Mexikoplatz - Mina Albich - E-Book

Mexikoplatz E-Book

Mina Albich

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein psychologischer Wienkrimi mit Wortwitz und Schmäh. Wien, Mexikoplatz, drei Uhr morgens. Gruppeninspektor Felix Grohsman ist irritiert: Als er am Tatort eintrifft, ist die Tote, die die Psychologin Nicky Witt hier gefunden haben will, spurlos verschwunden. Dann wird eine Studentin aus wohlbehüteten Verhältnissen als vermisst gemeldet. Grohsman begibt sich hinab in die Untiefen der Wiener Gesellschaft und stößt dabei auf alte Bekannte – und auf die Erkenntnis, dass nichts so ist, wie es scheint. Rein gar nichts.

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Mina Albich ist Wienerin mit Leib und Seele. Aus der Reihe tanzen, sich in keine Schublade stecken lassen, so könnte ihr Motto lauten. Ihre Vielseitigkeit spiegelt sich in ihren Ausbildungen wider, unter anderem soziale Verhaltenswissenschaften, literarisches Schreiben, klassischer Gesang und Mentaltraining. Müsste sie ihre Hauptinteressen in drei Worte fassen, so wären dies Menschen, Sprache und Musik – am liebsten ist ihr eine Verbindung aus allen dreien. So erklärt sich auch ihre Leidenschaft, in ihren Krimis Menschen psychologisch zu skizzieren und mit individueller Sprachmelodie auszustatten.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: IMAGO/allOver

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-926-6

Originalausgabe

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Für Michael, J. J., meine Mama und das »liederliche Kleeblatt«

SAMSTAG, 14. APRIL

1

Nicky sollte gar nicht hier sein. Am Mexikoplatz. Wo sie nicht wohnte. Um drei Uhr in der Früh. Da müsste sie längst schlafen! Um Daniel nicht zu wecken, hatte sie so lautlos wie möglich seine Wohnung verlassen. Im Hausflur überprüfte sie mit dem kleinen Taschenspiegel ihr Aussehen. Die spärliche Gangbeleuchtung war gnädig zu ihrem blassen Teint. Sie rubbelte durch ihr dunkelbraunes Haar, um die Igelfrisur in Form zu bringen. Umrandete die rehbraunen Augen mit Eyeliner, trug Wimperntusche auf. Sparsam. Bloß kein Malkurs. Um die verschlafene Uhrzeit begegnete ihr zwar sicher niemand, aber à la nature außer Haus? Das ging gar nicht. Saß die wollweiße Jeans? Gar nicht übel, fand Nicky. Und grinste über ihre Eitelkeit. Na und, sie war eben mit ihrer Figur zufrieden. Damit gehörte sie ohnehin zu einer Minderheit unter ihren Geschlechtsgenossinnen. Mit dem Finger wischte sie ein paar Staubkörner vom Leder der grünen Pumps. Nur noch das grüne Longshirt unter dem hellen Ledergürtel glatt ziehen, den Kragen der Jacke aufstellen, fertig. Sie trat aus dem Haus und sog die kühle Nachtluft ein. Der Frühling roch nach frisch gemähtem Gras. Nicky blieb kurz stehen, schloss die Augen.

»Na, das wird was werden, die Therapiestunde«, seufzte sie. Reife Leistung, sich mit dem Kumpel eines Klienten einzulassen. Als Psychologin. Und dennoch … Daniel.

Sie spürte das Prickeln auf ihren Wangen, als ihre Gedanken zu Daniels Caffè-Crema-Stimme wanderten. Wie ein warmer Sommerregen rieselte die Erinnerung über ihren Rücken, sanfte Tupfer, die sie an Daniels Fingerspitzen denken ließen. Fühlte sie sich wie zweiunddreißig? Absolut. Flippige zweiunddreißig.

Genug taggeträumt, jetzt schnell nach Hause, duschen, eine Stunde schlafen und dann vorbereiten auf ihre Klientin. Wenn sie nicht ausnahmsweise zum Nachtfalter mutierte, war Nicky Frühaufsteherin. Und hatte dadurch eine recht einträgliche Marktnische entdeckt, psychologische Beratungen und Behandlungen zu ungewöhnlichen Uhrzeiten, wie samstags um sieben Uhr. Samstag. Heute. Mit Schwung schulterte sie ihren Rucksack. Irgendwie würde sie sich schon motivieren, den Ausführungen ihrer Klientin Frau Garbeis zu folgen.

Wo kam die Windböe her? Nicky zog die dünne Jacke um den Körper. Angenehme dreiundzwanzig Grad hatte das Thermometer am Nachmittag angezeigt. Jetzt pfiff der Wind über den Platz und ließ die Zweige der gewaltigen Platanen winken. Wie riesige Gespenster. Nicky erschrak, als ein Ast unweit vor ihr auf den Boden krachte. Entschlossen kickte sie das Holz zur Seite. Das kalte Neonlicht der Parkbeleuchtung erhellte den großen Platz vor der Kirche nur mäßig. Die Kirche! Gestern Nacht war das imposante Gebäude in warmes Licht getaucht gewesen. Nun waren die Fassadenstrahler erloschen, finster stachen die hohen Türme in den Nachthimmel. Nicky huschte an den dunklen Nischen der Kirchenfront vorbei. Ging es zur U-Bahn nach links oder nach rechts?

Nickys Blick blieb auf einer Parkbank hängen. Da vor ihr, in zwanzig Meter Entfernung, saß jemand. In Schräglage. Ein Sandler, der seinen Rausch ausschlief? Aber diese Haltung … Sie blieb stehen, kaute an der Unterlippe, wie immer, wenn sie ratlos war. Kaum was zu sehen in dieser spärlichen Beleuchtung, außer einem blonden Haarschopf, der das Gesicht der Gestalt verdeckte.

Zögernd näherte sie sich der Bank. Der Körper einer Frau, zur Seite gesunken, regungslos. Der linke Arm hing hinter der Bank, die Lehne in der Achsel verkeilt.

»Hallo?«, hauchte Nicky. »Brauchen Sie Hilfe?« Sie stupste die Frau vorsichtig an. Wie kalt sich das anfühlte. Starr. Verdammtes Dämmerlicht. Was jetzt? Die Minitaschenlampe im Rucksack fiel ihr ein. Die trug sie bei sich, seit vor ihrem Wohnhaus immer wieder das Hoflicht ausfiel. Nicky hob den blonden Haarschopf der Frau vorsichtig zur Seite, leuchtete ihr ins Gesicht.

Der Anblick der Fratze traf sie wie ein Kübel Eiswasser. Sie taumelte nach hinten. Höchstens zwanzig war dieses … dieses Mädchen! Ihr Gesicht war zur Grimasse verzogen, verzerrte Lippen, wie zu einem Schrei geformt. Einem letzten. Nicky war sich sicher, dass die starren Augen nichts mehr sahen. Vom Mundwinkel lief eine nasse Spur übers Kinn. Eingetrockneter Speichel. Geruchlos, also kein Alkohol. Fast musste sie über ihre Berufsgewohnheit schmunzeln.

Morgengrauen. Was für ein passendes Wort. Mein ganz persönlicher Horrorfilm, dachte sie. Sie wollte wegrennen. Konnte es nicht. Musste die Tote mit einer absurden Neugier betrachten. Das Mädchen hatte ein leicht aufgedunsenes Gesicht. Ihre Kleidung war adrett, Nicky fiel kein passenderes Wort für dieses Ensemble aus Dunkelblau und Weiß ein. Eine Studentin? Die blonden Haare trug sie offen, sie fielen ihr glatt über die Schultern. Dezent geschminkt. Na ja, was von der Schminke noch übrig war. Am Armgelenk eine Rolex. Ob die echt war? Die Kette um den Hals sah nach altem Granatschmuck aus, ein reizvoller Kontrast zu der blau-weißen Kleidung.

Granatschmuck. Der Hals … der hellrote Streifen auf der weißen Haut. Ziemlich breit. Wie von … von einem Gürtel? Ein Schrei kratzte in Nickys Kehle. Sie würgte die Angst hinunter. Biss sich auf die Handknöchel. In ihrem Kopf wimmelte eine Kolonie hysterischer Ameisen. Wach auf!, schrillte eine innere Stimme, riss sie aus ihrer Erstarrung. Polizei rufen! Ihre Hände zitterten, als sie in ihrem Rucksack nach dem Handy tastete. Sie fand es nicht. Hatte sie es bei Daniel liegen lassen? Nicht ihr größtes Problem im Moment.

