7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Ein uraltes Mysterium. Die Spur führt in den Dschungel. Und Jahrhunderte zurück. Im Urwald von Mexiko erschießt FBI-Agent Reilly einen für die Drogenmafia arbeitenden Forscher. Jahre später erreicht ihn ein Anruf: Seine Ex-Freundin wurde ermordet, ihr Sohn hat überlebt. Und Reilly erfährt jetzt erst, dass er der Vater ist. Der kleine Alex zeigt allerdings eine unerklärliche Scheu vor ihm. Bald ahnt Reilly, dass die Drogenmafia hinter dem Mord steckt. Offenbar geht es um ein sehr altes Geheimnis aus dem Dschungel. Und die Narcos haben es auf das Kind abgesehen. Nur warum? Es stellt sich heraus, dass Alex in Therapie war. Bei einem Neurobiologen mit äußerst seltsamen Forschungsgebieten. Der Mann ist spurlos verschwunden. Ein neuer Thriller mit FBI-Agent Reilly und Archäologin Tess Chaykin — die Fortsetzung von «Scriptum» und «Dogma». «Khoury schreibt große, schnelle Thriller in der Art von Dan Brown, die mehr auf Action und Tempo setzen als auf Charakterzeichnung und Figurenpsychologie. Stilistisch ist er allerdings Brown voraus: Aus seiner kraftvollen Prosa spricht Überzeugung.» (Guardian) «Khourys Roman ist randvoll mit Nonstop-Thrill und genügend Tod, Verderben und Spannung, um jeden Leser zu packen.» (Bookreporter) «Eine Handlung voller Leben und Energie sorgt dafür, dass Khourys Buch an keiner Stelle hinkt oder langweilt. Man könnte einen prachtvollen Film draus machen — bis dahin genießen wir das Buch.» (Kirkus Reviews) «Packend und temporeich — ein perfekter Start ins Thrillerjahr.» (Booklist) «Derzeit versuchen die Verlage wieder, Autoren auf den Dan-Brown-Zug zu schmuggeln. Wie erholsam, dass Raymond Khoury gerade abgesprungen ist von diesem Zug, der ihm Erfolg gebracht hat und ihn gleichzeitig als Thrillerautor von Weltniveau etabliert hat. Es war höchste Zeit, dass Khoury den Mystik-Plunder hinter sich gelassen hat, um in die Riege von Connelly, Child & Co aufzusteigen — das ist ihm mit Bravour gelungen.» (Telegraph)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 540
Raymond Khoury
Memoria
Thriller
Aus dem Englischen von Anja Schünemann
Rowohlt Digitalbuch
Für meine liebende Mutter, weil ich weiß, dass es ihr jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht zaubern wird.
Es besteht eine unterschwellige Angst, dass manche Dinge nicht bekannt werden sollten, dass manche Nachforschungen für die Menschen zu gefährlich sind.
Carl Sagan
Entweder er begeht einen gewaltigen Fehler, oder er wird als der Galilei des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen.
Dr. Harold Lief über die Arbeit von Dr. Ian Stevenson im «Journal of Nervous and Mental Disease»
Durango, Vizekönigreich Neuspanien(heutiges Mexiko)1741
Grauen befiel Álvaro de Padilla, als seine Visionen sich auflösten und seine müden Augen allmählich wieder klar zu sehen begannen.
Der Jesuitenpater fragte sich, in was für eine Welt er jetzt eintrat. Die Ungewissheit machte ihm Angst, war zugleich jedoch auf seltsame Weise berauschend. Er hörte seinen eigenen stoßweisen Atem, fühlte den Puls seines wild hämmernden Herzens in den Schläfen und versuchte sich zu beruhigen. Allmählich nahm seine Umgebung wieder Gestalt an. Als seine Finger das Stroh der Matte erspürten, auf der er lag, wusste er, dass er von seiner Reise zurückgekehrt war.
Seine Wangen fühlten sich eigenartig an, und als er sie mit den Fingern berührte, erkannte er, dass sie tränenüberströmt waren. Dann wurde ihm bewusst, dass auch sein Rücken nass war, als habe er nicht auf einem trockenen Bett, sondern in einer Pfütze gelegen. Er fragte sich, woher das kam, überlegte, ob der Rücken seiner Soutane schweißdurchtränkt war, doch gleich darauf bemerkte er, dass auch seine Beine nass waren, und er begann zu zweifeln, ob das Schweiß war.
Was er gerade erlebt hatte, war ihm unbegreiflich.
Er versuchte sich aufzusetzen, aber alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen. Er hatte den Kopf kaum von der Matte gehoben, als dieser bleischwer wurde und wieder auf das Strohbett zurückfiel.
«Bleibt liegen», sagte Eusebio de Salvatierra. «Euer Geist und Körper brauchen Zeit, sich zu erholen.»
Álvaro schloss die Augen, aber der Schock, der ihn noch immer durchströmte, ließ sich nicht verdrängen.
Er hätte es nicht geglaubt, wenn er es nicht selbst erlebt hätte. Doch das hatte er soeben, und es war verstörend, erschreckend und … verblüffend. Ein Teil von ihm wagte kaum darüber nachzudenken, während ein anderer Teil verzweifelt danach drängte, es noch einmal zu erleben, jetzt, sofort. Noch einmal in das Unmögliche eintauchen. Aber der schroffe, disziplinierte Teil von ihm trat das Flämmchen dieser kranken Vorstellung rasch aus und brachte ihn wieder auf den Pfad der Tugend zurück, dem er sein Leben geweiht hatte.
Er sah Eusebio an. Sein Mitbruder lächelte ihm zu, sein Gesicht ein Inbild der Gelassenheit.
«Ich komme in einer oder zwei Stunden zurück, wenn Ihr wieder ein wenig zu Kräften gekommen seid.» Der Priester nickte ihm ermutigend zu. «Für das erste Mal habt Ihr Euch gut gehalten, mein alter Freund. Wirklich sehr gut.»
Álvaro fühlte, wie die Angst wieder von ihm Besitz ergriff. «Was habt Ihr mit mir gemacht?»
Eusebio musterte ihn mit einem beseelten Blick, dann legte er die Strin in nachdenkliche Falten. «Ich fürchte, ich habe eine Tür geöffnet, die Ihr vielleicht nie wieder werdet schließen können.»
Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit sie gemeinsam hierher nach Nueva España – Neuspanien – gekommen waren, ordinierte Priester der Gesellschaft Jesu, ausgesandt von ihren Ältesten in Kastilien, um die mittlerweile langjährige Tradition fortzusetzen, in noch nicht erschlossenen Gebieten Missionen aufzubauen. Ihre Aufgabe war es, die armen Seelen der Eingeborenen aus der Dunkelheit ihres Götzenkultes und ihrer heidnischen Verderbtheit zu erretten.
Es war eine Herausforderung, aber sie waren nicht die Ersten. In der Nachfolge der conquistadores waren seit mehr als zweihundert Jahren franziskanische, dominikanische und jesuitische Missionare in die Neue Welt aufgebrochen, und nach zahlreichen Kriegen und Aufständen waren viele Eingeborenenstämme von den Kolonisatoren unterworfen und in die Kultur der Spanier und der Mischlinge, mestizos, eingegliedert worden. Gleichwohl gab es noch viel Arbeit zu tun und viele Stämme zu bekehren.
Mit der Hilfe von bereits Bekehrten errichteten Álvaro und Eusebio ihre Mission in einem üppigen, bewaldeten Tal tief in den Falten der Sierra Madre Occidental, im Kerngebiet des Stammes der Wixáritari. Mit der Zeit wuchs die Mission. Mehr und mehr kleine Gemeinschaften, die isoliert überall in den wilden Bergen und Schluchten lebten, schlossen sich ihrer congregación an. Die Priester bauten eine enge Bindung zu diesen Menschen auf, und gemeinsam hatten Álvaro und Eusebio Tausende Eingeborener getauft. Anders als die Franziskaner, die von den Indianern erwarteten, europäische Lebensweisen und Wertvorstellungen zu übernehmen, folgten die zwei Priester der jesuitischen Tradition, den Indianern viel von ihrer früheren Kultur zu lassen. Sie lehrten die Menschen den Gebrauch von Pflug und Axt und machten sie mit Bewässerungssystemen, neuen Feldfrüchten und Viehhaltung vertraut. All das trug entscheidend zur Verbesserung der Lebensbedingungen bei und brachte den Priestern die Achtung und Dankbarkeit der Eingeborenen ein.
Hinzu kam, dass Eusebio, anders als der strenge Álvaro, ein warmherziger, leutseliger Mann war. Die Eingeborenen nannten ihn seiner bloßen Füße und der schlichten Kleidung wegen Motoliana, «armer Mann», und gegen Álvaros Rat hatte er den Namen angenommen. Er lebte die Leitsätze vor, die er predigte. Seine Bescheidenheit, sein vorbildlicher Lebenswandel und seine wohldurchdachten Äußerungen machten großen Eindruck auf die Eingeborenen. Bald stand er sogar in dem Ruf, Wunder zu tun.
Es begann während einer Dürre, die die bevorstehende Ernte der Eingeborenen zu vernichten drohte. Eusebio riet ihnen, in einer Prozession zur Missionskirche zu ziehen, mit Gebeten und ausgiebigen Geißelungen. Bald regnete es in Strömen, und die Ernte fiel sogar besonders reichlich aus. Das Wunder wiederholte sich ein paar Jahre später, als die Region unter zu starken Regenfällen litt. Auch dieses Unheil wurde durch ähnliche Maßnahmen abgewendet, und Eusebios Ansehen wuchs. All das führte dazu, dass sich ihm allmählich Türen öffneten.
