Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sollen Volksinitiativen für ungültig erklärt werden, wenn sie Menschenrechte verletzen? Braucht es eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfungspflicht für Schweizer Unternehmen? Wie können wir gewaltbetroffene Frauen im Asylbereich besser unterstützen? Warum erhielten während der Coronapandemie viele bedürftige Menschen keine Sozialhilfe – und was muss getan werden, damit dies in zukünftigen Krisen anders ist? Die vorliegende Publikation, herausgegeben vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR), beantwortet diese und viele weitere Fragen zu vierzehn ausgewählten Menschenrechtsthemen. Der Fokus liegt dabei auf dem Schutz von vulnerablen Gruppen, der Rolle der Menschenrechte in der Coronakrise, der Verantwortung von Unternehmen und dem Verhältnis zwischen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten. Mit rund 130 Empfehlungen an Gesetzgebende, Behörden, Unternehmen und weitere Akteur*innen präsentiert die Publikation eine Vielzahl konkret umsetzbarer Massnahmen zur Stärkung der Menschenrechte in der Schweiz. Fallbeispiele und Good Practices aus Städten, Kantonen und anderen Ländern zeigen, dass die Verwirklichung der Menschenrechte keine Utopie bleiben muss.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 453
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Menschenrechte in der Schweiz stärken: Neue Ideen für Politik und Praxis vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) wird unter Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell, keine Bearbeitungen 4.0 International – lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.
© 2022 – CC-BY-NC-ND (Werk), CC-BY-SA (Texte)
Herausgeber: Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR)Projektleitung: Noah Keuzenkamp und Evelyne SturmÜbersetzung aus dem Französischen: Brigitte Eggenschwyler (Kapitel 7, 9 und 11)Lektorat: Antonia BertschingerUmschlaggestaltung: Eliot GiselTitelbild: Keystone-SDA/Thomas HodelVerlag & Produktion: buch & netz (buchundnetz.com)
ISBN:978-3-03805-492-4 (Print – Softcover)978-3-03805-493-1 (PDF)978-3-03805-494-8 (ePub)Version: 1.01 – 20220706
Dieses Werk ist als buch & netz Online-Buch und als eBook in verschiedenen Formaten sowie als gedrucktes Buch verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL:https://buchundnetz.com/werke/menschenrechte-in-der-schweiz-staerken/.
Die französische Ausgabe des Werks ist verfügbar unter: https://buchundnetz.com/werke/renforcer-les-droits-humains-en-suisse/.
1
Verzeichnis der nachhaltigen Entwicklungsziele
Dank
VorworteHelen Keller / Yasmina Savoy
EinleitungJörg Künzli und Evelyne Sturm
Teil I Rechtsstaat und Menschenrechte
Menschenrechte als Grenze von MehrheitsentscheidenEva Maria Belser und Sandra EgliFöderalismus als Chance für die MenschenrechteEva Maria Belser und Sandra EgliEine kinderfreundliche Justiz ist gar nicht so schwierigChristina Weber Khan und Sandra HotzMenschenrechtskonforme HaftbedingungenDavid Krummen, Jörg Künzli und Meret LüdiMenschenrechtskonforme PolizeiarbeitAlexandra Büchler, Jörg Künzli und Judith WyttenbachTeil II Schutz für vulnerable Gruppen
Grundrechte vulnerabler Personen verwirklichenSandra Egli und Eva Maria BelserGesundheit von Sans-Papiers: Zugang zu Sozialversicherungen und GesundheitsversorgungAnne-Laurence Graf und Joëlle Fehlmann«Safer Spaces» für gewaltbetroffene Frauen im AsylbereichJulia Egenter und Anne-Laurence GrafBekämpfung rassistischer Diskriminierung am Arbeitsplatz: Mechanismen aus dem Gleichstellungsgesetz als InspirationAnne-Laurence Graf und Nesa ZimmermannTeil III Menschenrechte in der Coronakrise
Grund- und Menschenrechte als Leitlinien für die Bekämpfung von PandemienSandra Egli, Kelly Bishop, Eva Maria Belser und Jörg KünzliSozialhilfe für Migrant*innen: Die Problematik des «Nichtbezugs» während der CoronakriseAnne-Laurence GrafDas Partizipationsrecht von Kindern in der CoronapandemieSandra HotzTeil IV Verantwortung von Unternehmen
Eine umfassende menschenrechtliche Sorgfaltspflicht: Das regulatorische Modell der Zukunft?Christine Kaufmann und Res SchuerchMenschenrechte als Teil einer nachhaltigen Corporate GovernanceChristine Kaufmann und Res SchuerchAbkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Autor*innen
2
Bis 2030 sollen alle UNO-Mitgliedstaaten, darunter auch die Schweiz, bestimmte Nachhaltige Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) erreicht haben. Die Umsetzung der Empfehlungen des vorliegenden Buchs leistet dabei einen wichtigen Beitrag zum Erreichen von 10 der insgesamt 17 Ziele.
Die folgende Übersicht zeigt auf, für welche Ziele ein oder mehrere Kapitel relevante Empfehlungen aussprechen.
Nachhaltige Entwicklungsziele (SDGs)KapitelArmutArmut in all ihren Formen und überall beenden11, 12HungerDen Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern11GesundheitEin gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern7, 10, 12BildungInklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern12Nachhaltige Entwicklungsziele (SDGs)KapitelGeschlechtergleichheitGeschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen8Arbeit und WirtschaftDauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern9, 13, 14UngleichheitUngleichheit in, von und zwischen Ländern verringern1, 2, 6, 9, 11Konsum und ProduktionNachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen13, 14KlimaUmgehend Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen13, 14Frieden und GerechtigkeitFriedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen1, 2, 3, 4, 5, 6, 10, 123
Unser herzlicher Dank gilt als Erstes den Mitgliedern des Direktoriums für ihre Beiträge und die kritische Durchsicht der einzelnen Kapitel sowie allen Autor*innen: Sie haben diese Publikation überhaupt erst ermöglicht.
Ausserdem haben mehrere Expert*innen mit ihren wertvollen Anregungen zum Entstehen dieses Buchs beigetragen. Wir bedanken uns bei Alexandra Büchler (Kapitel 7), Valérie Burnens (Kapitel 7), Yves Jackson (Kapitel 7), Reto Locher (Kapitel 9 und 10), Remo Messerli (Kapitel 13 und 14) und Nesa Zimmermann (Kapitel 6). Unser Dank geht auch an Zoé Huber (Kapitel 12), Fabian Naumer (Kapitel 12), Samuel Ostendarp (Kapitel 4, 5, 10 und Verzeichnisse), Ella Sägesser (Kapitel 1, 2, 6 und 10), Dominik Steinacher (Kapitel 8) und Noel Stucki (Kapitel 4, 5 und Verzeichnisse) für ihre Unterstützung.
Ein grosser Dank geht an die Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle, Luisa Jakob, Noah Keuzenkamp, Nadège Piller, Claire Robinson und Evelyne Sturm, für die Koordination des Projekts und für das Projektmanagement sowie ihre vielen weiteren Beiträge zur Fertigstellung dieses Buchs. Danken möchten wir auch Nadine Cuennet Perbellini, Jean-François Cuennet und Floriane Bonnave für die Übersetzung vom Deutschen ins Französische, Brigitte Eggenschwyler für die Übersetzung vom Französischen ins Deutsche sowie Antonia Bertschinger für das Lektorat des deutschen Manuskripts. Schliesslich danken wir Andreas Von Gunten und Petra Bitterli vom Verlag buch & netz für die Realisierung dieses Buchs und Eliot Gisel für die Gestaltung des Umschlags.
Das SKMR
4
Menschenrechte sind nicht in Stein gemeisselt. Es wäre ein Trugschluss, zu glauben, dass der heutige menschenrechtliche Standard ewig Bestand haben wird. Rückblickend muss man vielleicht sogar eingestehen, dass der weltweite Siegeszug der Menschenrechte ohne die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wohl nicht stattgefunden hätte.