Ein metallisches Quietschen ließ sie zusammenzucken. Es war die Schaukel am Kinderspielplatz, die träge hin- und herpendelte. Nur eine der Schaukeln. Also kein Windstoß, sondern … Hatte sie jemand beobachtet? Und was war das für ein Knacksen? Es kam aus dem Gebüsch. Der Mörder? Oder doch nur ein Eichhörnchen?

So genau musste sie es nicht wissen. Bloß weg hier. Sie pfefferte die Taschenlampe in den Rucksack und rannte zur U-Bahn-Station. Zum Glück hatte sie vorhin, ehe sie Daniels Wohnung verließ, noch nachgesehen, ob die Öffis am Wochenende auch wirklich während der Nacht fuhren. Und wo die nächste Haltestelle war. Dabei hatte sie offenbar ihr Handy liegen gelassen, so ein Mist. Die Bewegung zündete ihre Hirnzellen. U-Bahn – vielleicht gab’s dort ein Telefon.

Das Münztelefon unten im Stationsbereich schien intakt zu sein, besser nicht überlegen, wonach es hier roch. Sie nahm den Hörer – ein Freizeichen! – und bedeckte beide Hörmuscheln mit einem Taschentuch. Wer weiß, wer das Telefon zuvor benutzt hatte. Nicky warf eine Münze ein und wählte mit spitzem Finger 133. Sie trat aus der Zelle, um dem verdächtig stechenden Geruch auszuweichen.

»Polizeinotruf«, ertönte endlich eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

»Im Mexikopark, da liegt eine Tote …«, sprudelte es aus Nicky heraus. Sie schnaubte, bevor sie noch einmal anfing: »Ich möchte einen Mord melden. Oder, warten Sie, ich weiß gar nicht …«, stotterte sie. »Also, eben, als ich durch den Park ging, entdeckte ich den leblosen Körper einer Frau. Bei der Kirche. Auf der Parkbank, gleich beim Kinderspielplatz …«

»Wo befinden Sie sich jetzt?«

»In der Telefonzelle U-Bahn Vorgartenstraße.«

»Sie haben den Fundort verlassen?«

»Ja, mein Handy habe ich bei meinem … einem Freund liegen gelassen – ist das wichtig? Ich musste zur Telefonzelle, um …«

»Wie ist Ihr Name?«

Mit einem heftigen Schlag auf die Telefongabel unterbrach Nicky die Verbindung. Bloß nicht hineingezogen werden. Sie hatte die Tote gemeldet, das genügte. Musste genügen.

Sie hörte die U-Bahn einfahren. Rannte los und sprang in den Waggon. In der U-Bahn warf sie sich auf eine der Bänke, zwei Männer stiegen noch ein. Keine bedrohlichen Gestalten. Nickys Verkrampfung löste sich. Bin ich wenigstens nicht allein in dem Waggon.

Während die Tunnelwände an ihr vorbeizogen, kroch das schlechte Gewissen hoch. Was für eine dämliche Reaktion. Sie hätte wenigstens warten können. Aber worauf?

Schluss. Schnell umsteigen, eine Station noch mit der Linie U4, bis Landstraße. Dann war sie gleich in ihrer Praxis. Dort würde sie vom Festnetzanschluss noch einmal anrufen. Obwohl … sie konnte ohnehin nicht mehr helfen. Warum nicht heimfahren? Weil ihr Pflichtbewusstsein sie daran hinderte. »Idiotisch«, schimpfte sie, stieg aus und eilte zu ihrer Praxis.

2

Verdammtes Telefon! Gruppeninspektor Felix Grohsman blinzelte auf die grellroten Ziffern des Radioweckers. Halb vier. Gar nicht rangehen, sich noch einmal umdrehen und in die weiche Daunendecke eingraben … Doch sein Arm griff automatisch zum Handy, er brummte einen unidentifizierbaren Laut. Auch das noch, eine Frauenleiche.

Mitten in der Nacht aufzustehen, fiel ihm schwer. Immer schon. Das würde sich jetzt, mit vierundfünfzig, auch nicht mehr ändern. Nutzte nichts, er musste zum Tatort. Oder Fundort. Wen von seinem Team sollte er mitnehmen? Joe Kettler, die junge Kollegin? Vor über einem Jahr war sie seinem Team im Ermittlungsbereich Leib und Leben, Landeskriminalamts-Außenstelle Zentrum-Ost, zugeteilt worden. Sie war eine freche Laus, aber ihre Einfälle beim letzten Fall, nicht übel. Die Idee mit dem Rasenmäher? Und wie sie den Zusammenhang zwischen dem Messer und dem Regenmantel hergestellt hatte! Er hatte nicht so schnell kombiniert. Sie war hungrig. Frisch. Wäre ihre erste Tote in natura. Sollte sie doch mal zeigen, was sie draufhatte.

»Joe? Schlaf ist gestrichen, wir haben einen Fall. Ich hol dich in fünfzehn Minuten ab.«

Seine Kollegin war zu verschlafen für eine verständliche Antwort.

Grohsman stieß sich den Ellbogen an der Kommode, als er die Kurve auf dem Weg ins Bad zu eng nahm.

»Scheißkastl«, murrte er. Die kalte Dusche belebte nicht einmal den Körper, geschweige denn den Geist. Wie gut, dass er sich angewöhnt hatte, am Vorabend die Kleidung bereitzulegen.

Er verbrannte sich die Zunge mit dem grauslichen Löskaffee. Für einen echten Kaffee aus seiner Caffettiera, dem kleinen Bialetti-Espressokocher, war keine Zeit. Dieses Patscherlwasser, das die Bezeichnung Kaffee nicht verdiente, brachte seinen Motor nicht in Gang. Nicht einmal ein müdes Stottern bewirkte es.

Nur Sally japste ihm entgegen und apportierte aufgeregt ihre Leine. Die kleine Hündin sah aus wie eine schräge Mischung aus Minischnauzer und Zwergziege, kurzes, drahtiges, fast schwarzes Fell, Knickohren. Dazu spindeldürre Beine mit weißen Pfotenspitzen, als wäre sie durch eine Farblache balanciert. Das Kurioseste waren ihr Ziegenbart und die graue Stirnlocke, wie ein in sich zusammengefallener Irokesenschnitt.

»Hallo, Punk!« Grohsman wuschelte der Hündin durch den Schopf. »Was machen wir jetzt mit dir?«

Seine Nachbarin, die sonst untertags auf Sally aufpasste, konnte er um diese Uhrzeit nicht aufwecken. »Na dann, komm mit.«

Im Auto sprang Sally auf die Rückbank und drückte ihr Näschen ans Fenster. Das Stummelschwänzchen wackelte in imposantem Tempo. Wenigstens eine, die glücklich ist, um diese Zeit durch die Gegend zu hetzen. Grohsman hievte sich auf den Fahrersitz. Während sein eigener Motor immer noch aufheizte, sprang der seines Citroën Picasso sofort schnurrend an. Ob er sich je an die Lackierung in Violett gewöhnen würde? Nicht seine Lieblingsfarbe, verkürzte ihm aber gelegentlich die Sucherei nach dem geparkten Auto. Aus Gewohnheit griff er in die Hosentasche, um die Zigarettenschachtel herauszufischen. Dabei rauchte er seit über einem Jahr nicht mehr, seit …

»Ach, Caro …«, murmelte er.

Gähnend rang Joe sich einen Gruß ab, der sich nach »Morgen« anhörte.

»Dein Gähnen steckt an«, nuschelte Grohsman.

»Wusst ich doch, dass ich dir sympathisch bin, Boss«, entgegnete die Kollegin lapidar.

Grohsmans Mundwinkel zuckten zu einem Lächeln. Er sah die Kollegin an. Die kurz geschnittenen Haare hätten ein paar Bürstenstriche vertragen. Und die Kleidung …

»Dein Kragen sitzt übrigens schief.«

»Was, schön muss ich auch noch sein?«, murrte Joe und fingerte an ihrer Jacke. »Was ist das überhaupt für ein Fall, zu dem wir fahren?«

»Frauenleiche.«

»Super. Und das auf nüchternen Magen.«

»Darüber wirst du vielleicht noch froh sein. Ist dein erster Tatorteinsatz, oder?« Wenn es denn der Tatort war. Der Kollege am Telefon hatte etwas in dieser Richtung angedeutet.