Türen, die vielleicht besser verschlossen geblieben wären.
Als die anfangs zurückhaltenden Eingeborenen sich ihm nach und nach öffneten, fühlte Eusebio sich immer mehr in ihre Welt hineingezogen. Was als Bekehrungsmission begonnen hatte, wurde zu einer aufgeschlossenen Entdeckungsreise für ihn selbst. Er fing an, Ausflüge tief in die Wälder und Schluchten der unwirtlichen Berge zu unternehmen, er wagte sich in Gegenden, in die noch nie ein Europäer vorgedrungen war, und begegnete Stämmen, die Fremde normalerweise mit einer Pfeil- oder Speerspitze empfingen.
Von seiner letzten Reise kehrte er nie zurück.
Fast ein Jahr nach seinem Verschwinden brach Álvaro, der das Schlimmste befürchtete, mit einer kleinen Gruppe Eingeborener auf, nach seinem verschollenen Freund zu suchen.
So kam es, dass sie nun hier an einem kleinen Feuer vor dem strohgedeckten xirixi des Stammes, dem Gotteshaus der Ahnen, saßen und über das Unmögliche sprachen.
«Mir scheint, Ihr seid für diese Leute eine Art Hohepriester geworden, oder täusche ich mich?»
Álvaro war erschüttert über seine Erfahrung. Auch wenn das Essen seinem Körper wieder etwas Kraft zurückgegeben und das Feuer ihn gewärmt und seine Soutane getrocknet hatte, war er nach wie vor höchst aufgebracht.
«Sie haben mir mehr gezeigt, als ich ihnen jemals zeigen könnte», erwiderte Eusebio.
Álvaros Augen weiteten sich vor Schreck. «Aber – mein Gott, Ihr übernehmt ihre Sitten, ihre gotteslästerlichen Ideen.» Er schien geradezu verängstigt. Dann beugte er sich vor und zog die Augenbrauen zusammen. «Hört mir zu, Eusebio. Ihr müsst diesem Wahnsinn ein Ende machen. Sofort. Ihr müsst diesen Ort verlassen und mit mir zur Mission zurückkehren.»
Eusebio sah seinen Freund an, und Mutlosigkeit befiel ihn. Ja, es war schön, seinen alten Gefährten wiederzusehen, und es freute ihn, Álvaro an seiner Entdeckung teilhaben zu lassen. Doch er begann sich zu fragen, ob er nicht einen gewaltigen Fehler begangen hatte.
«Es tut mir leid, aber das kann ich nicht», sagte Eusebio ruhig. «Noch nicht.»
Er konnte seinem Freund nicht erklären, dass er noch eine Menge von diesen Leuten zu lernen hatte. Dinge, die er nicht im Traum für möglich gehalten hätte. Er war überrascht gewesen, als er entdeckte – langsam, Schritt für Schritt und seinen tief verwurzelten Überzeugungen zum Trotz –, welch starke Verbindung die Eingeborenen zu ihrem Land hatten, zu den Lebewesen, mit denen sie es teilten, und zu den Kräften, die von ihm auszugehen schienen. Er hatte mit ihnen über die Erschaffung der Welt gesprochen, über das Paradies und den Sündenfall. Er hatte ihnen von der Fleischwerdung und der Sühne erzählt. Sie hatten im Gegenzug ihre Einsichten mit ihm geteilt. Und was er hörte, rüttelte ihn auf. Für seine Gastgeber standen die Welt der Sterblichen und die mystischen Sphären in Wechselbeziehung miteinander. Was ihm normal erschien, hielten sie für übernatürlich. Und was sie ganz selbstverständlich als normal – als die Wahrheit – betrachteten, kam ihm vor wie magische Vorstellungen.
Zu Anfang.
Jetzt wusste er es besser.
Diese Wilden, das hatte er erkannt, waren edle Menschen.
«Ihre medicina zu nehmen, ihre heiligen Tränke», sagte er zu Álvaro, «hat mir neue Welten eröffnet. Was Ihr eben erlebt habt, ist erst der Anfang. Ihr könnt nicht erwarten, dass ich einer solchen Offenbarung den Rücken kehre.»
«Ihr müsst», beharrte Álvaro. «Ihr müsst mit mir zurückkehren. Jetzt, ehe es zu spät ist. Und wir dürfen nie wieder über das hier sprechen.»
Eusebio fuhr überrascht zurück. «Nicht darüber sprechen? Denkt nach, Álvaro. Gerade über das hier müssen wir sprechen. Wir müssen es studieren und begreifen und beherrschen lernen, damit wir dieses Wissen mitnehmen und nach unserer Rückkehr mit unserem eigenen Volk teilen können.»
Auf Álvaros Gesicht zeichnete sich Entsetzen ab. «Es mit unserem Volk teilen?» Er spie die Worte aus wie Gift. «Ihr wollt anderen von dieser, dieser … dieser Blasphemie erzählen?»
«Diese Blasphemie ist eine Erleuchtung. Eine höhere Wahrheit, die sie erfahren müssen.»
Álvaro war jetzt außer sich vor Zorn. «Eusebio, ich warne Euch», zischte er. «Der Teufel hat mit seinem Elixier seine Klauen tief in Euch geschlagen. Ihr droht in Verdammnis zu fallen, mein Bruder. Ich kann das nicht tatenlos mitansehen, bei Euch nicht und auch sonst bei keinem Glaubensbruder. Ihr müsst errettet werden.»
«Ich habe die Pforten des Himmels bereits durchschritten, mein alter Freund», entgegnete Eusebio ruhig. «Und die Aussicht von hier ist atemberaubend.»
Es dauerte fünf Monate, bis Álvaro eine Nachricht an den Erzbischof und den Prälat-Vizekönig in Mexiko-Stadt geschickt, ihre Antworten erhalten und seine Männer zusammengerufen hatte, und so war es Winter, als er an der Spitze einer kleinen Armee erneut in die Berge aufbrach.
Um seinen Freund aufzuhalten.
Um seinen frevlerischen Ideen ein Ende zu machen, koste es, was es wolle.
Um dem Teufel mit seinen heimtückischen Versuchungen das Handwerk zu legen und seinen Freund vor der ewigen Verdammnis zu bewahren.
Bewaffnet mit Bogen, Pfeilen und Musketen, erklomm die vereinigte Streitmacht aus Spaniern und Indianern die ersten Ausläufer der Sierra. Die steilen, unwegsamen Pfade waren von dichtem, verfilztem Gestrüpp bedeckt. Winterregen hatte die Wege, die gewunden an den zerklüfteten Bergen hinaufführten, zu tiefen, steinigen Kanälen ausgewaschen, und herabhängende Äste erschwerten das Vorankommen zusätzlich. Man hatte sie gewarnt, es gebe in dieser Gegend Berglöwen, Jaguare und Bären, aber die einzigen Lebewesen, denen sie begegneten, waren gierige zopilote-Geier, die über ihren Köpfen kreisten und auf ein blutiges Festmahl lauerten, und Skorpione, die sie bis in ihren unruhigen Schlaf verfolgten.
Je höher sie aufstiegen, umso kälter wurde es. Den Spaniern setzte die Kälte schwer zu, sie waren ein viel wärmeres Klima gewohnt. Tagsüber kämpften sie sich über nasse, felsige Hänge voran, nachts kauerten sie um ihre Lagerfeuer, bis sie sich endlich, Meile um beschwerliche Meile, dem dichten Wald um die Siedlung näherten, in der Álvaro Eusebio zuletzt gesehen hatte.
Zu ihrem Erstaunen fanden sie die Pfade, die sich durch den Wald schlängelten, von gewaltigen Baumstämmen versperrt, die offenbar von den Eingeborenen gefällt worden waren. Der Befehlshaber der Truppe, der einen Hinterhalt befürchtete, wies seine Männer an, das Tempo zu verlangsamen, was ihr Leiden noch verlängerte. Die Nerven aufs äußerste angespannt, krochen sie zwischen den dichten Trauerkiefern durch einen düsteren Wald. Nach drei quälenden, zermürbenden Wochen erreichten sie endlich die Siedlung.
Es war niemand dort.
Die Eingeborenen und Eusebio waren verschwunden.
Álvaro gab nicht auf. Er trieb seine Männer weiter, und die eingeborenen Fährtenleser verfolgten die Spur des Stammes durch die Gebirgsfalten der Sierra, bis sie am vierten Tag an eine tiefe barranca kamen. Über die Schlucht, an deren Grund ein Fluss toste, war eine Hängebrücke gespannt gewesen.
Die Seile der Brücke waren durchtrennt.
Es führte kein Weg hinüber.
Überwältigt von Zorn und Verzweiflung starrte Álvaro auf die Seile, die über die Felskante hingen.
Er sah seinen Freund nie wieder.
MexikoVor fünf Jahren
«Drücken Sie verdammt noch mal ab und sehen Sie zu, dass Sie hier rauskommen», blaffte Munro in mein Headset. «Wir müssen verschwinden, SOFORT!»
Was du nicht sagst.
Ich sah mich hastig nach allen Seiten um. Von überall auf dem Gelände ertönten Dreiersalven und lange anhaltendes Rattern von Maschinengewehren. Dann drangen ein paar dumpfe Einschläge und ein gequältes Stöhnen aus dem Sprechfunk, und ich wusste, dass es wieder einen aus unserem Acht-Mann-Team erwischt hatte.
Mein Körper erstarrte, während in meinem Inneren widerstreitende Impulse miteinander rangen. Ich richtete den Blick wieder auf den Mann, der neben mir kauerte. Sein Gesicht war schweißüberströmt und schmerzverzerrt, in seinem Oberschenkel klaffte eine blutende Wunde. Seine Lippen zitterten, seine Augen waren vor Angst geweitet, als wisse er, was bevorstand. Ich schloss die Hand fester um das Griffstück meiner Pistole. Mein Finger tippte unentschlossen an den Abzug, als sei er glühend heiß.
