministerium eine sonnengebräunte, provinzielle Saidi für eine Stelle in Kairo ausgewählt hatte. Aber eine, die so jung war und noch dazu ausländische Anzüge trug … Sie hatten sich nie ganz an sie gewöhnt.
Heute hatte sie sich für einen hellgrauen Anzug entschieden, mit einer passenden Weste, einer minzgrünen Krawatte und einem weißen Hemd mit roten Nadelstreifen. Sie hatte ihn im Englischen Bezirk entdeckt und für ihre kleine Statur anpassen lassen. Dazu gehörte ein Gehstock, stabil und aus schwarzem Stahl, mit einem silbernen Knauf, der wie ein Löwenkopf geformt war – was zugegebenermaßen ein bisschen zu viel des Guten war, dem Ensemble jedoch einen Anstrich von Extravaganz verlieh. Und ihr Vater sagte immer, wenn die Leute einen ohnehin anstarrten, dann sollte man ihnen auch eine Show liefern.
»Verblutet«, erklärte sie. Sie nahm die verkupferte Brille ab und reichte sie einem wartenden Kesselblech-Eunuchen. Der Maschinenmann ergriff die Sehhilfe mit geschickten Metallfingern und verstaute sie mit mechanischer Präzision in einer Lederhülle. In seinem ausdruckslosen Messinggesicht, das lediglich aus einer blanken ovalen Metallplatte bestand, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild: dunkle Augen und eine fleischige Nase in einem rostbraunen, schmalen Gesicht. Manch einer hätte es jungenhaft genannt, hätte sie nicht die vollen, ausgeprägten Lippen von ihrer Mutter geerbt. Als der Kesselblech-Eunuch davonschritt, strich sie sich mit den Fingern die kurz geschnittenen schwarzen Locken zurück und wandte sich dem Polizisten zu. Er starrte sie an, als hätte sie gerade etwas auf Farsi gesagt.
»Diese Markierungen.« Sie klopfte mit dem Gehstock auf den Boden, wo geschwungene weiße Schriftzeichen in einem Kreis um den Diwan verliefen. »Das ist ein Ausblutungszauber.« Als sie Aasims verwirrte Miene sah, griff sie sich an die Hüfte, zog ihren Jambia hervor und ließ die Spitze des kleinen Krummdolchs unter eine der Schuppen am Oberschenkel des Dschinns gleiten: Sie kam sauber wieder heraus. »Kein Blut. Nicht ein Tropfen. Man hat ihm alles abgezapft.«
Der Kommissar blinzelte. »Aber wo ist es hin, das … Blut?«
Fatma fuhr mit dem Finger über den trockenen Rand der zweischneidigen Klinge. Das war eine gute Frage. Sie schob das Messer zurück in die versilberte Scheide, die an ihrem breiten Ledergürtel befestigt war. Den Jambia hatte sie von einem Azd-Würdenträger bekommen, der zu Besuch gewesen war – als Geschenk, weil sie einen besonders garstigen Nasnas vertrieben hatte, der seinem Klan Sorgen bereitet hatte. Es war einer ihrer ersten Einsätze beim Ministerium gewesen. Der halbblinde alte Mann hatte sie »hübsch für einen jungen Mann« genannt und »so mutig, es mit einem Halb-Dschinn aufzunehmen«. Sie hatte ihn nicht berichtigt. Und die Waffe behalten.
»Denken Sie, es waren vielleicht …« Er verzog das Gesicht, verbarg den gut frisierten Schnurrbart hinter den Händen und flüsterte dann: »… Ghule?« Der Mann verabscheute es, über die Untoten zu sprechen. Doch das ging wohl allen so, mutmaßte Fatma. Die Zahl der Ghul-Angriffe in der Stadt war gestiegen; letzte Woche waren drei separate Vorfälle gemeldet worden. Das Ministerium hegte die Vermutung, dass es sich um eine radikale Zelle anarchistischer Nekromanten handeln könnte, wenngleich bisher niemand irgendwelche Anhaltspunkte dafür gefunden hatte.