»Mhm.«

Klang nicht sonderlich begeistert. Oder war sie bloß müde? Grohsman versuchte, sich zu erinnern, wie es ihm bei seiner ersten Leiche ergangen war. Er wusste es nicht mehr genau. Na, gejubelt hatte er nicht. »Die erste Leiche vergisst man nie«, hatte man ihm auf der Polizeischule gesagt. Konnte er nicht bestätigen. Warum sollte er all diese Geschichten ständig mitschleppen? Er hatte bisher alle Fälle gelöst, die ihm übertragen wurden. Wie viele es waren, wusste er nicht mehr. Im Endeffekt zu viele. Er war zufrieden mit seiner Quote. Stolz? Nein. War nicht immer nur sein Gehirnschmalz, wenn er einen Fall löste. Oft hatte ihm Kommissar Zufall glückreich in die Karten gespielt.

Grohsman parkte den Wagen.

»Und, Frau Kollegin, geht dir grad der Hintern auf Grundeis?«

Joe schnaubte. Hatte sie Angst? Nein. Aber wohl war ihr nicht gerade. Eine Mischung aus Neugier und Fluchtreflex.

»Ich weiß noch nicht, was mich erwartet. Das ist etwas spooky«, gab sie zu.

»Bist wenigstens ehrlich. Da, nimm das Tuch, halte es dir im schlimmsten Fall vor die Nase.«

»Danke.« An die Stunden in der Gerichtsmedizin erinnerte sich Joe lebhaft. Da hätte auch der Duft eines Reinigungstüchleins nichts ausrichten können. Nicht einmal die scharfe Mentholsalbe hatte geholfen, die sie sich alle unter die Nase gestrichen hatten. Trotzdem war sie die Einzige gewesen, die durchgehalten hatte, ohne sich zu übergeben. So cool sie es fand, zu ihrem ersten Einsatz mit dem Chef auszurücken und endlich ihre »Feuertaufe« zu bestehen – in diesem Augenblick war ihr grad mulmig. Die Hündin vom Chef musste doch betreut werden? Kleine Hunde fand sie sonst doof, aber die sah einfach steil aus mit ihrer Kampflocke. »Super-Wauzi kommt auch mit zum Diensteinsatz?« Joe deutete zu Sally auf dem Rücksitz.

Grohsman schüttelte den Kopf. »Die würde maximal die nächstgelegene Futterdose erschnüffeln.«

Einmal noch tief durchatmen.

»Das packst du schon«, murmelte sie sich zu. Worauf sich die Knie gleich viel stabiler anfühlten. Joe war bereit.

3

»Polizeinotruf«, meldete sich eine männliche Stimme.

»Ich habe vorhin schon angerufen, aber …« Nicky überlegte. »Aber …« Ich hab Schiss gekriegt? Nein. Sie suchte nach einer Ausrede. »… mir sind die Münzen ausgegangen …« Blödsinn. In ihren Augenwinkeln brannten Tränen, die Nickys Hilflosigkeit nicht fortspülten. »Ist mir erst hinterher eingefallen, dass ich keine Münzen brauche für einen Notruf …«

»Was ist passiert?«

»Ich …« Ihre Stimme zerbröselte. Die Erinnerung an die Tote drückte wie eine Faust in ihre Magengegend. Atmen. Ausgeglichene Stimme. »Im Mexikopark liegt eine tote Frau. Auf einer Parkbank in der Nähe der Kirche.«

»Wie lautet Ihr Name?«

»Nicky Witt.«

»Adresse und Telefonnummer?«

Sie nannte beides.

»Wo befinden Sie sich nun?«

»Landstraßer Hauptstraße. In meiner Praxis. Weil ich mein Handy vergessen habe, und in der Telefonzelle …« Wie unglaubwürdig das klang. War nicht zu ändern.

»Können Sie wieder zum Park fahren? Die Kollegen sind bereits auf dem Weg.«

Mittlerweile war es vier Uhr. Noch drei Stunden bis zu Nickys Kliententermin. »Mach ich«, wisperte sie matt. Ihr war kalt.

4

Schon von Weitem sah Nicky das Blaulicht nervös flackern. Schaurig, wie es die beginnende Morgendämmerung durchschnitt. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ein Polizist in Uniform vertrat ihr den Weg.

»Mein Name ist Nicky Witt, ich habe … die Sache gemeldet.«

»Kommen Sie weiter. Da drüben steht Gruppeninspektor Grohsman.«

Sie näherten sich einem Mann in Zivilkleidung. »Das ist die Zeugin«, sagte der Uniformierte knapp.

»Danke. Frau …«, der Beamte blätterte geräuschvoll in einem Notizblock, »… Frau Witt, richtig?«

Nicky wich dem stechenden Blick des Inspektors aus.

»Ja.« Sie steckte die Hände mit einem Ruck in die Jackentaschen. Übersprungshandlung, dachte sie und zog sie wieder heraus. Verschränkte die Arme.

»Sie haben angerufen, dann …« Er steckte die Nase in seinen Block. Merkte der sich nichts? Das Geblättere irritierte sie. Was sicher in seiner Absicht lag.

»… dann sind Ihnen die Münzen ausgegangen … In Telefonzellen braucht man für Notrufe keine Münzen.« Wieder der forsche Blick. Als ob ihr diese elende Telefongeschichte nicht unangenehm genug wäre.

»Das weiß ich jetzt auch«, antwortete Nicky gereizt. »Waren Sie schon mal in einer stinkenden Telefonzelle, nachdem Sie eine Tote entdeckt haben? Nein?«

Darauf ging der Polizist nicht ein. Nicht einmal eine Miene verzog er. »Dann schildern Sie bitte, was Sie gesehen haben.«

Nicky versuchte, an ihm vorbei auf die Parkbank zu schauen, doch ein Polizeiwagen stand davor.

»Na, da vorne, da saß diese junge Frau …«

»Wo genau?«

»Ein paar Meter neben dem Spielplatz. Auf der Bank.«

Grohsman ging zügig zur Bank. »Zeigen Sie mir die Stelle.«

»Ich verstehe nicht …« Zögernd folgte Nicky ihm. Was war so schwierig daran, die Tote zu finden? Mit ein paar Laufschritten holte sie ihn ein.

»Also, hier …«, Nicky streckte den Arm aus. Ließ ihn sinken.

Auf der Bank saß niemand. Auch davor oder daneben nicht. Nur eine leere Holzbank, die an den Kanten bereits verwitterte. Automatisch ging Nicky in die Knie, um unter und hinter die Bank zu sehen.

»Nein, unter die Bank ist sie nicht gerutscht«, ätzte eine Polizistin in Nickys Alter. Auch in Zivilkleidung. Die war schon bei der Kripo? Ziemlich jung, oder?

Abrupt richtete Nicky sich auf, massierte ihre Schläfen. »Als ich heute Nacht um drei Uhr vorbeikam, war sie hier. Mit diesem fürchterlich leeren Blick, sie hatte keinen Puls …«

»Sie haben die Frau berührt.« Der Inspektor sah diesmal von seinem Block nicht auf.

»Eh nur das Handgelenk! Wenn sie noch gelebt hätte und ich wäre weitergegangen, hätte es auch nicht gepasst. Oder?«

Immerhin ein marginales Kopfnicken vom Inspektor. »Und wo ist der Körper jetzt?«

»Woher soll ich das wissen?«, rief Nicky. Zu laut, sogar in ihren Ohren dröhnte die Frage. Sie war aufgebracht. Müde. Und beunruhigt. Was sollte diese Geschichte? Nicky hörte ihr Handy klingeln. Sie kräuselte die Stirn, öffnete den Rucksack. Da, tief im Seitenfach, hatte sich das Telefon versteckt. War sie erleichtert, dass sie es doch nicht bei Daniel vergessen hatte? »Witt?«, meldete sie sich, mehr Frage als Feststellung.