Munro hatte recht.
Wir mussten uns zurückziehen, ehe es zu spät war. Aber –
Wieder schlugen Geschosse in die Wände um mich herum ein.
«Das ist nicht Ziel unserer Mission», sagte ich tonlos in das Mikrophon, den Blick starr auf meine verwundete Beute gerichtet. «Ich muss versuchen –»
«Was versuchen?», versetzte Munro. «Ihn rauszutragen? Sind Sie vielleicht Superman?» Ein anhaltendes Rattern drang aus dem Headset und hämmerte wie ein Pressluftbohrer auf mein Trommelfell ein. Dann wieder Munros eindringliche Stimme. «Knallen Sie den Hurensohn endlich ab, Reilly. Tun Sie es. Sie haben gehört, was er getan hat. ‹Im Vergleich dazu wird Meth so langweilig wie Aspirin erscheinen›, erinnern Sie sich? Und Sie haben Skrupel, diesen Dreckskerl aus dem Weg zu schaffen? Wollen Sie ihn lieber laufen lassen, ist das Ihr Beitrag zur Verbesserung der Welt? Wohl kaum. Das wollen weder Sie noch ich auf dem Gewissen haben. Wir sind hergekommen, um eine Aufgabe zu erfüllen. Wir haben unsere Befehle. Wir befinden uns im Krieg, und er ist der Feind. Also vergessen Sie Ihre blödsinnige Moral, knallen Sie den Mistkerl ab und machen Sie, dass Sie wegkommen. Ich warte nicht länger.»
Seine Worte hallten noch in meinem Schädel wider, als die nächste Salve die Rückwand des Labors aufriss. In einem Hagel von Holzsplittern und Glasscherben warf ich mich zu Boden und suchte hinter einem der Laborschränke Deckung. Mein Blick huschte zu dem Wissenschaftler hinüber. Keine Frage, Munro hatte recht. Es gab keine Möglichkeit, ihn mitzunehmen. Nicht mit dieser Verletzung. Nicht, wenn wir vor einer kleinen Armee kokainwütiger banditos fliehen mussten.
Verdammt, so hatte es nicht laufen sollen.
Es sollte ein schneller, klinischer Eingriff werden, ausgeführt von mir, Munro und den übrigen sechs kampferprobten Jungs unseres OCDETF-Kommandos. OCDETF stand für Organized Crime Drug Enforcement Task Force, die Einsatztruppe zur Bekämpfung organisierter Drogenkriminalität, ein Regierungsprogramm, in dem die Kräfte von elf Behörden vereinigt wurden, darunter meine, das FBI, und Munros DEA, die Drogenbehörde. Wir sollten im Schutz der Dunkelheit unbemerkt auf das Gelände vordringen, McKinnon finden und rausholen. Das heißt ihn und seine Forschungsergebnisse. So weit, so gut, jedenfalls was das unbemerkte Vordringen aufs Gelände betraf. Der Einsatz war allerdings nach McKinnons unerwartetem Anruf in aller Hast geplant worden. Viel Zeit zur Vorbereitung war uns nicht geblieben, und die Informationen, die wir über das abgelegene Drogenlabor beschaffen konnten, waren vage, aber ich rechnete uns dennoch ganz gute Chancen aus. Immerhin waren wir entsprechend ausgerüstet – Maschinenpistolen mit Schalldämpfern, Nachtsichtbrillen, schusssichere Westen. Über uns kreiste eine Überwachungsdrohne. Außerdem hatten wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Und wir hatten in unseren nunmehr vier Monaten in Mexiko bereits mehrmals ziemlich erfolgreiche Überraschungsangriffe auf andere Labors durchgeführt.
Schnell rein und schnell wieder raus, glatt und sauber.
Was das «Rein» betraf, lief auch alles wie am Schnürchen. Aber dann kam uns McKinnons Last-Minute-Überraschung in die Quere, Munro drehte durch, der Wissenschaftler bekam einen Schuss in den Oberschenkel, und damit war das «Raus» gründlich vermasselt.
Ich hörte jetzt hektische Rufe auf Spanisch. Die banditos kamen näher.
Ich musste handeln. Wenn ich noch länger zögerte, würde ich ihnen in die Hände fallen, und ich gab mich keiner Illusion darüber hin, was mir dann blühte. Sie würden mich foltern bis zum Äußersten. Teils um Informationen zu bekommen, teils zum Vergnügen. Dann würden sie die Kettensäge holen und mir schließlich zum Fototermin meinen Kopf in den Schoß legen. Und das Schlimmste war, mein Heldentod wäre sinnlos. McKinnons Arbeit würde weiterleben. Und allem Anschein nach zu einem düsteren Ruhm gedeihen.
Wieder ertönte knisternd Munros Stimme und hallte in meinem Schädel wider. «Von mir aus, vermasseln Sie’s. Geht auf Ihre Kappe, Mann. Ich bin draußen.»
In diesem Moment gab es in meinem Kopf einen Kurzschluss.
Es war, als ob eine urzeitliche Entschlossenheit jeglichen Widerstand in meinem Inneren umging und alles, was mich als Menschen ausmachte, einfach ausschaltete. Wie in einer außerkörperlichen Erfahrung sah ich zu, wie meine Hand sich roboterhaft hob, genau zwischen McKinnons schreckgeweitete Augen zielte und abdrückte.
Der Kopf des Wissenschaftlers wurde mit einem Ruck zurückgerissen, eine dunkle Masse spritzte an den Schrank hinter ihm, dann kippte der leblose Körper einfach zur Seite.
Ich brauchte nicht nach dem Puls zu tasten.
Ich wusste, der Schuss war tödlich.
Mein Blick hing noch für eine lange Sekunde an dem Toten, dann sagte ich heiser ins Mikro: «Ich komme jetzt raus.» Ich atmete tief durch, riss die Zünder aus zwei Brandgranaten und warf sie nach den pistoleros, die Jagd auf mich machten. Dann sprang ich auf, feuerte eine Salve hinter mich und rannte zum Ausgang. An der Tür blieb ich kurz stehen und warf einen letzten Blick zurück, ehe ich hinausstürmte. Im selben Moment ging der Raum hinter mir in Flammen auf.
Los Angeles, KalifornienVor sechs Monaten
In seinem Eckbüro in der zwanzigsten Etage des Edward R. Roybal Federal Building starrte Hank Corliss auf seinen Monitor und brütete über den letzten Hintergrundinformationen, die er zutage gefördert hatte. Dann lehnte er sich zurück, drehte sich auf seinem Stuhl zum Fenster und betrachtete stirnrunzelnd seine zitternden Finger.
Er ist es.
Wieder.
Corliss ballte die Fäuse, fest, atmete ein paarmal langsam und tief durch und versuchte, die Wut, die in ihm tobte, zu zügeln.
Ich muss etwas unternehmen.
Ich muss dieser Sache ein Ende machen.
Ich muss dafür sorgen, dass er bezahlt.
Seine Knöchel waren weiß.
Corliss, Special Agent in Charge der DEA-Dienststelle in LA und Leiter der OCDETF, wandte sich um und blickte auf den Plasmabildschirm gegenüber von seinem Schreibtisch. Vier Tage zuvor waren die Nachrichten noch voll von Berichten über die jüngste Gräueltat gewesen, doch jetzt waren die endlosen Wiederholungsschleifen, mit denen Kabelsender anscheinend irgendwie Profit machten, noch geistloseren und weniger relevanten gelegentlichen Meldungen gewichen.
Er seufzte erschöpft und veränderte seine Sitzhaltung, wobei ein vertrauter Schmerz durch sein Rückgrat fuhr. Er schloss die Augen, um den Schmerz zu verdrängen, und grübelte über das nach, was er eben gelesen hatte.
Der Überfall hatte sich weiter oben an der Küste ereignet, im Schultes Ethnomedicine Institute. Das Institut, dreißig Meilen nordwestlich von Santa Barbara direkt am Meer gelegen, war ein hochmodernes Forschungszentrum, in dem nach neuen Heilmitteln für unterschiedlichste Krankheiten gesucht wurde – oder genauer, nach alten Heilmitteln, die in der modernen Welt bisher nicht bekannt waren. Die Forscher dort – Mediziner, Pharmakologen, Botaniker, Mikrobiologen, Neurobiologen, Linguisten, Anthropologen, Ozeanographen und andere – bereisten die ganze Welt. Sogenannte Bioprospektoren machten Eingeborenenstämme ausfindig, die bisher von der Außenwelt abgeschnitten waren, lebten eine Zeitlang mit ihnen und versuchten, die Gunst der Medizinmänner zu gewinnen. Sie hofften, von ihnen etwas über alte Behandlungsmethoden und Heilmittel zu erfahren, die über viele Generationen hinweg überliefert waren. In dem Forschungszentrum gab es eine Anzahl Ärzte und Geisteswissenschaftler von Weltrang, die nicht nur herausragende Wissenschaftler, sondern auch große Abenteurer waren und sich vor Urwaldexpeditionen nicht scheuten – lauter Indiana Joneses des wirklichen Lebens, deren Überlebenskünste sich auszahlten, wenn es darum ging, tief in die Regenwälder des Amazonasbeckens vorzudringen oder in dünner Bergluft zu Dörfern hoch in den Anden hinaufzuklettern.
An jenem schicksalhaften Montag hatten ihre Überlebenskünste ihnen nicht viel genutzt.
