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Wenn die Wahrheit alles vernichten könnte, willst du sie dennoch erfahren?
Als Favoritin des Königs ist Vanya an den Hof der Ewigen Mitternacht gebunden, an ein Reich in unendlicher Finsternis und ohne jedwedes neue Leben. Allein der Heiler Kenric vermag es, Licht in ihre Dunkelheit zu bringen. Er lässt ihr Herz höher schlagen, auch wenn ein tödlicher Fluch über ihrer Verbindung lastet, genau wie eine düstere Macht in Kenric, die er mit allen Mitteln zu unterdrücken versucht. Doch der Nachtfae ist nicht der Einzige mit Geheimnissen, denn als ein unausweichlicher Kampf um das Schicksal der Welt bevorsteht, muss Vanya sich entscheiden: Bewahrt sie ihr Geheimnis oder offenbart sie ihre verborgene Magie und opfert damit ihre Liebe?
Das epische Finale um die Hundertste Prinzessin Vanya und den mysteriösen Heiler Kenric: Rasant, spannend und voller Gefühl, mit absolutem Suchtpotenzial!
//Dies ist der zweite Band der »Midnight Princess«-Reihe. Alle Romane der magisch-mitreißenden Liebesgeschichte im Loomlight-Verlag:
-- Band 1: Wie die Nacht so hell
-- Band 2: Wie der Tag so dunkel//
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Seitenzahl: 613
Das Buch
Wenn die Wahrheit alles vernichten könnte, willst du sie dennoch erfahren?
Als Favoritin des Königs ist Vanya an den Hof der Ewigen Mitternacht gebunden, an ein Reich in unendlicher Finsternis und ohne jedwedes neue Leben. Allein der Heiler Kenric vermag es, Licht in ihre Dunkelheit zu bringen. Er lässt ihr Herz höher schlagen, auch wenn ein tödlicher Fluch über ihrer Verbindung lastet, genau wie eine düstere Macht in Kenric, die er mit allen Mitteln zu unterdrücken versucht. Doch der Nachtfae ist nicht der Einzige mit Geheimnissen, denn als ein unausweichlicher Kampf um das Schicksal der Welt bevorsteht, muss Vanya sich entscheiden: Bewahrt sie ihr Geheimnis oder offenbart sie ihre verborgene Magie und opfert damit ihre Liebe?
Die Autorin
© Privat
Hinter dem Pseudonym Asuka Lionera verbirgt sich eine im Jahr 1987 geborene Träumerin, die schon als Kind fasziniert von Geschichten und Comics war. Bereits als Jugendliche begann sie, Fan-Fictions zu ihren Lieblingsserien zu schreiben und kleine RPG-Spiele für den PC zu entwickeln, wodurch sie ihre Fantasie ausleben konnte. Ihre Leidenschaft machte sie nach einigen Umwegen und Einbahnstraßen zu ihrem Beruf und ist heute eine erfolgreiche Autorin, die mit ihrem Mann und ihren vierbeinigen Kindern in einem kleinen Dorf in Hessen wohnt, das mehr Kühe als Einwohner hat.
Mehr über Asuka Lionera: www.asuka-lionera.de
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Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Asuka Lionera
Midnight PrincessWie der Tag so dunkel
Für meinen Seelenhund Hera, die wundervolle Inspiration all meiner tierischen Charaktere.
Eines Tages sehen wir uns wieder.
Noch bevor ich die Augen aufschlage, spüre ich die Ruhe und den Frieden, die mein Innerstes durchströmen.
Als ich in Evenor, der Hauptstadt Nordgands, ankam, brauchte ich eine Weile, um meinen Platz zu finden. Ich musste mich erst an meine Rolle gewöhnen, ebenso wie an den Beinamen, den ich vom ersten Moment an trug.
Erlöser.
All diese mir fremden Fae sehen mich als ihren Erlöser an. Für sie bin ich derjenige, der den uralten Fluch von diesem Reich nehmen kann. Zwar weiß ich nicht, wie genau mir das gelingen soll, doch das ist nur eine unbedeutende Nebensächlichkeit.
Ich werde geachtet und geschätzt. Gewürdigt, nachdem ich unzählige Jahre nicht wirklich existiert habe und im Verborgenen bleiben musste. Bis auf Turon kannte ich niemanden. Dann traf ich Paleia, die Turon, der nun ein Hund war, und mich auflas und nach Evenor brachte.
Das ist noch nicht lange her, trotzdem weiß ich mit Sicherheit, dass ich genau an diesen Ort gehöre. Dass ich etwas bewegen kann. Dass ich zu Höherem bestimmt bin, als mein Leben unbeachtet im Verborgenen zu verbringen.
Das hat auch eine Südganderin erkannt, die mit der letzten Auswahl hier in Nordgand eintraf und von der ich seither nicht den Blick nehmen kann.
Den Sinn der Auswahl habe ich noch nicht ganz verstanden, aber er kümmert mich auch nicht. Wichtig ist nur, dass sie hier ist. Lorienne, die wohl schönste Frau, die je existiert hat. Selbst die mächtigen Fae-Frauen verblassen neben ihr.
Und diese wunderschöne Frau schenkt ihre Aufmerksamkeit mir. Wie könnte ich da nicht der glücklichste Fae der Welt sein?
Das latent wunde Ziehen an meinem linken Handgelenk erinnert mich daran, dass es nicht lange her ist, seit wir den letzten Schritt getan haben. Ihr Name steht dort in acht geschwungenen Buchstaben, und meiner ziert ihr linkes Handgelenk. Zwischen uns ist es nicht mehr nur bloßes Interesse. Es ist mehr. Sehr viel mehr. Sie wurde zu meinem meraelior – dem Licht meines Herzens, sowie ich zu ihrem wurde.
Und heute werde ich ihren Namen auf meinem Handgelenk jedem zeigen. Lorienne hatte mich um eine Weile Zurückhaltung gebeten, doch ich halte es keinen Moment länger aus. Ich will, dass jeder weiß, dass sie und ich zusammengehören. Danach, wenn es jeder begriffen hat, werde ich mich um die Sache mit der Fluchauflösung kümmern.
Noch mit geschlossenen Augen taste ich im Bett neben mich, finde allerdings nur kalte, leere Laken vor. Ich runzele die Stirn und drehe den Kopf zur Seite, ehe ich die Augen öffne.
Sie ist weg.
Diese Erkenntnis versetzt meiner Freude einen Dämpfer, doch ich sage mir, dass sie wahrscheinlich lediglich etwas zu essen sucht. Als Südganderin ist sie auf regelmäßige Nahrungsaufnahme angewiesen, während mir das Prinzip des Essens fremd ist. Nur für Turon muss ich etwas zubereiten, aber in letzter Zeit lasse ich ihn nicht in die Wohnung, weil er Lorienne ständig anknurrt. Einmal hat er sogar versucht, sie zu beißen. Ich war außer mir und beförderte ihn mit einem Tritt vor die Tür. Allgemein benimmt er sich seltsam, seit wir hier in Evenor sind. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass er nun ein Hund ist.
Ich stehe auf und suche meine Kleidung, die wild verstreut auf dem Boden liegt. Beim Gedanken daran, wie ich sie ausgezogen habe und was danach geschehen ist, spüre ich ein Lächeln auf meinen Lippen. Sogar ich war diesmal müde und wurde von Schlaf übermannt. Trotzdem hätte ich nichts gegen eine Wiederholung einzuwenden, doch Lorienne ist nicht hier. Auch im Rest der Wohnung, die ich nur zum Übergang bewohne, finde ich sie nicht. Ebenso wenig wie eine Nachricht von ihr.
»Das hat nichts zu bedeuten«, murmele ich mir selbst zu.
Ich bin der Erlöser! Wahrscheinlich stehe ich in der Hierarchie sogar über König Zahid.
Dennoch verschwindet das Ziepen in meiner Brust nicht.
Als ich nichts mehr mit mir anzufangen weiß, verlasse ich meine Wohnung und schlendere durch die Stadt.
Normalerweise begegne ich einigen Fae, die sich vor mir verneigen und mir huldigen, doch irgendetwas ist heute anders. Die wenigen Einwohner, denen ich begegne, tun so, als würden sie mich nicht sehen. Im ersten Moment stößt mich dieses Verhalten vor den Kopf und ich habe keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll.
Seit meiner Ankunft galt ich als etwas Besonderes. Nun scheine ich einer von vielen zu sein. Oder unsichtbar. Oder beides. Diese Form der Nichtachtung ist mir völlig fremd.
Unsicher blicke ich mich um, bis ich ein bekanntes Gesicht entdecke.
»Der Göttin zum Gruß«, sage ich zu dem Fae, dessen Namen ich zwar nicht kenne, dem ich allerdings bereits mehrere Male begegnet bin. Ich glaube, er handelt mit Waren aus Südgand, die ich ein paar Mal für Turon gekauft habe.
Beim Gedanken an Turon wird das seltsame Gefühl in meiner Brust stärker. Normalerweise lag er vor meiner Wohnungstür, aber vorhin war er nicht da. Ich habe ihn auch nicht in der Nähe des Hauses entdeckt.