»Sie haben Ihr Handy also vergessen …«, kam es sowohl aus dem Handy als auch von der Polizistin gegenüber. Jetzt balancierte die junge Frau ihr eigenes Handy auf der Hand und beendete wie ein Adler im Sturzflug mit dem Finger den Anruf. Affig. Und dieser Inspektor nickte der Kollegin zu. Fand der natürlich super, die Aktion. Streberin, dachte Nicky ärgerlich. Und murmelte: »Heute ist nicht mein Tag.«

»Können Sie die … Tote beschreiben?«, fragte … wie hieß der? Großer Mann … Grohsman. Nicky sah auf die Uhr.

»Halten wir Sie auf?«, versetzte der Inspektor hämisch.

»Ich … ich bin Psychologin und hätte heute um sieben Uhr einen Termin mit einer Patientin. Das wird sich nicht ausgehen. Kann ich ihr kurz Bescheid geben?«

»Um sieben Uhr?«, fragte die junge Polizistin.

»Psychologen haben keine gesetzlich festgelegten Dienstzeiten. Polizisten doch auch nicht.«

»Richtig. Schön, ich warte.« Der Inspektor flüsterte seiner Kollegin etwas zu, worüber diese schmunzelte.

Nicky wandte sich ab und schrieb ihrer Patientin, Frau Garbeis, eine SMS. Ob sie eine halbe Stunde später kommen könne. Prompt kam die verärgerte Antwort, dass das nicht gehe, weil ihr Dienst um halb neun anfing. Wenn Frau Garbeis um halb fünf Uhr SMS schrieb, konnte Nicky gleich anrufen.

»Hallo? Tut mir leid, dass ich den Termin verschieben muss, können Sie am Montag kommen? Ja, ich weiß, Sie haben es sich heute extra eingeteilt. Und ich weiß auch, dass Montag für Sie nicht ideal ist. Weil es Ihr freier Tag ist. Wäre Ihnen ein anderer Tag angenehmer? Das wäre noch schlechter. Können Sie am Montag um vierzehn Uhr kommen? Perfekt, danke!«

Na, die war sauer. Hoffentlich springt die nicht komplett ab, dachte Nicky. Obwohl, wenn sie die Garbeis mit ihrem ewigen Gesudere nicht mehr betreuen müsste … Nein, keine Zeit für Überlegungen. Nicky steckte das Handy weg.

»Erledigt«, sagte sie zu Grohsman.

»Wie erfreulich. Die Beschreibung also?«

Nicky sah ihn an. War der immer so mürrisch oder bloß um die Uhrzeit?

»Die junge Frau war um die zwanzig. Sie hatte blondes Haar, glatt, ging über die Schultern.«

»Und sonst?«

»Sie war schlank. Kleidung … blaue Stoffhose, keine Jeans, gute Stoffqualität. Und ein hellblaues Poloshirt mit Marinekragen, weiß mit zwei dunkelblauen Streifen. Sie trug … keine Jacke.« Sie schloss die Augen. »Nein, keine Jacke.«

»Erstaunlich bei den Temperaturen am Abend.«

Sie sah ihn an. »Ja, nicht wahr?«

»Schuhe?«

»Schuhe … Sneakers. Adidas, drei marineblaue Streifen. Die Schuhe waren fast weiß, eher neu.«

»Weil …?«

»Die habe ich voriges Jahr als neues Modell im Sportgeschäft gesehen. Fiel direkt auf, mal ein Schuh, der nicht in quietschbunten Farben leuchtete.«

»Sie sind Sportlerin?«

»Auch. Mir gefiel das Design. Gibt ein dynamisches Erscheinungsbild.« Nicky lächelte schief.

Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass der Inspektor an Modedetails nicht interessiert war. Sie konzentrierte sich.

»Manikürte Fingernägel, kein Nagellack. Alles in allem wirkte sie auf mich … wie ein ordentliches College-Girl, das Wert legt auf gute Kleidung.«

»Augenfarbe?«, fragte Grohsman, während er konzentriert in seinen Block kritzelte.

Nicky überlegte. »Hell. Wahrscheinlich blau, aber da bin ich mir mit dem Taschenlampenlicht nicht sicher.«

»Taschenlampe.« Grohsman sah von seinem Block auf.

»In meinem Wohnhaus ist in letzter Zeit das Hoflicht oft ausgefallen. Und der Flur bis zum Aufzug ist lang und verwinkelt. Deshalb …« Sie griff in die Tasche und hielt ihm die Lampe unter die Nase. Grohsman sah mit gehobener Augenbraue zu seiner Kollegin. Die zuckte die Achseln.

Der Polizist schrieb weiter. »Und sonst?«

»Die Augen waren weit aufgerissen. Der Mund auch. Das Gesicht war verzerrt, eine Grimasse.« Es fröstelte sie.

»Körperhaltung?«

»Sie saß schräg. Verkrampft. Den linken Arm hinter der Bank. Und sie trug rechts eine Uhr, auf der ›Rolex‹ stand. Ihre Kette sah nach altem Granatschmuck aus. Und der Kopf … der Hals …« Nicky räusperte ihre Beklemmung weg. »… da waren hellrote Striemen. Als ob sie …« Nicky brach ab.

»Frau Witt, eine so genaue Beschreibung würde ich mir öfters wünschen. Ziemlich gute Beobachtungsgabe dafür, dass Sie die Person nur kurz gesehen haben. Und dafür, dass die Situation sicher aufregend war für Sie.«

Lag in der Stimme des Inspektors Anerkennung oder Zweifel?

»Berufsgewohnheit«, seufzte sie. »Hab schon gesagt, dass ich Psychologin bin. Deshalb habe ich sozusagen einen integrierten Scanner, um mir Details einzuprägen. Für mich ist es essenziell, Parallelen und Widersprüche zwischen Äußerlichkeiten und Gesagtem aufzuspüren. Festzustellen, ob das Bild ein schlüssiges Ganzes ergibt.« Sie hob die Hände. »Außerdem verfalle ich automatisch in meinen Fachjargon, wenn es um den Beruf geht. Kann ich mir nicht abgewöhnen, sorry.«

Der Polizist nickte. Ging es ihm ähnlich? »Wo saß sie genau?«

»Hier.« Nicky deutete mit dem Zeigefinger. Sie starrte die Bank an, auf der sie die Tote gesehen hatte. Etwas beschäftigte sie, doch sie kam nicht dahinter, was es war. Wie eine Silhouette hinter einem Vorhang, zum Greifen nahe, aber nicht definierbar. Wobei … »Wenn man sie fortgebracht hat, müsste es Spuren geben, hinten im Gras oder vorne auf der Straße, nicht wahr?«, flüsterte sie.

Die junge Polizistin zog eine Schulter hoch. »Muss nicht sein. Nicht, wenn sie von zwei Menschen weggetragen wurde. Oder … da war nie etwas. Jemand«, korrigierte sie kurz.

In Nicky Schläfen pochte es. Sie schüttelte den Kopf. Das alles hatte sie sich doch nicht eingebildet!

Ein paar Beamte in weißen Overalls nahmen Bodenproben und schossen Fotos von der Parkbank, vom Gebüsch dahinter. Ob die abgebrochenen Zweige, die die junge Polizistin mit ihrem Handy fotografierte, von dem Vorfall stammten? Nicky seufzte. Oder von Kindern, die zwischen den Büschen gespielt hatten? Der Spielplatz war ja gleich daneben.

Grohsman klappte energisch seinen Block zu. »Also schön. Sehr detaillierte Beschreibung, aber keine Leiche. Ob und wann hier jemand saß, lässt sich nicht feststellen. Keine Blut- oder sonstigen Spuren, die Ihre Aussage bestätigen. Sie haben also entweder unnötig einen Polizeieinsatz hervorgerufen, absichtlich oder unabsichtlich …«

»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich halluziniere? Oder die Polizei rufe, weil mir fad ist?« Nicky ließ sich auf die Parkbank daneben fallen, bohrte die Ellbogen in ihre Oberschenkel. Sie rubbelte durch ihr kurzes Igelhaar, packte es.

»Die andere Möglichkeit …« Der Inspektor ließ den angefangenen Satz im Raum hängen.

»Ja?« Interessierte sie die Alternative ernsthaft?