Sie hockte sich hin, um sich die Markierungen am Boden anzusehen. »Unwahrscheinlich. Ghule hätten sich nicht allein mit seinem Blut begnügt.« Aasim schnitt eine Grimasse. »Und sie praktizieren keine Magie. Das hier ist die Schrift der alten Marid. Dschinn-Zauberei.« Sie runzelte die Stirn und deutete mit ihrem Stock auf einige der Zeichen. »Die hingegen sind mir fremd.«
Es handelte sich um vier Glyphen, die in gleichmäßigem Abstand zwischen den anderen Symbolen im Kreis angeordnet waren. Die erste sah wie ein Paar gebogener Hörner aus. Die zweite zeigte eine Sichel. Die dritte glich einer seltsamen Axt mit einer hakenförmigen Klinge. Die vierte war größer als die anderen, ein Halbkreis wie ein Mond, eingehüllt in gewundene Ranken.
Aasim beugte sich vor, um sie sich anzusehen. »Die hab ich noch nie gesehen. Das Siegel irgendeines Zauberers?«
»Vielleicht.« Sie fuhr mit dem Finger über eine der Glyphen, als ließe sich so eine Antwort finden.
Dann erhob sie sich und trat zurück, um zu dem Dschinn aufzublicken – einem Riesen, in dessen beträchtlichem Schatten sie beide zwergenhaft wirkten. Die Augen in dem gesenkten Kopf standen offen; sie waren von intensivem Gold und brannten auf sie herab wie glutflüssige Zwillingssonnen. Sein Gesicht wirkte beinahe menschlich, wenn man über die spitzen Ohren und die kobaltblauen Widderhörner hinwegsah, die sich an seinem Kopf krümmten. Sie wandte sich wieder zu Aasim um. »Wann haben Sie die Leiche gefunden?«
»Kurz nach Mitternacht. Eine seiner regelmäßigen Besucherinnen ist darüber gestolpert. Hat die Nachbarn ganz schön in Sorge versetzt.« Er grinste. »Sie hat nämlich nicht die üblichen Schreie ausgestoßen, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Fatma bedachte ihn mit einem ausdruckslosen Blick.
»Jedenfalls«, fuhr er fort, »ist sie eine dralle kleine Slumratte, die nach Azbakeya kommt, um zu arbeiten. Griechin, glaub ich. Ich konnte kaum mehr als ein paar Wörter mit ihr wechseln, bevor ihr Pezevenk-Anwalt ankam.« Er gab ein angewidertes Geräusch von sich. »Zur Zeit meines Großvaters hat der alte Khedive Huren noch verhaften und nach Süden schicken lassen. Jetzt heuern sie türkische Zuhälter an, die einem ihre Paragrafen um die Ohren knallen.«
»Es ist 1912 – ein neues Jahrhundert«, erinnerte Fatma ihn. »Khediven haben in Ägypten nicht länger das Sagen. Die Ottomanen sind fort. Jetzt haben wir einen König, eine Verfassung. Jeder hat Rechte, ungeachtet seines Berufs.« Aasim knurrte, als wäre das für sich genommen schon ein Problem.