Wie um diesen Gedanken zu vertreiben, zucke ich mit den Schultern. Sicher sucht er bloß etwas zu fressen, weil ich anderes im Sinn hatte, als ihn zu bekochen.
Der Fae hat nicht mehr als einen flüchtigen Blick für mich übrig, ehe er wieder seiner Arbeit nachgeht und mich nicht weiter beachtet.
Habe ich etwas im Gesicht? Oder hätte ich duschen sollen, bevor ich die Wohnung verließ? Verstohlen schnüffele ich an meinem Hemd, bemerke aber keinen unangenehmen Geruch.
»Erkennt Ihr mich?«, frage ich den Fae. Es gelingt mir nicht, eine Spur Bitterkeit in meiner Stimme zu unterdrücken.
»Ja«, brummt der Mann, »leider kenne ich dich.«
Ich mache einen Schritt zurück. Es fühlt sich an, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst, ohne zu wissen, womit ich sie verdient habe.
»Was meint Ihr damit?«, zwinge ich mich zu fragen, auch wenn ein Teil von mir sich vor der Antwort fürchtet.
Er spuckt vor mir aus. »Scher dich fort, Bengel! Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist! Einen Hochstapler und Widerling wie dich wollen wir hier nicht haben.«
Stocksteif stehe ich da und starre ihn an, unfähig auch nur einen Muskel zu rühren. Wieder und wieder hallen seine Worte in meinem Kopf nach.
Bengel. Hochstapler. Widerling.
Niemand hat je gewagt, mich so zu nennen. Ich bin doch … ihr Erlöser.
Ein eisiger Knoten bildet sich in meinem Magen, als der Blick des Faes zu meiner Stirn huscht, wo ein hässliches, violett glühendes Geburtsmal prangt. Schnell wendet er den Kopf ab, nicht ohne angewidert den Mund zu verziehen.
»Bitte entschuldigt mich«, bringe ich mühsam hervor.
Irgendwie gelingt es mir, meine Restwürde zusammenzukratzen und mich langsam von dem Fae zu entfernen. Langsam genug, dass es nicht wie eine Flucht aussieht. Auch wenn ich gerade nichts lieber täte, als mich an einem noch dunkleren Ort als diesem zu verstecken und mich nie wieder hervorzuwagen.
Meine Gedanken rasen; ich kriege jedoch nicht einen einzigen davon zu fassen.
Was ist nur geschehen, dass der Fae sich so merkwürdig mir gegenüber verhalten hat und die übrigen mich mit Nichtachtung strafen, nachdem sie schier den Boden angebetet haben, über den ich wandele? Geht ihnen die Fluchaufhebung zu langsam? Ich würde es lieber gestern als heute hinter mich bringen, wenn ich bloß wüsste, was ich dazu tun muss. Dann wäre ich für sie ein Held. Sie würden mich für den Rest ihres Lebens mit Respekt behandeln.
Nicht nur das: Einige von ihnen würden sicher meine Freunde werden. Fae, mit denen ich reden kann.
Das konnte ich über die lange Zeit meiner Existenz nicht. Ich konnte nur zuhören. Immer wieder derselben Stimme. Aber ich konnte nie antworten oder Fragen stellen. Ich war stumm. Auch jetzt fühle ich mich stumm, dabei hatte ich gehofft, dieses Gefühl nie wieder zu spüren. Ich reibe mir mit beiden Händen über die Arme, als könnte ich es auf diese Weise vertreiben. Es gelingt mir jedoch nicht. Zu dem bekannten Gefühl, stumm zu sein, gesellt sich ein weiteres, das ich nur zu gut kenne: Einsamkeit.
Dabei will ich doch nur … dazugehören.
Ich beschließe, eine Sache nach der anderen anzugehen. Zunächst muss ich Lorienne finden. Danach werde ich mit Zahid reden. Vielleicht weiß er, wie ich den Fluch aufheben kann.
Aber ohne Lorienne an meiner Seite wird es mir nicht gelingen, dieses Wunder zu vollbringen. In der kurzen Zeit, die wir uns kennen, ist sie mir eine wichtigere Stütze geworden als jeder andere. Sogar wichtiger als Turon. Sie versteht mich, redet mit mir und gibt mir die nötige Kraft, um mich in dieser mir fremden Welt zurechtzufinden. Ihre Nähe wird mich die abweisende Haltung der Fae vergessen lassen.
Keiner von ihnen wird erneut wagen, mein Mal anzustarren. Ich reibe mir mit der Hand über die Stirn. Ganz genau spüre ich, wo es sitzt, weil die Haut dort kühler ist als gewöhnlich. Ich täte alles dafür, wenn ich dieses verdammte Ding nicht mehr hätte … Vielleicht sollte ich es mir herausschneiden …
Hier in Evenor sind alle Bewohner perfekt – vom einfachen Händler bis zum Adligen. Sie sind schön, mächtig und kultiviert. Ich steche zwischen ihnen heraus wie ein krummer Nagel, und dieses schreckliche Mal macht alles nur noch schlimmer. Ich bereue es, nicht meinen Umhang mit Kapuze mitgenommen zu haben; damit könnte ich das Mal verdecken. Doch da ich beinahe beim Hof der Ewigen Mitternacht angelangt bin, macht es keinen Sinn umzudrehen.
Meine Schritte werden langsamer, als ich daran zurückdenke, wie Lorienne das Mal auf meiner Stirn angesehen hat, als wir uns begegnet sind. Auch sie war … verwirrt, denke ich. Und danach … Wenn sie mich auf die Wange geküsst hat, hat sie stets die andere, die linke Seite gewählt, als hätte sie Angst, sich die Lippen zu versengen, wenn sie sich meinem Makel zu weit nähert. In Gedanken gehe ich die Augenblicke durch, in denen sie bewusst meine linke Seite gewählt hat: wenn sie sich neben mich auf das Sofa gesetzt hat, zum Beispiel, oder wenn sie sich im Bett an mich schmiegte. Erst jetzt, wo ich viel zu viel Zeit habe, mir Gedanken zu machen, kommt es mir in den Sinn.
Die restliche Zeit über war ich nur glücklich und verschwendete mein neu gewonnenes Glück nicht mit zu vielen Fragen.
Unsicher spähe ich nach links und rechts. Einige Fae, die über den großen Platz vor dem Schloss eilen, bleiben stehen, beobachten mich und tuscheln mit ihrem Nebenmann. Ihre Mienen sind finster, wann immer sie zu mir schauen.
Diese unverhohlene Abneigung, die mir geballt entgegenschlägt, zusammen mit den Dingen, die mir eben durch den Sinn jagten, verunsichern mich so sehr, dass ich beinahe doch zurück in meine Wohnung flüchte und die Tür hinter mir verriegele.
Obwohl sie mich noch vor Kurzem ihren Erlöser genannt haben, fühle ich mich jetzt wie ein verängstigter Junge, der von allen verlassen wurde, die er kennt, und der inmitten einer undurchdringlichen Dunkelheit steht. Als dieser Junge weiß ich nicht, in welche Richtung ich mich wenden oder wem ich mich anvertrauen kann. Wenn ich auf einen der umstehenden Fae zugehe, wird er nur vor mir zurückweichen oder mein Mal anstarren.
Ich wünschte, Paleia wäre hier, aber ihr bin ich seit meiner Ankunft in Evenor nur flüchtig begegnet, und Turon … Wo ist Turon hingegangen? Ich habe ihn rausgeworfen, weil er Lorienne angeknurrt hat. Und ich habe einige Dinge zu ihm gesagt, die ich niemals hätte aussprechen dürfen.
Ich presse mir eine Hand gegen die Brust, als das schlechte Gewissen mich zu verschlingen droht.
Sobald ich Lorienne gefunden habe, wird alles wieder gut werden. Es wird sich aufklären, warum die Fae mich derart seltsam behandeln. Ich werde mich dafür entschuldigen, dass ich den Fluch noch nicht gebrochen habe, und versprechen, dass ich mich mit Feuereifer darum kümmern werde.
Und danach werde ich Turon suchen und ihm sagen, wie leid mir alles tut.
Meine Suche nach Lorienne führt mich schließlich ins Schloss hinein.
Hier habe ich mich die letzte Zeit über oft aufgehalten. Die adligen Fae konnten gar nicht genug von meiner Gegenwart bekommen. Sie überhäuften mich mit Geschenken und ihrer Gunst, ebenso wie mit Versprechen darüber, was ich noch alles erhalten werde, wenn es mir gelingt, den Fluch zu lösen. Sie priesen ihre Töchter an, unter denen ich frei wählen könnte. Aber ich habe meine Wahl bereits getroffen. Ich will nur eine Frau; ihr Name steht bereits auf meinem Handgelenk.
Vorsichtig fahre ich mit den Fingern der rechten Hand über die leichten Vertiefungen in meiner Haut, direkt unter dem linken Handballen, während zwei Wachen das Tor zum Schloss für mich öffnen. Befühle die Buchstaben ihres Namens und suche nach der Verbindung, die ich während der Zeremonie gespürt habe. Ich finde sie nicht. Dabei hatte ich gedacht, dass sie nun für immer ein Teil von mir wäre. Dass ich sie spüren könnte – ihre Gedanken und Gefühle. Das habe ich anfangs auch, nachdem die ersten Schmerzen abgeklungen waren. Es war, als wären wir zu einer Person geworden. Ich liebte diesen Zustand.