In der Schweiz setzte die Stärkung der Menschenrechte in Politik und Justiz mit einer gewissen Verspätung ein. Das Bundesgericht stärkte die Menschenrechte mit seiner fortschrittlichen Rechtsprechung, die wiederum vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beeinflusst war, und die politischen Organe waren bereit, internationale Menschenrechtsübereinkommen zu ratifizieren (z. B. die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, ratifiziert 1974, den Sozial- und den Zivilpakt von 1966, ratifiziert 1992, die Anti-Rassismuskonvention von 1965, ratifiziert 1994, das CEDAW-Übereinkommen von 1979, ratifiziert 1997). Man kann von einer eigentlichen Blütezeit der Menschenrechte sprechen, die etwa die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts umfasst. Sie war geprägt von einem Bestreben, Menschenrechte national und international in Gesetzgebung und Rechtsprechung zu verankern. Diese Phase profitierte von einem breiten gesellschaftlichen Konsens über die Grundrechte, die auch in der Politik nicht infrage gestellt wurden.
Diese Blütezeit neigte sich spätestens mit der Jahrtausendwende ihrem Ende entgegen. Die neue Phase ist von verschiedenen Tendenzen geprägt. Die Menschenrechte werden inhaltlich immer öfter in Zweifel gezogen, im öffentlichen Diskurs manchmal sogar diskreditiert. Gleichzeitig ist in Menschenrechtskreisen eine ebenso wichtige wie auch ernüchternde Erkenntnis gewachsen: Die Verrechtlichung reicht für einen starken Menschenrechtsschutz bei Weitem nicht aus. Die Durchsetzung von Menschenrechten über die Rechtsprechungsorgane kommt einem «End-of-the-Pipe»-Ansatz gleich, der mit hohen Transaktionskosten verbunden ist. Gerade die schwächsten Grundrechtsträger*innen haben faktisch oft keine Möglichkeit, sich an die Gerichte zu wenden. Strategische Prozessführung klingt zwar attraktiv; für die betroffenen Menschen ist der Weg bis zum endgültigen Urteil jedoch lang und kostspielig. Deshalb versucht man heute, menschenrechtliche Anliegen in einem früheren Stadium gesellschaftlich zu verankern und damit besser umzusetzen. Dazu gehört etwa, dass Menschen je nach ihrer Vulnerabilität und Resilienz differenziert behandelt werden müssen. Schliesslich zeigen uns Phänomene wie die Coronapandemie, die Migration und die Klimaerwärmung immer deutlicher, dass Menschenrechtsprobleme nicht an Landesgrenzen haltmachen. Menschenrechtliche Zusammenhänge müssen deshalb vermehrt auch in ihrem internationalen Kontext verstanden werden. Das verlangt eine international ausgerichtete Problemlösungskapazität, die auch auf das breite Spektrum der Grundrechtsadressat*innen ausgerichtet werden muss.
Wie sehr die Menschenrechtssituation in der Schweiz von diesen Trends beeinflusst ist, zeigt ein Blick in den vorliegenden Band. Die Leitlinien für die Bekämpfung der Coronapandemie werden uns auch in anderem Zusammenhang wertvolle Dienste leisten (Kapitel 10). Eine der grossen Herausforderungen in den kommenden Jahren wird sein, dass Menschenrechtsprobleme auf verschiedenen Ebenen (lokal, regional und international) angegangen werden müssen. Zum Bereich der konzeptionellen Stärkung der Menschenrechte gehören die Kapitel über die menschenrechtskonforme Polizeiarbeit (Kapitel 5), den Justizvollzug (Kapitel 4) und den Föderalismus (Kapitel 2). Mehrere Kapitel beschäftigen sich mit der Vulnerabilität diverser Grundrechtsträger*innen (insb. Kapitel 6–9 und 11). Die Problemlösungskapazität im nationalen und transnationalen Kontext wird in den beiden Kapiteln 13 und 14 zu den Unternehmen angesprochen. Schliesslich greift Kapitel 1 über den Rechtsstaat den Schwund des menschenrechtlichen Grundkonsenses in vielen Bereichen auf.
Die vielfältigen Beiträge zeigen nicht nur das stete und breite Bemühen des SKMR auf, die Menschenrechte in der Schweiz zu stärken. Sie belegen auch eindrücklich, dass die Schweiz gut beraten ist, sich bei diesem Prozess von fachkundigen Personen unterstützen zu lassen.
Helen Keller
Professorin für öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich, Richterin am Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina und ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Eine demokratische Gesellschaft baut wesentlich darauf auf, dass alle Menschen ihre Menschenrechte geniessen können. Die meisten Menschen in der Schweiz teilen sicherlich die Überzeugung, dass die Einhaltung der Menschenrechte von zentraler Bedeutung ist; als Gegenbeispiel würden sie Diktaturen anführen, in denen Gräueltaten begangen werden. Die Situation in der Schweiz – einem Land, das für seine Neutralität und seine blühende Wirtschaft bekannt ist – wird hingegen selten infrage gestellt. Manche dürften sich denn auch fragen, warum wir so streng auf die Einhaltung der Menschenrechte achten müssen.
Meine Antwort ist folgende: Die Menschenrechte sind nicht eine À-la-carte-Liste von Rechten, die nach Belieben ausgewählt werden können, sondern eine Leitlinie zur gerechten Behandlung der Menschen, immer unter Berücksichtigung der Bräuche und Gepflogenheiten eines Landes. Die Menschenrechte schützen uns vor der Willkür des Staats. Doch auch in der Schweiz werden sie nicht lückenlos eingehalten. Diese Erkenntnis geht aus der langjährigen Arbeit des SKMR hervor. Gerade die Coronakrise hat einige Schwachstellen besonders klar hervortreten lassen.
Wenn wir uns spezifischer mit den Rechten von Kindern und Jugendlichen befassen, stellen wir ebenfalls gewisse Mängel fest – obwohl sie die Erwachsenen von morgen sind. Umso wichtiger ist es, ihre Rechte zu schützen. Kapitel 12 dieses Buchs behandelt eine wesentliche Frage, die sich in der Pandemie aufgedrängt hat: Wer entscheidet über die Impfung eines Kindes? Reicht eine informierte Einwilligung des Kindes selbst? Allgemein wurden Jugendliche und vor allem Kinder während der Pandemie wenig angehört und einbezogen, obschon das Recht auf Partizipation ein Menschenrecht ist. Obwohl die Schutzmassnahmen das Leben der Kinder und Jugendlichen stark beeinflusst haben, waren diese in der Covid-19 Science Task Force kaum vertreten.
Die fehlende Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist ein allgemeines Problem, wie Kapitel 3 zur Stellung und Beteiligung von Kindern in Rechtsverfahren zeigt. Dieser mangelnde Einbezug der jungen Menschen ist umso erstaunlicher, als wir uns damit brüsten, das Land der Demokratie zu sein. Wie aber können wir erwarten, dass eine junge Person mit 18 Jahren anfängt, an Abstimmungen teilzunehmen und zu Themen von nationaler Tragweite Stellung zu beziehen, wenn sie sich vorher nie dazu äussern durfte?
Angesichts dieser Überlegungen möchte ich daran erinnern, wie wichtig die Einhaltung aller Menschenrechte in der Schweiz ist. Nutzen wir die Besonderheiten unseres Landes, und machen wir daraus eine Stärke!
Yasmina Savoy
Ehemalige Präsidentin des Jugendrats des Kantons Freiburg und einer kantonalen Jungpartei, derzeit Studentin der Politikwissenschaften an der Universität Genf
5
Wie steht es um die Menschenrechte in der Schweiz, und wie können menschenrechtliche Defizite behoben werden? Diese beiden Fragen haben die Arbeit des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) während der vergangenen elf Jahre geprägt. Seit 2011 war das SKMR dafür zuständig, die Umsetzung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen in der Schweiz zu fördern und Behörden und Nichtregierungsorganisationen sowie Unternehmen dabei zu beraten und zu unterstützen. Ursprünglich für eine Dauer von fünf Jahren geplant, wurde das Pilotprojekt vom Bundesrat zweimal verlängert. Nun soll 2023 eine permanente Nationale Menschenrechtsinstitution (NMRI) ihre Tätigkeit aufnehmen und das SKMR ablösen.
Das SKMR konnte in seiner Laufzeit weit über 200 Projekte realisieren. In verschiedenen Bereichen haben wir grundlegende Erkenntnisse geliefert und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Das vorliegende Buch ist die letzte Publikation des SKMR. Wir blicken darin nach vorne und möchten der Politik und Praxis zu 14 ausgewählten Menschenrechtsfragen neue Impulse und Ideen auf den Weg geben.