»Nun, sie wirkte jedenfalls mitgenommen. Vielleicht weil ihr das da nicht länger zur Verfügung steht.« Erneut wies er auf die entblößten Genitalien des Dschinns. »Oder weil sie durch dieses Unglück vielleicht Kunden verliert.«
Das konnte Fatma verstehen. Azbakeya gehörte zu den nobleren Stadtteilen. Hier Kundschaft zu haben bedeutete gutes Geld. Verdammt gutes Geld. »Hat sie irgendjemanden gesehen? Einen vorigen Besucher vielleicht?«
Aasim schüttelte den Kopf. »Niemanden, sagt sie.« Nachdenklich kratzte er sich die schüttere Stelle oben auf seinem Kopf. »Es gibt allerdings eine albanische Bande, die neuerdings in den wohlhabenderen Vierteln zuschlägt. Die Mitglieder fesseln ihre Opfer, ehe sie sich mit den Wertsachen davonmachen. Dschinn-Blut verkauft sich wahrscheinlich gut auf dem Zaubererschwarzmarkt.«
Jetzt war Fatma an der Reihe, den Kopf zu schütteln, beeindruckt von der massigen Gestalt des Dschinns, ganz zu schweigen von den Klauen. »Eine Bande gewöhnlicher Verbrecher würde eine tödliche Überraschung erleben, wenn sie bei einem Marid-Dschinn hereinplatzen würde. Wissen wir, wer das hier ist?«
Aasim winkte einen seiner Männer heran, einen schmächtigen Kerl mit Falkengesicht, der Fatma missbilligend beäugte. Sie hielt seinem Blick stand, während sie ihm eine Handvoll Ausweispapiere abnahm, dann wandte sie sich ab. Auf dem obersten Dokument prangte das körnige Schwarz-Weiß-Foto eines vertrauten Gesichts: das des toten Dschinns. Unter dem Bild befand sich ein Siegel, das einen weißen Halbmond und einen Speer auf einer rot-schwarz-grünen Trikolore zeigte. Die Flagge der Mahdistischen Revolutionären Volksrepublik.
»Ein Sudanese?«, fragte sie überrascht und blickte von dem Pass auf.
»Scheint so. Wir haben ein Telegramm nach Khartum geschickt, obwohl das vermutlich kaum was bringen wird. Gibt wahrscheinlich mehr als hundert Dschinn, die Sennar heißen.«
Wahrscheinlich, stimmte Fatma stumm zu. Sennar bezeichnete wahlweise eine Stadt, ein Gebirge oder ein altes Sultanat im Südsudan. Dschinn verrieten nie ihre wahren Namen und verwendeten stattdessen Orte: Städte, Hügel, Berge, Flüsse. Es schien keine Rolle zu spielen, wie viele von ihnen einen Namen teilten. Irgendwie gelang es ihnen, sich auseinanderzuhalten. Fatma prüfte die Unterschrift; kurz darauf zuckte ihr Blick zurück zum Boden. Mit gerunzelter Stirn beugte sie sich vor und beäugte die Schriftzeichen ein weiteres Mal.
Aasim sah ihr neugierig zu. »Was ist denn?«
»Die Handschrift.« Sie zeigte auf die Symbole am Boden. »Es ist dieselbe.«
»Was? Sind Sie sicher?«
Fatma nickte. Sie war davon überzeugt. Der eine Text mochte Altmaridisch sein und der andere Arabisch, aber die Ähnlichkeit des Schreibstils war unverkennbar. Das hier war das Werk des Dschinns. Er hatte den Ausblutungszauber gewirkt – auf sich selbst.
»Ein Selbstmord?«, fragte Aasim.
»Ein verdammt schmerzhafter«, murmelte sie. Allerdings ergab das keinen Sinn. Unsterbliche brachten sich nicht einfach um. Zumindest konnte sie sich an keinen dokumentierten Fall erinnern.
Auf der Suche nach irgendetwas, das ein wenig Licht ins Dunkel bringen könnte, ließ sie den Blick durch das Apartment schweifen. Es war übertrieben prachtvoll eingerichtet, wie die meisten Häuser in Azbakeya, mit importierten Pariser Möbeln, einem türkischen Lüster und anderen Prunkstücken. Der Dschinn hatte dem Ganzen jedoch seine eigene Note verliehen, indem er seine Räumlichkeiten mit Schwertern in gravierten Scheiden, runden Schilden aus gespannter Nilpferdhaut und ausladenden Seidenteppichen dekoriert hatte – Sammlerstücke eines Wesens, das schon mehrere Lebzeiten überdauert hatte. Fatmas Blick blieb an einem Wandgemälde haften, so groß, dass es den Gutteil einer Wand einnahm. Es war eine kunstvoll gezeichnete Szenerie in leuchtenden Farben; der Stil ließ vermuten, dass es sich um Mogul-Malerei handeln könnte. Darauf waren Riesen mit stoßzahnbewehrten Mäulern und den Leibern grimmiger Bestien abgebildet. Feuer tanzte über ihre Haut, und Flammenschwingen sprossen aus ihrem Rücken.