Und ich will ihn wieder zurück.
Die Wachen richten kein Wort an mich; auch mir ist nicht nach Reden zumute. Vielleicht könnten sie mir sagen, ob Lorienne überhaupt im Schloss ist, aber ich finde es lieber selbst heraus. Um nichts in der Welt will ich, dass sie mich genauso herablassend behandeln wie der andere Fae vorhin.
Ich bedenke sie mit einem knappen Nicken, ehe ich das Schloss betrete.
Als ich das erste Mal hier war, verspürte ich nichts als Neid. Während ich Jahrhunderte lang im Nirgendwo zubrachte, lebte Zahid in diesem prächtigen Schloss. Er besaß alles – Reichtum, ein Heim, Freunde, Rückhalt –, während ich nichts hatte. Dabei sind wir gar nicht so verschieden.
Der Neid legte sich etwas, als ich Lorienne begegnete und sie sich zu mir hingezogen fühlte, anstatt zum König Nordgands. Zum ersten Mal kam ich mir ihm überlegen vor und kostete dieses Gefühl in vollen Zügen aus. Es bedurfte nicht viel Überwindung, denn Lorienne wusste, was sie tat. Ihren Versprechen, geflüstert in mein Ohr, ließ sie stets Taten folgen. Auch diese genoss ich, und wäre es nach mir gegangen, würde ich sie auch jetzt genießen.
Wäre sie nicht aus meinem Bett verschwunden.
Ein Stimmengewirr leitet mich zum großen Saal. Hier fand ich mich vor geraumer Zeit wieder, nachdem Paleia mich herbrachte. Von oben bis unten wurde ich von den Fae begutachtet, während ein einziges Wort wie ein raunendes Versprechen durch den Saal huschte.
Erlöser.
Sie werden es auch jetzt wieder sagen, sobald sie mich sehen. Ich habe mich nicht verändert. Ich tue alles dafür, um ihre Erwartungen zu erfüllen, damit mein Leben, das ich endlich habe, weiterhin so verläuft wie die letzte Zeit.
Sobald ich das Tor zum Saal öffne, verstummen die Gespräche. Mehrere Dutzend Fae sind anwesend, die sich allesamt zu mir umdrehen. Zahid sitzt auf seinem Thron und beäugt mein Eintreten mit undurchsichtiger Miene.
Die Luft hier im Saal ist zu dick zum Atmen, und die Blicke der Fae scheinen mich zu durchbohren. Sie starren mich aus verengten, leuchtenden Augen an, als sei ich Abschaum.
Die Menge teilt sich vor mir und gibt mir den Weg hin zum Thron frei. Am liebsten würde ich auf dem Absatz kehrtmachen und aus dem Saal flüchten. Weg von dieser erdrückenden Stimmung, weg von dem abschätzigen Starren, das ich nicht einordnen kann und das ich nicht verdiene.
Doch ich bleibe, nicht zuletzt weil mein Blick auf eine Frau fällt, die zusammengekauert vor dem Thron kniet und weint.
Lorienne.
Ich stürze nach vorn, dränge mich an Fae vorbei, die mir nicht schnell genug Platz machen, um zu Lorienne zu gelangen. Neben ihr gehe ich sofort in die Hocke und strecke die Hand nach ihr aus. Ehe ich sie jedoch berühren kann, weicht sie mit einem Aufschrei vor mir zurück.
Es fühlt sich an, als würde mir in diesem Moment das Herz von einer mit Krallen bewehrten Hand herausgerissen und auf den kalten Marmorboden geworfen werden.
Mit vor Schreck geweiteten und von Tränen verquollenen lichtlosen Augen schaut Lorienne mich an, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. Oder als hätte ich mich plötzlich in ebendieses Ungeheuer mit den Krallen bewehrten Händen verwandelt.
Ich öffne den Mund, doch ich schaffe es nicht, Worte zu bilden. Mehrmals bewege ich die Lippen, ohne dass ein Ton herauskommt.
Als es mir schließlich gelingt, ist es nur ein einziger Laut, kaum ein Wort, nicht mehr als ein Krächzen. »Was …?«
Obwohl es bloß ein heiseres Flüstern ist, habe ich das Gefühl, als würde das Wort von den hohen Decken des Saals wie Spott zurückgeworfen werden.
»Du wagst es«, knurrt Zahid, »hier zu erscheinen?«
Ich blinzele verwirrt und muss mich dazu zwingen, meine Aufmerksamkeit von der verzweifelt schluchzenden Lorienne zu nehmen, damit ich Zahid ansehen kann. Seine blau leuchtenden Augen scheinen Blitze zu schießen. Ich kann die Macht und Wut, die er ausstrahlt, förmlich auf der Haut spüren.
»Ich …« Ich räuspere mich. »Ich war auf der Suche nach Lorienne.«
Zahids Blick verfinstert sich. Nun zucken tatsächlich Blitze um seine Finger, die er um die Lehne seines prunkvollen Throns gekrallt hat. »Damit du dem armen Ding noch mehr Abscheuliches antun kannst?«
Ich spüre, wie mein Kiefer nach unten sackt. »Was?«
»Und uns alle hast du ebenfalls getäuscht«, fährt Zahid mit donnernder Stimme fort. »Du hast dich als Erlöser ausgegeben, aber du bist nicht mehr als ein Betrüger. Ich hätte dich früher durchschauen sollen. Vielleicht wären der Ausgewählten dann der Schmerz und die Schande erspart geblieben, die du verursacht hast.«
Ich atme nicht mehr. Ich habe von einem Moment auf den anderen verlernt zu sprechen. Also stehe ich nur mit offenem Mund da, während ich zwischen Zahid und der weinenden Lorienne hin- und herschaue. Krampfhaft versuche ich zu begreifen, was gerade vor sich geht, doch in meinem Kopf herrscht eine gähnende Leere.
»Meine Liebe«, murmelt Zahid an Lorienne gewandt, die zögerlich den Kopf hebt. »Ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber ich muss es aus deinem Mund hören. Sonst kann ich dir nicht helfen.«
Lorienne schnieft und fährt sich mit dem Handrücken über die Nase, ehe sie den Arm ausstreckt und auf mich zeigt. »Er war es. Er hat sich mir aufgedrängt. Hat gesagt, er sei der Erlöser und ich müsse ihm zu Willen sein. Ich … Ich bin noch nicht lange hier und kenne die Gebräuche nicht. Deshalb … habe ich ihm geglaubt. Aber es war furchtbar. Er … Er verlangte Dinge, die …« Sie schluchzt erneut. »Verzeiht, mein König, doch ich kann es unmöglich laut aussprechen.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich Zahid nachsichtig nicken. »Hat er verlangt, dass du ihm beiliegst?«
»Ja«, antwortet Lorienne mit dünner Stimme. »Mehrmals. Er … nahm sich einfach alles, was er wollte. Auch meine … Unschuld.«
Ein empörtes Raunen geht durch die Menge hinter mir, die ich bis eben ausgeblendet habe. Noch immer bin ich unfähig, irgendeine Regung zu zeigen.
Loriennes Anschuldigungen sind erfunden und erlogen, das weiß ich. Sie war es, die mich ins Bett gezerrt hat. Ich war der Unschuldige von uns beiden, denn ich wusste nichts über körperliche Liebe. Sie hingegen hatte einiges an Erfahrung zu bieten – von wegen geraubte Unschuld!
Meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich beginne am ganzen Körper zu zittern. Schatten kriechen aus mir hervor, und es fehlt nicht viel und ich hätte sie auf Lorienne losgelassen.
Ich habe ihr meine Magie ein einziges Mal gezeigt, weil sie mich darum gebeten hat. Nie werde ich die Angst und die Abscheu in ihrem Gesicht vergessen, als sie meine Schatten erblickt hat. Seitdem halte ich sie unter Verschluss, aber nun brechen sie aus mir hervor.
Doch sie verbleiben lediglich einen Moment, ehe Zahid die Hand ausstreckt und meine Magie versiegelt. Ihrer Kraft beraubt geben meine Knie beinahe unter mir nach, trotzdem hefte ich den Blick fest auf die am Boden kauernde Frau.
»Warum?«, grolle ich. »Warum tust du das, Lorienne?«
»Du redest nur mit mir.« Zahids schneidende Stimme durchbricht das Raunen. »Und auch bloß dann, wenn du gefragt wirst. Du hast bereits genug Schaden angerichtet.«
»Ich habe nichts getan!«, begehre ich auf. »Nichts, was sie nicht ebenfalls gewollt hätte.«
Loriennes falsches Schluchzen zerrt an meinen Nerven. »Das ist eine Lüge! I-Ich musste sogar …«
Sie zieht den linken Ärmel ihres Kleides zurück und entblößt meinen Namen, eingeritzt in ihre Haut. Die Fae, die in der vordersten Reihe stehen, schnappen hörbar nach Luft.
