Nordic Clans 1: Mein Herz, so verloren und stolz - Asuka Lionera - E-Book
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Nordic Clans 1: Mein Herz, so verloren und stolz E-Book

Asuka Lionera

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Beschreibung

»Sie wird dein Untergang sein. Auf die ein oder andere Weise.« »Ich weiß.«  Im eisigen Norden stellt sich die junge Clanführerin Yrsa einer ungewöhnlichen Herausforderung. Um das Oberhaupt aller Clans zu werden und ihre Familie vor der Armut zu retten, muss sie einen harten Wettkampf gewinnen und ihr Wissen, ihren Mut und ihr Geschick unter Beweis stellen. Im Weg steht ihr dabei vor allem der Anführer eines verfeindeten Clans: Kier ist nicht nur ihr stärkster Konkurrent und wie Yrsa mit einer magischen Gabe gesegnet, sondern auch der Sohn des Mannes, der ihren Vater getötet hat. Doch neben Rache beginnt noch etwas anderes in Yrsas Herz zu brennen, als sie Kier während der Prüfungen ungeahnt nahe kommt …  Persönliche Leseempfehlungen: »Asuka ist wirklich eine Queen of Romantasy. Romantisch, spannend und eine Prise Humor. Ich liebe dieses Buch!« SPIEGEL-Bestseller-Autorin Stella Tack »Ein beeindruckendes Worldbuilding, starke Charaktere, ungeahnte Gefahren und überraschende Wendungen haben mein Leserherz höherschlagen lassen. Magisch, fesselnd, prickelnd, bildgewaltig und von der ersten bis zur letzten Seite episch!« Yvonne von @book_lovely29 »Nordic Clans - der bildgewaltige Auftakt einer mitreißenden Story rund um nordische Traditionen, mystische Wesen und zwei Clanführer, auf der Suche nach ihrer eigenen Legende.« Sophie von @so_leviosa Heiße Enemies to Lovers Romantasy von Bestseller-Autorin Asuka Lionera!  //Dies ist der erste Band der romantischen Slow-Burn Fantasy-Dilogie »Nordic Clans«. Alle Romane der fesselnden Romantasy:  -- Band 1: Mein Herz, so verloren und stolz  -- Band 2: Dein Kuss, so wild und verflucht//

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Asuka Lionera

Nordic Clans. Mein Herz, so verloren und stolz

Im eisigen Norden stellt sich die junge Clanführerin Yrsa einer ungewöhnlichen Herausforderung. Um das Oberhaupt aller Clans zu werden und ihre Familie vor der Armut zu retten, muss sie einen harten Wettkampf gewinnen und ihr Wissen, ihren Mut und ihr Geschick unter Beweis stellen. Im Weg steht ihr dabei vor allem der Anführer eines verfeindeten Clans: Kier ist nicht nur ihr stärkster Konkurrent und wie Yrsa mit einer magischen Gabe gesegnet, sondern auch der Sohn des Mannes, der ihren Vater getötet hat. Doch neben Rache beginnt noch etwas anderes in Yrsas Herz zu brennen, als sie Kier während der Prüfungen ungeahnt nahe kommt …

Heiße Enemies to Lovers Romantasy von Bestseller-Autorin Asuka Lionera!

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Glossar

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Vita

© privat

Asuka Lionera wurde 1987 in einer thüringischen Kleinstadt geboren und begann als Jugendliche nicht nur Fan-Fiction zu ihren Lieblingsserien zu schreiben, sondern entwickelte auch kleine RPG-Spiele für den PC. Ihre Leidenschaft machte sie nach ein paar Umwegen zu ihrem Beruf und ist heute eine erfolgreiche Autorin, die mit ihrem Mann und ihrem Fellnasenkind in einem kleinen Dorf in Hessen wohnt, das mehr Kühe als Einwohner hat.

GLOSSAR

ÁRORA – Göttin des Himmels, jüngste der Schicksalsgöttinnen

MERTHING – Die heiligen Prüfungen, bei denen der oberste Anführer gewählt wird. Sie werden alle fünfzehn Jahre ausgetragen.

MERWA – Die oberste Göttin, Gemahlin des Noren. Göttin des Neuanfangs und der Fruchtbarkeit.

MERWAFEST – Feierlichkeiten, die zwei Mal im Jahr (Frühjahr und Herbst) zu Ehren der obersten Göttin abgehalten werden.

NOREN – Der oberste Gott. Gott des Krieges, der Eroberung und der Seefahrt.

OBERSTER ANFÜHRER – Ein Anführer, der während einer Prüfung unter allen Anführern gewählt wird und als einziger Befehlshaber im Verteidigungsfall fungiert.

THAN – Der Anführer eines Clans

THAN DER THANE – siehe »oberster Anführer«.

VALKRA – Die spirituelle Führung eines Clans. In Visionen vernimmt sie die Worte der Götter.

Für all jene, die die Stimme ihres Herzens noch nicht gefunden haben. