Memories - Karen Wenzel - E-Book + Hörbuch

Memories E-Book und Hörbuch

Karen Wenzel

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Beschreibung

In einer kalten Herbstnacht wird mitten in Valkenberg eine junge Frau ermordet. Daniel Nilson, genannt Dan, wird im Nachhinein Zeuge dieser Tat, doch der Täter bleibt für ihn unerkannt. Dan beschließt, den Fall aufzuklären und wendet sich hilfesuchend an seinen Bruder, Peter Nilson, der Kommissar bei der Kriminalpolizei Valkenberg ist. Seit fast zehn Jahren hatten die Brüder keinen Kontakt mehr zueinander, doch um den Mörder zu entlarven, müssen sie ihren Streit begraben und ihre Vergangenheit in mehrerlei Hinsicht überwinden. Auf der Suche nach dem Täter begibt sich Dan selbst in Gefahr, doch wird es ihm gelingen, den Mörder rechtzeitig zu finden, bevor dieser weiter mordet?

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Seitenzahl: 332

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Zeit:8 Std. 44 min

Sprecher:Lena Schreiber
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Memories, nichts wird je vergessen, ist der erste Teil einer Reihe von Kriminalromanen um die Gebrüder Nilson.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

PROLOG

Er atmete schwer. Trotz der abendlichen Kälte rann ihm der Schweiß den Rücken hinab. Heute war der Tag gekommen, an dem er es ihr sagen würde. Er wollte nicht mehr weglaufen, endlich war es soweit. Er musste sich nur noch ein wenig gedulden. Seitlich an eine kalte Hauswand gelehnt wartete er regungslos. Die Minuten zogen sich scheinbar endlos in die Länge. Fast eine Stunde verging und es kam ihm wie Tage vor, bis er sie endlich sah.

Sie kam mit zügigen Schritten um eine Ecke und bog auf die Straße ein, in der er stand. Im Licht der Straßenlaternen schimmerte ihr blondes Haar wie Gold. Sie ging auf der anderen Straßenseite an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Er wartete, bis sie noch ein paar Meter weiter gegangen war, dann löste er sich von der rau verputzen Wand und folgte ihr. Das Gewicht in seiner Jackentasche behinderte ihn ein wenig beim Laufen, doch er ignorierte es. Den Kragen seiner Jacke hatte er so weit aufgestellt, dass er seinen heißen Atem im Gesicht spürte. Aus der Entfernung konnte er sehen, wie kleine Wölkchen vor ihrem Mund aufstiegen.

Er mochte den Herbst. Es war noch nicht so frostig wie im Winter, doch die nahende Kälte des Winters stand bereits wie eine Drohung bevor. Außerdem unterdrückte sie das heiße Gemüt.

Sie kam an einen Zebrastreifen, schaute nach rechts und links und ging weiter. Er folgte ihr immer noch.

Er überlegte, wie er es ihr sagen sollte und legte sich bereits einige Worte zurecht. Dennoch war er unsicher, wie er das Gespräch beginnen sollte. Wie sollte er sie ansprechen?

Neben ihnen kam die Friedhofsmauer zum Vorschein und zog sich einige hundert Meter als dunkler Schatten an der Straße entlang. In den Häusern auf der anderen Straßenseiten brannten Lichter, aber immer mehr Rollläden wurden heruntergelassen und Gardinen zugezogen.

Langsam schloss er zu ihr auf.

Mittlerweile bemerkte sie die Schritte hinter sich, aber sie blickte sich noch nicht um. Doch als sie durch eine Allee schritten und das Laub hinter ihr raschelte, wurde sie zunehmend nervös. Sie fühlte sich verfolgt. Zu recht. In der Mitte der Straße blieb sie plötzlich stehen und drehte sich abrupt um. Ihre zusammengezogenen Augenbrauen hoben sich, als sie ihn erkannte.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht, aber ihre Nervosität war verflogen.

Er sagte ihr, er müsse mit ihr reden, ihr etwas sehr Wichtiges sagen.

„Hat das nicht Zeit? Es ist spät und ich will nachhause. Wieso bist du überhaupt hier? Verfolgst du mich etwa?“, fragte sie mit einem spöttischen Lächeln.

Als er nichts entgegnete, verschränkte sie die Arme und kniff skeptisch die Augen zusammen.

„Also gut, was wolltest du mir sagen?“, fragte sie mit dem gewohnt strengen Befehlston, den er nur zu gut kannte.

Er hob den Blick und dann sagte er es ihr.

1. Kapitel

Ein ohrenbetäubendes Geräusch zerschnitt die frühmorgendliche Stille. Der scheinbar leblose Körper, der unter Decken begraben war, begann sich langsam zu regen und sich unter Stöhnen zu winden. Plötzlich schoss eine Hand hervor und traf den Auslöser des Geräusches mit einem harten Schlag. Das schrill kreischende Etwas flog in einem hohen Bogen durch die Luft und knallte dann auf den Boden. Doch immer noch drang dieser nervtötende Laut hervor. Mit einem Ächzen, das an einen Untoten erinnerte, wand sich Dan Nilson wie eine Raupe aus seinem Bett. Die Beine immer noch in die Decken gewickelt, streckte er sich nach dem Wecker aus, der dieses unerträgliche Piepsen von sich gab. Er bekam das Gerät in die Finger und schleuderte ihn sofort mit Schwung gegen die nächste Wand. Ein befriedigendes Klingeln ertönte und der kugelrunde Wecker verstummte.

Dan hätte sich bestimmt wieder ins Bett gelegt und friedlich schlummernd weitere Stunden unter seinen Decken zugebracht, wenn er nicht just in diesem Moment von der Bettkante gerutscht wäre. Mit einem unsanften Aufschlag landete er auf dem Fußboden und gähnte erst einmal ausgiebig. Noch auf dem Boden sitzend öffnete er die Schublade seines Nachttischschränkchens und nahm eine Tablettenpackung heraus. Er hielt sie mit der Öffnung nach unten über seine Handfläche, doch es geschah nichts. Er stocherte mit einem Finger darin herum, aber die Packung war leer.