Schützend legt Lorienne ihre rechte Hand über das linke Handgelenk. »Er sagte, ich müsse das tun … Dass ich mich danach … noch besser fühlen würde.«
Nein!, will ich schreien, doch das Wort verlässt meinen Mund nicht. Es hängt in meinem Hals fest und droht mich zu ersticken.
Sie war es … Sie war diejenige, die den Pakt wollte. Sie wollte die Verbindung mit dem Erlöser, die sie hier in Nordgand überleben lässt. Ich wusste nur vom Hörensagen von diesem Pakt und hätte ihn niemals zur Sprache gebracht. Er ist etwas Besonderes und jenen vorbehalten, die bereit sind, den Rest ihres Lebens miteinander zu verbringen. Aber als sie davon anfing, setzte sich der Gedanke in mir fest. Ich wollte es, genauso wie ich sie wollte. Ich wollte für immer mit ihr verbunden sein.
Denn ich dachte … ich wäre in sie verliebt.
Ich dachte, dass es dieses Gefühl wäre, das in meiner Brust tobte, wann immer sie in meiner Nähe war. Wenn sie mich berührte, schlug mein Herz schneller. Wenn sie mir ins Ohr flüsterte, was wir tun könnten, spannte sich mein ganzer Körper mit einem Mal an.
Wie konnte ich so falschliegen? Wie konnte ich blind für das sein, was wirklich vor sich ging?
Ich könnte es auf meine Unwissenheit oder die Tatsache schieben, dass ich zu jung bin, um die Wahrheit erkennen zu können. Aber das wäre nicht genug. Es würde mir nicht gegen die zerbrochene Leere helfen, die nun in meinem Inneren herrscht und mich zu Boden zu ziehen droht.
Nur mein Stolz hält mich aufrecht. Ich darf diesen – im Gegensatz zu mir – uralten Fae keinen Anflug von Schwäche zeigen, denn sonst würden sie mich hier und jetzt zerfleischen und jede Sekunde meiner Qual genießen.
So gut es mir in meiner Situation möglich ist, sperre ich die verletzten Gefühle, die Wut und den Hass auf die Frau, die ich dachte zu lieben, in mir ein und zeige nach außen hin eine Maske, die sich nicht wie ich anfühlt. Doch ich stelle sie weiterhin zur Schau, weil mir keine andere Wahl bleibt.
»Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, verlangt Zahid zu wissen, nachdem die Stille im Saal beinahe ohrenbetäubend wird.
Ich stoße ein Schnauben aus. »Würde mir denn irgendwer ein Wort glauben?«
Lässig lehnt Zahid sich auf seinem Thron zur Seite. »Also ist es wahr, was sie sagt?«
»Nein«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Zahid zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Du behauptest demnach, du hättest ihr nicht beigelegen und wärst nicht den Pakt mit ihr eingegangen?«
Ich schlucke angestrengt. »Doch, schon, aber … nichts davon geschah gegen ihren Willen.«
»Kannst du das beweisen?«
Jeder Fae hinter mir hält den Atem an, um meine Antwort nicht zu verpassen.
Ich klammere mich an eine dumme Hoffnung und schaue zu Lorienne. Der Frau, mit der ich den Großteil meines Lebens verbracht habe, seit ich hier in Evenor ankam. Der Frau, der ich meine Liebe schenkte. Und von der ich dachte, dass sie mich ebenfalls liebt. Ich vertraue darauf, dass sie die Stimme erhebt und sagt, sie hätte sich geirrt. Stumm flehe ich sie an, die Sache richtigzustellen.
Doch sie wendet sich schniefend ab.
Wie konnte ich nur für eine Sekunde hoffen? Wie konnte ich ihr vertrauen?
Hoffnung ist etwas Grausames.
»Nein«, sage ich laut genug, dass es alle Anwesenden hören. »Ich kann es nicht beweisen.«
Noch während ich stocksteif vor Zahids Thron stehe und seinen Urteilsspruch erwarte, schwöre ich mir, nie wieder zu hoffen oder zu lieben. Ich werde nie wieder so dumm sein.
»Es gibt lediglich einen Weg, diese schändliche Verfehlung wiedergutzumachen.«
Ich hebe den Blick und begegne Zahids. Noch während ich ihn ansehe, dämmert mir, worauf er hinauswill. Abermals schaue ich zu Lorienne.
»Du musst hier und jetzt den Fluch aufheben«, höre ich Zahid sagen. Seine Stimme klingt in meinem Kopf voll wirrer Gedanken undeutlich. »Dann werde ich dich von all deinen Verfehlungen freisprechen.«
Mein Mund ist wie ausgedörrt, während ich Lorienne anstarre. Ihr gegenüber habe ich zugegeben, dass ich vielleicht nicht der Erlöser bin. Ihr habe ich meine Zweifel anvertraut, im Glauben, sie könnte sie zerstreuen. Doch als ich mich jetzt an unser Gespräch zurückerinnere, hat sie danach geschwiegen und mich mit leisen Versprechen ins Schlafzimmer gelockt. Und als ich aufwachte … war sie weg.
Sobald sie erkannte, dass ich womöglich nicht der Erlöser bin, hat sie sich dem nächstmächtigeren Fae zugewandt: dem König persönlich.
Dieser Verrat trifft mich noch härter als ihre falschen Anschuldigungen.
Diesmal ist meine Stimme leiser, mutloser, als ich zugebe: »Ich weiß nicht, wie ich den Fluch aufheben kann.«
Hinter mir höre ich die Worte »Scharlatan«, »Betrüger« und einiges Schlimmeres. Sie haben recht. Ich bin ein Betrüger. Ich hätte mich von Anfang an dazu bekennen sollen, dass ich keine Ahnung von der Aufhebung des Fluchs habe. Dass es nur ein Zufall ist, dass ich erst jetzt geboren wurde, nachdem ich schon viel länger existiere.
Ich hätte ihnen sagen sollen, dass ich nicht der Erlöser bin, nach dem sie sich sehnen.
Aber ich konnte es nicht. Nachdem ich eine endlose Zeit lang fast allein war, stand ich plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich wurde geachtet. Ich hatte Freunde – auch wenn ich jetzt begreife, dass es nie Freunde waren. Für einen Moment hat es sich so angefühlt, als wären sie Freunde … Ich wollte, dass sie welche wären.
Wahrscheinlich hätte ich ihnen sogar vorgelogen, dass ich ein Gott sei, nur damit sie mich weiterhin beachten und mich wohlgesonnen ansehen.
Jetzt möchte ich mich vor Scham über dieses Verhalten am liebsten irgendwo verkriechen. Aber es gibt keinen Ort, an den ich gehen kann. Ich habe kein Zuhause. Keine Familie. Keine Freunde.
Dieses Gefühl, vom Wohlwollen anderer abhängig zu sein, ist schlimmer als die Scham, die in mir wütet.
Es kostet mich all meine Kraft, den Kopf oben zu halten und an Ort und Stelle zu verharren. Unverhohlene Wut und Hass schwappt aus allen Richtungen über mich hinweg, doch ich besitze nichts, um mich dagegen zu wehren. Ich muss es ertragen, auch wenn es mich schier zerreißt.
»Es gibt nur einen Grund, warum ich dich nicht über die Stadtmauern werfen lasse«, sagt Zahid nach einer langen Weile des Schweigens.
Ich wage nicht aufzuatmen. Ich werde eine Strafe erhalten, das ist sicher, und es könnte sein, dass der Tod die gnädigere Strafe wäre. Auch weiß ich, auf welchen Grund er anspielt. Ich bin froh, dass er ihn nicht laut ausspricht. Wahrscheinlich wissen lediglich seine engsten Vertrauten von dem Grund, warum er nicht einfach kurzen Prozess mit mir macht. Und die übrigen Gaffer im Saal müssen es nicht erfahren.
»Deine Vergehen wiegen schwer«, fährt Zahid fort. »Aber ich halte mich an die Gesetze meines Vaters und werde ein letztes Mal Milde walten lassen. Du darfst in Evenor bleiben, aber nur, wenn du dich als hilfreiches Mitglied unserer Stadt herausstellst. Schmarotzer haben bei mir keinen Platz.«
Es gibt nichts, was ich gut kann. Oder ich habe es noch nicht herausgefunden. Doch ich nicke, als Zeichen dafür, dass ich verstanden habe.
»Dir wird ab jetzt außerdem die Aufgabe zuteil, die Ausgewählten an der Grenze abzuholen und zu mir zu bringen. Danach wirst du dich von ihnen fernhalten. Wenn ich noch ein Mal erlebe, dass du dich einer meiner Ausgewählten näherst, wirst du mich kennenlernen.«
Wieder nicke ich. Am liebsten hätte ich geantwortet: »Keine Sorge, dass wird garantiert nie wieder passieren«, doch ich bin klug genug, den Mund zu halten.
»Deine widernatürliche Magie wirst du hier nicht mehr zeigen, ist das klar?«
Er entlässt meine Schatten aus seinem magischen Klammergriff und ich ziehe sie hastig in mich zurück. Zahid ist bereits der Zweite, der meine Magie abstoßend findet.
Vielleicht ist sie das auch … Bestimmt halten sie auch alle anderen Anwesenden für widerlich. Ich schwöre mir, dass ich meine Magie nie wieder offenbaren werde, es sei denn, ich muss sie nutzen, um mich selbst zu verteidigen. Aber bis dahin werde ich so tun, als würde sie nicht in mir existieren.