Aasim folgte ihrem Blick und fragte: »Sind das auch Dschinn?«
Fatma ging zu dem Wandbild und blieb direkt davor stehen.
»Ifrit«, antwortete sie.
»Oh«, sagte Aasim. »Ich bin froh, dass wir uns mit keinem von denen befassen müssen.«
Das ging ihr ganz genauso. Ifrit waren eine launische und leicht reizbare Klasse von Dschinn, lebten im Allgemeinen jedoch nicht unter Sterblichen. Auch die meisten ihrer unsterblichen Verwandten hielten sich von ihnen fern. Es war eigenartig, eine Darstellung von ihnen in der Kunstsammlung eines Marid vorzufinden. Auf dem Wandgemälde knieten die Ifrit vor einem enormen schwarzen See, die Arme ausgestreckt. Darunter prangten zwei Wörter in Dschinn-Schrift: »Der Anbruch.«
Und was soll das nun heißen?, fragte sich Fatma. Sie strich mit der Hand über die kryptischen Wörter und hoffte ein weiteres Mal, die bloße Berührung werde ihr Einsicht verschaffen. Gedankenverloren löste sie den Blick von dem Gemälde und ließ ihn wieder durch den Raum wandern, bis er auf ein Buch fiel, das auf einem achteckigen hölzernen Beistelltisch lag.
Der wuchtige Wälzer hatte einen Einband aus hellbraunem Leder mit wiederkehrendem Reliefmuster und goldenem Aufdruck – ein Stil, der in der Antike bei den Mamluken üblich gewesen war. Darauf stand: Kitāb al-Kīmyā. Das Werk kannte sie: Es war ein Text über Alchemie aus dem neunten Jahrhundert. An der Universität hatte sie eine Kopie davon gelesen; hier schien es sich aber um eine Originalausgabe zu handeln. Sie schlug das Buch an der Stelle auf, wo jemand ein Lesezeichen hinterlassen hatte – und erstarrte. Sie war mit der Seite vertraut: In diesem Absatz ging es um die Suche nach Takwin, einer alchemistischen Methode, um Leben zu erschaffen. Dies war jedoch nicht das, was sie in seinen Bann geschlagen hatte.
Sie betrachtete den Gegenstand genauer, den sie irrtümlicherweise für ein Lesezeichen gehalten hatte: Er war lang und metallisch, silbern mit Spuren von hellem Mandaringelb. Sie nahm ihn in die Hand und hielt ihn hoch – er funkelte im Licht der Gaslampen.
Aasim fluchte, und seine Stimme klang heiser. »Ist es das, wofür ich es halte?«
Fatma nickte. Es handelte sich um eine metallische Feder, so lang wie ihr Unterarm. Über die Oberfläche erstreckten sich blasse Zeilen feuriger Schrift, die sich bewegten und wanden, als wären sie lebendig.
»Heilige Zunge«, hauchte Aasim.
»Heilige Zunge«, bestätigte sie.
»Aber das heißt doch, die gehört …«
»Einem Engel«, beendete Fatma seinen Satz.
Die Furchen in ihrer Stirn vertieften sich. Warum in all den vielen Welten hat ein Dschinn eine von denen in seinem Besitz?