Wann waren die denn ausgegangen? Hatte er seine Tabletten gestern eigentlich genommen? Dan konnte sich nicht mehr genau erinnern.

Genervt und verschlafen stand er auf und torkelte mehr als zu gehen durch sein Schlafzimmer, das zugleich sein Wohnzimmer war, in die kleine Küche. Über der Spüle hing ein Schrank, in dem Dan nach einer neuen Tablettenpackung suchte, doch auch hier waren nur noch leere Kartons zu finden.

„Ach, was soll’s“, brummelte er schließlich, warf die kleinen Schachteln achtlos in den Schrank zurück und schloss die Schranktür wieder.

Dan Nilson war sehr hager und recht groß. Seine braunen Haare hingen ihm wie immer bis über die Augen und sie waren eigentlich dauernd zerzaust, selbst wenn er nicht gerade erst aufgestanden war.

Für das Frühstück steckte er eine Scheibe Brot in den Toaster und goss sich Milch in eine Schüssel. Das Müsli kippte er danach obendrauf. Er rührte mit einem Löffel solange in der Schüssel herum, bis der Toast mit einem Knall und in einem hohen Bogen aus dem Gerät sprang. Dan schaufelte sein Müsli in sich hinein und ging anschließend duschen. Die Toastscheibe lag immer noch auf der Küchenzeile neben dem Toaster.

Obwohl seine Haare noch nass waren, schlüpfte Dan in die gleichen ausgelatschten Turnschuhe wie immer – er hatte nur dieses eine Paar – und zog sich die gleiche Kapuzenjacke wie jeden Tag an. Dann verließ er seine kleine Wohnung und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Das erste Bild, das sich von seiner Haustür aus bot, war die mit Efeu bewachsene Steinmauer des Friedhofs. Dan musste nur knapp 200 Meter rechts entlang gehen, bis das eiserne Türchen in der Mauer kam, das immer schaurig quietschte, sobald man es bewegte. Es war eigentlich nie verschlossen.

Während er mit auf dem Kies knirschenden Schritten über den Friedhofsweg ging, sog er gierig die kühle Luft ein. Ein paar Nebelschwaden zogen gemächlich an ihm vorbei. In den frühen Morgenstunden war er auf dem weitläufigen Friedhof ganz für sich allein. Das war einer der Vorteile an diesem Weg. Er hätte auch um den Friedhof herum gehen können, aber dann bräuchte er noch eine halbe Stunde länger zur Arbeit. Und das war ihm bei einem Weg von sowieso schon 50 Minuten dann doch zu lang. Dan machte es jedoch nichts aus, spazieren zu gehen und außerdem hatte er in diesem Fall sowieso keine andere Wahl. Er besaß keinen Führerschein, von einem Auto ganz zu schweigen und eine Jahresfahrkarte für den Bus konnte er sich einfach nicht leisten. Sein letztes Fahrrad hatte er schon vor langem irgendwo abgestellt, aber er hatte vergessen wo. Vielleicht war es auch geklaut worden.

Dan blieb abrupt stehen, als er ganz in der Nähe einen Schemen wahrnahm. So früh am Tag war ihm hier sonst noch niemand begegnet. Selbst der Friedhofswärter sollte üblicherweise frühestens in einer Stunde kommen. Dan blickte sich um, doch außer ihm selbst war niemand zu sehen. Nur Gräber und Nebelschwaden.

Da hatte ihm wohl seine Müdigkeit einen Streich gespielt, dachte er und unterstützte diese These mit einem kräftigen Gähnen.

Auf dem weiteren Weg über den Friedhof begegneten Dan keine weiteren Schatten, Gestalten oder gar reale Personen. Den Friedhof verließ er über das nordöstliche Tor, das auf eine große Allee hinausführte. Von dort aus musste er sich nach Norden wenden und noch eine Weile gehen, bis er die großen Lagerhallen erreichte. In einer dieser Hallen sortierte er Kartons in Regale ein. Kein gerade inspirierender Job, aber man brauchte eben Geld, wenn man über die Runden kommen wollte und mit seinen mangelnden Qualifikationen hatte Dan kaum eine Wahl. Zügigen Schrittes ging er die leicht ansteigende Straße entlang. Eigentlich hatte er noch genug Zeit, um entspannt zu gehen, aber er musste so große Schritte machen, weil die Pflastersteine hier so weit auseinander lagen. Er mochte die Pflasterung in diesem Stadtteil nicht besonders, es gab bei weitem angenehmere.

Auf halber Strecke die Straße entlang blieb er wieder stehen und rieb sich die verschlafenen Augen. Irgendwie war heute etwas komisch, irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Vielleicht war es auch der Nebel, der seine Augen verwirrte. Oder er hätte sich doch früher um seine Medikamente kümmern sollen. Dennoch war er sich sicher, zwischen den Bäumen etwas zu sehen. Er erkannte es nicht wirklich, aber irgendetwas war doch dort.

Langsam und mit einem Unwohlsein in der Magengegend näherte sich Dan der Stelle, an der er etwas zu sehen glaubte. Für andere Passanten musste es sehr seltsam wirken, wie er da mit langen Schritten aber vorsichtig die Straße entlang stakste. Zum Glück war auch in diesem Stadtteil noch kaum jemand auf den Straßen unterwegs.

Immer deutlicher zeichnete sich in der Mitte zwischen zwei Bäumen eine dunkle Gestalt ab. Dan konnte nicht genau erkennen, was es war, doch es hatte menschliche Umrisse. Daneben erschien plötzlich eine weitere Gestalt, aber kleiner und farbiger. Diese drehte sich zur ersten um und Dan erkannte eine junge Frau. Jedoch war sie fast durchsichtig. Gebannt von diesem Anblick bewegte Dan sich nicht und hielt unbewusst sogar den Atem an.