»Die andere Möglichkeit … Sie stecken selbst in der Sache und wollen etwas vertuschen.«

Nicky sprang auf. »Indem ich … was? Aus Reue angerufen habe, sogar zwei Mal? Um die Leiche dann doch selbst wegzuschleppen?« Mit jedem Satz wurde ihre Stimme schärfer. »Lassen Sie mich zusammenfassen: Ich bin entweder eine infantile Kuh, die sich dumme Späße mit der Polizei erlaubt, oder ich halluziniere. Oder ich bin die Mörderin einer Frau, deren Leiche Sie gerade noch für nicht existent erklärt haben. Dennoch hinterhältig genug, um eine falsche Fährte zu legen. Reizend.«

»Und welche der Möglichkeiten ist es?«, fragte Grohsman mit einer Ruhe, die Nicky in Rage brachte.

»Ach … lassen Sie mich doch im Kraut!« Sie drehte sich abrupt weg.

Grohsman rief ihr schroff nach: »Kommen Sie bitte zur LKA-Außenstelle Ost. Leopoldgasse. Um Ihre Aussage zu unterschreiben.«

Nicky verstand. Wie der das Wort »bitte« aussprach – sehr ironisch. Mit Höflichkeit hatte das nichts zu tun.

»Kann ich kurz heimfahren, mich frisch machen?«

»Wenn’s sein muss.«

5

Joe brach als Erste das Schweigen. »Ziemlich strange, die Geschichte.«

Ihr Chef runzelte die Stirn. Was hatte sie Falsches gesagt? Ach so, der mochte keine unnötigen englischen Wörter.

»Also, seltsam eben.«

Grohsman nickte. »Sehr suspekt«, murmelte er. »Die Witt ist um die dreißig. Eine Psychologin. Wenn die Geschichte stimmt, verstehe ich ihre Unruhe. Doch ihr Herumgezapple liegt sicher nicht nur an der Situation.«

»Genau das meine ich. Die ist irgendwie … nicht ganz dicht. Glaubst du ihr die Sache mit dem Telefon? Das ist doch ganz schön fishy. Also, auffällig.« Joe sah ihren Chef von der Seite an. Der krebst grad in seiner Gedankenwelt rum und hört mich nicht, dachte sie achselzuckend. Auch gut. Konnte sie ihren Gedanken nachhängen. Das gute Gedächtnis dieser Witt, die Beschreibung des Opfers, das war doch oberfaul. Berufskrankheit? Auch als Ermittlerin musste sie sich viele Details einprägen, kam nicht gut, wenn sie ständig was nachschauen musste. Ob sie nachher bei der Befragung dabei sein konnte? Hatte sie schon erlebt, wie cool der Boss Zeugen aufblattelte, wenn die sich urplötzlich an irgendwelche Kleinigkeiten doch nicht mehr erinnern konnten. Weil sie sich die eine halbe Stunde vorher aus den Fingern gesogen hatten. Erstunken und erlogen – und erwischt.

Grohsman sinnierte über die Witt. Von einem »schlüssigen Ganzen« hatte sie gefaselt. Und genau das, gute Frau, ist es bei dir hinten und vorne nicht. Wie zwei linke Schuhe. Ihr Körper chaotisch zappelnd, die Sätze dafür glasklar. Wie einstudiert. In der Umgebung deutet nichts auf ein Verbrechen hin. Konnte zwar woanders geschehen sein, insgesamt aber passte das wie ein eckiger Klotz in ein rundes Loch.

Er sah Joe an, die schweigend neben ihm hertrottete. Mit gesenktem Kopf, sie grübelte ebenfalls. Messerscharfer Instinkt, das mit dem Telefon. Die stellte alles und jeden in Frage – sicher nicht nur bei Ermittlungen. Erinnerte ihn ein wenig an ihn selbst, als er bei der Kripo angefangen hatte. Sie quatschte nicht lang herum, sondern brachte ihre Gedanken auf den Punkt. Kein Gefuchtel mit den Händen, auch nichts Überflüssiges in ihrer Mimik. Höchstens ein Stirnrunzeln, wenn sie nachdachte. Oder ein zuckender Mundwinkel, wenn sie ihn beim Blättern in seinem Notizblock beobachtete. Sie hingegen klopfte ihre Notizen in ihr Tablet. In dem Tempo konnte er seine Finger in hundert Jahren nicht über die Tasten flitzen lassen.

Joe – eigentlich Johanna. Vor etwas mehr als einem Jahr war sie in seine Abteilung gekommen, damals mit witzigen blonden Locken, dezent geschminkt und modisch-weiblich gekleidet, Blusen, taillierte Jacken und so. Mit ihren eins sechzig war sie klein für eine Kriminalbeamtin, was ihr gelegentlich den Spott der Kollegen eintrug. Hatte nicht lange gedauert, da hatte Grohsman einen fuchsteufelswilden Ausbruch erlebt, als ein Kripokollege sie wieder mal spöttisch »Blondie« nannte. Seither hieß sie Joe. Hatte sich am nächsten Tag die Locken raspelkurz schneiden lassen, den schicken Hosenanzug und Bluse gegen Jeans und Poloshirt getauscht und sich beim Karatekurs eingeschrieben. Vor drei oder vier Wochen hatte sie Grohsman zur Prüfung eingeladen, innerhalb kurzer Zeit hatte sie den orangefarbenen Gürtel erreicht. Der Kollege, der sich das Maul am meisten über sie zerrissen hatte, war im gleichen Karate-Club. Grohsman hatte sich das Schmunzeln nicht verkneifen können, als Joe den wesentlich größeren und stämmigeren Kollegen mit einem gezielten Hebelgriff auf die Matte geknallt hatte.

Karate … Sport täte ihm auch nicht schaden … Wenn die Temperaturen wieder stiegen. Dann würde er das Fahrrad auspacken. Apropos Sport – Sally!

»Joe, geh schon mal zu Fuß ins Büro oder fahr mit den Öffis. Ich bring schnell den Hund zur Nachbarin. Danach sehen wir, was die Frau Witt zu sagen hat.«

6

»Tag, mein Name ist Nicky Witt, Herr Grohsman erwartet mich«, meldete Nicky sich beim Empfang am LKA an. Auf der Fahrt mit dem Motorroller, ihrer roten Piaggio, hatte der kalte Fahrtwind ihre diesigen Gedanken weggeblasen. Fürs Erste. Oder zumindest so weit, dass sie im Kommissariat gelassener auftauchen konnte. Zu einer Aussage? Vernehmung? Einem Verhör? Was auch immer. Sie hoffte, danach einen Schlusspunkt hinter diese Episode setzen zu können.

»Einen Moment. Das wäre EB 01«, antwortete eine Frau in Uniform spitz. Fachchinesisch für Nicky. »Was ist EB 01?«

»Na, Ermittlungsbereich 01. Leib und Leben.« Die Uniformfrau verdrehte die Augen, als hätte Nicky nach dem Weg zum Stephansdom gefragt.

»Schön. Und wo finde ich EB 01?«

»Zweiter Stock. Ist angeschrieben. Ich gebe Herrn Gruppeninspektor Grohsman Bescheid.«

Da war es wieder, das für Österreich typische Beharren auf Nennung des Dienstgrades. Nicky schmunzelte, während sie die Frau beim Telefonieren beobachtete.

»Also: den Gang geradeaus, zweiter Stock, zweite Tür links.«

Wenn die pro Wort bezahlt wird, kratzt die sicher an der Mindestsicherung, dachte Nicky.

»Besten Dank!«, sagte sie mit einem betonten Lächeln.

Nicky klopfte. Sie betrat das Büro und sah sich um. Hell, mehr zweckmäßig als komfortabel eingerichtet. Ein alter hellgrauer Schreibtisch, in der Ecke ein Flipchart. An der Wand hinter dem Tisch eine große weiße Tafel. Leer, doch die Magneten und Eddings schienen nur auf ihren Einsatz zu warten. Große Fenster ohne Vorhänge. Nur keine Behaglichkeit aufkommen lassen, dachte Nicky. Verständlich für die Befragungen von Zeugen, das waren schließlich keine Kaffeekränzchen. Arbeiten wollte sie hier jedoch nicht. Gab es persönliche Gegenstände? Außer einem kleinen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch konnte sie nichts entdecken. Doch, ein paar Grünpflanzen lockerten die Atmosphäre geringfügig auf. Gepflegte Pflanzen – ob sich der Inspektor selbst darum kümmerte?