»Mein König«, wispert Lorienne.
Beim Klang ihrer Stimme stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich kenne diesen Tonfall. Noch bis vor Kurzem löste er ein kaum zu bändigendes Kribbeln in meinem Bauch aus. Jetzt möchte ich mich am liebsten übergeben.
»Bitte.« Sie streckt den linken Arm aus, als ihr die Aufmerksamkeit des Königs und der anderen Anwesenden sicher ist. »Könnt Ihr mich davon befreien?«
Ich spüre, wie mir sämtliches Blut aus dem Gesicht weicht. Zwar weiß ich nicht viel über den Pakt, aber eine so tiefgreifende Verbindung wird nicht einfach gekappt werden können. Und falls doch … zu welchen Konsequenzen?
Fassungslos sehe ich dabei zu, wie Zahid großmütig nickt.
»Ich werde dich nicht nur von diesem Schandfleck auf deinem Arm befreien«, sagt er, »sondern dir auch einen Pakt mit mir anbieten. Du hast uns vor dem großen Fehler bewahrt, unsere Hoffnungen auf einen Betrüger zu setzen. Deine Unschuld kann ich dir nicht zurückgeben, ich kann dir allerdings ein sorgenfreies Leben hier in Nordgand ermöglichen. Wenn das dein Wunsch ist.«
»Ja«, haucht sie glücklich.
Mir dreht sich fast der Magen um, als sie sich erhebt und auf Zahid zuschwebt. Als wäre nichts gewesen.
»Haltet ihn fest«, befiehlt der König.
Ehe ich weiß, wie mir geschieht, drücken mich Hände zu Boden. Unsanft schlage ich auf den Knien auf. Ich spüre, wie Zahids Magie mich umgibt, um meine Schatten in mir einzuschließen. Er winkt Lorienne näher zu sich und fährt mit dem Daumen über meinen Namen, der in ihr Handgelenk geritzt ist. Ich wage nicht mehr zu atmen.
Im nächsten Moment schreie ich.
Wild kämpfen meine Schatten gegen Zahids Barriere an, während ich mich gegen die Klammergriffe wehre, doch wir erreichen nichts.
Es fühlt sich an, als würde meine linke Hand abgetrennt werden. Einen solchen körperlichen Schmerz habe ich noch nie empfunden. Das Knüpfen des Paktes ist alles andere als schmerzfrei, aber das hier, die Aufhebung, stellt jegliche Qualen in den Schatten.
Meine Schreie werden lauter, hallen von den hohen Decken des Saales wider und erfüllen die Luft mit meiner Pein.
Es dauert eine Ewigkeit.
Als ich auf mein Handgelenk starre, erkenne ich eine Linie, die sich durch Magie Stück für Stück über Loriennes Namen legt, als wolle sie ihn durchstreichen. Buchstabe für Buchstabe. Bereits beim I meine ich, es keine Sekunde länger aushalten zu können. Blut quillt aus der Linie; sehr viel mehr Blut, als während des Paktes geflossen ist. Es tropft zu Boden und hebt sich leuchtend vom Weiß des Marmors ab.
Beim zweiten N schwinden mir fast die Sinne. Ich habe aufgehört, mich zu wehren. Stattdessen kämpfe ich gegen ein Schluchzen an, das sich in meiner Brust zusammenbraut. Ich will Zahid anflehen aufzuhören. Er kann Lorienne haben. Sie kümmert mich nicht. Aber diese Schmerzen halte ich keinen Moment länger aus, ohne daran zu zerbrechen.
Als das zweite E und somit der letzte Buchstabe ihres Namens schließlich durchgestrichen ist, wird mir schwarz vor Augen. Die Hände, die mich eben noch zu Boden drückten, verschwinden, und ich sacke zur Seite. Den zweifelsohne harten Aufprall bemerke ich kaum; ich heiße lediglich die Kühle des Marmors willkommen.
Zitternd krümme ich mich zusammen, während ich die rechte Hand schützend auf die pulsierende und blutende Wunde an meinem Handgelenk lege. So bleibe ich liegen und schere mich nicht um die unzähligen Augenpaare, die mich in diesem Zustand sehen.
»Werft ihn raus.«
Zahids Stimme scheint von ganz weit weg zu kommen. Wieder werde ich gepackt und unsanft nach oben gehievt. Meine Beine versagen mir den Dienst, deshalb werde ich wie ein lebloser Sack aus dem Saal geschleift. Genauso fühle ich mich auch.
Am Ausgang hebe ich kraftlos den Kopf und finde Loriennes Blick.
Mit einem schiefen Lächeln zwinkert sie mir zu, ehe die Tür zum Saal zugeworfen wird und sie aus meinem Sichtfeld verschwindet.
»Hier bist du, Junge.«
Undeutlich dringt eine bekannte Stimme in mein Bewusstsein, das bisher völlig schwarz war. Ich will zurück in diese Schwärze und nichts um mich herum wahrnehmen. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin, und es kümmert mich auch nicht. Jeder Ort ist mir zum Sterben gut genug.
Warme Hände legen sich um mein Gesicht und heben meinen Kopf an. Ich bin zu schwach, um mich dagegen zu wehren. An meinem Arm spüre ich etwas Kühles, Nasses.
»Wir haben dich überall gesucht, als wir es gehört haben.«
Mein Blick klärt sich, ohne dass ich es verhindern kann. Mit mehr Klarheit kommen die Schmerzen zurück, ebenso wie die Gefühle, die die Schwärze von mir abgeschirmt hat.
Vor mir kniet Paleia. Die Frau, die mich gefunden hat, als ich verloren in der Nähe der Grenze umherwanderte und nicht wusste, wohin ich gehen soll. Ihr herbes, schönes Gesicht wirkt sorgenvoll, während sie mich betrachtet.
Ich wünschte, ich hätte die Kraft, mich ihrer Berührung und ihren Blicken zu entziehen. Sie werden sich in Abscheu wandeln, sobald sie erfährt, was geschehen ist. Paleia wird sich wünschen, mir niemals begegnet zu sein. Mich nie hierhergebracht zu haben. Ich kann es ihr nicht verdenken. Auch ich würde nichts mit mir zu tun haben wollen.
Ich schaue zur Seite, wo Turon seine Schnauze gegen meinen Arm drückt. Auch in seinen goldenen Augen schimmert Sorge.
Ihn hätte ich am wenigsten hier erwartet. Ich habe ihn schrecklich behandelt. Habe ihn angeschrien. Getreten. Vernachlässigt und vor die Tür gesetzt. Alles wegen Lorienne, gegen die Turon von Anfang an eine Abneigung hegte.
Hätte ich nur auf ihn gehört … Doch ich war blind und taub für alle Anzeichen, die mich vor diesem Schrecken hätten bewahren können.
Tränen brennen in meinen Augen, als ich Turons Blick erwidere und mich mit jedem Atemzug furchtbarer fühle. Es ist das erste Mal, dass ich weine. Das erste Mal, dass ich dieses schreckliche Brennen in den Augen spüre.
Als Fae sollte ich nicht weinen. Ich sollte diese Form von Schwäche nicht zulassen. Und noch schlimmer: Nie sollte mich jemand in diesem erbärmlichen Zustand sehen.
Doch hier sitze ich, nachdem die Welt, wie ich sie kannte, auseinandergebrochen ist, und mir bloß zwei echte Freunde geblieben sind.
»Es tut mir leid«, krächze ich. »So, so leid.«
Turon schmiegt den Kopf an meine Seite. Heiße Tränen fließen meine Wange hinunter.
»Das muss behandelt werden«, murmelt Paleia, die mein Handgelenk untersucht.
»Nein.« Meine Stimme ist brüchig, aber dieses Wort kommt mir klar über die Lippen. »Ich weiß, dass du wahrscheinlich nichts mehr mit mir zu tun haben willst, trotzdem … muss ich dich um einen Gefallen bitten.«
Paleia legt mir einen Finger unters Kinn und drückt es ein Stück nach oben. »Red keinen Unsinn, Junge. Ich bin für dich verantwortlich. Ich hätte dich besser auf den ganzen Wahnsinn hier vorbereiten sollen. Glaub also nicht, dass ich mich einfach von dir abwende. Wir kriegen das wieder hin, versprochen.«
Gar nichts werden wir wieder hinkriegen, hätte ich am liebsten geknurrt, doch ich beherrsche mich. Ich kann froh sein, dass sie überhaupt hier ist.
»Der Gefallen, Paleia.«
Sie verzieht den Mund. »Was brauchst du?«
»Einen Fae, der noch über Feuermagie verfügt.«
Durch ihre Arbeit als Schneiderin kennt Paleia so ziemlich jeden Einwohner Evenors und darüber hinaus; aus Orten, deren Namen ich noch nie gehört, geschweige denn mit eigenen Augen gesehen habe. Deshalb dauert es nicht lange, bis sie mit einem Fae zurückkommt, der das Feuer beherrscht.