Dieses Buch und die Projekte des SKMR hätten sich nicht realisieren lassen ohne den grossen Einsatz der Mitarbeiter*innen und der Direktoriumsmitglieder, die sich über all die Jahre mit viel Engagement, Überzeugung und Innovationskraft für die Umsetzung der Menschenrechte in der Schweiz eingesetzt haben. Ihnen gebührt der grösste Dank.
Danken möchten wir zudem den beteiligten Universitäten und früheren Partner*innenorganisationen, die das SKMR über diese Jahre mitgetragen haben, sowie der Abteilung Frieden und Menschenrechte (EDA) und dem Bundesamt für Justiz (EJPD), die das SKMR finanziert und begleitet haben. Schliesslich danken wir allen Mitgliedern des Beirats für ihre Arbeit, den Auftraggeber*innen und langjährig für uns tätigen freien Mitarbeiter*innen, den vielen Unterstützer*innen und allen, die über die Jahre an unserer Arbeit interessiert waren.
Der künftigen NMRI wünschen wir, dass sie die erforderliche Unterstützung erhält, um sich als unabhängige und effektive Institution etablieren zu können, und dass sie zu einer respektierten und kritischen Stimme der Menschenrechtsarbeit in der Schweiz wird.
Jörg KünzliEvelyne Sturm
DirektorGeschäftsführerin
I
1
Eva Maria Belser und Sandra Egli
Fallbeispiel: Volksinitiative
Am 29. November 2009 nahmen Volk und Stände die Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» an. Sie war von der Bundesversammlung für gültig erklärt worden, weil sie kein zwingendes Völkerrecht verletze. Der Bundesrat hatte aber in der Botschaft und im Abstimmungsbüchlein unmissverständlich festgehalten, dass die Initiative sowohl gegen eine Reihe internationaler Menschenrechte als auch gegen Grundrechte der Bundesverfassung verstosse. Seit Annahme der Initiative wurde kein Gesuch zum Bau eines Minaretts eingereicht. Weder das Bundesgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatten deshalb Gelegenheit, sich zur Vereinbarkeit des Verbots mit der Religionsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot zu äussern.
Fallbeispiel: Bundesgesetz
Am 13. Juni 2021 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung das «Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus» an. Im Vorfeld der Abstimmung äusserten zahlreiche Rechtsprofessor*innen und Menschenrechtsexpert*innen Zweifel an der Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Zivilpakt und der Kinderrechtskonvention. Bundesrat und Parlament hingegen vertraten die Ansicht, das Gesetz sei mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar. Das Bundesgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte können sich zu der Frage nur äussern, wenn es einen konkreten Anwendungsfall gibt; und auch dann könnten sie nur eine Verletzung des Völkerrechts korrigieren, nicht aber eine der Bundesverfassung.
Fallbeispiel: Kantonsverfassung
Die Stimmberechtigten des Kantons Bern nahmen in der Volksabstimmung vom 24. November 2013 die Initiative «Keine Einbürgerung von Verbrechern und Sozialhilfeempfängern» an. Der Bundesrat äusserte im Rahmen des Gewährleistungsverfahrens Zweifel an der Vereinbarkeit der Bestimmung mit dem Gebot der Rechtsgleichheit und der Nichtdiskriminierung, kam aber zum Schluss, dass genügend Spielraum für eine grundrechtskonforme Umsetzung verbleibe. Im Nationalrat wurde diskutiert, ob die Bestimmung nur mit Vorbehalt zu genehmigen sei. Weil dies eine Praxisänderung bedeutet hätte, wurde darauf verzichtet und die Gewährleistung erteilt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die neue Verfassungsbestimmung damit vor Bundesgericht nicht angefochten werden.
Demokratie und Rechtsstaat bedingen und verstärken sich gegenseitig.[1] Auf der einen Seite hat die demokratische Mitbestimmung selbst eine grundrechtliche und damit rechtsstaatliche Bedeutung und ist für ihr Funktionieren auf verschiedene Grundrechte, wie etwa die Versammlungsfreiheit, angewiesen. Auf der anderen Seite zieht der Rechtsstaat seine Legitimität aus der Tatsache, dass das Recht auf dem Willen des Volks beruht. Die beiden Prinzipien sind für die Schweizerische Eidgenossenschaft gleichermassen zentral, stehen aber, wie die Fallbeispiele zeigen, auch in einem Spannungsfeld: Gemäss dem Demokratieprinzip fällt die Mehrheit des Volks Entscheide, gemäss dem Rechtsstaatsprinzip haben Einzelne und vulnerable Gruppen Anspruch auf Schutz. Eine der wichtigsten Aufgaben des Rechtsstaats ist es deshalb, mit geeigneten Instrumenten dafür zu sorgen, dass Entscheide nicht nur vom Volk, sondern auch für das ganze Volk gefällt werden und dass Gruppen von Menschen nicht diskriminiert oder individuelle Rechte von Einzelnen nicht verletzt werden. Die Herausforderung dabei ist, den Mehrheiten einen möglichst grossen politischen Handlungsspielraum einzuräumen und gleichzeitig zu verhindern, dass sie sich über die Grund- und Menschenrechte hinwegsetzen.
Im Folgenden werden drei Konstellationen analysiert, in denen Konflikte zwischen Demokratie und Rechtsstaat in der Schweiz offensichtlich werden: Erstens, wenn eine Volksinitiative zur Abstimmung kommt, die im Widerspruch zu den Grundrechten der Bundesverfassung[2] oder den von der Schweiz ratifizierten internationalen Menschenrechtsverträgen steht (vgl. Fallbeispiel «Volksinitiative»). Zweitens, wenn das Parlament ein Bundesgesetz erlässt, das gegen Grund- oder Menschenrechte verstösst (vgl. Fallbeispiel «Bundesgesetz»). Drittens, wenn die Bundesversammlung eine Bestimmung einer Kantonsverfassung genehmigt («gewährleistet»), obwohl diese mit Grund- oder Menschenrechten unvereinbar ist (vgl. Fallbeispiel «Kantonsverfassung»).
Bei der demokratischen Verwirklichung der Menschenrechte geht es stets um das richtige Gleichgewicht zwischen den Möglichkeiten der Mehrheiten und den Rechten der Einzelnen. Dieses Gleichgewicht muss immer wieder neu erlangt werden. Gleichberechtigte Dialoge zwischen den Gewalten – der Legislative auf der einen und der Judikative auf der anderen Seite – sind am besten geeignet, Demokratie und Rechtsstaat möglichst umfassend zu schützen. Die folgenden Vorschläge zielen demnach auf eine Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den höchsten Instanzen im Staat sowie auf die Schaffung oder Stärkung anderer Akteur*innen, die als Mittler*innen diesen Dialog fördern können. Dialoge ermöglichen es, dass Fragen zwischen verschiedenen Partner*innen auf Augenhöhe debattiert und Argumente ausgetauscht werden; sie schliessen nicht aus, dass bestimmte Fragen im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeit autoritativ entschieden werden.
Seit der Einführung des Initiativrechts im Jahr 1891 wurden 39 Volksinitiativen lanciert, die aus grund- oder menschenrechtlicher Sicht problematisch waren.[3] 23 davon kamen zur Abstimmung, acht wurden angenommen.[4] Solche Initiativen betreffen oft Gruppen, die in der direkten Demokratie strukturell benachteiligt sind.[5] Neben religiösen Minderheiten, wie bei der erwähnten Initiative zum Minarettverbot,[6] sind dies etwa nicht stimmberechtigte Migrant*innen[7] oder Menschen in Haft, die kaum Möglichkeiten haben, sich in einen Abstimmungskampf einzubringen (vgl. Kapitel 6).[8]
Zu Abstimmungen über grund- und menschenrechtswidrige Vorlagen kommt es, weil auf Bundesebene die einzige inhaltliche Schranke des Initiativrechts das zwingende Völkerrecht ist.[9] Initiativen, die im Widerspruch zu internationalen Menschenrechten oder zu den Grundrechten der Bundesverfassung stehen, sind hingegen nach geltender Praxis für gültig zu erklären und zur Abstimmung zu bringen. Die Prüfung der Gültigkeit erfolgt dabei durch die Bundesversammlung.[10] Sie hat seit 1891 erst eine Initiative wegen Verletzung zwingender Bestimmungen des Völkerrechts für ungültig und eine weitere für teilungültig erklärt.