War er jetzt vollkommen verrückt geworden?

Je länger er das Schauspiel betrachtete, desto klarer konnte er die Gestalten ausmachen, auch wenn sie eher wie Geister wirkten. Die Frau öffnete den Mund und sagte etwas, doch kein Laut drang an Dans Ohren. Der dunkle Schemen hob den Kopf, oder zumindest seinen oberen Teil, der wie der Umriss eines Kopfes aussah. Dan vermutete zwar, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelte, doch mehr als grobe Umrisse konnte er nicht ausmachen. Der Schemen hielt irgendetwas an seiner Seite in der Hand, das silbrig glitzerte, doch Dans Aufmerksamkeit wurde vom Gesicht der Frau angezogen. Zwischendurch schienen ihre Gesichtszüge immer wieder zu verschwimmen und er konnte nicht klar sagen, was passierte, aber sie schien sich mit der dunklen Gestalt zu unterhalten. Es war fast so als wäre sie die Spiegelung auf einer Wasseroberfläche, die immer leicht in Bewegung war. Dan musste sich extrem anstrengen, um Genaueres erkennen zu können.

Die Frau wirkte ziemlich stolz und hatte einen überheblichen Ausdruck in ihren Augen, soweit Dan es einschätzen konnte. Doch dann änderte sich ihr Aussehen plötzlich. Sie ließ die zuerst verschränkten Arme fallen und ihre Augen weiteten sich. Erst überrascht, dann verängstigt. Sie riss die Hände nach vorn, öffnete den Mund und die dunkle Gestalt stach mit dem silbernen Gegenstand zu, den Dan jetzt als ein Messer erkannte. Und das mehrfach, immer und immer wieder.

Dan wurde schwarz vor Augen. Obwohl es vollkommen still um ihn war, hob sich in seinen Ohren ein dröhnendes Rauschen an. Ohne nachzudenken rannte er los, die Richtung war egal. Doch er kam nicht weit, denn sein Magen überschlug sich und an einem weiteren Baum in der Allee blieb er stehen, um seinen Mageninhalt zu leeren. Genauer gesagt war es sein vorher eingenommenes Frühstück, das er gerade auskotzte. Selbst als nichts mehr nachkam und Dan sich wie ein Loch anfühlte, wurde er von weiteren Würgereizen durchgerüttelt. Mit beiden Händen hielt er sich am Baum fest, drückte den Kopf gegen den Stamm und krallte die Finger in die Rinde. Er blickte stur nach unten, doch statt seinem eigenen Erbrochenem, sah er nur das Gesicht der Frau vor sich, verzerrt und ganz entstellt in purem Entsetzen und Todesangst.

Er hörte Stimmen in der Nähe und ein kleiner Teil seines Bewusstseins dachte sich, dass sie ihn wohl für einen Besoffenen halten würden, aber das war ihm egal. Im Moment war ihm alles egal. Erst nach einer ganzen Weile schaffte Dan, sich von dem Baum zu lösen und sich, ein ganzes Stück von dem Erbrochenen entfernt, auf den Boden zu setzen.

„Scheiße“, murmelte er schließlich mit bebenden Händen und einem lauten Pulsschlag in den Ohren, „was zur Hölle war das?“

Er hoffte inständig, dass es irgendeine Nebenwirkung war, aber er hatte eigentlich noch nie davon gehört, dass das Nichteinnehmen von Medikamenten Nebenwirkungen verursachte. Konnte das etwa irgendeine Form von Entzugserscheinungen sein?

Er blickte zögernd zu der Stelle, an der er diese ... Vision – oder was auch immer das gewesen sein mochte – gesehen hatte, doch von hier aus waren die Bäume im Weg, um irgendetwas erkennen zu können.

Ich muss hier weg, dachte Dan dumpf und ging los, ohne genauer nachzudenken wohin. Er wollte nicht wissen, ob das, was er gesehen hatte, – wenn er es denn wirklich gesehen hatte – immer noch dort zwischen den Bäumen war. Er wusste zwar nicht, was das gewesen war, aber er wollte nie wieder so etwas sehen. Seine Gedanken rauschten ihm so schnell durch den Kopf, dass er sie gar nicht richtig wahrnahm. Genauso wenig wie seine Umgebung.

Dan hatte keine Ahnung, wie lange er so dahingetrottet war, als er endlich wieder zu sich kam. Immer noch konnte er sich einfach nicht erklären, was er da gesehen hatte. Er wusste nicht einmal, ob es echt gewesen war oder nur seine gestörte Psyche, die langsam vollkommen austickte. Er musste sich schnellstens wieder die Tabletten besorgen, dachte er. Also blickte Dan sich um und stellte fest, dass es zu seinem Arzt ein gewaltig langer Weg zu Fuß war. Er war fast genau in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Mit weichen Knien korrigierte er seinen Kurs und machte sich auf den Weg in die Innenstadt von Valkenberg. Was blieb ihm denn anderes übrig?

Er achtete dabei nicht auf die Menschen in den Straßen oder auf die Läden um ihn herum. Gewohnheitsmäßig blieb er vor einem Fernsehgeschäft stehen und blickte auf die Monitore wie er es immer machte, wenn er an diesem Laden vorbeikam. Er konnte sich ja keinen eigenen Fernseher leisten und dieses Geschäft hatte immer lange Öffnungszeiten, weshalb die Geräte fast durchgängig liefen. Doch dieses Mal nahm Dan die bunten Bilder, quirligen Menschen oder fantastischen Landschaften gar nicht richtig wahr.