Fatma lehnte sich in ihrem rot gepolsterten Sitz zurück, während die automatisierte Kutsche die schmalen Straßen entlangfuhr. Der Großteil Kairos schlief, nur der Schimmer eines von Gaslampen beleuchteten Nachtmarkts zeugte noch von Leben, und das Aufblitzen von Lichtern hoch oben an Ankermasten, an denen im Stundentakt Luftschiffe ankamen und abflogen. Fatma spielte am Löwenkopfknauf ihres Spazierstocks herum und sah zu, wie die Luftbahnen über der Stadt vorbeifuhren; entlang der Gleise erhellte knisternde Elektrizität die Nacht. Die Kutsche passierte einen einsamen Mann auf seinem klapprigen Eselkarren. Er ließ das Tier in gemächlichem Tempo dahintrotten, als wollte er der Modernität trotzen, die ihn umgab.
»Verdammt, schon wieder ein Ghul-Angriff!«, rief Aasim. Er saß ihr gegenüber und las gerade mehrere Telegramme durch. »Das ist seltsam. Niemand wurde umgebracht – die Ghule haben die Leute mitgenommen! Haben sie sich einfach geschnappt und sind sofort weggerannt.«
Fatma blickte auf. Das war seltsam. Ghule fielen über die Lebenden her, um sie zu fressen. Gewöhnlich fand man ihre Opfer halb verschlungen vor. Menschen zu entführen zählte nicht zu ihren Gewohnheiten.
»Hat man sie gefunden?«
»Nein. Das ist erst kurz vor Mitternacht passiert.« Er verzog das Gesicht. »Sie glauben doch nicht, dass sie sich die Opfer … aufheben, um sie später zu fressen, oder?«
Fatma wollte nicht darüber nachdenken. »Ich bin sicher, das Ministerium hat schon ein paar Leute darauf angesetzt.«
Der Kommissar seufzte, steckte die Zettel weg und lehnte sich zurück. »Die ganze Stadt geht vor die Hunde«, murrte er. »Dschinn. Ghule. Hexer. Zur Zeit meines Großvaters mussten wir uns um so was nie Sorgen machen. Dank sei al-Dschahiz.«
Die letzten Worte klangen spöttisch. Die Wendung war geläufiger Kairoer Slang; man sprach sie aus, wenn man Lob oder Ärger ausdrücken oder eine sarkastische Bemerkung machen wollte – in Erinnerung an al-Dschahiz, den berühmten sudanesischen Mystiker und Erfinder. Manche setzten ihn mit dem mittelalterlichen Denker aus Basra gleich, wiedergeboren oder durch die Zeit gereist. Sufis hielten ihn für den Herold des Mahdi, Kopten für den Vorboten der Apokalypse. Ob er nun ein Genie, ein Heiliger oder ein Wahnsinniger gewesen war, niemand konnte leugnen, dass er die Welt in ihren Grundfesten erschüttert hatte.
Al-Dschahiz war derjenige gewesen, der mittels Mystik und Maschinen ein Loch in den Qaf gebohrt hatte, das Andersreich der Dschinn. Was ihn dazu getrieben hatte – Neugier, Schalk oder Bosheit –, blieb ein Rätsel. Später war er verschwunden und hatte seine wundersamen Maschinen mitgenommen. Manche sagten, selbst jetzt noch bereise er die vielen Welten und säe Chaos, wohin er auch gehe.
Seither waren etwas mehr als vierzig Jahre vergangen. Fatma war in die Welt hineingeboren worden, die al-Dschahiz zurückgelassen hatte, eine Realität, die durch das Magische und Übernatürliche vollkommen verwandelt worden war. Insbesondere die Dschinn fanden Gefallen an der Ära und brachten mit ihrem Faible fürs Bauen mehr Wunder hervor, als sich zählen ließen. Ägypten saß nun als eine der Großmächte mit am Tisch und Kairo war ihr schlagendes Herz.