Wird eine grund- und menschenrechtswidrige Initiative angenommen, steht die Schweiz vor der schwierigen Situation, entweder gegen Völkerrecht und Grundwerte der Verfassung zu verstossen oder geltendes Verfassungsrecht nicht anzuwenden. Verschiedene internationale Menschenrechtsverträge, so etwa die Europäische Menschenrechtskonvention[11] und die UNO-Menschenrechtspakte,[12] sind rechtlich oder faktisch unkündbar, weshalb der Austritt der Schweiz aus diesen Abkommen keine Handlungsoption darstellt. Ebenso wenig existiert eine Regel, wie mit verfassungsinternen Norm- und Wertwidersprüchen umzugehen ist. Gemäss dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Verfassungsnormen geht keine Bestimmung der anderen per se vor.
Deshalb wird in der Schweiz seit Längerem diskutiert, die materiellen Ungültigkeitsgründe bei eidgenössischen Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung zu erweitern. Bereits 1942 forderte Hans Nef, dass das Initiativrecht bei den angeborenen und unveräusserlichen Menschenrechten seine Grenze finden solle.[13] Seither gab es unzählige Vorschläge, wie die Ungültigkeitsgründe der Verfassung erweitert werden könnten. Eine rechtlich und politisch überzeugende Lösung ist dabei noch nicht gefunden worden. Trotzdem: Das Initiativrecht braucht eine Schranke, die klarstellt, dass die Grund- und Menschenrechte nicht zur freien Disposition der Mehrheit von Volk und Ständen stehen, sondern aller staatlichen Macht Schranken setzen – auch der verfassungsgebenden Gewalt.
Im Fürstentum Liechtenstein bildet sämtliches übergeordnetes Recht eine materielle Schranke des Initiativrechts.[14] Eine so weitgehende materielle Schranke des Initiativrechts ist für die Schweiz nicht zu befürworten. Würde das gesamte Völkerrecht (inklusive unwichtiger, veralteter und demokratisch schwach legitimierter Verträge) der verfassungsgebenden Gewalt Schranken setzen, wäre das Demokratieprinzip viel stärker eingeschränkt, als die Garantie der Grund- und Menschenrechte dies erfordert. Der verfassungsgebenden wie auch der gesetzgebenden Gewalt ist es unter Umständen gestattet, Völkerrecht zu verletzen und die völkerrechtliche Verantwortung für diesen Entscheid zu tragen (sog. Schubert-Praxis), z. B. wirtschaftliche Vergeltungsmassnahmen als Folge der Verletzung eines bilateralen Freihandelsvertrags in Kauf zu nehmen. Hingegen ist es dem Staat – und damit auch dem*der Verfassungsgeber*in – grundsätzlich verwehrt, Grund- und Menschenrechte zu verletzen (sog. PKK-Praxis)[15], denn die Grund- und Menschenrechte dienen gerade dazu, Einzelne und Minderheiten auch vor Verletzungen zu schützen, die die Zustimmung der Mehrheit finden. Die Grundrechte der Bundesverfassung und die menschenrechtlichen Garantien des Völkerrechts sind deshalb als Schranke des Initiativrechts anzuerkennen. Sie lassen es sehr wohl zu, dass die verfassungsgebende Instanz Grund- und Menschenrechte einschränkt, nicht aber, dass sie Kerngehalte, also den Wesensgehalt der Grundrechte, verletzt, dass sie diskriminiert oder unverhältnismässige Einschränkungen vorsieht (Empfehlung a).
Kontrovers diskutiert werden nicht nur die Ungültigkeitsgründe, sondern auch die Frage, welche Instanz zu welchem Zeitpunkt über die Gültigkeit von Volksinitiativen entscheiden soll. Dass gegenwärtig die Bundesversammlung als politische Behörde für diesen Entscheid zuständig ist – und Volksinitiativen nach dem Grundsatz in dubio pro populo («im Zweifel für das Volk») für gültig erklärt,[16] obwohl sie sich unter Umständen gegen Teile des Volks richten –, vermag nicht zu befriedigen. Ob eine Volksinitiative mit den Grund- und Menschenrechten vereinbar ist oder nicht, ist eine Rechtsfrage, die von einem Gericht zu beantworten ist. Dies folgt aus der Anwendung der Gewaltenteilung auf die Grundrechte: Die Legislative bestimmt die öffentlichen Interessen und schafft die gesetzlichen Grundlagen zu deren Schutz. Schränken diese Gesetze Grundrechte ein, so erfolgt eine Überprüfung durch die Judikative, namentlich in Bezug auf die Verhältnismässigkeit. Es erscheint deshalb sinnvoll, dass das Bundesgericht prüft, ob Volksinitiativen mit den Ungültigkeitsgründen vereinbar sind, und als «oberste rechtsprechende Behörde des Bundes»[17] in dieser entscheidenden Frage Recht spricht. Die richterliche Beurteilung sollte dabei möglichst früh, spätestens aber nach erfolgreicher Einreichung der Initiative erfolgen.
Für das Bundesgericht spricht, neben seiner Autorität und Legitimität, dass es in Bezug auf kantonale Initiativen bereits eine ähnliche Rolle innehat. Wird eine kantonale Initiative trotz Zweifeln an ihrer Vereinbarkeit mit Grund- und Menschenrechten von Parlament oder Regierung für gültig erklärt, kann der Entscheid vor Bundesgericht angefochten werden. Das Bundesgericht hat auch immer wieder kantonale Initiativen wegen der Verletzung von Grundrechten für ungültig erklärt. Die entsprechende Praxis ist unbestritten und hat sich bewährt (Empfehlung a).
Die gesetzgebende Gewalt ist gemäss Art. 35 Abs. 2 BV an die Grundrechte gebunden. Hält sie sich nicht daran und erlässt sie eine grundrechtswidrige Bestimmung, hat dies auf Bundesebene aber kaum Konsequenzen. Anders als die meisten europäischen Staaten kennt die Schweiz keine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit. Einerseits ist die abstrakte Normenkontrolle – also die Überprüfung ausserhalb eines konkreten Anwendungsfalls – auf Bundesebene ausgeschlossen.[18] Andererseits ist auch die konkrete Normenkontrolle – die Überprüfung im Rahmen eines konkreten Falls – eingeschränkt. Gemäss Art. 190 BV hat das Bundesgericht Gesetze auch dann anzuwenden, wenn sie gegen Verfassungsrecht verstossen. Zwar gilt das Anwendungsgebot auch für das Völkerrecht, sodass das Bundesgericht Bundesgesetzen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention die Anwendung versagen kann (PKK-Praxis).[19] Die entsprechende Rechtsprechung ist jedoch nicht konsistent[20] und schützt nur die (minimalen) Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention, nicht aber die Grundrechte der Bundesverfassung.[21] Dies hat zur Folge, dass die Normenhierarchie in der Schweiz nicht konsequent durchgesetzt wird und auf demokratischem Weg Gesetzesänderungen zustande kommen können, die Grund- und Menschenrechte verletzen. Wie viele grundrechtsverletzende Bundesgesetze in der Schweiz in Kraft sind und angewendet werden, lässt sich kaum feststellen.[22]
Die limitierte Verfassungsgerichtsbarkeit hat auch den grossen Nachteil, dass das Bundesgericht – wenn die Zuständigkeit für einen Rechtsbereich beim Bund liegt – kaum Gelegenheit erhält, sich zu den Garantien der Bundesverfassung zu äussern, diese zu konkretisieren und weiterzuentwickeln. Die Konkretisierung der Grundrechte erfolgt deshalb in der Schweiz – im Unterschied zu anderen Staaten – nicht in einem Dialog zwischen Legislative und Judikative, sondern durch die gesetzgebende Gewalt allein. Nur die Europäische Menschenrechtskonvention setzt ihr Schranken. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann aber nicht die Aufgabe übernehmen, die Grundrechtsentwicklung der Schweiz anzuleiten. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, in Bezug auf die Konventionsrechte ein gesamteuropäisches Minimum durchzusetzen (vgl. Kapitel 2). Im Ergebnis führt dies dazu, dass die gesetzgebende Instanz auf Bundesebene allein über den Inhalt und die Schranken der Grundrechte der Bundesverfassung entscheidet. Einzelnen oder Gruppen von Personen, die dadurch in ihren Rechten und Freiheiten beeinträchtigt werden, wird das Recht auf eine wirksame Beschwerde vorenthalten.