Gegen zehn Uhr morgens waren zwei Geländewagen am Eingangstor des Instituts vorgefahren. Der dortige Wachmann war erschossen worden. Die Geländewagen waren ungehindert auf das Areal gefahren und hatten vor einem der Hauptlabors gehalten. Ein halbes Dutzend bewaffnete Männer waren ohne Hast in das Gebäude marschiert, hatten mit Maschinengewehren alles kurz und klein geschossen, zwei Forscher in ihre Gewalt gebracht und sie entführt. Durch puren Zufall waren sie beim Herauskommen auf einen weiteren Wachmann gestoßen. In der Schießerei, die daraufhin ausbrach, waren der Wachmann und ein Gast des Instituts, der in das Kreuzfeuer geriet, getötet worden. Drei weitere Außenstehende waren verletzt worden, einer von ihnen schwer.
Die Entführer und ihre Opfer waren verschwunden. Bisher waren keine Lösegeldforderungen eingegangen.
Corliss rechnete auch nicht damit.
Die Ermittler am Tatort hatten bereits früh gemutmaßt, dass hinter den Entführungen und dem Blutvergießen Drogendealer steckten. Corliss war derselben Überzeugung. Wenn Wissenschaftler wie die beiden entführten Männer in einem Kugelhagel aus ihren Labors verschleppt wurden, steckten dahinter nicht Pharmakonzerne wie Pfizer oder Bristol-Myers. Erst recht nicht, wenn diese Wissenschaftler über Fähigkeiten verfügten, die im wilden Grenzland des Geschäfts mit illegalen Drogen hoch geschätzt waren.
Einem Grenzland, das sich von Tag zu Tag veränderte, und nicht zum Guten.
Ursprünglich war es hauptsächlich darum gegangen, Leute mit der nötigen technischen Expertise zu bekommen, die bei der massenhaften Herstellung beliebter synthetischer Drogen helfen konnten, Chemiker, die beispielsweise Methamphetamin aus seinen Vorläufersubstanzen Ephedrin oder Pseudoephedrin synthetisieren konnten, ohne sich dabei selbst in die Luft zu sprengen. Als strengere Regulierungen den Verkauf der chemischen Grundstoffe erschwerten – sehr zum Unmut der Lobbyisten der Pharmaindustrie –, mussten Alternativen gefunden werden. Corliss erinnerte sich, wie er vor ein paar Jahren an der Festnahme eines amerikanischen Chemikers in Guadalajara beteiligt gewesen war, damals, als er, Corliss, die DEA-Niederlassung in Mexiko-Stadt leitete. Der Mann, ein verbitterter arbeitsloser Chemielehrer, arbeitete für die Kartelle und hatte sich ein kleines Vermögen verdient, indem er herausfand, wie man aus legalen, frei verkäuflichen Grundstoffen die Vorläufersubstanzen von Meth herstellte. Die Sonderzulagen – Bargeld, Frauen, Alkohol und, ja, Drogen – waren ein zusätzlicher Bonus und nicht zu vergleichen mit dem Alltag an seiner örtlichen Highschool, wo er Schülerarbeiten korrigieren und sich vor Springmessern in Acht nehmen musste.
Abgesehen von der eigentlichen Entwicklung und Herstellung der Drogen waren Wissenschaftler auch von unschätzbarem Wert, wenn es darum ging, die Substanzen auf phantasievolle Weise über die Grenzen zu schmuggeln. Einer von Corliss’ Einsatztrupps hatte kürzlich eine Lieferung Instant-Kartoffelpüree aus Bolivien abgefangen. Die Wissenschaftler der Behörde hatten Wochen gebraucht, um herauszufinden, dass darin zwei Tonnen Kokain chemisch gebunden waren. Einen Monat später hatte eine Lieferung Sojaöl ihnen eine ähnliche Überraschung beschert.
Chemikalien hatten mysteriöse, verborgene Eigenschaften. Wenn man sie entdeckte und einfallsreich nutzte, konnte das für die Kartelle die Welt verändern – und Milliardenprofite einbringen.
Daher der Bedarf an Experten, die über die nötigen technischen Kenntnisse verfügten, um so etwas zu bewerkstelligen.
Und daher die Entführungen.
Bisher hatten die Ermittler kaum Anhaltspunkte. Es gab keine Verdächtigen, und aus den Zeugenaussagen und den Aufzeichnungen der Überwachungskameras ging nicht viel mehr hervor, als dass die Täter weiß und kräftig gebaut waren, denn die Männer hatten Skimasken und Mützen getragen. Ein Zeuge war allerdings weitergegangen und hatte sie als «Motorradgang-Typen» bezeichnet. Das war für sich genommen kein großer Durchbruch hier in Südkalifornien, wo Motorradgangs zahlreich waren und im Drogenhandel eine große Rolle spielten – mit ihnen hatte der Meth-Boom erst richtig angefangen –, aber es war in anderer Hinsicht bedeutsam.
Die Spielregeln hatten sich verändert.
Etwa im Lauf des letzten Jahrzehnts hatten die mexikanischen Kartelle den Drogenhandel in den gesamten Vereinigten Staaten an sich gerissen und neue Standards extremer Gewalt eingeführt. Mit ihrer bisherigen Rolle als wichtigster Marihuanalieferant der Nation gaben sie sich nicht mehr zufrieden. Nachdem die kolumbianischen Dealer in ihren Aktivitäten in der Karibik und bis ins südliche Florida durch US-Regierungsprogramme stark beschnitten wurden – mehrere aufeinanderfolgende Regierungen hatten ihren sogenannten War on Drugs gezielt gegen die kolumbianischen Kartelle gerichtet –, füllten die Mexikaner die entstandene Lücke aus. Die mexikanischen Kartelle wuchsen in der Folge explosionsartig. Zuerst übernahmen sie den Kokainhandel von den angeschlagenen Kolumbianern, dann weiteten sie ihre Machenschaften aus. Von einfachen Kurieren entwickelten sie sich zu Drahtziehern, die die ganze Versorgungskette kontrollierten. Und sie beließen es nicht dabei, einfach nur Kokain und Heroin in die Vereinigten Staaten zu schmuggeln. Sie planten weiter und beschäftigten sich mit den Drogen der Zukunft – solchen, die man überall herstellen und unkompliziert konsumieren konnte. Die mexikanischen Kartelle waren es, die das wahre Potenzial von Methamphetamin erkannten und die aus der primitiven Biker-Droge, deren Konsum auf die Täler Nordkaliforniens beschränkt war, das größte und verbreitetste Drogenproblem machten, vor dem Amerika gegenwärtig stand. Wenig später folgten andere synthetische Drogen, Pillen, die man bequem schlucken konnte und für die man keine umständlichen Gerätschaften brauchte.
Jetzt bestimmten die mexikanischen Kartelle das Geschäft von Washington bis Maine und waren für achtzig Prozent der illegalen Drogenimporte verantwortlich. Ihre Handlanger vor Ort waren Biker, Häftlingsgangs und Straßengangs. Nach der jüngsten Statistik hatte die DEA die Machenschaften der Kartelle bis in mehr als zweihundertfünfzig Städte überall im Land verfolgt. Ihre Reichweite war unbegrenzt, ihr Streben nach Macht und Profit unersättlich, ihre Dreistigkeit maßlos. Es schien sie nicht zu schrecken, dass sie sich praktisch im Krieg mit der US-Regierung befanden – einem offiziell nicht erklärten Krieg, der das Leben der amerikanischen Bürger weitaus stärker betraf als die Kriege, die im Wüstensand Tausende Meilen östlich der USA ausgefochten wurden.
Einem Krieg, der bei Corliss tiefe Narben hinterlassen hatte.
Narben, die er niemals vergessen würde.
Erinnerungen an jene Nacht der Gewalt in Mexiko wie der Schmerz, der jetzt in seinem Rückgrat pulsierte, bösartig, heimtückisch. Er regte sich immer dann, wenn Corliss es am wenigsten brauchen konnte.
Die Annahme, dass ein mexikanisches Kartell hinter der gewaltsamen Entführung der Wissenschaftler steckte, wurde auch durch die Tatsache gestützt, dass die DEA und andere Strafverfolgungsbehörden im eigenen Land beträchtliche Fortschritte erzielt hatten. Hunderte von Meth-Labors überall in den Vereinigten Staaten waren ausgehoben worden, sodass sich die Produktion über die Grenze nach Süden verlagert hatte. Dort, weit außerhalb der Reichweite der mexikanischen Behörden, hatten die Drogenkartelle Superlabors eingerichtet, in denen Leute wie die verschwundenen Wissenschaftler gebraucht wurden. Außerdem war es nicht der erste Vorfall dieser Art. Bereits früher waren Forscher verschwunden. In vier verschiedenen Fällen waren Chemiker, die im Auftrag pharmazeutischer Unternehmen in Mittel- und Südamerika Vor-Ort-Studien betrieben, gekidnappt worden. In keinem dieser Fälle wurden Lösegeldforderungen gestellt, und die Männer waren nie wieder aufgetaucht. Dann eskalierte das Ganze. Es folgten zwei weitere Vorfälle, diesmal auf Corliss’ Seite der Grenze. Vor etwas mehr als einem Jahr war in El Paso ein Universitätsprofessor für Chemie entführt worden, und ein paar Monate später wurde ein weiterer zusammen mit seinem Laborassistenten in einem frühmorgendlichen Überfall bei Phoenix gekidnappt.
Und jetzt das. Mitten in Corliss’ Zuständigkeitsbereich.
Ein gewaltsamer Überfall mit tödlicher Schießerei auf einem idyllischen Küstenabschnitt am Pazifik.
Eine Schießerei, für die Corliss sich nicht nur als Leiter der hiesigen DEA-Niederlassung interessierte. Er wusste, dass nicht einfach irgendein Drogenboss dahintersteckte.