»Wie sehen Sie das eigentlich?«, fragte Aasim. »Ziehen Sie die Stadt dem Sandloch vor, das die Saidi Heimat nennen?«
Fatma warf ihm einen scharfen Blick zu, was ihn jedoch lediglich zum Grinsen brachte. »Als ich auf dem Frauencollege in Luxor war, habe ich davon geträumt, nach Kairo zu kommen. In die Cafés gehen, die Bibliotheken besuchen, Leute von überallher sehen …«
»Und jetzt?«
»Jetzt bin ich genauso zynisch wie jeder andere Kairoer.«
Aasim lachte. »Das macht die Stadt mit einem.« Er hielt einen Moment inne, dann beugte er sich näher, ein Funkeln im Auge und ein Zucken in seinem lächerlichen Schnurrbart. Als Nächstes würde er etwas Gewagtes fragen – oder etwas Dummes.
»Eines wollte ich schon immer wissen: Warum diese Anzüge?« Er deutete auf ihre Kleidung. »Die Engländer mussten draußen bleiben, dank der Dschinn. Wir haben sie zu ihrer kalten, trostlosen kleinen Insel zurückgejagt. Warum laufen Sie wie einer von denen rum?«
Fatma schnippte sich gegen die Krempe ihres schwarzen Bowlers und schlug ein Bein über das andere, um ihre karamellfarbenen Lederschuhe zur Geltung zu bringen. »Sind Sie neidisch, weil ich mich schicker anziehen kann als Sie?«
Aasim schnaubte und zog am Saum seiner zu engen Uniform, die bereits sommernächtliche Schweißflecken aufwies. »Ich habe eine Tochter. Sie ist einundzwanzig, nur drei Jahre jünger als Sie, und immer noch nicht verheiratet. Der Gedanke, dass sie unverschleiert in diesen Straßen herumspazieren könnte wie eine Fabrikfrau aus der Unterschicht … Die Männer hier draußen haben allesamt schmutzige Gedanken!«
Fatma starrte ihn an. Er unterstellte anderen Männern schmutzige Gedanken?
»Hätte ich meine Tochter nach einer der Töchter des Propheten benannt, Friede sei mit ihm, dann würde ich wollen, dass sie den Namen ehrt.«
»Gut, dass ich nicht Ihre Tochter bin«, bemerkte sie trocken. Dann griff sie in ihre Brusttasche und zog eine goldene Taschenuhr hervor, die wie ein antikes Astrolabium geformt war. »Mein Vater ist Uhrmacher. Die hier hat er mir gegeben, als ich von zu Hause fortgegangen bin. Er sagte, Kairo sei so hektisch, da würde ich sie gut gebrauchen können. Als er noch jünger war, war er mal hier. Er hat immer endlos von den mechanischen Wundern der Dschinn erzählt. Als ich die Zugangsprüfung beim Ministerium abgelegt hab, war er der stolzeste Mann in unserem Dorf. Jetzt gibt er vor jedem, der ihm zuhört, mit seiner Tochter Fatma an, die in jener Stadt lebt, von der er noch immer träumt. Seiner Meinung nach erweist er dem Propheten, Friede sei mit ihm, auf diese Weise Ehre.«
Aasim schürzte die Lippen. »Na schön. Ich werde es Ihrem Vater überlassen, den guten Namen Ihrer Familie zu wahren. Sie haben mir aber immer noch nichts über die Anzüge erzählt.«
Fatma klappte die Uhr zu, steckte sie ein und lehnte sich zurück. »Als ich in Luxor zur Schule ging, hab ich ständig diese Fotos von Engländern und Franzosen gesehen, die Ägypten besucht haben – bevor die Dschinn kamen. Meistens trugen sie Anzüge. Aber manchmal haben sie auch Gallabijas und traditionelle Kopfbedeckungen angelegt. Ich erfuhr, dass sie es ›wie die Einheimischen‹ machen wollten. Um exotisch auszusehen, haben sie gesagt.«
»Und haben sie das?«, unterbrach Aasim sie.
»Haben sie was?«
»Exotisch ausgesehen.«
»Nein. Bloß albern.«
Aasim lachte gehässig.