Aus grundrechtlicher Sicht braucht es deshalb die – politisch unliebsame – Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen. Nur sie kann sicherstellen, dass die Grund- und Menschenrechte auch in jenen Bereichen verwirklicht werden, die in der Zuständigkeit des Bundes liegen. Es würde der Schweiz ermöglichen, in allen Grundrechtsbereichen eine eigenständige Rechtsprechung zu entwickeln und für die Überprüfung von Bundesgesetzen nicht auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angewiesen zu sein.
Die meisten politischen Vorstösse fokussierten bisher auf den Ausbau der konkreten Normenkontrolle, also die Überprüfung im Rahmen eines konkreten Anwendungsfalls.[23] Dagegen gibt es wenige Forderungen, auch die abstrakte Normenkontrolle in gewissen Bereichen zuzulassen, also eine Überprüfung ausserhalb eines konkreten Falls.[24] Vor dem Hintergrund, dass die abstrakte Normenkontrolle gegenüber kantonalen und kommunalen Erlassen eine lange Tradition hat, ist dies erstaunlich. Das Bundesgericht auferlegt sich in seiner entsprechenden Rechtsprechung, aufgrund der föderalistischen Zuständigkeitsordnung und des Verhältnismässigkeitsprinzips, grosse Zurückhaltung. Gemäss eigener Zählung kam es seit dem Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes im Jahr 2007 zu 168 Verfahren nach Art. 82 Abs. 2 BGG.[25] Nur 51 Beschwerden wurden teilweise oder ganz gutgeheissen.[26] Weshalb dies auf Bundesebene anders herauskommen würde, ist nicht ersichtlich.
Die Bundesverfassung erlaubt es bereits heute, auf Gesetzesebene Ausnahmen vom Verbot der abstrakten Normenkontrolle vorzusehen.[27] Die Möglichkeiten sind zwar eingeschränkt, weil das Anwendungsgebot nach Art. 190 BV nicht über diesen Umweg ausgehebelt werden darf.[28] Einzelne, sinnvolle Erweiterungen des Gesetzesrechts könnten aber bereits gestützt auf das geltende Verfassungsrecht vorgenommen werden. Hier werden zwei Erweiterungen empfohlen (Empfehlung b):
Im Krisenfall darf der Bundesrat auch schwere Grundrechtseinschränkungen vorsehen, was im Normalfall nur der demokratisch höher legitimierten gesetzgebenden Gewalt zusteht. Trotzdem können diese Notverordnungen heute nur im konkreten Anwendungsfall überprüft werden. Dies dauert aber teils so lange, dass in der Zwischenzeit das Rechtsschutzinteresse erlöschen kann.[29] Es scheint deshalb unerlässlich, dass Notverordnungen des Bundesrats generell-abstrakt angefochten werden können. Dies könnte auch ihre Legitimität und Akzeptanz verbessern. Um die Entscheidungsfähigkeit im Krisenfall zu erhalten, kann vorgesehen werden, dass entsprechende Beschwerden keine aufschiebende Wirkung haben.In Reaktion auf die Anschläge auf das World Trade Center 2001 verabschiedete der deutsche Bundestag 2005 eine Bestimmung, die es erlaubte, ein von Selbstmordattentäter*innen entführtes Passagierflugzeug im Notfall abzuschiessen. Diese wurde 2006 vom Bundesverfassungsgericht für ungültig erklärt, weil es die Menschenwürde verletze, Passagiere als blosse Objekte für eine Rettungsaktion zum Schutze anderer zu nutzen.[30] In der Schweiz stünde in einem ähnlichen Fall – anders als in Deutschland – nur der Weg über die konkrete Normenkontrolle offen. Dies würde aber bedeuten, dass ein Abschuss eines Luftfahrzeugs abgewartet werden müsste. Dass Grundrechtsträger*innen zuerst eine (mögliche) Kerngehaltsverletzung erleiden müssen, um Beschwerde führen zu können, ist nicht vertretbar und verhindert einen rechtzeitigen und wirksamen Schutz vor schweren und nicht wiedergutzumachenden Grundrechtsverletzungen. Die abstrakte Normenkontrolle muss deshalb möglich sein, wenn es um die Verletzung von Kerngehalten, namentlich der Menschenwürde, geht.Bei der abstrakten Normenkontrolle entscheiden Gerichte zu einem Zeitpunkt über einen Erlass, in dem teils noch Unsicherheiten über seine Auswirkungen auf die Grund- und Menschenrechte bestehen. Ein Beispiel aus dem Ausland zeigt, wie Gerichte mit solchen Situationen umgehen können:
Good Practice: Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenz, Gesetze aufzuheben, die das Grundgesetz verletzen. In Fällen, bei denen die Auswirkungen nicht von vornherein klar sind, sieht das Bundesverfassungsgericht jedoch davon ab. Dafür auferlegt es der Legislative sogenannte Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten. Bspw. verpflichtet es die Legislative dazu, bestimmte Daten zu erheben, die es erlauben, zu evaluieren, wie sich ein Gesetz auf die Grundrechte auswirkt.[31]
Neben der (mindestens punktuellen) Zulassung der abstrakten Normenkontrolle braucht es die konkrete Normenkontrolle gegenüber Bundesgesetzen. Diese wirft allerdings eine Reihe komplexer verfassungsrechtlicher Fragen auf.[32] Entsprechende Vorstösse scheiterten denn bisher auch regelmässig am politischen Widerstand. Die politische Debatte über die Rolle der Justiz bei der Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte muss also weitergeführt werden.
Als erster Schritt zu einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen scheint es angezeigt, die – grundsätzlich unbestrittene – PKK-Praxis durch eine Kodifizierung zu stärken und ihre konsistente Anwendung zu fördern. Die PKK-Praxis stellt einen Ausgleich zwischen Demokratie und Rechtsstaat her: Sie erlaubt es der gesetzgebenden Gewalt, mit Wissen und Wollen von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz abzuweichen, setzt deren Willen aber Schranken, wenn fundamentale Menschenrechtsgarantien betroffen sind. In diesem Fall ist es nämlich nicht das Volk, das die Folgen seines Entscheids zu tragen hat (etwa aufgrund völkerrechtlicher Vergeltungsmassnahmen), sondern es sind Einzelne, deren fundamentale Rechte und Freiheiten verletzt werden. Die Menschenrechtsgarantien sind aber gerade dazu da, der einzelnen Person ihre Rechte und Freiheiten zu garantieren – auch wenn die Mehrheit sie verletzen will. Grundrechtsträger*innen sind deshalb darauf angewiesen, dass unabhängige Gerichte Mehrheitsentscheide überprüfen (Empfehlungen c und d).
Die PKK-Praxis betrifft nur die fundamentalen Garantien des Völkerrechts, nicht aber die – ebenfalls vorrangigen – Grundrechte der Bundesverfassung. Deswegen ist es wichtig, auch weitergehende Massnahmen zu erwägen, die den Dialog zwischen Bundesgericht und Bundesversammlung stärken und so das Gleichgewicht zwischen Demokratie und Rechtsstaat verbessern können. Hier wird Folgendes empfohlen:
Gegenwärtig statuiert die Verfassung ein Anwendungsgebot, jedoch kein Prüfungsverbot. Das Bundesgericht darf deshalb auch dort, wo es an die Gesetzgebung gebunden ist, Appellentscheide fällen und die Legislative zu Anpassungen aufrufen. Appellentscheide sind aber selten.[33] Dies hängt mit der grundsätzlichen Zurückhaltung des Bundesgerichts und mit der geringen Attraktivität entsprechender Beschwerden zusammen. Zur Verbesserung der Rechtssicherheit wäre es deshalb sinnvoll, das Anwendungsgebot durch ein Prüfungsgebot zu ergänzen, das das Bundesgericht verpflichten würde, sich zur Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht zu äussern. Zudem müsste die unentgeltliche Rechtspflege grosszügig gewährleistet werden, wenn eine Beschwerde für die Grundrechtsentwicklung der Schweiz wichtig, der praktische Nutzen für die Beschwerdeführer*innen aber aufgrund des Anwendungsgebots gering ist. Schliesslich müssten Appellentscheide leichter auffindbar sein, bspw. durch eine einheitliche Kennzeichnung, um die wissenschaftliche und die politische Auseinandersetzung mit ihnen zu erleichtern (Empfehlungen e, f und g).Die Rubrik «Hinweise an den Gesetzgeber» in den jährlichen Geschäftsberichten des Bundesgerichts existiert seit 2007 und dient dazu, auf Unzulänglichkeiten in der Gesetzgebung hinzuweisen. Neben Hinweisen zu Übersetzungsfehlern, Gesetzeslücken und anderen gesetzgeberischen Versehen[34] äussert sich das Bundesgericht darin auch zu gesetzlichen Regeln, die in der Anwendung Probleme bereiten oder bereiten könnten. Seit 2007 hat das Bundesgericht in zwölf Fällen auf gesetzgeberische Mängel aus Grund- und Menschenrechtssicht hingewiesen.[35] Während sich gewisse Hinweise auf Appellentscheide abstützten,[36] erfolgten andere vor dem Hintergrund der internationalen Rechtsprechung. So verwies das Bundesgericht etwa darauf, dass die Doppelspurigkeit von Straf- und Administrativverfahren im Rahmen des Entzugs des Fahrausweises aufgrund eines neuen Entscheids des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglicherweise nicht mehr mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sei.[37] Um die Sichtbarkeit des Geschäftsberichts des Bundesgerichts zu erhöhen und den Dialog zwischen Justiz und Legislative zu offizialisieren, wäre es angebracht, dass die Bundesversammlung den Geschäftsbericht jährlich offiziell zur Kenntnis nimmt (Empfehlung h).Solange die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz eingeschränkt ist, muss auch darüber nachgedacht werden, wie potenzielle Grund- und Menschenrechtsverletzungen möglichst früh im politischen Prozess erkannt und verhindert werden können. Im Folgenden wird deshalb diskutiert, wie eine solche präventive Rechtskontrolle gestärkt werden könnte.