Sobald er von dem Überfall erfuhr, war ihm der Verdacht gekommen, dass es Navarro war. Anders als seine Kollegen bei der DEA hatte Corliss nie an die Geschichte geglaubt, dass Navarro bei internen Auseinandersetzungen innerhalb des Kartells umgebracht worden war. Er wusste, das Monster war noch am Leben, und als er sich wie bereits bei den früheren Entführungen eingehender mit den Spezialgebieten der verschwundenen Wissenschaftler beschäftigte, fand er seinen Verdacht bestätigt. Es gab ein Muster. Durch all diese Fälle zog sich ein roter Faden, den bislang nur er erkannt hatte, und er hatte seine Erkenntnis für sich behalten.
Bis jetzt.
Raoul Navarro – El Brujo, wie er genannt wurde, das bedeutete der Schamane, der die Schwarzen Künste praktiziert, der Hexer – suchte noch immer danach. Dessen war Corliss sicher.
Das Brennen in seinem Rückgrat wurde stärker.
Er wird dreister, skrupelloser, radikaler, dachte er.
Das konnte zweierlei bedeuten. Entweder der Dreckskerl verzweifelte allmählich … oder er war seinem Ziel sehr nahe.
So oder so war es ein schlechtes Zeichen.
Oder vielleicht … eine Gelegenheit. Eine Gelegenheit für Vergeltung.
Die Vergeltung, nach der Corliss sich sehnte seit jener Nacht, als Raoul Navarro und seine Männer über ihn hereingebrochen waren.
Mit feuchten, zitternden Händen griff Corliss in seine Schreibtischschublade und nahm das harmlos aussehende Plastikfläschchen heraus. Mit einem verstohlenen Blick zur Tür vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war, dann schüttelte er ein paar Kapseln heraus und schluckte sie. Er brauchte nichts zum Hinunterspülen. Nicht mehr. Nicht nach all den Jahren, in denen er diese Kapseln nahm.
Natürlich hatte er keinen Beweis dafür, dass Navarro dahintersteckte. Und er hatte nicht die Absicht, seinen Verdacht zu äußern. Das alles hatte er schon seit Jahren durch, er wusste, was hinter seinem Rücken am Kaffeeautomaten geredet wurde. Er wusste, dass seine Kollegen und Vorgesetzten ihn nicht ernst nahmen. In ihren Augen war er einfach krankhaft besessen von dem Mann, der sein Leben zerstört, der ihm das Liebste auf der Welt geraubt hatte.
Es scherte ihn nicht, was sie dachten.
Er wusste, dass El Brujo noch immer dort draußen war. Und wie meist in seiner wachen Zeit und häufig im Schlaf entfesselte der bloße Gedanke daran einen Sturm in seiner Magengrube.
Er starrte wieder auf den stumm geschalteten Fernseher, und während seine blicklosen Augen eine weitere Wiederholungsschleife der immer gleichen Berichterstattung aufnahmen, dachte er an den Teil der Geschichte, der ihm am nächsten ging: den Schmerz und die Verheerung, die der bewaffnete Überfall hinterlassen haben musste. Die Witwen und Waisen. Die Lebenspartner, Eltern und Kinder, die wahrscheinlich nie erfahren würden, was aus den Verschwundenen geworden war. Die Unschuldigen, deren Leben nie wieder so sein würde wie früher.
Corliss griff zum Telefon und drückte eine Speichertaste. Sein bester Mann meldete sich sofort.
«Wo sind Sie?», fragte Corliss.
«Am Yachthafen», antwortete der andere. «Bin gerade im Begriff, mit einem Informanten zu sprechen.»
«Ich habe etwas zu den Wissenschaftlern recherchiert, die oben in dem Forschungszentrum entführt wurden.»
«Diese cabróns laufen aus dem Ruder.»
«Ich denke, wir haben es hier nicht einfach mit irgendeinem cabrón zu tun», präzisierte Corliss.
Der Mann schwieg eine Sekunde lang – die Bemerkung brachte ihn ganz offensichtlich aus der Fassung. Dann sagte er: «Sie denken, dass er dahintersteckt?»
«Ich bin davon überzeugt.» Vor Corliss’ innerem Auge entstand das Bild des mexikanischen Drogenbosses – und es löste einen Sturm schmerzlicher Erinnerungen aus, die er nicht so leicht wieder verdrängen konnte.
Seine Finger krampften sich um das Mobilteil des Telefons, bis das Kunststoffgehäuse unter dem Druck knirschte. «Wenn Sie fertig sind, kommen Sie her», sagte er schließlich. «Ich habe nachgedacht. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, ihn zu fassen.»
«Klingt gut», erwiderte Jesse Munro. «Ich bin in einer Stunde bei Ihnen.»
San Diego, KalifornienGegenwart
Um kurz nach neun Uhr an einem ruhigen, sonnigen Samstagmorgen klingelte es an der Tür.
Michelle Martinez räumte gerade in ihrer Küche die Spülmaschine aus, die viel voller geladen war, als es möglich schien. Dabei sang sie das mitreißende Outro von «Under the Bridge» von den Red Hot Chili Peppers mit, das aus dem Radio plärrte. Sie hob den Kopf, wischte sich mit dem Unterarm die kastanienbraunen Strähnen aus dem Gesicht und rief ins Wohnzimmer hinüber.
«Tom? Kannst du aufmachen, cariño?»
«Schon unterwegs, alteza», kam die Antwort aus dem vorderen Teil des Hauses.
Michelle grinste, sah sich kurz nach ihrem vierjährigen Sohn Alex um, der im Garten hinter dem Haus spielte, und machte sich wieder daran, den Besteckkorb auszuräumen. Im Hintergrund beklagte der Leadsänger der Chilis gerade die düsteren Tage, die er an Flipperautomaten in den Spielhöllen von L. A. vertan hatte. Sie liebte dieses Lied mit dem eingängigen Gitarrenintro und dem epischen Schlussrefrain, trotz der Gefühle, die der Text in ihr weckte. Für sie als ehemalige DEA-Agentin war es eine Welt von Schmerz und Verzweiflung, die sie nur zu gut kannte. Aber noch mehr liebte sie im Augenblick, dass Tom sie so nannte – alteza, Hoheit. Das war so ganz und gar nicht sie, das war so weit von der Wirklichkeit entfernt, und die schiere Absurdität reizte sie immer wieder.
Er sagte es meist, wenn sie ihn um etwas bat, was nicht sehr oft vorkam – dabei hielt sie sich selbst dazu an, es hin und wieder zu tun. Aber es gab einfach nicht viel, das Michelle Martinez nicht selbst tun konnte oder wollte. Sie war selbstgenügsam wie eine Soldatenfrau – ihre Mutter war eine gewesen, und wahrscheinlich hatte sich ihr diese Haltung eingeprägt in all den Jahren, in denen sie sie vor Augen gehabt hatte, während sie auf Militärbasen in Puerto Rico und New Jersey aufwuchs. Diese Selbstgenügsamkeit in Verbindung mit ihrem eisernen Willen und ihrem Abscheu gegen Heuchelei hatte sie in allerlei Schwierigkeiten gebracht – sie war von mehreren Schulen verwiesen worden, ehe sie am Ende selbst die Highschool abbrach –, aber dieselben Eigenschaften hatten ihr auch geholfen, ihren Weg zu finden, einen Schulabschluss zu machen und ihr unbezähmbares Temperament, ihre scharfe Zunge wie auch eine Reihe kleinerer Konflikte mit dem Gesetz in eine steile, allerdings abrupt beendete Karriere als Undercover-Agentin für die Drug Enforcement Administration umzusetzen.
Das Problem war, Jungs mochten es nicht, wenn sie das Gefühl hatten, nicht gebraucht zu werden. Wenigstens sagten ihre Freundinnen das immer. Anscheinend war es ein Überbleibsel aus der Zeit der Jäger und Sammler, und Michelle musste zugeben, dass ihre Freundinnen nicht ganz unrecht zu haben schienen. Tom gefiel es offenbar, wenn sie ihn hin und wieder um etwas bat, sei es etwas so Belangloses wie das Öffnen der Haustür oder etwas, nun, Intimeres. Und daraus war der Spitzname alteza entstanden, den sie mittlerweile so liebte und den diversen Macho-Namen, die sie als Agentin von ihren Kollegen bekommen hatte, bei weitem vorzog. Alteza hatte einen viel angenehmeren Klang und einen altmodischen, romantischen Beigeschmack. Jedes Mal, wenn Tom es zu ihr sagte, musste sie ein wenig schmunzeln.
Diesmal hielt das Schmunzeln nicht lange an.
Als der Refrain verstummte und die Schlussakkorde der Sologitarre ertönten, hörte sie etwas sehr viel weniger Angenehmes.
Es war nicht Toms Stimme. Es war etwas anderes.
Zwei scharfe, metallische Laute wie von einer Nagelpistole. Doch Michelle war klar, dass es keine Nagelpistole war. Sie hatte in ihrem Leben genug Schüsse aus schallgedämpften Handfeuerwaffen gehört, um zu wissen, wie eine echte Automatikpistole klang.
Die Sorte, mit der man Kugeln abfeuerte, die Menschen töteten.
Tom.
Sie schrie seinen Namen. Gleichzeitig trat sie in Aktion, getrieben von Instinkt und Training, fast ohne nachzudenken, als hätte die tödliche Bedrohung in ihr eine Art Reflex ausgelöst, der ihren Körper steuerte. Mit einem Blick fand sie inmitten all des Bestecks das große Küchenmesser, und im nächsten Moment hatte sie es fest in der Hand, umrundete die Arbeitstheke und stürzte zur Küchentür.