Grohsman war in seine Aufzeichnungen versunken.

»Hier bin ich …«, durchbrach Nicky die Stille. Lahmer Versuch, ärgerte sie sich.

»Frau Witt.« Grohsman sah auf. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Er deutete auf einen dürftigen Holzsessel vor dem Schreibtisch und vertiefte sich wieder in eine Heftmappe. Nicky setzte sich langsam, stellte ihre Tasche neben dem Sessel ab.

»Das sollten Sie nie tun«, meinte Grohsman streng, ohne aufzuschauen.

»Was?« Eine Minute auf dem Revier, drei Worte gesagt – und schon etwas falsch gemacht?

»Ihre Tasche neben dem Sessel abstellen.«

Das hatte er bemerkt? Beeindruckender Panoramablick. »Weil man sie … stehlen könnte? Auf dem Polizeirevier?« Nicky lachte.

»Ich wette, dass Sie das auch sonst machen.«

»Wenn kein zweiter Sessel zum Abstellen da ist? Nein. Dann platziere ich die Tasche neben mir … glaube ich«, fügte sie verunsichert hinzu.

Nicky taxierte ihr Gegenüber. Tiefe Fältchen um Augen und Mund. Die u-förmigen um die Mundwinkel und unter den Augenwinkeln waren Lachfalten, die steileren um das innere Ende der Augenbrauen sahen nach Sorgenfalten aus. Und er hatte Grübelfurchen auf der Stirn. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig. Gesunde Gesichtsfarbe, verbrachte er viel Zeit im Freien? Beruflich? Im Garten? Sonderlich sportlich sah er nicht aus. Obwohl, die zügigen Schritte und der elastische Gang heute auf dem Platz, imponierend für sein Alter. Die hellsilbrigen Haare waren akkurat geschnitten und locker aus dem Gesicht gekämmt. Eine kantige Mundpartie. Seine ganze Körperhaltung hatte etwas Strenges. Aufrecht, mit Spannkraft, aber unverkrampft. Wie eine Bogensehne, bevor der Pfeil abgeschossen wird. Er hatte eisblaue Augen, die sicher freundlicher schauen konnten, im Moment jedoch konzentriert die Akten fixierten. Keine Polizeiuniform, stattdessen eine sauber gebügelte dunkelblaue Hose, cremefarbenes Hemd. Kragen ebenfalls makellos gebügelt. Von seiner Frau? Kein Ring am Finger … Doch, am Ringfinger war ein heller Streifen. War er geschieden? Verwitwet?

»Frau Witt«, riss der Polizist sie aus ihren Gedanken, »ich konnte weder in der Datenbank noch im Melderegister einen Eintrag zu diesem Namen finden?«

»Weil mein Name eigentlich Nike Wittgenstein lautet. Sehr sperrig für eine klinische Psychologin. Mit dem Namen auf dem Türschild erzählt einem kein Klient was. Nicky Witt klingt sympathischer. Kumpelhafter.«

»Der Name vermittelt doch Souveränität?«

»Nein. Ich mochte den Namen nie. Und bevor Sie fragen: weder verwandt noch verschwägert mit dem Philosophen. Leider.«

»Und mit dem Pianisten?«

»Dem mit der linken Hand?«

»Sie sind Musikerin?« Sein Tonfall klang beinahe freundlich.

Hörte der Inspektor Musik? Welche? Schon wieder glitt Nicky mit den Gedanken ab. »Nein. Die Frage habe ich so oft gehört, also hab ich im Lexikon nachgeschaut. Nein, auch mit dem nicht. Meine Mutter ist allerdings stolz, dass wir über siebzehn Ecken mit dem Adelsgeschlecht verwandt sind. Ein weiterer Grund, mir ein Pseudonym zuzulegen.«

»Weil Sie nicht als adelig gelten wollen?«

»Weil ich nichts mit dem Snobismus meiner Familie …« Nicky brach ab. Sie hatte keine Lust auf Diskussionen über die ehrenwerte Familie. Sie war eine Ausreißerin, im wörtlichen wie im statistischen Sinn. Die einzige der fünf Töchter, der finanzielle Belange und eine standesgemäße Ehe inklusive eins Komma siebenundsechzig Kinder – oder wo lag jetzt der Durchschnitt? – schnurzegal waren.

»Klinische Psychologin also … das ist doch so was Ähnliches wie Psychotherapeutin?«

»Genau.«

»Und was genau ist der Unterschied?«

»Die Ausbildung. Nach dem Psychologiestudium hängt man für klinische Psychologie ein paar Semester an, danach darf man zum Beispiel offiziell gültige Diagnosen erstellen. Bei Therapeuten liegt der Schwerpunkt der Ausbildung auf der Praxis – ein ewiger Disput zwischen den Berufsgruppen.«

»Hm. Und Termine um sieben in der Früh? An einem Samstag?«

»Wie ich schon zuvor sagte: nicht üblich, aber auch nicht verboten. Bei psychotherapeutischen Interventionen kann die Krankenkasse wenigstens einen Teil zuschießen, während Patienten von klinischen Psychologen für eine Behandlung komplett selbst aufkommen müssen. Ich bin halbtags im Hanusch-Krankenhaus angestellt, habe darüber hinaus Privatpatienten. Da muss ich etwas bieten, damit ich Patienten bekomme – und mein Alleinstellungsmerkmal sind die Praxiszeiten. Hat für mich viele Vorteile. Unter anderem, dass die U-Bahnen und Straßen um die Zeit leer sind.«

»Wer kommt zu Ihnen statt zu einem Psychotherapeuten?«

Nicky lächelte. Wenn sie für jedes Mal, wenn sie die Erklärung herunterspulte, einen Euro bekäme, da ginge sich sicher ein Kurzurlaub im Wellnesshotel aus. »Patienten mit Panikattacken oder Depressionen, aber auch mit Phänomenen wie Schlaflosigkeit, Stress, Süchten oder Bewältigung eines Verlustes, die über eine Diagnose hinaus weiterbetreut werden wollen. Dabei trainieren wir soziale und emotionale Kompetenzen. Wir leiten kognitive Umstrukturierungen an. Oft in Zusammenarbeit mit einer medizinischen Behandlung oder einer Psychotherapie.«

»Müssen Sie wohl öfter erklären … Schön. Kommen wir zum Thema.« Grohsman setzte seine Brille auf, schmaler goldfarbener Rand, nicht topmodisch, doch ein Schimmer von Eleganz. »Sie sind wohnhaft in …?«

Beim zwangloseren Gespräch hatte Nicky den Inspektor fast sympathisch gefunden. Menschlich. Schade, durch den Amtston wirkte er härter. Nutzte leider nichts. »Im vierten Bezirk. Paulanergasse 4, bei der Wiedner Hauptstraße.«

Grohsman tippte mit vier Fingern auf seiner Computertastatur. »Geht wohl recht gut, Ihre Praxis?«, fragte er, ohne aufzublicken.

»Ganz okay. Wieso?«

»Wohnungen in dieser Gegend sind nicht ganz preiswert.«

»Meine misst gerade mal vierzig Quadratmeter. Die Miete ist halbwegs erschwinglich.«

»Und Ihre Praxis befindet sich wo?« Er sah sie über den Brillenrand hinweg an. Also Lesebrille, stellte Nicky fest.

»Landstraßer Hauptstraße. Auch nicht billig, gehört mir aber nicht allein. Ich teile die Praxis mit einer Physiotherapeutin.«

Grohsman hämmerte umständlich in die Tasten. »Warum waren Sie um diese Uhrzeit am Mexikoplatz?«

Nicky seufzte. Was führte einen zeitig am Morgen zu einer Adresse, die nicht die eigene war? Sollte sie ihm auftischen, dass sie eine Freundin besucht hatte? Diese Lüge flog sicher sofort auf. Und dann?

»Na, was werde ich dort wohl gemacht haben?«, flüsterte sie.

»Was sagten Sie?«

»Was werde ich dort gemacht haben?« Sie wurde laut.

»Kein Grund, zu schreien. Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen. Also?«

»Ich war … jemanden besuchen.«

»War das jetzt so schwierig?« Grohsman sah von seinem Computer auf, die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Jetzt sah er aus wie ein Oberlehrer. »Wen haben Sie besucht?«

»Einen … Bekannten.« Nicky zupfte einen Fussel von ihrer Hose, den nur sie sehen konnte.