Im gesamten Rechtsetzungsprozess werden immer wieder Personen ausserhalb von Verwaltung und Parlament an der Meinungsbildung und Entscheidfindung beteiligt.[38] Zentrales Mittel dazu ist das Vernehmlassungsverfahren. Heute dient es v. a. dazu, Vorlagen «referendumsfest» zu machen. Grund- und Menschenrechtseinschränkungen betreffen aber häufig Gruppen, die nicht über genügend gesellschaftlichen Rückhalt verfügen, um mit einem Referendum drohen zu können. Kleinere Anpassungen würden es erlauben, das Vernehmlassungsverfahren inklusiver zu gestalten. So wäre es etwa sinnvoll, die Liste der ständigen Vernehmlassungsadressat*innen um Menschenrechtsakteur*innen zu ergänzen[39] und spezifische Mechanismen für vulnerable Gruppen vorzusehen, wie z. B. die Möglichkeit mündlich angehört zu werden (Empfehlungen i und j[40]).
Es ist davon auszugehen, dass künftig auch die neue Nationale Menschenrechtsinstitution (NMRI) der Schweiz eine wichtige Stimme im Vernehmlassungsverfahren sein wird. Damit die NMRI ihre Rolle als Hüterin der Grund- und Menschenrechte effektiv wahrnehmen kann, braucht sie aber zusätzliche Kompetenzen, die im Gesetz, auf dem sie basiert, nicht vorgesehen sind.[41] Die NMRI in Deutschland z. B. berichtet dem Bundestag jährlich über die Entwicklung der nationalen Menschenrechtssituation.[42] Der Bericht wird im Bundestag diskutiert[43] und trägt damit zu einer «selbstkritischen Grundhaltung»[44] der Legislative bei. Es wäre zweifellos angebracht, wenn auch die neue NMRI der Schweiz zuhanden der Bundesversammlung berichten und sich dabei auch zum Legislaturprogramm äussern würde (Empfehlung k).
Es darf aber nicht allein Sache Externer sein, Grund- und Menschenrechtsfragen in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Deshalb ist es wichtig, dass die verantwortlichen Stellen in der Bundesverwaltung – insbesondere das Bundesamt für Justiz (BJ) und die Direktion für Völkerrecht (DV)[45] – gestärkt werden. Ein Vergleich mit dem Ausland zeigt nämlich, dass die entsprechenden Mittel und Kompetenzen in der Schweiz eher beschränkt sind.[46] Für eine vertiefte Kontrolle fehlt es an Zeit, Personal und Unabhängigkeit.[47] Es braucht deshalb eine Aufstockung der personellen Ressourcen sowie mehr Unabhängigkeit, beispielsweise indem in der Organisationsverordnung verankert wird, dass BJ und DV im Rahmen der Rechtsetzungsbegleitung nicht weisungsgebunden sind und zwingend auch zum Zeitpunkt des Mitberichtsverfahrens nochmals Gelegenheit erhalten, Stellung zu nehmen (Empfehlung l).
Gemäss Parlamentsgesetz äussert sich der Bundesrat in der Botschaft zur Rechts‑, Verfassungs- und Völkerrechtskonformität eines Erlasses.[48] Weil die entsprechenden Ausführungen aber häufig summarisch ausfielen,[49] präzisiert der Botschaftsleitfaden seit 2015, dass gewichtige abweichende Einschätzungen und Meinungen bezüglich Vereinbarkeit von Erlassentwürfen mit dem übergeordneten Bundesrecht, die in der Ämterkonsultation geäussert wurden oder in Lehre und Praxis vertreten werden, in der Botschaft klar dargestellt und beurteilt werden müssen.[50] Dies erscheint auch deshalb geboten, weil es die Transparenz erhöht und Akteur*innen, die sich für mehr Rechtsstaatlichkeit einsetzen, bei ihrer Entscheidfindung unterstützt.
Eine Auswertung der Botschaften der Jahre 2015, 2016, 2019, 2020 und 2021 zeigt jedoch, dass entsprechende Erläuterungen immer noch nur in einer Minderheit der Botschaften vorkommen und, wenn sie vorkommen, meist sehr kurz ausfallen. Nur in vier Fällen war der Vereinbarkeit mit den Grundrechten ein eigenes Kapitel gewidmet. Differenzen innerhalb der Bundesverwaltung werden nicht offen angesprochen, und kritische Stimmen aus der Lehre fehlen beinahe vollständig.[51] Dies mag u. a. damit zusammenhängen, dass das Parlamentsgesetz die Pflicht zur Erwähnung der Grundrechte einschränkt: Diese besteht nur «soweit substanzielle Angaben dazu möglich sind»[52]. Es ist deshalb über eine Anpassung des Parlamentsgesetzes an den Wortlaut des Botschaftsleitfadens nachzudenken (Empfehlung m).
Nach der Übergabe des Geschäfts von der Regierung an das Parlament findet keine systematische Rechtskontrolle mehr statt. Namentlich werden Änderungsanträge in den Kommissionen oder im Plenum nicht mehr auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht überprüft. Eine Möglichkeit, die parlamentarische Selbstkontrolle zu verbessern, wäre die Schaffung einer spezialisierten Kommission, wie sie etwa Finnland kennt. Die dortige Verfassungskommission setzt sich aus 17 Parlamentarier*innen zusammen und prüft auf Antrag von Regierung oder Parlament Gesetzesvorlagen auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht. Bestehen Zweifel an der Menschenrechtskonformität einer Vorlage, ist der Einbezug der Verfassungskommission zwingend.[53] Obwohl die Stellungnahmen rechtlich nicht verbindlich sind, kann dadurch die rechtsstaatliche Qualität parlamentarischer Entscheide verbessert werden, weil die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit gefördert wird. Interessant ist, dass ähnliche Modelle auf kantonaler Ebene existieren (Empfehlung n):[54]
Good Practice: Qualitätskontrolle durch gemischte Kommission
Die Redaktionskommission des Grossen Rats des Kantons Bern überprüft Verfassungs- und Gesetzesvorlagen auf deren sprachliche und juristische Qualität, also u. a. auch auf die Frage, ob ein Erlass übergeordnetes Recht verletzt.[55] Anders als in den meisten anderen Kantonen bilden in der Redaktionskommission nicht Ratsmitglieder, sondern externe Fachleute die Mehrheit. Aktuell gehören der Kommission ein Vertreter der Universität Bern sowie drei Vertreter*innen der obersten kantonalen Justizbehörden an.[56]
Nach dem parlamentarischen Prozess kommt es gegebenenfalls auch zu einer Volksabstimmung. In deren Vorfeld informiert der Bundesrat die Stimmberechtigten, u. a. mithilfe des Abstimmungsbüchleins. Das Abstimmungsbüchlein ist für viele Stimmbürger*innen eine wichtige Informationsquelle. Verweist der Bundesrat darin prominent auf allfällige rechtsstaatliche Defizite einer Vorlage, erleichtert dies Stimmbürger*innen die Auseinandersetzung mit diesen Bedenken, ohne dass ihre Abstimmungsfreiheit eingeschränkt wird (Empfehlung m).