Sie erreichte sie im selben Moment, als eine Gestalt im Rahmen erschien, ein Mann in weißem Overall mit schwarzer Mütze und einer schwarzen Skimaske, die sein Gesicht von der Nase abwärts verbarg. In der Hand hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer. In dem Sekundenbruchteil, den sie ihm gegenüberstand, registrierte Michelle vage ein paar Merkmale – stämmig, unreine Haut, anscheinend Bürstenhaarschnitt, aber am auffallendsten waren die Augen. Sie blickten unbeirrbar, ganz auf die Sache konzentriert. Michelle nutzte das Überraschungsmoment – sie und der Eindringling wären um ein Haar zusammengeprallt – und stürzte sich auf ihn. Während sie mit der Linken die Hand mit der Pistole wegstieß, rammte sie mit der Rechten das Messer seitlich in den Hals des Mannes. Seine Augen weiteten sich im Schock. Die Klinge hatte ihm die Skimaske heruntergerissen, und sein dichter, schwarzer Fu-Manchu-Bart kam zum Vorschein. Im selben Moment quoll Blut aus seinem Mund. Er ließ die Pistole fallen und griff mit beiden Händen nach dem Messer, aber Michelle hatte es tief hineingestoßen, und es steckte fest. Offenbar hatte sie die Schlagader getroffen, denn das Blut sprudelte stoßweise aus der Wunde und spritzte an den Türrahmen links neben ihm.
Sie verlor keine Zeit damit zuzusehen. Erst recht nicht, da ihr Instinkt ihr laut zuschrie, dass der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach nicht allein war.
Sie landete einen Tritt in den Unterleib des Eindringlings, der gurgelnde Laute ausstieß und rücklings gegen die Wand im Flur prallte. Vor Michelle lag, verführerisch nahe, die Pistole, die er hatte fallen lassen. Sie bückte sich danach, als am anderen Ende des Flurs ein zweiter Mann erschien, maskiert und bewaffnet wie der erste. Der Mann fuhr erschrocken zurück, als er seinen blutüberströmten Kameraden sah, dann begegnete er Michelles Blick und zielte augenblicklich auf sie, die Pistole fest in beiden Händen. Michelle erstarrte, im Fadenkreuz gefangen, und sah dem Tod ins Auge, dort im Flur vor ihrer Küche – aber der Tod kam nicht. Der Schütze zögerte eine lange Sekunde, lang genug, dass sie die Waffe vom Boden aufheben, sich umdrehen und mehrere Schüsse auf ihn abfeuern konnte. Holz und Putz splitterten von den Wänden neben ihm, während er hastig in Deckung ging. Sie hörte ihn rufen: «Sie ist bewaffnet.»
Da waren also noch mehr.
Michelle wusste nicht, wie viele oder wo sie waren. Aber eines wusste sie: Alex war hinten im Garten. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden und ihn in Sicherheit zu bringen.
Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, allein auf dieses eine Ziel gerichtet. Schnell ging sie hinter der Küchenwand in Deckung und horchte über das Pochen in ihren Ohren hinweg auf Geräusche aus dem vorderen Teil des Hauses. Jetzt. Sie feuerte drei Schüsse in den Flur, um die Eindringlinge zu verunsichern, dann rannte sie durch die Küche und zur Terrassentür hinaus, rannte, von ihrem Überlebensinstinkt getrieben, so schnell ihre Beine sie trugen.
Alex saß auf dem Rasen und spielte wieder einmal mit seiner kleinen Armee aus Ben-10-Figuren eine epische Schlacht. Michelle steckte sich im Laufen die Pistole in den Hosenbund, riss in vollem Lauf den kleinen, kaum über einen Meter großen Jungen hoch und rannte weiter.
«Ben», protestierte der Junge, als ihm eine Spielzeugfigur aus der kleinen Hand fiel.
«Wir müssen weg, Schatz», erwiderte Michelle atemlos und drückte ihn an sich, einen Arm um seinen Rücken gelegt, eine Hand an seinem Hinterkopf.
Sie sprintete über den Rasen zur Garagentür. Als sie sie erreicht hatte, sah sie sich kurz um. Ihr Herz schlug so heftig, dass es ihr den Brustkorb zu sprengen schien. Sie sah einen der Männer aus der Terrassentür kommen, doch im selben Moment hatte sie schon die Garagentür aufgerissen, war hineingeschlüpft und schloss sie hastig von innen ab.
«Mommy, was ist los?»
Alex’ Mund bewegte sich, aber seine Worte drangen nicht in Michelles Bewusstsein. Sie sah sich nach allen Seiten um, einen einzigen Gedanken im Kopf: Flucht. «Wir machen einen Ausflug, okay?», sagte sie zu Alex. «Nur einen kleinen Ausflug.»
Sie riss die Tür ihres Jeeps auf, packte Alex hinein und warf sich auf den Fahrersitz. Der Wrangler stand mit dem Heck zum geschlossenen Kipptor der Garage.
«Da runter, Schatz», sagte sie zu Alex und schob ihn mit sanftem Nachdruck in den Fußraum vor dem Beifahrersitz. «Duck dich. Wir spielen Verstecken, okay?»
Er sah sie unsicher an, dann lächelte er zögernd.
«Okay.»
Sie rang sich ebenfalls ein Lächeln ab, während sie den Zündschlüssel drehte. Der Sechszylinder erwachte grollend zum Leben.
«Bleib unten, ja?», schärfte sie dem Jungen noch einmal ein, dann legte sie den Rückwärtsgang ein, trat das Gaspedal durch, blickte über die Schulter nach hinten und ließ die Kupplung mit einem Ruck kommen.
Der Jeep machte einen Satz rückwärts, brach durch das Garagentor und raste in einem Hagel von Gummifetzen und Blechteilen auf die Straße hinaus. Michelle bemerkte einen weißen Lieferwagen, der vor dem Haus geparkt war, und trat heftig auf die Bremse. Während der Jeep mit quietschenden Reifen zum Stehen kam, sah sie zwei Männer, ebenfalls in weißen Overalls, aus ihrer Haustür stürmen. Michelle legte mit einem Ruck den Vorwärtsgang ein und raste davon, den Rückspiegel nervös im Blick. Sie rechnete damit, dass der weiße Lieferwagen sie verfolgen würde, doch zu ihrem Erstaunen geschah das nicht. Der Wagen blieb, wo er war, sie sah ihn in der Ferne immer kleiner werden, bis sie rechts abbog und er aus ihrer Sicht verschwand.
Michelle schlängelte sich an langsameren Autos vorbei und bog links ab, dann rechts, an der nächsten Kreuzung wieder links. So entfernte sie sich im Zickzack von ihrem Haus, ohne den Rückspiegel aus den Augen zu lassen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken an Tom und die Frage, was aus ihm geworden war. Sie wusste nicht, was ihm geschehen war, wusste nicht einmal, ob er noch lebte, aber sie musste ihm schnellstens Hilfe schicken. Sie zog das Handy aus ihrer Gesäßtasche und wählte den Notruf.
Die Leitstelle meldete sich sofort. «Um was für einen Notfall handelt es sich?»
«Ich muss eine Schießerei melden. Ein paar Männer sind in unser Haus eingedrungen und –» Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Alex noch immer neben ihr im Fußraum hockte und sie fragend ansah. Sie verstummte.
«Ma’am, von wo rufen Sie an?»
«Wir brauchen Hilfe, okay? Schicken Sie ein paar Streifenwagen. Und einen Notarzt.» Sie nannte ihre Adresse, dann fügte sie hinzu: «Es ist dringend. Ich glaube, auf meinen Freund wurde geschossen.»
«Wie ist Ihr Name, Ma’am?»
Michelle überlegte, ob sie darauf antworten sollte. Dabei warf sie einen Blick zu Alex, der mit großen Augen zu ihr aufsah. Sie beschloss, dass im Augenblick keine weiteren Informationen notwendig waren.
«Schicken Sie einfach einen Rettungswagen hin. So schnell wie möglich, okay?»
Sie beendete das Gespräch.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Während sie an einem langsam fahrenden Auto vorbeiraste, warf sie erneut einen Blick in den Rückspiegel. Von dem Lieferwagen war noch immer nichts zu sehen. Nach etwa fünf Minuten ging ihr Atem allmählich ruhiger, und sie half Alex, auf den Beifahrersitz zu klettern, wo sie ihn anschnallte. Nach einer weiteren halben Stunde Fahrt entschied sie, dass sie sich vorerst weit genug von ihrem Haus entfernt hatten, und sie fuhr auf den Parkplatz eines großen Einkaufszentrums draußen bei Lemon Grove.
Eine Weile lang rührte sie sich nicht. Sie saß nur wie im Schock da, dachte an Tom – und begann zu weinen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, doch dann sah sie, wie Alex sie anstarrte, und sie riss sich zusammen und wischte sich die Tränen ab.
«Komm, Schatz. Setzen wir dich nach hinten in deinen Sitz.»
Sie stieg aus dem Wagen, half Alex in seinen Kindersitz auf der Rückbank und schnallte ihn an. Als sie wieder eingestiegen war, saß sie zitternd da und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und zu begreifen, was eben geschehen war.
Versuchte sich darüber klarzuwerden, was sie jetzt tun sollte. Wen sie anrufen könnte. Wie sie mit dem Irrsinn, der ihr gerade widerfahren war, umgehen sollte.
Sie hob den Blick und sah Alex im Rückspiegel. Er wirkte winzig, wie er so dasaß und sie mit großen Augen ansah, angsterfüllt, verletzlich, und als sie sein Gesicht betrachtete, tauchte aus der Benommenheit und Verwirrung ihrer Gedanken ein Name auf. Obwohl es jemand war, mit dem sie seit Jahren nicht gesprochen hatte, erschien es ihr jetzt richtig, sich an ihn zu wenden.