Er wurde erst aus seiner Trance gerissen, als fast alle Bildschirme auf die Nachrichten umschalteten und der Moderator zu sehen war. Doch es war nicht der Mann, der ihn aufmerken ließ, sondern das Bild links neben dem Moderator, das sich auf den aktuellen Bericht bezog. Es zeigte eine mit Bäumen gesäumte Straße bei Nacht, in der Polizisten herumliefen und helle Lichter blau und rot blinkten. Diese Allee kam Dan unheimlich bekannt vor. Während der Moderator dazu stumm den Mund bewegte, schaltete die Szene um und zeigte das Bild einer jungen Frau. Mit einem Mal sank Dan das Herz in die Hose. Ohne zu überlegen, was er tat, stürmte er in den Laden, der gerade erst geöffnet hatte, und brüllte den Ladeninhaber an:

„Machen Sie den Ton an!“

Der Ladenbesitzer wandte sich um und blinzelte Dan verwundert an. „Bitte was?“

„Den Ton! Schnell!“, schrie Dan und rannte zu einem Fernseher in der Nähe der Ladentheke.

Der Besitzer war so perplex, dass er sofort protestlos gehorchte. Er nahm eine Fernbedienung vom Tresen und schaltete den Ton des Fernsehers an. Dabei beäugte er Dan verunsichert.

„…Besitzerin des bekannten Vier-Sterne-Restaurants Zum Stolzen Storch wurde offenbar Opfer eines Gewaltverbrechens. Die genauen Todesumstände sind noch nicht bekannt und die Polizei ermittelt gerade in alle Richtungen. Für morgen Mittag wurde eine Pressekonferenz angekündigt, bei der die aktuellen Informationen bekannt gegeben werden. Und nun zum Sport. Der SV…“

Dan wankte zurück und hielt sich an einem Tisch hinter ihm fest. „Das kann doch nicht wahr sein“, murmelte er und fasste sich mit einer Hand an die Stirn.

„Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte der Ladenbesitzer und zeigte mit seinem Gesichtsausdruck unverhohlen, dass auch er Dan für betrunken hielt.

„J-ja“, antwortete Dan und zwang sich, den Tisch loszulassen. „Ja, es geht mir gut, danke.“ Unter den skeptischen Blicken des Ladeninhabers verließ Dan das Geschäft wieder.

Ich bin nicht verrückt, dachte er. Er war vielleicht nicht ganz normal, aber er war auch nicht verrückt! Das, was er gesehen hatte, war wirklich passiert. Und er hatte den ganzen Mord mit angesehen. Allmählich wurde ihm klar, was das bedeutete. Er konnte das nicht für sich behalten, er durfte es nicht. Vielleicht war er der einzige Zeuge. Wobei er nicht einmal wusste, wann dieser Mord genau passiert war. Mit wem sollte er sprechen? Er kannte doch kaum jemanden und wer würde ihn nicht gleich in die Klapse einweisen?

Ihm kamen seine Eltern in den Sinn, doch den Gedanken verwarf er sofort wieder. Mit denen konnte er beim besten Willen nicht darüber sprechen. Sie würden ihm nicht glauben. Und erst recht nicht, wenn sie erfuhren, dass er seine Tabletten nicht genommen hatte.

„Scheiß doch auf die Tabletten!“, rief er laut heraus und eine Frau zog ihren kleinen Sohn sehr schnell und mit besorgtem Blick an ihm vorbei.

Er musste mit jemandem reden, der in irgendeiner Weise auch Einfluss auf den Mordfall hatte.

Also am besten jemand, der bei der Polizei arbeitet, überlegte Dan, während er durch die Straßen lief. Plötzlich fiel ihm ein, an wen er sich wenden könnte. Eine Person, die ihn kannte und bei der Polizei hier in der Stadt arbeitete. Er blieb stehen, schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und fing laut an zu lachen. Die Menschen um ihn herum beäugten ihn höchst skeptisch.

Dass er nicht sofort daran gedacht hatte: Sein eigener Bruder!

Sie hatten sich seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen, aber soweit er wusste, arbeitete sein Bruder Peter als Streifenpolizist hier in Valkenberg. Auch wenn er als einfacher Streifenpolizist keinen Einfluss auf die Ermittlungen in diesem Fall haben könnte, so müsste sein Bruder bei der Polizei doch wenigstens irgendetwas ausrichten können. Das Lachen verging Dan jedoch gleich wieder. Wie sollte er seinen Bruder in so eine heikle Sache einweihen. Bestimmt würde auch er ihn für verrückt erklären. Er war sowieso noch nie wirklich gut mit seinem Bruder ausgekommen und jetzt hatten sie so lange keinen Kontakt mehr gehabt. Mit grimmiger Entschlossenheit fasste Dan trotzdem den Entschluss, sich an seinen Bruder zu wenden. Es war seine einzige Möglichkeit, an Informationen zu gelangen.

Seufzend schloss Peter Nilson die Tür zum Büro des Polizeidirektors. Nicht, dass je ein Mord den richtigen Zeitpunkt treffen würde, aber dieser kam ihm besonders ungelegen. Eigentlich hatte er dieses Wochenende mit seiner Frau und seiner Tochter in die Berge fahren und in einer Berghütte übernachten wollen, um mal wieder eine schöne Zeit mit der Familie zu verbringen. Das konnten sie jetzt vergessen. Zu allem Unglück war sein Kollege auch noch schwer erkrankt und so kurzfristig hatte kein richtiger Ersatz für ihn aufgetrieben werden können. Ihm wurde zwar ein Polizist aus dem mittleren Dienst zur Verfügung gestellt, doch der hatte nebenbei noch andere Aufgaben zu bewältigen, weshalb er Peters eigentlichen Kollegen nicht vollständig ersetzen konnte. Das bedeutete also noch mehr Arbeit für ihn.

Bedrückt schlurfte Peter in die Küche und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank. Er rieb sich die müden Augen und goss sich einen Kaffee ein. Er hatte die letzte Nacht durchgearbeitet und auch heute würde er erst spät nachhause kommen. Seufzend lehnte er sich gegen die Wand neben der Kaffeemaschine und setzte die Tasse zum Trinken an.

„Hey, Nilson!“, rief ein Kollege aus dem Gang.