Ist ein Gesetz in Kraft getreten, so sind die rechtsanwendenden Behörden, namentlich Verwaltungen und Gerichte, verpflichtet, dieses grundrechtskonform anzuwenden und auf allfällige rechtsstaatliche Probleme aufmerksam zu machen. Aber auch die Legislative soll die Wirkung ihres Gesetzes überprüfen und Verbesserungen anstreben, wenn sich Widersprüche zum übergeordneten Recht zeigen. Eine Pflicht zur Grundrechtsevaluation, wie sie der Kanton Genf kennt, kann dabei unterstützen. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit dazu geeignet wäre etwa die neue NMRI (Empfehlung o):
Good Practice: Grundrechtsevaluation
Die Verfassung des Kantons Genf sieht in Art. 42 vor, dass die Verwirklichung der Grundrechte Gegenstand einer regelmässigen unabhängigen Überprüfung ist. Nachdem die Genfer Behörden keine Schritte unternommen hatten, um diesen Artikel umzusetzen, verfasste ein Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen einen eigenen Evaluationsbericht. Dessen Ziel war es auch, die Diskussion über die Umsetzung von Art. 42 zu lancieren. So steht etwa die Frage im Raum, welches Organ geeignet wäre, die Überprüfung durchzuführen.
Kantonsverfassungen müssen von der Bundesversammlung gewährleistet werden.[57] Die Gewährleistung umfasst sowohl die Politik- als auch die Rechtskontrolle.[58] Diese historisch bedingte Regelung ist heute aus vielen Gründen unbefriedigend. Es mag einem politischen Organ zwar durchaus anstehen, darüber zu entscheiden, ob die Verfassung eines Gliedstaats hinreichend «demokratisch» ist, um Teil des Ganzen bilden zu können. Ob einzelne Normen dieser Verfassung aber im Einklang mit dem übergeordneten Recht, namentlich den Grundrechten, stehen, stellt eine Rechtsfrage dar, die von Gerichten beantwortet werden müsste.
Das Bundesgericht lehnt es in ständiger Rechtsprechung ab, Kantonsverfassungen im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle zu überprüfen.[59] Erst seit 1985 überprüft es kantonale Verfassungsbestimmungen im konkreten Fall auf deren Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht, jedoch nur, «wenn das übergeordnete Recht im Zeitpunkt der Gewährleistung durch die Bundesversammlung noch nicht in Kraft getreten und deshalb bei der vorgängigen Überprüfung nicht zu berücksichtigen war».[60] Diese Rechtsprechung führt zu einer empfindlichen Rechtsschutzlücke: Menschen, die aufgrund einer Kantonsverfassung eine Einschränkung ihrer Rechte und Freiheiten erleiden, wird der Zugang zu einem unabhängigen Gericht so gut wie verwehrt. Die Praxis des Bundesgerichts wird denn auch, so hat es selbst das Bundesgericht festgehalten, mit guten Gründen und beinahe einhellig kritisiert.[61] Die Immunisierung untergeordneter Verfassungen stellt auch im Vergleich mit anderen föderalistisch organisierten Staaten eine Ausnahme dar. In Österreich bspw. können die Landgesetze sowohl abstrakt als auch konkret auf ihre Kompatibilität mit übergeordnetem Recht überprüft werden.[62]
Auch aus praktischer Sicht vermag die gegenwärtige Regelung nicht zu befriedigen. Während das Bundesgericht Normen von Kantonsverfassungen nur sehr eingeschränkt prüft, überprüft es Gesetzesnormen, welche die Verfassungsnormen umsetzen, im Rahmen der abstrakten und konkreten Normenkontrolle frei. Daraus können Unstimmigkeiten in der Rechtsentwicklung folgen, wie das Beispiel der Wahlkreiseinteilung illustriert: Nachdem das Bundesgericht mehrere kantonale und kommunale (Gesetzes‑)Bestimmungen aufgehoben hatte, weil sie die Wahlrechtsgleichheit verletzten,[63] wurde eine ähnliche Bestimmung in einer Kantonsverfassung von der Bundesversammlung nur knapp nicht gewährleistet[64] – und dies, obwohl der Bundesrat in der Botschaft klar festgehalten hatte, dass der entsprechende Paragraph bundesrechtswidrig sei.[65]
Schliesslich führt die Rechtsprechung auch zu einer Ungleichbehandlung unterschiedlicher Verfassungsbestimmungen. Der Entscheid, ob eine kantonale Volksinitiative gültig oder ungültig ist, kann über die Stimmrechtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden.[66] Kommt es zu einer Beschwerde, so prüft das Bundesgericht die Vereinbarkeit der Initiative mit übergeordnetem Recht. Kommt es dagegen zu keiner Stimmrechtsbeschwerde, kann ein Gewährleistungsbeschluss durch die Bundesversammlung erfolgen, der die Norm vor einer späteren gerichtlichen Überprüfung schützt. Wer keine Stimmrechtsbeschwerde ergriffen hat, verliert damit im Ergebnis den Rechtsschutz.
Verfassung und Gesetz schliessen die abstrakte Normenkontrolle kantonaler Verfassungsbestimmungen nicht von vornherein aus.[67] Eine abstrakte Normenkontrolle würde allerdings voraussetzen, dass das Gesetz den Gewährleistungsbeschluss der Bundesversammlung für anfechtbar erklären würde. Bereits nach heutigem Recht wäre es dagegen ohne Weiteres zulässig, die konkrete Normenkontrolle voraussetzungslos zuzulassen. Die Zurückhaltung des Bundesgerichts bei der Überprüfung kantonaler Verfassungsnormen ist weder geboten noch sinnvoll. Ein wirksamer Rechtsschutz erfordert vielmehr, dass das Bundesgericht auf Grundrechtsbeschwerden eintritt, die vorfrageweise die Überprüfung einer kantonalen Verfassungsnorm verlangen (Empfehlung p).
Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:
Das Bundesgericht erklärt Volksinitiativen für ungültig, wenn diese die Grundrechte der Bundesverfassung oder menschenrechtliche Garantien des Völkerrechts verletzen.Das SKMR vertritt die Meinung, dass Bundesgesetze in der Schweiz uneingeschränkt – also sowohl im Rahmen eines konkreten Anwendungsfalls als auch ausserhalb eines solchen – auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden können sollen. Dies ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt politisch chancenlos.
Ein bestmöglicher Schutz der Menschenrechte in der Schweiz unter diesen Umständen heisst:
Das Bundesgericht prüft Notverordnungen des Bundesrats und mögliche Verletzungen von Kerngehalten auch ausserhalb eines konkreten Anwendungsfalls auf ihre Verfassungsmässigkeit.Ein Gesetz hält fest, dass fundamentale Menschenrechtsgarantien vor den Bundesgesetzen Vorrang haben (PKK-Praxis).Das Bundesgericht wendet die PKK-Praxis konsistent an.Das Bundesgericht überprüft die Vereinbarkeit von Gesetzesbestimmungen mit der Verfassung, wenn eine Beschwerde eingereicht wird (sog. Prüfungsgebot).Betroffene von mutmasslichen Grundrechtsverletzungen, die in den Bereich des Anwendungsgebots fallen, haben Anspruch auf den Erlass von Gerichtskosten.Alle Bundesgerichtsentscheide, die die Legislative zur Änderung bestehender Gesetze auffordern (sog. Appellentscheide), sind einheitlich gekennzeichnet.Die Bundesversammlung nimmt die Geschäftsberichte des Bundesgerichts jährlich offiziell zur Kenntnis.Menschenrechtsorganisationen gehören zu den ständigen Adressat*innen im Vernehmlassungsverfahren.Spezifische Mechanismen stellen sicher, dass sich vulnerable Gruppen im Vernehmlassungsverfahren Gehör verschaffen können.Die neue NMRI berichtet jährlich zuhanden der Bundesversammlung und äussert sich zum Legislaturprogramm.Die Bundesverwaltung hat ausreichend Mittel und Kompetenzen, um Gesetzesentwürfe präventiv auf deren Grund- und Menschenrechtskonformität zu überprüfen.Der Bundesrat kommuniziert in Botschaften und Abstimmungsbüchlein aktiv und prominent über rechtsstaatliche Probleme.Eine spezialisierte Parlamentskommission auf Bundesebene setzt sich vertieft mit grund- und menschenrechtlichen Fragen auseinander.Die neue NMRI führt eine jährliche Grundrechtsevaluation durch.Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:
Das Bundesgericht prüft kantonale Verfassungsbestimmungen abstrakt und konkret auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung.2
Eva Maria Belser und Sandra Egli
Fallbeispiel: Verletzung des Mindeststandards durch den Kanton
Das Genfer Gefängnis Champ-Dollon ist seit Jahren chronisch überbelegt: Die für 398 Personen konzipierte Anstalt beherbergte zeitweise 900 Personen, was einer Überbelegung von 233 Prozent entspricht. Nationale und internationale Menschenrechtsakteur*innen bezeichneten die Haftbedingungen in Champ-Dollon wiederholt als unhaltbar. Das Bundesgericht hielt 2014 in einem Leiturteil fest, dass die engen Platzverhältnisse in Kombination mit weiteren Elementen, wie etwa dem langen Zelleneinschluss, die Menschenwürde verletzen können. Trotz der klaren Stellungnahme und obwohl seit dem Entscheid bereits sieben Jahre vergangen sind, bestehen die Probleme fort. Ende 2020 lag die Überbelegung immer noch bei 151 Prozent.