Sie scrollte durch das Adressbuch in ihrem Handy, fand seinen Namen, schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass seine Nummer sich nicht geändert hatte, und drückte die Wähltaste.
Reilly meldete sich beim dritten Klingeln.
Mamaroneck, New York
Ich packte gerade etwas Wäsche aus der Reinigung und eine von Bierdosen schwere Einkaufstasche auf den Beifahrersitz meines Wagens, als der Klingelton meines BlackBerry ertönte.
Es war ein typischer Julimorgen in dem kleinen Ort an der Küste, heiß und schwül, doch das machte mir nichts aus. Ich hatte gerade ein Wochenende in Manhattan verbracht – dank der wochenlangen gnadenlosen Hitzewelle ein einziger verschwitzter, sauerstoffarmer Hexenkessel –, da wegen des Unabhängigkeitstags am 4. Juli erhöhte Alarmbereitschaft herrschte, und mich mit der üblichen Hysterie und den vielen falschen Alarmmeldungen herumgeschlagen. Danach war die Aussicht auf ein ruhiges Wochenende am Meer einfach paradiesisch, und nicht einmal der Gedanke an die bevorstehende Supernova konnte meine Laune trüben. Als zusätzlichen Bonus hatte ich das Haus für mich, denn Tess und ihre vierzehnjährige Tochter Kim waren in Arizona, wo sie Tess’ Mutter und ihre Tante auf deren Ranch besuchten. Nicht dass mich jemand falsch versteht – ich liebe Tess mehr als alles auf der Welt und habe die beiden wahnsinnig gern um mich, und seit Tess und ich wieder zusammen sind, ist mir bewusst geworden, wie sehr ich es hasse – wirklich hasse –, allein zu schlafen. Aber jeder braucht hin und wieder ein paar Tage für sich, um Dinge zu verarbeiten und die Akkus wieder aufzuladen, was im Grunde darauf hinausläuft, herumzugammeln, ungesundes Zeug zu essen und so faul zu sein, wie man es sich nur traut, wenn es niemand sieht. Es versprach also ein wirklich angenehmes Wochenende zu werden, bis eben das BlackBerry klingelte.
Als ich den Namen im Display las, setzte mein Herz einen Schlag aus.
Michelle Martinez.
Wow.
Ich hatte seit … Wie lange war es jetzt her? … seit vier, vielleicht fünf Jahren nichts von ihr gehört. Seit ich das beendet hatte, was sich während meines unseligen Gastspiels unten in Mexiko zwischen uns entwickelt hatte. Seit Jahren hatte ich nicht einmal mehr an Michelle gedacht. Nicht lange nach meiner Rückkehr nach New York war die umwerfende Tess Chaykin – und ich benutze den Begriff nicht leichtfertig – in mein Leben geplatzt. Ich war ihr in dem Chaos nach dem berüchtigten Überfall der Reiter auf das Metropolitan Museum of Art begegnet, und schon bald drehte sich meine Welt ganz um sie. Mit ihrer innigen, geradezu süchtig machenden Lebenslust hatte sie mich in Bann geschlagen und jegliche Gedanken an frühere Liebschaften verdrängt.
Ich starrte eine lange Sekunde auf das Display und suchte nach möglichen Gründen für den Anruf. Als mir keine einfielen, drückte ich einfach die grüne Taste.
«Mish?»
«Wo bist du?»
«Ich bin –» Ich wollte etwas Scherzhaftes erwidern, irgendeinen lahmen Witz, dass ich gerade in den Hamptons an einem Pool einen Mojito schlürfte, aber ihr Tonfall erstickte jeden Gedanken an Scherze. «Alles okay bei dir?»
«Nein. Wo bist du?»
Ich fühlte, wie mein Nacken sich versteifte. Michelles Akzent war derselbe wie immer, ein Überbleibsel ihrer Herkunft aus der Dominikanischen Republik und Puerto Rico, überlagert dadurch, dass sie in New Jersey aufgewachsen war, aber in ihren Worten lag keine Spur von dem lockeren, verspielten Temperament, an das ich mich erinnerte.
«Ich bin gerade unterwegs», antwortete ich. «Ein paar Besorgungen machen. Was ist los?»
«Bist du in New York?»
«Ja. Mish, was ist los? Wo bist du?»
Ich hörte ein Seufzen, eigentlich eher ein verärgertes Grummeln, denn ich wusste genau, dass Michelle Martinez niemand war, die seufzte, dann meldete sie sich wieder.
«Ich bin in San Diego, und ich … ich stecke in Schwierigkeiten. Etwas Entsetzliches ist geschehen, Sean. Ein paar Männer sind bei mir zu Hause aufgetaucht und haben auf meinen Freund geschossen.» Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. «Ich konnte gerade noch entkommen und – Himmel, ich habe keine Ahnung, was los ist, aber mir ist einfach niemand anders eingefallen, den ich anrufen könnte. Es tut mir leid.»
Mein Puls schnellte in die Höhe. «Nein, nein, du hast das Richtige getan. Es ist gut, dass du angerufen hast. Ist mit dir alles in Ordnung? Bist du verletzt?»
«Nein, ich bin okay.» Sie atmete tief durch, als fiele es ihr schwer, sich zu beruhigen. So hatte ich sie noch nie erlebt. Sie war durch nichts zu erschüttern gewesen, besaß einen klaren Verstand und Nerven aus Stahl. Das hier war Neuland. Dann sagte sie: «Warte mal kurz», und ich hörte ein Rascheln, als ob sie das Handy an ihre Kleidung drückte. Ich hörte sie sagen: «Bleib sitzen, Schatz, ja? Ich steig nur kurz aus.» Die Wagentür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, dann hörte ich wieder ihre Stimme, jetzt weniger aufgelöst, aber noch immer sehr eindringlich.
«Plötzlich sind ein paar Männer aufgetaucht. Ich war zu Hause – wir alle waren zu Hause. Es waren vier, vielleicht fünf, ich weiß nicht genau. Ein weißer Lieferwagen, weiße Overalls, wie ein Malertrupp oder so. Wahrscheinlich damit die Nachbarn sich nichts denken. Das waren Profis, Sean, hundertprozentig. Skimasken, Glocks, Schalldämpfer. Und null Hemmungen zu schießen.»
Mein Puls beschleunigte noch einen Gang. «Himmel, Mish.»
Ihre Stimme brach, wenn auch kaum wahrnehmbar. «Tom – mein Freund – wenn er nicht …» Sie verstummte, dann setzte sie entschlossen neu an, wobei ihr die Qual anzumerken war. «Es klingelt an der Tür, er geht hin. Sobald er die Tür aufmacht, schießen sie ihn nieder. Da bin ich sicher. Ich habe zwei Schüsse mit Schalldämpfer gehört und dann ein Poltern, als er zusammengebrochen ist. Dann sind sie ins Haus eingedrungen, und ich bin einfach durchgedreht. Ich habe einem von ihnen ein Messer in den Hals gerammt, dann bin ich gerannt. Ich habe mir Alex geschnappt und … die Garage hat eine Tür zum Garten, und … ich habe gemacht, dass ich wegkam.» Sie seufzte schwer. «Ich habe ihn einfach da zurückgelassen, Sean. Vielleicht war er verletzt, vielleicht hätte ich ihm noch helfen können, aber ich bin einfach abgehauen. Ich habe ihn da zurückgelassen und bin abgehauen.»
Das machte ihr offenbar schwer zu schaffen. Ich musste sie von ihrem schlechten Gewissen abbringen. «Du hattest keine andere Wahl, Mish. Du hast das Richtige getan.» Mein Gehirn versuchte, alles, was sie gesagt hatte, zu verarbeiten, und stolperte dabei über riesige Lücken im Gesamtbild, Lücken, groß wie Canyons. «Hast du die Polizei gerufen?»
«Ich habe den Notruf gewählt. Habe die Adresse angegeben, gesagt, dass es eine Schießerei gegeben hatte, und dann habe ich aufgelegt.»
Mir fiel ein, was sie gerade gesagt hatte. «Du hast gesagt, du hast dir Alex geschnappt. Wer ist Alex?»
«Mein Sohn. Mein vierjähriger Junge.»
Ich nahm ihr Zögern wahr, konnte spüren, wie sie die nächsten Worte abwog. Als sie weitersprach, traf es mich wie ein K.-o.-Schlag über dreitausend Meilen Entfernung.
«Unser Junge, Sean. Er ist unser Sohn.»
Unser Sohn?
Zwei kleine Wörter, und ich hatte das Gefühl, als täte sich ein riesiger, gähnender Abgrund auf, der mich verschlang.
Ich fühlte, wie mein Mund trocken wurde, wie mir das Blut in den Kopf schoss, meine Brust sich verengte.
«Unser Sohn?»
«Ja.»
Alles um mich herum verschwand. Die Autos und Fußgänger, die in der sengenden Hitze vorbeizogen, das banale Treiben in einem Vorstadt-Einkaufszentrum an einem sonnigen Samstagvormittag – mit einem Mal erstarb alles, als sei plötzlich eine Glasglocke über mich gestülpt, die mich von der übrigen Welt abschnitt.
«Wovon redest du?»
«Wir beide. Unten in Mexiko. Da ist was passiert. Wie, hast du das schon vergessen?»
«Nein, natürlich nicht, aber … Bist du sicher?»