Nicht einmal seinen Kaffee konnte man in Ruhe trinken, dachte Peter und setzte die Tasse wieder ab.

„Ja bitte?“, fragte er erschöpft.

„Da möchte dich jemand sprechen“, sagte der Polizist und deutete auf Peters Bürotür, die von der Küchentür aus gerade noch zu sehen war.

„Wer denn?“

„Irgendein Typ, groß, um die 30. Sagt, er weiß etwas über den Mord.“

Das erhellte Peters Miene etwas. Vielleicht brachte sie das auf eine neue Spur, oder wenigstens einen richtigen Hinweis. Er richtete kurz seine Krawatte, nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse und ging in sein Büro. Er hatte dort schon mehrfach jemanden vorgefunden, mit dem er nicht gerechnet hätte. Dennoch überraschte ihn dieser Besucher wie keiner zuvor. Peter konnte das Ticken der Uhr hören, während er in der Tür stand. Er stand einfach nur da und starrte in sein Büro.

„Hey“, begrüßte Dan seinen älteren Bruder.

Peter Nilson schloss ganz behutsam die Tür hinter sich, atmete einmal tief durch und drehte sich dann zu seinem Bruder um. Sein überraschter Ausdruck war Zornesfalten gewichen.

„Was machst du hier?“, fragte er, wobei er ganz langsam und betont ruhig sprach. Es bereitete ihm große Mühe, sich zu beherrschen.

„Ich wusste gar nicht, dass du mittlerweile schon Hauptkommissar bist“, begann Dan in fröhlichem Plauderton, ohne auf die Frage seines Bruders einzugehen. „Dein Kollege da draußen war so nett, mir das zu erzählen.“

Da Peter offensichtlich keine Antwort auf seine Frage bekam, ging er hinter seinen Schreibtisch und stellte seine Kaffeetasse ab. Doch anstatt sich zu setzen, schlug er mit beiden Handflächen auf die Tischplatte und blickte seinem Bruder verärgert ins Gesicht.

„Ich habe gefragt, was du hier willst.“

Dan lehnte sich in seinem Stuhl ein wenig zurück, um einen Sicherheitsabstand zwischen sich und das zornige Gesicht seines Bruders zu bekommen. Sein Blick zeigte, dass sich Unsicherheit in ihm breit machte.

„Ich dachte, ich könnte dir helfen und bei der Gelegenheit könntest du mir auch gleich helfen.“

Peter richtete sich auf und blickte verächtlich auf seinen Bruder herab.

„Dir helfen? Sag bloß, du bist tatsächlich straffällig geworden. Oder geht es um Geld?“

„Weder noch“, antwortete Dan, jetzt auch mit einem leicht gereizten Tonfall, „nein, es geht um den Mord an der jungen Frau in der Bogen-Allee.“ Er wartete.

Peter Nilson sagte nichts und setzte sich stumm auf seinen Schreibtischstuhl, bevor er seinen Bruder eindringlich anblickte. Er konnte immer noch nicht fassen, dass Dan wieder aufgetaucht war. Und dann kam er geradewegs zu ihm ins Büro und verkündete auch noch, dass er in den aktuellen Mordfall verwickelt war?

„Was hast du getan?“ Peters Stimme bebte geradezu vor unterdrücktem Zorn, doch er bemühte sich stark, nicht laut zu werden.

Er vermutete oder befürchtete schon, dass Dan vielleicht selbst den Mord begangen hatte. Das war vermutlich völlig absurd, aber dieser Gedanke kam Peter einfach als erstes in den Sinn. Er wusste nicht, was sein Bruder die letzten zehn Jahre so getrieben hatte, aber er war noch nie der Unschuldigste gewesen. Eigentlich hatte Peter gehofft, seinem Bruder nie wieder begegnen zu müssen oder höchstens beim nächsten runden Geburtstag ihrer Eltern vielleicht. Peter wusste selbst, dass es ein wenig kindisch war, dennoch konnte er seinen Bruder immer noch nicht leiden. Als sie Kinder waren war einfach zu viel passiert, was Peter immer noch nicht vergessen konnte.

Als Dan die Gedanken seines Bruders bewusst wurden, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen und er hob schnell abwehrend die Hände.

„Nein, ich habe nichts getan, ich habe mit dem Mord nichts zu tun!“

Peters Züge entspannten sich ein wenig, doch seine Schultern waren noch immer gestrafft und sein Blick sprach Bände. Zugegeben hätte Dan so etwas vermuten können, wenn der erste Kontakt nach so vielen Jahren zu seinem Bruder über einen Mord stattfand.

„Es ist etwas kompliziert“, führte er eilig weiter aus, „aber man könnte quasi sagen, dass ich so etwas wie ein Zeuge des Mordes war.“

„Du hast den Mord gesehen?!“ rief Peter überrascht aus und lehnte sich ruckartig nach vorne. Er schien darüber ganz seine verärgerte Stimmung zu vergessen.

„Nicht so ganz…“, korrigierte Dan.

Daraufhin zog Peter die Augenbrauen zusammen und lehnte sich wieder ein Stück zurück. „Wie soll ich das denn nun verstehen?“, fragte er in einer Mischung aus Skepsis und Gereiztheit.

„Ich sagte ja, es ist kompliziert“, meinte Dan und knetete die Hände im Schoß. „Ich war zur Zeit des Mordes nicht am Tatort, aber ich habe es trotzdem gesehen. Heute Vormittag, um genau zu sein.“ Dan wusste selbst, wie merkwürdig das klang, aber er wusste nicht, wie er es seinem Bruder sonst erklären konnte.

Peter seufzte einmal tief und beherrscht.