Fallbeispiel: Lückenhafte Berichterstattung des Bundes
Im Dezember 2020 verabschiedete der Bundesrat den jüngsten Bericht zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention. Darin schreibt er bezüglich der Inklusion von Kindern mit Behinderungen in die Regelschule, das Gesetz in verschiedenen Kantonen sehe vor, dass eine integrierte Schulung Vorrang vor einer separativen Schulung hat. In wie vielen Kantonen dies tatsächlich so ist (drei? vier? zehn?) bleibt offen, ebenso, ob und wie die übrigen Kantone die Integration fördern. Bezüglich Kindern ohne Aufenthaltsberechtigung versichert der Bundesrat, dass die Einschulung von Sans-Papiers-Kindern in den meisten Kantonen – und insbesondere in den urbanen Zentren Genf, Zürich, Basel-Stadt oder Bern – gängige Praxis sei. In welchen Kantonen die Einschulung nicht gewährleistet ist und was der Bund dagegen unternimmt, wird nicht gesagt. Es handelt sich nicht um den einzigen Staatenbericht der Schweiz, der die Situation in den Kantonen unvollständig darstellt und damit kein repräsentatives Bild der Menschenrechtssituation in der Schweiz vermittelt.
Wie die Demokratie kann auch der Föderalismus die Grund- und Menschenrechte stärken oder aber ihrer umfassenden Verwirklichung im Wege stehen.[1] Auf der einen Seite erlaubt der Föderalismus den Kantonen und Gemeinden, Rechte und Freiheiten bürger*innennah umzusetzen, mit neuen Rechten und Durchsetzungsmechanismen zu experimentieren und die Menschenrechte bottom-up zu stärken und weiterzuentwickeln. Auf der anderen Seite kann die lokale Autonomie die Umsetzung neuer Bestimmungen verzögern und eine Hürde beim Vorgehen gegen Menschenrechtsverletzungen darstellen. Es gilt deshalb, den Föderalismus so auszugestalten, dass er sich möglichst positiv auf die Grund- und Menschenrechte auswirkt. Wie dies gelingen kann, soll im Folgenden analysiert werden.
In internationalen Menschenrechtsgremien wird der Föderalismus häufig als Gefahr für die Menschenrechte gesehen. So haben sich fast alle UNO-Vertragsausschüsse in der Vergangenheit besorgt über die föderalistische Struktur der Schweiz – und anderer Bundesstaaten – geäussert.[2] Sie fordern regelmässig ein stärkeres Engagement des Bundes, entweder in der Form einer besseren Koordination oder in der Form einer Vereinheitlichung der Gesetzgebung auf Bundesebene.[3] Auch in Schweizer Menschenrechtskreisen wird regelmässig der Ruf nach Top-down-Interventionen laut.[4]
Dass einheitliche Lösungen nicht zwingend fortschrittlicher sind und der Bund oft nur nachvollzieht, was innovative Kantone und Gemeinden bereits praktizieren, zeigt ein Blick in die Geschichte. Die Entwicklung der Grundrechte ging in der Schweiz lange hauptsächlich von den Kantonen aus.[5] Als das Bundesgericht Mitte des 20. Jahrhunderts dazu überging, ungeschriebene Grundrechte der Bundesverfassung anzuerkennen, stützte es sich massgeblich auf die Verfassungswirklichkeit in den Kantonen. So anerkannte es etwa 1963 die persönliche Freiheit als ungeschriebenes Grundrecht, weil «die meisten Kantonsverfassungen diese Freiheit umfassend gewährleisten».[6] Bis heute garantieren verschiedene Kantonsverfassungen neue, auf Bundesebene nicht enthaltene oder weniger weit gehende Rechte. So gewährleistet etwa die Verfassung des Kantons Genf seit 2012 ein Recht auf eine gesunde Umwelt. Erst heute, beinahe zehn Jahre später, wurde ein solches Recht auf UNO-Ebene anerkannt.[7] Die Debatte über eine Verankerung dieses Rechts in der Bundesverfassung hat gerade erst begonnen.[8]
Auch im Bereich der politischen Rechte zeigen verschiedene Beispiele, dass die Gewährung regionaler Autonomie zu einem Mehr an Rechten führen kann. So haben verschiedene Kantone und Gemeinden der Schweiz das Stimm- und/oder Wahlrecht für Ausländer*innen,[9] Jugendliche[10] und Urteilsunfähige[11] geöffnet, während Vorstösse zur Ausweitung der politischen Rechte auf Bundesebene bislang erfolglos blieben (vgl. Kapitel 6).
Die Bedeutung der kantonalen Autonomie ergibt sich auch daraus, dass sich viele Probleme des Zusammenlebens zuerst auf lokaler Ebene bemerkbar machen. Die untersten Ebenen eines Staats sind deshalb verlässliche Sensoren für neue Anliegen, Bedürfnisse und Bedrohungen. Kantone und Gemeinden können auch in Krisensituationen schnell und flexibel reagieren. Dies zeigte sich in der Schweiz deutlich während der Coronapandemie: Es waren die Städte, die reagierten, als deutlich wurde, dass die klassische Sozialhilfe aufgrund ihrer Verknüpfung mit der Migrationsgesetzgebung viele Bedürftige ausschloss. So startete etwa die Stadt Zürich das Pilotprojekt «Wirtschaftliche Basishilfe», das Menschen, die beim Bezug von Sozialhilfe Risiken eingehen, finanziell unterstützt.[12]
Die Beispiele zeigen, weshalb Sinn und Zweck des internationalen und nationalen Menschenrechtsschutzes nicht die Vereinheitlichung des Rechts sein kann. Vielmehr geht es darum, einen Minimalstandard zu sichern, der nicht unterschritten werden darf.[13] Die Überschreitung dieses Standards durch einzelne Länder, Kantone oder Gemeinden ist hingegen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Innovationen auf lokaler Ebene sichern die Anpassungsfähigkeit der Grund- und Menschenrechte und regen regionale und universale Entwicklungen an.
Der Föderalismus und die damit verbundene Vielfalt an Lösungen können sich also positiv auf die Menschenrechte auswirken. Das Gegenteil ist aber, wie die Fallbeispiele zeigen, auch möglich. Die internationale und innerstaatliche Kritik an unklaren Zuständigkeiten und stossenden Ungleichheiten verweist auf ernst zu nehmende Defizite beim Schutz der Menschenrechte in der Schweiz, die teilweise im Zusammenhang mit dem föderalistischen Staatsaufbau stehen. Die Herausforderungen betreffen insbesondere folgende drei Bereiche:
die Durchsetzung der internationalen und nationalen Mindeststandards gegenüber den Kantonen und Gemeinden;den Prozess des gegenseitigen Lernens zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden;die vertikale und horizontale Kommunikation und Koordination bei der Umsetzung internationaler Verpflichtungen im dreistufigen Staat.