Jetzt war ich derjenige, der unter Schock stand und um Worte rang, versuchte, etwas Zeit zu gewinnen, während mein Verstand sich mühte aufzuholen. Was für eine dumme Frage. Ich hätte sie nicht zu stellen brauchen – ich kannte Michelle gut genug, um zu wissen, dass sie mit so etwas nicht spaßte. Sie war absolut glaubwürdig. Wenn sie wollte, konnte sie witzig sein, sogar richtig albern, aber wenn es um ernste Dinge ging, um wirklich bedeutsame Dinge, kannte sie keine Dummheiten. Wenn sie sagte, ich sei der Vater, musste es die Wahrheit sein.
Beängstigend, das mal eben so zu erfahren.
Ich wusste noch etwas über sie: Sie konnte es nicht leiden, wenn jemand in Frage stellte, was sie sagte, erst recht nicht jemand, dem sie so nahegestanden hatte wie meiner Wenigkeit, und schon gar nicht, wenn es um etwas so Wichtiges ging.
«Ich hatte nicht nebenbei was mit einem anderen. Du bist der Vater. Ich dachte, das sollte klar sein.»
Das war es allerdings.
«So habe ich das nicht gemeint», ruderte ich zurück.
«Doch, das hast du. Aber es ist schon okay. Du bist sauer. Und das ist dein gutes Recht.»
In mir tobte ein Sturm widersprüchlicher Gefühle. Ich weiß, das war egoistisch nach dem, was Michelle gerade durchgemacht hatte, aber schließlich bekommt man nicht alle Tage am Telefon gesagt, dass man einen vierjährigen Sohn hat.
«Ja, schon, ich bin sauer», gestand ich. «Himmel, Mish. Wie konntest du mir das verschweigen?»
«Ich … Es tut mir leid, Sean.» Sie klang jetzt zerknirscht. «Wirklich. Ich wollte es dir sagen. Und natürlich nicht unter solchen Umständen, aber … Es war nicht leicht. Es dir zu verschweigen. All die Jahre. Ich habe so oft zum Telefon gegriffen, um dich anzurufen und es dir zu erzählen … aber jedes Mal … hat mich irgendwas zurückgehalten.» Sie schwieg kurz, dann fuhr sie fort: «Es tut mir leid, ich hätte es dir nicht sagen sollen, nicht jetzt, nicht auf diese Weise. Ich … ich kann einfach gerade nicht klar denken.»
Meine Gedanken überschlugen sich noch immer bei dem Versuch zu begreifen, aber jetzt musste ich dieses Thema vorerst beiseiteschieben und das Gespräch wieder in eine andere Richtung lenken. Die Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen konnten warten. Michelle war gerade durch die Hölle gegangen, und sie brauchte meine Hilfe. Ich musste mich jetzt darauf konzentrieren, dafür zu sorgen, dass sie und ihr Sohn – unser Sohn – außer Gefahr waren.
«Okay, alles klar, darüber können wir später sprechen.» Ich atmete tief durch, ging im Schnelldurchlauf noch einmal die spärlichen Informationen durch, die ich hatte, und fragte dann: «Wo bist du jetzt?»
«Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Hier wimmelt es von Menschen. Vorerst bin ich in Sicherheit … glaube ich.»
«Ist dir jemand gefolgt?»
«Ich glaube nicht.»
Ich versuchte, mir im Geiste ein Bild von der Situation zu machen, aber es gab noch zu viele Unbekannte. «Denkst du, dieser Vorfall könnte etwas mit deiner Arbeit zu tun haben? Bist du wieder im Job?» Ich hatte gehört, dass sie die DEA verlassen hatte, nicht lange, nachdem ich aus Mexiko-Stadt abgereist war, aber die Information war veraltet.
«Ich bin draußen, Sean. Diese Zeiten sind längst vorbei. Ich unterrichte an einer Highschool, ein völlig harmloser Job. Meine Güte, ich bin Basketballtrainerin.»
«Du weißt also nicht, wer dahinterstecken könnte und warum?»
«Keine Ahnung. Ich weiß nur eins: Sie waren nicht darauf aus, mich umzubringen.»
«Wie kommst du darauf?»
«Einer der Eindringlinge hatte freie Schusslinie. Aber er hat die Gelegenheit nicht genutzt. Wenn sie mich hätten umbringen wollen, wäre ich jetzt tot, das steht fest.»
«Dann wollten sie dich entführen?»
«Ich denke schon. Und das macht mir wirklich Angst, Sean. Ich meine, um Himmels willen, was wäre dann aus Alex geworden?»
Darauf hatte ich keine Antwort, aber ich musste sie von dem Gedanken ablenken. «Wir müssen euch irgendwo in Sicherheit bringen. Hast du noch Freunde in der Behörde?»
«Eigentlich nicht. Außerdem weiß ich nicht recht, ob ich mich im Augenblick an die wenden würde.»
«Warum nicht?»
«Diese Leute waren Profis», antwortete sie. «Die hatten einen bestimmten Grund für den Überfall. Ich zermartere mir das Hirn und zweifle an allem und jedem, denn ich kann mir absolut nicht vorstellen, was zum Teufel irgendwer von mir wollen könnte. Seit ich bei der DEA gekündigt habe, hätte mein Leben nicht gewöhnlicher verlaufen können. Und das bedeutet, dass es irgendwas mit meinem Vorleben zu tun haben muss. Aber wenn es so ist, weiß ich nicht, wem ich in der Behörde vertrauen kann. Ich habe undercover gearbeitet. Nur wenige Leute wussten, was ich tat. Das heißt, wenn jemand mir wegen meines damaligen Jobs an den Kragen will, muss es eine undichte Stelle geben. Das ist ein Grund, weshalb ich dich angerufen habe.»
Der andere Grund lag auf der Hand. Und ich war froh, dass sie es getan hatte.
«Okay. Was ist mit der Polizei in San Diego?»
«Die kann ich nicht einschalten. Wie sieht es denn aus, falls sie Tom tot in unserem Eingangsflur finden? Ehefrauen und Freundinnen werden doch immer als Erste verdächtigt. Verdammt, wahrscheinlich ist die Pistole, die ich einem der Angreifer abgenommen habe, dieselbe Waffe, mit der Tom erschossen wurde. Und jetzt ist sie voll mit meinen Fingerabdrücken.»
«Wenn du den Überfall nicht meldest, machst du dich aber erst recht verdächtig.»
«Ich weiß. Aber wenn ich mich an die Polizei wende, wird es kompliziert. Du weißt doch, wie so was läuft. Sie würden erst mal vom Schlimmsten ausgehen, und dann würden sie mich festhalten, bis sie die Sache aufgeklärt hätten. Das will ich nicht, dann würde Alex irgendwelchen Flaschen vom CPS in die Hände fallen», sagte sie und meinte damit die staatliche Kinderschutzbehörde. «Sean, er ist erst vier.»
«Hast du Verwandte in der Gegend?»
«Nein, aber das spielt keine Rolle. Ich will einfach nicht von ihm getrennt werden, keine Sekunde», entgegnete sie mit Nachdruck. «Nicht, solange diese mamabichos auf freiem Fuß sind.»
«Wenn sie hinter dir her sind, wäre es vielleicht sicherer für ihn, nicht bei dir zu sein.»
«Zum Teufel, unter keinen Umständen. Ich lasse ihn verflucht noch mal nicht aus den Augen», kam es sofort zurück.
«Okay», sagte ich, und etwas Warmes regte sich in mir, eine plötzliche Erinnerung an ihre unbezähmbare Willenskraft, ausgelöst von den Kraftausdrücken, mit denen sie gern um sich warf. Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz nach halb eins. «Du musst jetzt für ein paar Stunden untertauchen, bis ich bei dir bin.»
«Sean, ich wollte nicht –»
«Ich komme, Mish», fiel ich ihr ins Wort, während ich bereits ins Auto stieg und den Motor anließ. «Ich nehme den nächsten Flug. Schätze, ich kann in sieben, höchstens acht Stunden bei dir sein.»
Michelle schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: «Wow.»
«Was denn?»
«Nein, ich … Danke. Ich glaube, insgeheim habe ich wohl gehofft, dass du das sagen würdest.»
«Versteck dich einfach so lange, okay?» Ich hatte bereits ausgeparkt und fädelte mich zwischen den anderen, langsameren Fahrzeugen hindurch. «Wo kannst du in der Zwischenzeit unterkommen?»
«Ich suche mir ein Hotel in der Nähe des Flughafens und warte dort auf dich.»
«Klingt gut. Hast du Bargeld?»
«Hier ist ein Geldautomat.»
«Zieh genügend Geld und benutz dann keine Karten mehr.» Ich dachte an das, was sie gesagt hatte – es war ein professionelles Überfallkommando gewesen. «Nimm auch den Akku aus deinem Handy. Und lass den Wagen stehen. Nimm ein Taxi oder fahr mit dem Bus.»
«Okay», erwiderte sie. «Ich rufe dich dann vom Hotel aus an und gebe dir Bescheid, wo ich bin.»
«Gut. Wahrscheinlich sitze ich dann schon im Flieger, aber du kannst mir ja auf die Voicemail sprechen», sagte ich, während ich ein langsam fahrendes Auto überholte und zugleich überlegte, ob ich wirklich an alles gedacht hatte. «Und rühr dich nicht aus dem Hotel, Mish. Wir werden diese Sache klären.»
«Sicher», antwortete sie, klang aber alles andere als überzeugt.
Ich zögerte, dann sagte ich: «Hey, Mish.»
«Ja?»
«Du hättest es mir erzählen sollen.»
Ich musste es einfach sagen.
Verdammt, sie hätte es doch wirklich tun sollen.
Einen Moment lang war es still in der Leitung, dann sagte sie in gequältem, reuigem Ton: «Ja. Na ja, aber … besser spät als nie, hm?»
Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz in einem Schraubstock steckte. «Ist alles in Ordnung mit ihm? Mit Alex?»
«Es geht ihm prächtig. Du wirst sehen.»