Ich habe mich nicht bewegt, seit sie gegangen ist, und Turon ist nicht von meiner Seite gewichen. Ohne sich zu regen, liegt er neben mir und drückt seine Flanke gegen mich. Seine Wärme und Nähe sind mehr Trost, als ich verdiene. Doch ich bin derart bedürftig, dass ich ihn nicht von mir schiebe.
Später werde ich mich für diese Schwäche hassen. Wenn ich hier in Evenor überleben will, muss ich aufhören, schwach zu sein. Ich muss gnadenlos und rücksichtslos werden und ich darf niemandem außer Paleia und Turon vertrauen. Und ich darf niemanden je wieder an mich heranlassen.
Eine solche Dummheit werde ich nicht erneut begehen. Sonst wird es mein Untergang sein.
Der Feuer-Fae stößt ein abschätziges Grunzen aus, als er mich auf dem Boden sitzen sieht. »Was soll ich hier?«, fragt er Paleia barsch.
Er ist drauf und dran, auf dem Absatz kehrtzumachen, würde ich ihn nicht zurückhalten.
Knapp erkläre ich dem fremden Fae, was ich von ihm will. Er wirkt alles andere als begeistert, mir zu helfen. Wahrscheinlich hat sich der Klatsch über mich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wieder tritt Paleia für mich ein und erinnert den Fae mit Nachdruck daran, dass er ihr einen Gefallen schuldet. Zähneknirschend entzündet er daraufhin eine Fackel, die Paleia von wer weiß wo mitgebracht hat, und verschwindet ohne ein weiteres Wort.
Ich starre eine Weile in die zuckenden Flammen, ehe ich Paleia bitte, sie zu löschen.
»Willst du das wirklich tun?«, fragt sie.
Ich schaue auf den durchgestrichenen Namen, der auf meinem Handgelenk prangt.
»Ja«, sage ich. Dann drücke ich die glühende Fackel gegen meine Haut und brenne mir jeden Rest von Lorienne aus dem Leib.
Ich musste gehen.
Noch nie fiel mir etwas so schwer, wie Kenrics Wohnung zu verlassen. Vor allem, nachdem ich endlich den Mut hatte, ihm meine Gefühle zu gestehen.
Nichts ist daraufhin passiert. Der südgander Fluch hat nicht zugeschlagen. Darüber bin ich heilfroh, rechnete ich doch jede Sekunde damit, dass er oder ich tot umfallen.
Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte nichts gesagt. Ich hätte nie laut aussprechen dürfen, was ich für ihn empfinde … Ich habe uns beide in große Gefahr gebracht. Nicht auszudenken, wenn meine Selbstsucht ihm geschadet hätte …
Aber vielleicht spielt das keine Rolle.
Kenric hat nichts auf mein Geständnis erwidert … Stumm hat er dabei zugesehen, wie ich den Wachen des Königs gefolgt bin. Er hat nicht versucht, mich zurückzuhalten.
Ich sage mir, dass es besser so ist. Dass der Fluch vielleicht nur zuschlägt, wenn beide dasselbe empfinden. Dass es – wie Kenric auch meinte – irgendwann leichter werden wird, wenn ich ihm nicht ständig begegne.
Ich glaube nicht daran, doch ich habe keine andere Wahl, als mich an diese Möglichkeiten zu klammern.
Bei König Zahid melde ich mich bloß kurz, um ihn wissen zu lassen, dass ich zurück bin, und schließe mich danach in meinem Zimmer im Schloss ein. Seine angepriesenen Heiler, die sich um die Kratzer kümmern sollen, die der Verlorene mir beigebracht hat, schicke ich alle weg. Keiner könnte meine Verletzungen so gut versorgen wie Kenric und seine Schatten. Die Wunden sind sowieso so gut wie verheilt und behindern mich nicht mehr in meinen Bewegungen. Lediglich die Bisswunde an der Schulter ziept hin und wieder, wenn ich den Arm zu schnell bewege, und sofort wünsche ich mir Kenrics kühlend lindernde Schatten herbei.
Ziellos wandere ich in meinem Zimmer umher, während ich verbissen gegen die Tränen ankämpfe, die mir in den Augen brennen.
Ich weiß, dass es so am besten für Kenric und mich ist. Dass unsere Trennung unausweichlich war und Zahid uns mit seinem Befehl im Grunde einen Gefallen getan hat. Warum fühle ich mich dann, als würde mir jemand gewaltsam die Brust aufbrechen und mein Herz herausreißen?
Nur meine Vernunft hält mich davon ab, zu Zahid zu marschieren und ihm klipp und klar zu sagen, dass ich nicht mehr seine Favoritin sein will und er sich zwischen Aleria und Katinka entscheiden soll. Die beiden sind wenigstens Ausgewählte; ich bin zwar aus freien Stücken nach Nordgand gekommen, wollte allerdings nie seine Favoritin werden. Oder Zahid soll sich meinetwegen drei neue Ausgewählte aus Südgand holen.
An die beiden Ausgewählten Katinka und Aleria, die mit mir hier in Nordgand ankamen, habe ich seit dem Eröffnungsfest nicht mehr gedacht. Ob sie einen Fae gefunden haben, der sich für sie interessiert, so wie Marthel es gelungen ist? Ich gönne es ihnen. Ich gönne ihnen auch Zahid.
Ich wünschte, für mich wäre es so einfach wie für die Ausgewählten. Sie haben es hier gut, auf jeden Fall besser als in ihrem früheren Leben. Sie müssen nur darauf warten, jemanden zu finden, der sie anständig behandelt.
Ich hingegen bin zerrissen zwischen meiner Sehnsucht nach Kenric, der ich nicht nachgeben darf, und meinen Fluchtplänen zurück nach Südgand, die an der Umsetzung scheitern. Bei meinem letzten Versuch endete ich beinahe als Verlorenenhäppchen – und dabei ist es mir nicht einmal gelungen, die Stadt Evenor und ihre schützenden Mauern zu verlassen. Ich will mir nicht vorstellen, was mich dahinter erwartet …
Ich bin also dazu verdammt hierzubleiben. Zumindest vorerst.
Das hat mir in der Vergangenheit nichts ausgemacht, denn da hatte ich Kenric und unsere gemeinsamen Forschungen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich jemanden kennengelernt, der dieselben Interessen hat wie ich. Mit dem ich reden konnte, ohne seltsam angesehen zu werden. Wenn ich Zeit mit ihm verbrachte, dachte ich nicht an mein Zuhause oder eine Flucht. Ich lebte im Hier und Jetzt und ich genoss jede Sekunde davon.
Ohne die gemeinsamen Forschungen mit Kenric weiß ich nichts mit mir anzufangen, deshalb werde ich weiter über einem Fluchtplan brüten. Es ist allemal besser, als ständig in Tränen auszubrechen oder Trübsal zu blasen. Denn mit der Zeit wurde Kenric so viel mehr für mich als nur jemand, mit dem ich fachsimpeln konnte.
Ich schlinge die Arme um mich und verdränge verbissen die Gedanken an ihn. Sie bringen mich nicht weiter, sondern führen mir nur das vor Augen, was ich niemals werde haben können.
Zunächst brauche ich eine ungefähre Ahnung davon, wie weit die Grenze, eine hohe Mauer aus schwarzem Gestein, die die beiden Reiche Nord- und Südgand voneinander trennt, vom Hof der Ewigen Mitternacht entfernt ist. Dann muss ich mir über das Fortkommen Gedanken machen. Als ich während des Festes fliehen wollte, ging ich davon aus, dass jenseits der Stadtmauern keine Gefahren lauern und dass sie nichts weiter als alte Relikte aus den Zeiten des Großes Krieges sind.
Nun weiß ich es besser. Wenn Kenric recht hat und es tatsächlich Hunderte von diesen Viechern – den Verlorenen – da draußen gibt, kann ich meinen ursprünglichen Plan, zu Fuß zu gehen, begraben.
Doch wie soll ich stattdessen zur Grenze gelangen? Bei der Herfahrt hatten wir eine Kutsche, doch Zahid wird nicht so dumm sein und mir eine für eine Vergnügungsfahrt zur Verfügung stellen. Selbst dann bleibt die Gefahr der Verlorenen bestehen. Das letzte Mal beschützte uns Kenric mit seiner Schattenmagie vor ihnen.
Und schon wieder landen meine Gedanken bei ihm.
Seufzend werfe ich mich aufs Bett, das ich sofort mit Kenrics vergleiche, welches viel weicher ist und obendrein nach ihm riecht.
Ich muss damit aufhören oder ich zerstöre mich über kurz oder lang selbst.
Mit den Handballen drücke ich mir gegen die Augen. Fang jetzt bloß nicht wieder an zu weinen!
Ein Klopfen an der Tür rettet mich davor, erneut in Selbstmitleid zu zerfließen.
»Wer ist da?«, frage ich, als ich mich aufsetze.
»Paleia, Kindchen.«
Zum Glück nicht Zahid, huscht es mir durch den Kopf, als ich zur Tür schreite, den Riegel zurückschiebe und öffne. Auf ihn hätte ich nach seinem Befehl, mich notfalls mit Gewalt aus Kenrics Wohnung zu zerren, überhaupt keine Lust. Selbst bei unserem kurzen Gespräch vorhin musste ich mich krampfhaft davon abhalten, ihm die Augen auszukratzen.