„Wenn du mich nach all den Jahren nur aufgesucht hast, um meine Zeit zu vergeuden oder mich zu verarschen, dann rate ich dir, besser zu gehen, bevor ich dich festnehmen lasse.“

„Nein, du verstehst das nicht“, entgegnete Dan schnell und wollte es weiter erklären, doch sein Bruder ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Du hast recht“, sagte dieser, langsam in Fahrt gekommen und immer lauter werdend, „ich verstehe dich wirklich nicht. Ich verstehe nicht, warum du zu mir gekommen bist. Wir haben uns so viele Jahre nicht mehr gesehen und das hätte von mir aus auch so bleiben können. Ich verstehe auch nicht, wieso du mir so einen Mist erzählst. Ich habe keine Lust auf deine Geschichten und Hirngespinste und wenn du noch einmal einfach so in meine Arbeit kommst, dann lasse ich dich in U-Haft stecken. Und jetzt raus hier!“ Peter war aufgesprungen und deutete energisch zur Tür.

Dan saß noch einen Moment wie versteinert da, dann nickte er bedrückt, stand auf und ging wortlos zur Tür.

„Warte“, rief ihm Peter schnell hinterher, als Dan schon die Hand an der Klinke hatte. „Es tut mir leid, ich habe mich vergessen. Solltest du noch einmal hier auf dieses Revier kommen, dann werde ich dich natürlich wie jeden anderen auch behandeln und ich werde vergessen, dass wir verwandt sind. Schönen Tag noch, Herr Nilson.“

Draußen vor dem Polizeigebäude blies sich Dan die Haare aus der Stirn und atmete die angenehm kühle Luft ein. Hatte er etwas anderes erwartet? Er wusste es selbst nicht so genau. Immerhin hatten sie sich schon fast zehn Jahre nicht mehr gesehen, wenn das überhaupt ausreichte. Und sie hatten sowieso noch nie das beste Verhältnis zueinander gehabt. Doch so leicht würde er nicht aufgeben.

Dan ging in Ruhe los. Das Pflaster vor dem Präsidium hatte den perfekten Abstand, sodass man ganz bequem auf den Steinen laufen konnte. Dan hasste es nämlich, auf die Rillen zwischen Pflastersteinen treten zu müssen. Mittlerweile begann sein Magen ziemlich zu knurren. Er blieb stehen und blickte noch einmal auf das Polizeigebäude mit den langen Fenstern hinter sich.

„So schnell wirst du mich nicht los“, murmelte Dan halblaut mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Er zückte sein altes Handy und wählte die Kurzwahltaste 1.

Drrr, drrr, drrr – Klack.

„Hallo, Daniel?“, meldete sich eine leicht besorgt klingende Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Hey Mum, keine Sorge, alles ist in bester Ordnung. –

– Ja –

– Ja wirklich –

– Es ist alles bestens. Ich hätte da nur mal eine Frage…“

Als Peter Nilson am Abend den Wagen in der Garage parkte, war er unglaublich froh, endlich zuhause zu sein. Er freute sich schon auf das Abendessen, das seine Frau vorbereitet hatte. Er hatte ein Riesenglück, dass Catrinel so eine gute Köchin war. Überhaupt war er über seine kleine Familie, die aus ihm, seiner Frau Catrinel und seiner sechsjährigen Tochter Marie bestand, unheimlich froh. Er konnte sich kein größeres Glück vorstellen.

Im Vorgarten blickte Peter über die Straße, während er die kalte Luft einsog. Er mochte diese ruhige Nachbarschaft, die ein wenig abgelegen am Rande von Valkenberg lag. Aus seiner Hosentasche kramte er den Schlüssel hervor und betrat sein Haus. Wie erwartet, stieg ihm sofort ein köstlicher Geruch in die Nase.

„Bin wieder zuhause! Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.“ Er hängte seine Jacke auf und wunderte sich etwas. Normalerweise rannte ihm jetzt seine kleine Tochter entgegen, wenn er so spät von der Arbeit kam. Sie konnte es dann immer kaum erwarten, ihn herzlich zu umarmen.

„Wir sind im Wohnzimmer!“, hörte er seine Frau rufen.

Also stellte er die Schuhe ins Regal an ihren Platz und ging ins Wohnzimmer. Der Anblick dort verschlug ihm zum zweiten Mal am Tag den Atem und zum zweiten Mal aus dem gleichen Grund.

„Was, wie?“, brachte er nur heraus und fuchtelte wild in Richtung Dan. „Was macht der hier?“, fragte verständnislos seine Frau. „Was machst du hier?“, wandte er sich dann an Dan.

Catrinel saß auf dem Sofa und ihr gegenüber lehnte Dan in einem Sessel. Sie stand auf und begrüßte ihren Mann mit einem Kuss. Peters Frau war ein ganzes Stück kleiner als er und trug ihre dunkelblonden Haare wie immer zu einem lockeren Zopf geflochten, der ihr über der Schulter hing. Die stechendblauen Augen hatte ihre gemeinsame Tochter von Catrinel geerbt.

„Dein Bruder war so freundlich, uns einmal zu besuchen“, sagte sie strahlend. Nur für Peter bestimmt fügte sie flüsternd hinzu: „Du hast mir gar nicht erzählt, dass dein Bruder auch hier in Valkenberg wohnt.“

„Und du hast ihn einfach reingelassen?“, fragte er seine Frau ungläubig. Sie war einfach zu naiv, doch gerade das machte sie auch so liebenswert.

„Aber er ist doch dein Bruder“, lachte sie. „Komm, gehen wir zusammen in die Küche, das Essen ist schon fertig. Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen, das ist doch kein Problem, oder?“

Peter sah sie entgeistert an, während er seine Tochter gar nicht beachtete, die ihn nun mit etwas Verzögerung überschwänglich begrüßte.

„Doch, das ist ein Problem“, zischte er und zog seine Frau in den Flur. „Ich will den Typen nicht hier haben, Catrinel. Es hat einen Grund, dass wir nie über ihn reden. Er hat in unserem Leben nichts zu suchen.“

Seine Frau sah in besorgt an und ihre Augen wurden größer. Liebevoll nahm sie seine Hände in ihre.