»Name?«

»Wofür brauchen Sie den?«

»Für eine Bestätigung Ihres Verbleibs.« Schon wieder Amtsdeutsch. Grauenvoll.

»Wofür denn? Brauch ich … ein Alibi? Wo Sie mir doch sowieso nicht glauben?« Nickys Gelassenheit tröpfelte davon. Langsam kroch die Gefühlsmixtur der letzten Nacht wieder hoch. Freude, Verschämtheit, Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit … Grauen. Und jetzt noch Resignation.

»Wenn Sie mir einfach den Namen Ihres Bekannten nennen würden, könnten wir wenigstens diesen Teil Ihrer Geschichte verifizieren.«

»Nein. Ich möchte ihn nicht mit hineinziehen. Es geht auch niemanden etwas an, dass … wo ich war.«

Dass sie sich mit Daniel in einer Bar getroffen hatte. Dass sie miteinander gelacht hatten, der Sekt-Orange immer besser schmeckte, weil er so lustig am Gaumen kitzelte – ein Prickeln, das sich auf all ihre Sinne übertrug. Und ja, es war spät geworden, sie war auf einen Kaffee mitgegangen, und dann … dann … Ein versonnenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Dem Leuchten in Ihren Augen entnehme ich, dass Sie bei Ihrem Freund oder Partner waren.«

Wie sachlich das klang.

»Dann ist es doch nicht so schlimm, den Namen zu nennen. Oder ist der Herr anderweitig verheiratet?« Grohsmans Hand verharrte über der Computertastatur.

»Nicht direkt Freund.« Und ob er verheiratet war, wusste sie nicht. Hatte sie nicht interessiert. Noch nicht. »Bitte. Solange ich kein Alibi brauche, was wohl ohne Leiche kaum der Fall sein wird, möchte ich es dabei belassen.«

Grohsman stieß die Luft aus und sah aus dem Fenster. »Na schön. Lassen wir’s einstweilen gut sein.«

Nicky atmete auf. »Kann ich jetzt gehen?«

»Nein, ich muss das Protokoll aufnehmen. Also erzählen Sie bitte, was aus Ihrer Sicht passiert ist.«

Das dauerte sicher ewig bei seinem Tempo. Darum schilderte sie so knapp wie möglich, woran sie sich erinnerte. Gegen drei Uhr – Park – Bank – lebloser Körper einer Frau. »Dann bin ich in Richtung Lassallestraße gegangen.«

»Sie kennen sogar den Straßennamen?«

»Weil ich mir zuvor am Navi vom Handy angesehen habe, wo die nächste U-Bahn-Station ist.«

»Jenem Handy, das Sie vergessen hatten, weshalb Sie zur Telefonzelle mussten, obwohl es sich in Ihrer Tasche befand.«

Nicky ließ die Schultern sinken. »Glauben Sie mir eigentlich irgendwas?« Sie hörte selbst, dass ihre Stimme fragil und durchsichtig klang. So, wie sie sich fühlte.

Grohsman presste die Fingerspitzen gegeneinander. »Wissen Sie … ich habe mir abgewöhnt, voreilig Schlüsse zu ziehen. Sie machen mir nicht den Eindruck einer geistig Verwirrten, und einen Dummen-Mädchen-Streich hätten Sie wahrscheinlich schon gestanden. Andererseits erlebe ich in diesem Beruf Tag für Tag so viele Verrückte, das können Sie sich gar nicht vorstellen.«

Nicky lachte sarkastisch. »Dann sind unsere Berufe ähnlicher, als ich dachte. Wir sollten uns zusammenschließen – ich schicke Ihnen meine Verrückten, bevor die ernsthaft etwas anstellen, und Sie mir Ihre, damit die brav werden und bleiben.«

Ein schalkhaftes Aufblitzen in Grohsmans Gesicht, das Nicky sympathisch fand. Fast.

»War’s das nun?«, fragte Nicky leise. Schüchtern. Hoffnungsvoll.

»Sie können gehen …«, sagte Grohsman.

»… aber halten Sie sich zu unserer Verfügung?«, ergänzte Nicky halb scherzend, halb zweifelnd.

»Zu viele Krimis gesehen, was?«, erwiderte der Inspektor mürrisch. »Sie werden hoffentlich nicht auf die Bahamas fliehen. Oder?«

»Neuseeland wäre eher mein Ding!«, flappste Nicky.

»Hauen Sie schon ab!«

7

Nicky genoss das Plätschern des Wassers unter der Dusche. Wie weißes Rauschen. Es löschte die eingebildeten Störgeräusche, die vom heftigen Grübeln kamen. Kurz ließ sie die eiskalte Flut niederprasseln, zum Abschluss rannen angenehm warme Kaskaden an ihr herunter und nahmen den Nebel mit, der im Kopf klebte. Halbwegs erfrischt überlegte sie, Daniel anzurufen. Oder ihm eine SMS zu schicken. Doch was sollte sie ihm sagen? Dass sie ihn wiedersehen wollte? Einerseits ja – und dann wieder doch nicht. Allerdings nicht seinetwegen. Daniel, das fesche Mannsbild ohne Machismen, gefiel ihr. Wenn er nur nicht der Freund ihres Klienten Tom wäre! Blöd, blöd, blöd!, schimpfte sie sich selbst.

Sie beschloss, Sonja anzurufen. Das perlende Lachen ihrer Freundin hatte seit der Schulzeit schon so manchen Kummer weggefegt. Kam bei Nicky ohnehin selten vor. Sorgen, die passten gar nicht zu ihrem unbekümmerten Wesen. »Frohnatur« hatten die Professoren an der Uni sie genannt, »Lachwurz’n« ihre Freunde. Nachdenklich, das brachte der Beruf natürlich mit sich, aber stundenlang über einem Problem zu brüten, hielt sie für Zeitverschwendung. Und wenn doch etwas zwickte, dann tauchte sie in die Natur ab oder quatschte mit Sonja, bis beiden die Ohren klingelten.

Ach Mist, sie hatte nicht auf die Uhr gesehen und prompt Sonja aus dem Winterschlaf geklingelt. Doch Sonjas Handy war vermutlich mit der Hand verwachsen, sie ging sogar um diese Uhrzeit ran. »Janowski …« Gähnend meinte sie, dass achtzehn Uhr schon passe.

Nicky war versucht, auch ihrem nächsten Klienten abzusagen. Etwas Stille gegen das Chaos. Nein, das wäre unprofessionell. Schnell durchlesen, worum es in der letzten Stunde mit Erwin Lichtfuss gegangen war. Ein heftiger Fall von Minderwertigkeitskomplex. Nicht genug gefördert und gelobt von Eltern, Lehrern und sonstigen Autoritätspersonen, die er verantwortlich machte, wenn er wieder einmal versagte.

Nicky ließ die Aufzeichnungen sinken. Sie hatte nie Psychotherapeutin werden wollen, bloß nicht so dicht an den Klienten dran sein. Das Psychologiestudium war ihr dann aber zu trocken gewesen, zu theoretisch, was sie schließlich zur klinischen Psychologie brachte.

Und jetzt? Nicky lachte. Jetzt hatte sie erst recht mit Klienten zu tun. Oder Patienten, wie die Psychologen sagten, wenn sie sich von Therapeuten abgrenzen wollten. Eigentlich cool, der Job, bis auf zwei Nervzieher, die sie sowohl in Einzel- als auch in Gruppensitzungen betreute. Einer davon war Erwin Lichtfuss, die andere Veronika Garbeis. Ihre Samstagspatienten.

8

»Joe, kommst du mal?« Grohsman hielt zwei Kaffeebecher hoch. »Kriegst auch einen, wenn du magst. Wird länger dauern.«

»Danke, Boss.« Joe nahm ihm zögernd einen Becher ab.

»Was ist?«

»Kommt nicht so oft vor, dass der Chef dem Junghupf einen Kaffee mitbringt.«

»Jungspund. Aber gewöhn dich nicht dran. War bloß Zeitersparnis. Milch ist auch schon drin.« Er ging mit großen Schritten ins Büro, Joe hatte Mühe, ihm zu folgen.