Paleia, die hoch gewachsene Fae-Schneiderin, begrüßt mich mit einem Nicken, während sie innerhalb eines Wimpernschlags meine Erscheinung in sich aufnimmt. Da ich weiß, dass sie mich sowieso durchschauen wird, gebe ich mir gar nicht erst die Mühe, ihr etwas vorzuspielen. Ihre grün leuchtenden Fae-Augen können hinter jede Fassade blicken.
»Du siehst furchtbar aus«, sagt sie, nachdem ihr Blick zu lange an meinen vermutlich rot geränderten Augen und den noch geschwollenen Lippen hängen geblieben ist.
Schnaubend trete ich zur Seite, um sie einzulassen. »Danke, ich freue mich auch, dass du mich besuchst.«
Sie betritt mein Zimmer mit einem Kleidersack über dem Arm, und sofort wird mir klar, dass dies kein Höflichkeitsbesuch ist. »Ich bin überrascht, dass du wieder hier bist.«
»Ja, das bin ich auch.« Mit dem Rücken lehne ich mich gegen die geschlossene Tür. »Aber es ist besser so.«
Egal, wie oft ich diese Tatsache ausspreche, sie wird nicht wahrer. Die Worte schmecken bitter auf meiner Zunge.
Paleia scheint es zu bemerken. »Warum sollte es besser sein, wenn du offensichtlich nicht hier sein willst?«
Ich schaue schnell zur Seite. »Weil ich dann niemandem schaden kann, der mir wichtig ist.«
»Ah, wir reden von Kenric.« Sie legt den Kleidersack aufs Bett und setzt sich anschließend auf die Matratze, das Gesicht zu mir. »Ich bin ganz Ohr.«
Ein Muskel zuckt unter meinem rechten Auge, als ich seinen Namen höre. »Ich möchte nicht über ihn reden.«
»Wieso nicht? Habt ihr euch wieder gestritten?«
»Nein.«
»Was dann?«
Ich stoße geräuschvoll den Atem aus. »Ich empfinde mehr für ihn, als ich sollte.«
Zögerlich streicht Paleia sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares, das sich aus ihrer ansonsten akkuraten Hochsteckfrisur gelöst hat, hinter das spitze Ohr. »Und das ist … schlecht?«
»Für eine Südganderin wie mich, ja.«
»Ich verstehe immer noch nicht.«
»Unser Fluch«, presse ich hervor. »Ich werde Kenric und mir schaden, wenn ich mich nicht von ihm fernhalte. Ich werde … ihn vielleicht sogar töten.«
Paleia neigt fragend den Kopf, während sie mich mustert. »Du glaubst das wirklich, oder?«
Ich nicke. »Ich habe selbst mit ansehen müssen, wozu der Fluch fähig ist.«
Ihre grünen Augen leuchten eine Spur heller. »Erzähl mir davon.«
Ein Zittern erfasst mich, als die leblose Gestalt meines Bruders vor meinem inneren Auge erscheint, und ich schlinge beide Arme um mich. »Nein.«
»Du bist die erste Südganderin, die sich wegen ihres Fluchs Gedanken macht. Und ich habe schon sehr viele Südganderinnen eingekleidet. Mehr, als ich zählen möchte. Aber sie alle waren … sorglos. Vielleicht auch einfältig.«
Ich bin dankbar, dass sie mich nicht mit den einfältigen Südganderinnen in einen Topf wirft, obwohl ich es wahrscheinlich verdient hätte. Ich hätte Kenric von Anfang an nicht so nah an mich heranlassen dürfen. Meine Situation, ebenso wie der Schmerz, der in meiner Brust wütet, sind meine eigene Schuld. Trotzdem horche ich bei ihren Worten auf.
»Gab es keine Ausgewählte, die sich verliebt hat?«, frage ich.
»Die gab es durchaus«, antwortet Paleia. »Sie waren selten, weil sie wie die meisten Südganderinnen dieses Gefühl vergessen haben, wie wir Nordgander vergessen haben, wie sich Sonnenstrahlen auf unserer Haut anfühlen, aber es kam vor. Und ihnen ist nichts geschehen.«
Ich ziehe scharf die Luft ein. »Was?«
Bisher hatte ich nichts als vage Vermutungen. Theorien, wie Kenric sie nannte, und an die ich mich mit aller Kraft klammern wollte. Aber die Angst, ihm dadurch schaden zu können, war größer als meine Hoffnung.
Nun von Paleia zu hören, dass sie offenbar Südganderinnen kannte, die sich verliebt haben und nicht daran gestorben sind, lässt meine Hoffnung stärker werden, nachdem ich sie beinahe verdrängt habe.
Ich hänge förmlich an ihren Lippen, doch die Fae-Schneiderin schenkt mir nur ein katzenhaftes Grinsen. »Weißt du, wenn man so lange wie ich existiert und dieses Reich nie verlassen kann, sehnt man sich nach Geschichten aus fremden Ländern. Von mir aus auch nach etwas Klatsch. Aber den bekomme ich viel zu selten zu hören, weil Zahid normalerweise die Ausgewählten mit einem Zauber unter Kontrolle und ihre Gedanken auf Spur hält. Sie drehen sich einzig und allein darum, den nordgander König oder einen seiner Untergebenen zu beeindrucken.« Ihre grün-glühenden Augen funkeln heller und ihre Miene nimmt lauernde Züge an. »Doch bei dir ist das anders.«
Ich verspanne mich aus Angst, dass sie zu viel sehen könnte, wenn sie mich anschaut. Ich befürchte, dass der Grund, warum Zahids Zauber bei mir nicht wirkt, mir direkt auf der Stirn geschrieben steht: meine Magie, die ich als Südganderin nicht besitzen dürfte und von der niemand etwas erfahren darf, solange ich hier bin. Die Magie der hundertsten Prinzessin, die die Gabe haben soll, Flüche zu brechen.
»Neben Gold nehme ich auch andere Zahlungsmittel an«, stellt Paleia in Aussicht. »Wenn du wissen willst, wie es diesen wenigen Ausgewählten ergangen ist, die sich hier verliebt haben, wirst du mir zuvor etwas geben müssen. Über dich habe ich noch nicht viel gehört. Vieles habe ich mir zusammengereimt, aber trotzdem … ist mein Wissen über dich recht dürftig. Fangen wir also damit an, wieso du dich so sehr vor dem südgander Fluch fürchtest.«
Mein Hals ist wie zugeschnürt. »Warum kümmert dich das?«
»Wissen«, sagt sie, »ist in einer Welt, in der bloß noch die Starken und Mächtigen und Reichen am Leben sind, ein noch besseres Zahlungsmittel als Gold.«
Auffordernd klopft sie auf das Bett neben sich.
Ich verstehe nicht, was sie mit meinen Erinnerungen an meinen toten Bruder anfangen will. Alles in mir sträubt sich dagegen, ihr davon zu erzählen. Nicht weil ich Paleia nicht traue, sondern weil ich seit seinem Tod mit niemandem darüber gesprochen habe. Auch nicht mit meinen Eltern oder meiner Schwester. Sie hatten selbst genug damit zu tun, den Verlust zu verkraften; vor allem meine Eltern, denn Jasper sollte ihr Nachfolger werden. Wir alle waren gefangen in unserer eigenen Art von Trauer, die keiner von uns in Worte fassen konnte.
Und einem Fremden wollte ich mich nicht anvertrauen, schließlich starb der junge Südgander-Prinz offiziell bei einem Unfall während des Reittrainings.
Aber ich weiß es besser, wie auch meine Eltern und meine ältere Schwester Emillia es besser wissen. Doch als königliche Familie konnten wir nicht öffentlich zugeben, dass ausgerechnet einer von uns gegen die uralten Regeln verstoßen und sich verliebt hat.
Jahrelang habe ich den Verlust meines Bruders in mich hineingefressen, habe versucht, so wenig wie möglich an ihn zu denken, damit mich nicht erneut diese Leere heimsucht, die sein Tod hinterlassen hat. Er war der Einzige aus meiner Familie, mit dem ich reden konnte und der mich verstand.
Jasper zu verlieren, fühlte sich für mich wie das Ende der Welt an.
Ein Gefühl, das ich unter keinen Umständen jemals wieder empfinden will.
Tief in mir weiß ich, dass Kenric zu verlieren tausendmal schlimmer wäre. Allein der Gedanke versetzt mich in Angst und Schrecken. Deshalb habe ich mich mit aller Kraft gegen die Gefühle in meiner Brust gestemmt, die jedes Mal stärker wurden, wenn ich in seiner Nähe war. Ich habe mich geweigert, ihnen einen Namen zu geben, denn erst dadurch würden sie real werden, dachte ich. Ich lag falsch.
Aber wenn es einen Weg für uns geben könnte … Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass meine Gefühle ihm wegen des Fluchs nicht schaden … Was würde ich dann tun? Könnte ich die Ängste vor dem Fluch, die mir zeit meines Lebens eingepflanzt wurden, einfach vergessen?