„Aber Peter, das ist doch sonst auch nicht deine Art. Wir können ihn doch nicht einfach so in die Nacht hinaus schicken. Immerhin ist er den ganzen Weg extra zu uns gekommen, um dich zu besuchen. Er sagte, dass er dringend mit dir reden muss und er ist immerhin dein Bruder, dein einziger Bruder.“

Peter verdrehte die Augen. „Bitte Catrinel“, sagte er und es klang erschöpft, „komm mir nicht so, du weißt nicht, wie oft ich diesen Satz schon hören musste. Und du weißt nicht, wie es damals war.“

„Aber ich bitte dich jetzt“, entgegnete seine Frau und trat noch näher an ihn heran. Ihre Augen schienen noch größer zu werden. „Versuch doch bitte, ihn einfach nur anzuhören. Nur für diesen einen Abend. Bitte.“

Peter seufzte und sie beide wussten, dass er nachgeben würde.

„Außerdem habe ich ihn bereits zum Abendessen eingeladen und wenn man jemanden eingeladen hat, dann darf man ihn nicht einfach vor dem Essen wieder hinauswerfen.“ Sie zwinkerte ihm zu, gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging zurück in die Küche.

„Möchten Sie auch etwas Salat, Dan?“

„Sehr gerne“, antwortete Dan und betrat die Küche mit einem triumphierenden Lächeln. „Und Sie können mich einfach duzen.“

„Aber gern“, entgegnete Catrinel fröhlich.

Während des gesamten Essens war Peter stumm wie ein Fisch. Er stocherte wütend in seinem Kartoffelbrei herum und zerdrückte die Erbsen der Reihe nach am Tellerrand. Gleichzeitig löcherte Catrinel seinen Bruder Dan mit allen möglichen Fragen. Wo genau er wohne, wie seine Wohnung so sei, ob er Hobbies habe und so weiter. Den Fragen nach Ausbildung und Beruf wich Dan jedoch aus, wie Peter hämisch bemerkte. Also immer noch ein Taugenichts, wie erwartet, dachte er wütend. Seine Tochter Marie war ganz aufgeregt und himmelte ihren Onkel fast schon an. Nach dem Hauptgericht tischte Catrinel noch etwas Schokopudding auf, der, als wäre es abgesprochen, perfekt für alle reichte, obwohl sie einer mehr als sonst waren.

„Wieso zeigst du unserem Gast nicht den Garten?“, fragte Catrinel, als sie den Tisch abdeckte.

Den Garten im Dunkeln zu zeigen, musste einen seltsamen Anschein haben, aber Peter wusste, dass sie den Brüdern Ruhe zum Reden geben wollte.

„Und du hilfst mir beim Abräumen“, sagte sie an ihre Tochter gewandt. Ein langgezogenes Quengeln war die Antwort. Marie hätte liebend gern noch mit ihrem neugewonnenen Onkel gespielt.

Wortlos wies Peter seinem Bruder den Weg zur Terrasse und schloss die Tür hinter ihnen. Es war ein kalter Abend, denn es ging allmählich auf den Winter zu. Die vielen Lichter aus den umliegenden Häusern erinnerten auch schon ein wenig an die Weihnachtszeit.

„Also.“ Peter sah seinen Bruder an, nachdem er sich vergewissert hatte, dass keiner der Nachbarn gerade lüftete und dabei neugierig aus dem Fenster sah. „Was willst du von mir, dass du sogar bei meiner Familie auftauchst?“

„Das ist aber ganz schön hart“, bemerkte Dan mit einer Spur Sarkasmus. „Genau genommen bin ich auch Teil deiner Familie.“

Peter schnaubte verächtlich. „Aber ein Teil, auf den ich gut verzichten kann. Catrinel und Marie magst du eingelullt haben, aber das liegt ausschließlich an ihren gutherzigen Charakteren. Ich habe dir eben ein Taxi gerufen, von mir aus bezahle ich es auch und dann verschwindest du.“

„Warte“, beschwichtigte Dan, „es tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein, aber du hast mir keine Wahl gelassen. Ich muss wirklich dringend mit dir sprechen.“

Peter seufzte tief und schloss für einen Moment die Augen. „Ich höre“, sagte er dann tonlos und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast Zeit, bis das Taxi kommt.“

Dan atmete einmal tief durch und begann: „Ich sagte dir schon, es hat mit dem Mord an der jungen Frau zu tun. Ich weiß nicht, wie relevant es ist, aber ich musste unbedingt mit jemandem darüber sprechen. Und ich wusste einfach nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Immerhin arbeitest du bei der Polizei und bist mein Bruder. Du wirst mich vermutlich für verrückt erklären, aber es ist mein voller Ernst. Ich bin gestern auf dem Weg zur Arbeit am Tatort vorbeigekommen. Und da hatte ich eine Art...“, Dan hielt einen Moment inne und atmete noch einmal tief durch, bevor er fortfuhr, „Vision vom Mord.“

Peter lachte einmal laut auf.

„Du musst mir glauben“, forderte ihn Dan auf, „ich kann es beweisen, wenn du willst. Die Frau war in etwa so groß“, sagte er und hielt sich die Hand auf eine bestimmte Höhe vor die Brust. „Sie hatte blonde, halblange Haare, die zu einem Zopf zusammengebunden waren und helle Augen. Ich würde sie so auf Anfang 30 schätzen.“ Sein Bruder blickte Peter hoffnungsvoll an, doch er war nur noch gereizter.

„Willst du mich eigentlich für dumm verkaufen?“, fragte Peter mit gefährlich verkniffenen Augen.

„Stimmt das nicht?“, fragte Dan erschrocken.

Peter fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, braunen Haare.

„Natürlich stimmt das“, entgegnete er genervt und Dan entfuhr ein erleichterter Seufzer.