»Als ich dann meinen ersten Anzug gekauft hab, hat der englische Schneider mich gefragt, warum ich so etwas haben wolle. Und ich hab gesagt: ›Um exotisch auszusehen.‹«
Einen Moment lang gaffte Aasim sie nur an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Fatma lächelte. Die Story zog jedes Mal.
Die Kutsche fuhr auf die Brücke, die nach al-Gezira führte. Zwei stählerne Löwen bewachten die Zufahrt. Solche Dekorationen gehörten zu den Vorlieben der Wohlhabenden in diesem florierenden Inseldistrikt. Die Kutsche fuhr durch breite Straßen mit stattlichen Apartmenthäusern und Villen und hielt schließlich vor einem hohen u-förmigen Gebäude aus geschliffenem weißen Stein, das von weitläufigen Gärten umgeben war. Es handelte sich um den einstmaligen Sommerpalast eines alten Khediven. Inzwischen hatte sich hier ein anderer Bewohner häuslich eingerichtet.
Aasim blickte nervös an dem imposanten Bauwerk auf. »Und Sie sind sicher, dass wir hier so spät noch aufkreuzen können?«
Fatma stieg aus der Kutsche und gesellte sich zu ihm. »Deren Art schläft nicht.« Sie nickte in Richtung zweier glänzender Silhouetten, die auf sie zutrabten. Sie sahen aus wie Schakale, bestanden allerdings aus schwarzem und goldenem Metall und hatten Schwingen, die zusammengefaltet auf ihrem Rücken lagen. Auf schlanken Beinen kamen die mechanischen Bestien näher, um die Neuankömmlinge in Augenschein zu nehmen, und bei jeder Bewegung rotierten ihre Zahnräder. Dann, offenbar zufrieden, drehten sie sich um, wie um anzuzeigen, dass man ihnen folgen solle.
Sie durchquerten einen großen, gepflegten Garten, stiegen eine Treppe hinauf und traten durch ein hohes Tor. Im Sommerpalast des alten Khediven fühlte man sich ins vorige Jahrhundert zurückversetzt; hier herrschte eine Mischung arabischer, türkischer und neoklassizistischer Stile vor, unter einem Dach vereint. Der Boden bestand aus antikem Marmor, der zu einem Schachbrettmuster aus braunen und weißen Fliesen angeordnet war, und rechteckige Säulen trugen eine goldene Decke mit geometrischen Ornamenten. Die ehemalige Inneneinrichtung war komplett durch Konstruktionen aus Stein, Holz und Eisen ersetzt worden. Erfindungen, erkannte Fatma, aus allen Zeitaltern. Sie ging um die vollständige Replik eines alten Noria-Wasserrades herum und warf einen Blick auf die detaillierte Skizze einer Luftschraube, die den Großteil einer Wand einnahm. Ihr war, als ginge sie durch ein Museum.
Sie gelangten an eine weitere Flügeltür, die sich vor ihren mechanischen Begleitern öffnete und den Blick auf einen Saal mit einer Glaskuppel freigab, der in Licht getaucht war. Die Luft war erfüllt von einem sonderbaren Gemisch aus eindrucksvollen gregorianischen Gesängen, trällernden Naschids und Harmonien, die Fatma nicht heraushören konnte; das alles kam von einem hoch aufragenden Baum aus brüniertem Stahl. Unter seinem ausladenden Kronendach befanden sich zwei bronzene Automaten, die einem Mann und einer Frau nachempfunden waren. Bunte Räderwerkvögel saßen auf den breiten Ästen, inmitten metallisch grüner Blätter, die sich wie in einer Brise bewegten. Aus ihren geöffneten Schnäbeln drang Musik, zeitlich abgestimmt auf Lichter, die herumwirbelten, als bewegten sich Tausende von Glühwürmchen im gleichen Rhythmus.