Zögerlich gehe ich hinüber zum Bett und lasse mich neben Paleia auf der Kante nieder. »Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.«
»Was ist dir zugestoßen, dass du solche Angst vor dem Fluch hast?«, fragt Paleia. »Die Ausgewählten haben nie ein Wort darüber verloren.«
»Wie du vorhin schon sagtest, sie haben ihn vergessen«, wispere ich.
Es ist die Wahrheit. Für uns Südgander ist der Fluch seit Generationen allgegenwärtig. Wir wachsen mit dem Wissen auf, uns niemals verlieben zu dürfen. Sollte es doch geschehen, werden umgehend Vorkehrungen getroffen. Die meisten Südgander, mit denen ich zu tun hatte, haben sich damit arrangiert. Sie denken nicht an den Fluch oder an Liebe, sondern leben ihr Leben so, wie es ihnen möglich ist. Ich kenne niemanden außer mir, der eine merkwürdige Besessenheit bezüglich des Fluchs entwickelt hat. Ich dachte, ich könnte mich besser vor ihm schützen, wenn ich verstand, warum sich Menschen früher verliebt haben. Deswegen sammelte ich heimlich die verbotenen Schriften und Bücher, in denen Liebe eine große Rolle spielte. Während ich sie las, schüttelte ich nicht nur einmal den Kopf über die Männer und Frauen darin. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Gefühl einen Menschen zu solchen Dummheiten verleiten konnte. Niemals wollte ich so enden. Dadurch hoffte ich, dass es mir leichter fiele, mit meinem Schicksal zurechtzukommen und den Mann zu akzeptieren, den meine Eltern für mich aussuchten, wie es Tradition ist.
Ich würde nie so enden wie mein Bruder.
Ich brauche eine Weile, um jemandem wie Paleia, die den südgander Fluch lediglich vom Hörensagen kennt, begreiflich zu machen, wie es uns mit ihm ergeht. »Wir leben seit Ewigkeiten mit dem Fluch, doch im Vergleich zu euch Fae ist unser Leben nicht mehr als ein Augenblick. Wir werden geboren und wachsen mit dem Wissen auf, dass Liebe etwas Schreckliches ist und dass wir uns niemals verlieben dürfen. Wir vertrauen darauf, dass unsere Eltern uns den perfekten Ehepartner aussuchen, den wir an unserer Seite ertragen, für den wir aber höchstens Wohlwollen empfinden. In Südgand … haben wir uns damit abgefunden. Es ist eben unser Schicksal.«
»Und wenn es doch vorkommt, dass sich jemand verliebt?«
Ich kralle die Hände in den Rock meines Kleides. »Dann sollten die beiden Betroffenen so schnell wie möglich voneinander getrennt werden. Bleiben sie zusammen und werden ihre Gefühle stärker, schlägt der Fluch zu.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass beide sterben.«
»Wie muss ich mir das vorstellen? Fallen sie einfach tot um?«
Ich schüttele den Kopf. »Es ist ein schleichender Prozess, heißt es in den Aufzeichnungen. Ein Stechen in der Brust, Schwindelgefühl, Appetitlosigkeit.«
Paleia schürzt die Lippen. »Klingt für mich nach einer ganz gewöhnlichen Verliebtheit.«
»Zunächst vielleicht, aber die Symptome verschlimmern sich. So lange, bis das Herz aufhört zu schlagen.«
»Ist das jemandem passiert, den du kennst?«
»Meinem großen Bruder«, wispere ich.
Paleia sieht mich an, als warte sie darauf, dass ich weiterspreche, aber sie drängt mich nicht. Verbissen schlucke ich gegen die Enge in meinem Hals an, und als ich wieder halbwegs normal atmen kann, sprudeln die Worte von ganz allein aus mir heraus.
»Meine Familie und ich … Wir wussten es nicht. Wir haben uns nichts dabei gedacht, als er öfters länger wegblieb. Jasper war bei allen beliebt. Jeder schaute zu ihm auf. Er war …«
Ich breche ab und presse die Lippen zusammen. Beinahe hätte ich gesagt, dass unser aller Hoffnung in ihm als zukünftigem König ruhte und ich stolz darauf gewesen wäre, einer seiner Untertanen zu sein. Doch diese Wahrheit darf Paleia niemals erfahren.
»Sein Tod traf uns völlig unvorbereitet«, sage ich stattdessen. »Es war einer der wenigen Tage, an denen meine Familie mich besuchen kam. Wir saßen gerade beim Essen, als uns jemand nach draußen rief. Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, wer es war. Ich weiß aber noch, dass wir panisch nach draußen stürzten, weil wir spürten, dass etwas Furchtbares geschehen war.«
Ich brauche einen Moment, um die Erinnerungen an damals so weit zurückzudrängen, dass ich nicht in Tränen ausbreche. Das darf keinesfalls geschehen, sonst würde Paleia die Blütenblätter sehen, die ich statt Tränen weine.
»Jemand … hatte ihn gebracht. Auf einem Karren. Sein Gesicht war noch leicht rosig, doch sein Bauch … Meine Mutter brach weinend zusammen. Nur undeutlich hörte ich die Erklärung des Mannes, der ihn gebracht hatte. Ich verstand nicht, was geschehen war. Wie konnte mein Bruder, der das Schwert wie kein Zweiter führen konnte, bei einem Duell sterben?«
Manchmal frage ich mich, ob der Mann, der ihn brachte, ihn zuvor bedeckt hatte und die Decke während der Fahrt heruntergefallen ist, oder ob … er ihn einfach so auf seinen Karren gehievt hat. Jaspers Bauch war so tief aufgeschlitzt, dass ich die Gedärme erkennen konnte. Emillia erbrach sich neben mir auf die Straße, aber ich konnte meinen toten Bruder nur anstarren. Sosehr ich es auch wollte, ich konnte nicht wegsehen. Sein Anblick brannte sich in mein Gedächtnis.
»Erst nach und nach erfuhren wir, was passiert war«, murmele ich. »Jasper hatte sich verliebt. Seine Angebetete war jedoch bereits verheiratet, also forderte er ihren Ehemann zum Duell. Der Unparteiische, der den Ausgang des Duells bezeugen sollte, sagte, Jasper habe sich während des Kampfs an die Brust gefasst, ehe er zusammengebrochen ist.«
»Aber du sagtest, es wäre etwas mit seinem Bauch gewesen«, wirft Paleia ein.
Ich schlucke angestrengt. »Sein Gegner … Der Ehemann wollte nicht akzeptieren, dass Jasper einfach so während des Duells starb. Er ließ seine Wut darüber an ihm aus.«
Paleia verzieht das Gesicht und murmelt etwas von »barbarischen Sitten«.
Ich kann es ihr nicht verdenken. Noch nie habe ich einen Sinn in solchen Duellen gesehen. Aber wenn Jasper an einem teilnahm, hätte ich meine letzte Münze auf ihn gesetzt, genau wie der Rest meiner Familie. Ausgeschlossen, dass er auf normalem Weg gegen diesen feisten Ehemann hätte verlieren können!
»Was ist mir der Frau geschehen, um die es ging?«, fragt Paleia.
»Es heißt, sie stürzte sich aus dem höchsten Zimmer ihres Hauses, aus Schamgefühl«, sage ich. »Ich gehe davon aus, dass ihr Mann sie tot vorfand und eigenhändig aus dem Fenster geworfen hat, um die ganze Sache zu vertuschen.«
»Warum sollte er das tun?«
»Am Fluch zu sterben, ist in Südgand ein gesellschaftlicher Todesstoß. Es bedeutet, dass die Eltern ihre Kinder nicht gut genug erzogen und unter Kontrolle hätten, oder dass die Erwachsenen nicht genug Willen haben, um sich ihrer Begierden zu entziehen.«
Monoton bete ich die Worte herunter, die meine Mutter mir von klein auf eingetrichtert hat. Jene, die am Fluch sterben, sind selbst schuld. Sie haben sich nicht unter Kontrolle. Sie denken bloß an sich. Sie sind nicht besser als Tiere. Ein solches Verhalten wäre unserer Linie unwürdig.
Nach Jaspers Tod suchte Mutter schleunigst nach einem Ehemann für Emillia. Einem, dem sie keinesfalls verfallen würde, um noch mehr Schande über unsere Familie zu bringen.
»Der Tod durch den Fluch ist selten«, sage ich. »Bücher, Lieder und Theaterstücke, die die Liebe zum Thema haben, wurden schon vor Ewigkeiten verboten. Jedem Kind wird von klein auf klargemacht, dass Liebe etwas Schlimmes ist, dass sie den Tod bringt. Wenn du mit diesem Wissen aufwächst und es nicht anders kennst, hältst du dich an die Regeln.«
»Aber du hast dich nicht an die Regeln gehalten.« Diesmal stellt Paleia keine Frage, sondern macht eine Feststellung.
»Es war nicht geplant.«
»Das ist Liebe selten.«
Vehement schüttele ich den Kopf. »Ich will nicht über Kenric reden.«
Sie seufzt. »Eigentlich wollte ich dich für das heutige Fest fertig machen, doch jetzt möchte ich mit dir ausgehen.«
Perplex drehe ich mich zu ihr um. »Was?«
Sie lächelt. »Ich möchte dir jemanden vorstellen. Und wir werden pünktlich zum Fest zurück sein.«