„Aber das weiß mittlerweile doch die ganze Stadt. Es wurde mehrfach in den Nachrichten über den Mord berichtet und genug Bilder des Opfers veröffentlicht. Mit so etwas kannst du mich also nicht überzeugen.“ Dan konnte doch nicht wirklich glauben, dass er ihm diesen Schwachsinn abnehmen würde.

Als Reaktion darauf fuhr sich Dan mit der Zunge über die Lippen. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, denn er wirkte sehr nervös. Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht und überlegte kurz.

„Das Messer!“, rief er plötzlich aus. „Der Mörder hatte ein Messer in der Hand.“

„Schwachsinn, es gab kein Messer. Wir haben die Tatwaffe doch noch gar nicht gefunden“, bemerkte Peter gewinnend lächelnd. Jetzt hatte sein Bruder sich selbst ein Bein gestellt, dachte er. Peter hatte zwar keinen Schimmer, was sein Bruder bezwecken wollte, aber er sollte dem Irrsinn bald ein Ende bereitet haben.

„Dann werdet ihr das eben noch finden“, beharrte Dan.

Am Ende der Straße leuchteten zwei Scheinwerfer auf und ein Auto näherte sich den Nilsons.

„Das wird dein Taxi sein“, sagte Peter trocken. „Das war es dann ja wohl. Ab jetzt hältst du dich von meiner Familie fern.“

Tatsächlich hielt das Auto direkt auf sie zu.

„Warte noch kurz“, rief Dan und packte seinen Bruder hastig am Arm. „Die Tatwaffe war ein Messer. Es war so um die 20 Zentimeter lang und hatte eine ziemlich breite Klinge. Wie ein Fleischermesser oder so etwas. Denk daran, wenn ihr die Tatwaffe finden wollt.“ Er blickte seinen Bruder eindringlich an und Peter zögerte kurz.

Dann öffnete er den Mund und sagte nach einem kurzen Moment der Unsicherheit: „Ich werde das Taxi bezahlen. Schöne Heimfahrt und leb wohl.“

Dan merkte, dass er seinen Bruder nicht mehr überzeugen konnte, zumindest nicht an diesem Abend. Er kapitulierte und stieg wortlos ins Taxi ein. Auf der Rückbank des Taxis legte er den Kopf in den Nacken und seufzte laut. Dan wüsste nicht, wie er seinen Bruder noch dazu bringen konnte, ihm zu glauben. Vielleicht, wenn sie ein besseres Verhältnis gehabt hätten, aber auch dann nur vielleicht.

Zuhause angekommen ließ Dan sich auf sein Bett fallen und starrte an die dunkle Decke. Er fühlte sich kraftlos und erschöpft, doch trotzdem dauerte es lange, bis er einschlafen konnte.

Als Peter Nilson die Rücklichter des Taxis um die Ecke fahren und verschwinden sah, atmete er beruhigt aus. Ein seltsamer Tag war das heute, aber dieser Spuk sollte jetzt wieder vorbei sein. Er blieb noch einen Moment auf der Terrasse stehen und kühlte seinen Kopf in der frischen Abendluft ab. Hoffentlich würden sich morgen früh neue Erkenntnisse ergeben, aber irgendwie hatte er ein ungutes Gefühl bei diesem Fall.

Bevor er am nächsten Morgen das Haus verließ, umarmte Peter seine Tochter und gab seiner Frau einen Kuss. Irgendwie hatte er heute viel mehr Schwung und war um einiges besser gelaunt. Jetzt war er quasi wieder ein Einzelkind, nur mit seiner eigenen, kleinen Familie beschäftigt. In der Arbeit lag ein kleines Ensemble an Akten und Schnellheftern auf seinem Tisch. In den meisten Fällen ein Grund, um die Augen zu verdrehen, die gute Laune zu verlieren und sich noch einen Kaffee nachzuschenken. Doch am Anfang eines neuen Falles bedeutete es zugleich Fortschritte in den Ermittlungen.

„Guten Morgen“, begrüßte Peter seinen Kollegen aus dem mittleren Dienst. „Was gibt’s denn alles Neues?“, fragte er und ließ sich beschwingt auf seinen Schreibtischstuhl fallen.

Jakob Anderson war ihm für den Fall zugeteilt worden, da sein eigentlicher Partner ja erkrankt war. Zwar konnte Anderson ihn nicht vollständig ersetzen, weil er nicht die vollen Kapazitäten zur Verfügung hatte, doch er unterstützte Peter so gut es eben ging. Sie kannten sich auch schon länger und so kam Peter gut mit dem Kollegen Anderson aus.

„Mh, schau dir zuerst den grauen Hefter hier an“, erklärte dieser mit einem Brötchen zwischen den Zähnen. „Das ist der Bericht der KTU, der könnte für dich interessant sein.“ Und damit verkrümelte er sich mitsamt seinem Frühstück schon wieder.

Vor sich hin pfeifend öffnete Peter den grauen Hefter und begann mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu lesen. Nach einer Weile stellte er die Tasse ab, runzelte immer mehr die Stirn und warf den Hefter schließlich vor sich auf den Tisch, womit er fast seinen Kaffee umgestoßen hätte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte ins Leere.

„Na?“, fragte sein Kollege später, als er Peters Büro wieder betrat, diesmal ohne ein Brötchen in der Hand, „hast du etwas gefunden?“

Peter blinzelte und schien seinen Kollegen erst nach einem Augenblick richtig ins Auge fassen zu können.

„Sie haben die Tatwaffe bestimmt“, brachte er dann mit rauer Stimme heraus. Nach einem Räuspern fuhr er fort: „Ein Messer, recht lang und breit. Hier: es wurde bis zum Heft reingestoßen, wodurch sich ermitteln lässt, dass es ziemlich genau 20 Zentimeter lang sein muss. Und die Klinge war außergewöhnlich breit, 10 Zentimeter.“

„Ja stimmt“, bemerkte Anderson, „der Frank von der Medizin hat so etwas angedeutet. Wie eine Art Fleischmesser oder so.“

2. Kapitel