Grohsman drückte ihr die Zeugenaussage von Nicky Witt in die Hand. »Klingt so absurd, dass es schon wieder stimmen könnte. Wer denkt sich so was aus? Oder hat sie sich im eigenen Lügennetz verfangen?«

Joe zupfte konzentriert an einem Ohrläppchen, während sie die Seiten überflog.

»Sie ist so – inhomogen«, murmelte Grohsman.

Joe sah auf.

»Na, fällt dir ein passenderes Wort ein? Einmal scherzt sie, dann wieder ist sie nervös wie eine Klosterschülerin bei der Beichte.« Grohsman trommelte mit einem Kugelschreiber auf den Tisch. Er nahm die Blätter wieder an sich. »Und das Handy, erst weg, dann doch da? Wie ein roter Faden. Ein Leitmotiv. Das Handy, der Körper, sie selbst …« Er stützte seinen Kopf auf eine Hand. Eine Zigarette wäre jetzt gut, doch mit dem Rauchen hatte er aufgehört. Hatte auch nicht verhindert, dass seine Frau voriges Jahr an Lungenkrebs gestorben war. Seine Caro. Scheißkrebs. Statt der Zigarette nahm er einen kleinen Gummiball und knetete seine Bitterkeit hinein.

»Warum will sie nicht sagen, bei wem sie vorher war?«, überlegte Joe laut.

»Mit Sicherheit ein Panscherl, dessen Namen sie nicht preisgeben will. Ich hab’s fürs Erste dabei belassen. Mein Vertrauen in sie stärkt es nicht.«

»Was passiert eigentlich, wenn’s gar keine Hinweise auf ein Verbrechen gibt?«

»Kommt darauf an. Im Prinzip wäre sie dran wegen Falschaussage, Irreführung und so. Aber warum erfindet jemand so was? Um sich interessant zu machen? Wenn das an die Öffentlichkeit kommt, ist sie ihre Lizenz als Psychologin los.«

»Wir gehen also davon aus, dass die Geschichte stimmt?«

Grohsman überlegte. »Ich will mehr über die Witt wissen. Hör dich um, ob’s in letzter Zeit am Mexikoplatz irgendwas Auffälliges gab. Streitereien, Drogen, so was halt.«

»Geht klar.« Joe tippte in ihr Tablet, während sie das Büro verließ. »Bis später, Boss.«

Grohsman sah ihr schmunzelnd hinterher. Statt bei seinem Vornamen, Felix, nannte sie ihn nur Boss. Stand auf dem Pullover, den er getragen hatte, als er ihr das Du anbot.

9

Nicky parkte ihre »Gelse«, die knallrote Piaggio, vor ihrer Praxis. Nicht ihre Art, Alltagsgegenständen einen Namen zu geben. Doch auf dieses Gefährt hatte sie lange gespart. Das war schon was, als sie sich vor fünf Jahren von den ersten Einnahmen endlich den Roller leisten konnte.

Nickys Handy fiepte. Eine SMS von Daniel. »Schade, dass du so früh gegangen bist. Ich möcht dich wiedersehen – xxx«. Nicky starrte auf das Display. Warf das Handy in die Tasche. Verschob die Antwort auf später. Genau, was ich meinen Klienten rate, dachte sie kopfschüttelnd.

Im luftigen Praxisraum öffnete sie die Fenster, rückte die weinroten Ledersessel zurecht. Der Stabparkettboden musste wieder mal mit Politur bearbeitet, die Gardinen mussten gewaschen werden. Die weißen Wände wollte sie mit Zeichnungen dekorieren, konnte sich noch nicht für bestimmte Motive entscheiden. Bunte Pölster lagen auf einem Tischchen. Gelegentlich forderte sie ihre Patienten auf, ihrer Wut freien Lauf zu lassen und die Pölster quer durch den Raum zu pfeffern. Bei zehn Metern Raumtiefe trafen die wenigsten das andere Ende.

Nach der Sitzung mit Erwin Lichtfuss kaute Nicky an ihrem Stift. Ihre Notizen schrieb sie mit der Hand, weil sie sich Details so besser einprägen konnte.

Eine anstrengende Session. Sie hielt mitten im Satz inne. Im Laufe der Wochen, die sie ihn betreute, hatten sich ihre Bemerkungen über ihn wiederholt. Wie konnte sie ihn dazu bringen, pünktlich aufzutauchen? Auch gegen seine Eigenart, ewig Belangloses zu erzählen und erst in den letzten zehn Minuten über das eigentliche Problem zu sprechen, kam Nicky nicht an. Wie viele Fragetechniken hatte sie schon versucht? Sie hatte ihm sogar einmal gedroht, ihn nicht weiterzubetreuen. Daraufhin hatten sich sowohl seine Pünktlichkeit als auch sein Timing verbessert. Kurzfristig. Schon nach drei oder vier Wochen schlichen sich wieder die ersten Verspätungen ein.

Seine Hassliebe zum »Hotel Mama«, gepaart mit null Selbstvertrauen, erhöhte die Gefahr, dass er das bevorstehende Vorstellungsgespräch vermasselte, auf neunundneunzig Prozent. Wieder mal.

Nicky zuckte die Achseln. Er schob alles vor sich her, außer zu essen und im Garten Unkraut auszuzupfen, das nur er sah. Weshalb er in Nickys Selbsthilfegruppe zur Prokrastination gelandet war. »Wenigstens besteht keine Gefahr, dass er Kandidat für meine zweite Gruppe wird!« Nicky lachte. Das war die Selbsthilfegruppe zur Burn-out-Prophylaxe.

10

Joe hockte sich auf den Sessel neben Grohsmans Schreibtisch. »Boss, sorry, keine Unregelmäßigkeiten am Mexikoplatz in letzter Zeit.«

»Ist ruhiger geworden in der Gegend. Nachdem die den Zollhafen geschlossen hatten, war’s vorbei mit dem Mexikoplatz als Schmugglerparadies. Und das ist schon eine Weile her. Dennoch …«

»Ich weiß. Dort kannst du immer noch alles kaufen, was der Markt so an unterschiedlichen Genussmitteln anbietet.« Joe grinste.

Grohsman sah sie spöttisch an. »Sprichst du jetzt aus Erfahrung?«

Joe schüttelte empört den Kopf. Was dachte der Chef von ihr? Sicher, sie hatte sich ein paar härtere Züge zugelegt, aber seither war wenigstens Ruhe mit den doofen Hänseleien.

»Das Zeug rühr ich nicht an. Hab aber mal im Karl-Marx-Hof gewohnt. Also, am 12.-Februar-Platz. Wenn man mit dem Bus in Richtung Mexikoplatz fährt … mich hat’s gewundert, wieso da nicht öfter die Polizeistreife durchgeht.«

»Durch den Bus? Und was finden die da? Ein paar Giftler, die Stoff brauchen. Das allein ist noch nicht strafbar.«

»Auch wieder wahr.« Es war weit über Mittag. Ihr Magen knurrte. Joe stand auf und blieb unschlüssig im Türrahmen stehen.

»Geh heim. Iss was. Schlaf dich aus.«

Wollte sie auch nicht. Auch wenn sie es nicht zeigte, sie war mächtig stolz, dass ihr Chef sie bei diesem Fall nicht nur Hintergrundrecherchen machen ließ. Nun musste sie beweisen, was sie draufhatte.

»Eine Idee hätte ich. In der LKA-Außenstelle, die für die Vermisstenmeldungen zuständig ist, arbeitet ein Kollege, mit dem ich in der Ausbildung für die Kripo war. Den könnte ich fragen, ob er mir Bescheid gibt, falls sie eine passende Meldung reinkriegen.«

»Dann mach das mal!«, murmelte der Inspektor abwesend. Er war wieder in seine Akten abgetaucht.

Im Gehen suchte Joe fieberhaft nach der Telefonnummer. Ob der Kollege sich noch an sie erinnern konnte? Na, so lange war das auch noch nicht her.

»Erich? Ich bin’s, Joe, also, früher Johanna. Du, wir haben da eine komische Meldung, eine angebliche Tote, aber die Leiche ist weg … Ja … Aha …?«

Joe blieb der Mund offen. Sie stürzte, ohne anzuklopfen, ins Büro ihres Chefs. »Boss, das musst du dir ansehen!«

11

Nicky wollte eben ihre Praxis verlassen, als das Handy läutete. Unbekannte Nummer.