Unter dem Baum stand eine hochgewachsene Gestalt und begutachtete einen merkwürdigen Aufbau aus einander überlappenden Zahnrädern, manche klobig, andere klein und zart wie Münzen. Jedes einzelne war mit Präzision geschnitten, sodass die Zähne nahtlos ineinandergriffen. In die Oberflächen waren metallische Schriftzeichen graviert; ein paar erkannte Fata als Ziffern. Als sie näherkamen, löste sich die große Gestalt aus ihrer Betrachtung und wandte sich um.
Mühsam verkniff sich Fatma ein Keuchen, was Aasim hingegen nicht gelang. Es war immer wieder merkwürdig, in der Gegenwart eines Engels zu sein – oder zumindest eines der Wesen, die sich als solche ausgaben.
Sie waren nach den Dschinn aufgetaucht, jäh und ohne Vorwarnung. Es wurde ausgiebig über ihre Identität diskutiert. Die koptische Kirche kam zu dem Schluss, sie könnten keine Engel sein, da alles Göttliche bei Gott im Himmel weile. Die Ulama vertraten die ganz ähnliche Ansicht, wahre Engel hätten keinen freien Willen und könnten somit nicht aus eigenem Antrieb hergekommen sein. Beide blieben bei der Benennung vorsichtig und gestanden lediglich ein, dass es sich um »außerweltliche Wesen« handle. Die selbst ernannten Engel schwiegen zu der Angelegenheit, bestätigten also keinerlei Ansichten jedweder Glaubensrichtung und blieben rätselhaft im Hinblick auf ihre Beweggründe.
Anders als bei den Dschinn waren ihre Körper beinahe immateriell, wie fleischgewordenes Licht, und benötigten Gehäuse, die sie bargen. Dieser Engel ragte mindestens dreieinhalb Meter hoch auf, sein Leib eine komplexe Konstruktion aus Eisen, Stahl und Zahnrädern, die Muskeln und Knochen nachbildete. Vier mechanische Arme wuchsen aus seinen bronzen gepanzerten Schultern, während gleißende Platinschwingen mit einem Stich von Karmesin und Gold flach auf seinem Rücken lagen. Es war ein Wunderwerk der Technik, das für niemand Geringeren als einen Unsterblichen angemessen schien.
»Willkommen in meinem Zuhause, Kinder«, sprach der Engel, seine Stimme ein melodisches Grollen. Sein Gesicht war hinter einer durchscheinenden Alabastermaske verborgen, deren Lippen zu einem dauerhaften schwachen Grinsen erstarrt waren – wahrscheinlich war es dazu gedacht, andere zu beruhigen. Strahlendes Licht ergoss sich aus den ovalen Augenschlitzen, als verbärge sich hinter der Maske ein Stern. »Mögt ihr voller Frieden sein und Seine Herrlichkeit kennen. Ihr seid gekommen, um Schöpfer zu treffen. Nun offenbart euch und eure Wünsche, dann wird Schöpfer euch helfen, so gut er kann.«
Wie auch die Dschinn gaben die Engel ihre Namen nicht preis. Stattdessen nahmen sie Titel an, die ihren Aufgaben entsprachen. Schöpfer hatte mittlerweile das Monopol für die Herstellung der mechanischen Leiber seiner Kameraden inne, eine Arbeit, die wohl nicht in Dschinn-Hände gehörte.
Fatma trat vor. »Friede sei mit Ihnen, Schöpfer. Ich bin Agentin el-Sha’arawi vom Ministerium für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen und das hier ist Kommissar Sharif von der Kairoer Polizei. Wir stören Sie nur ungern bei der Arbeit.« Sie hielt inne und ließ den Blick über den hochragenden Mechanismus schweifen, mit dem der Engel beschäftigt gewesen war. »Ist das … so etwas wie eine Uhr?«
Schöpfer neigte den Kopf zur Seite, dann nickte er. »Es ist ein Instrument der Zeit, ja. Du bist scharfsichtig.« In seiner Stimme schwang Überraschung mit.
»Ich bin von Uhren umgeben aufgewachsen«, erklärte Fatma. »Die hier sieht allerdings so aus, als könnte sie mehr als bloß die Ortszeit messen.«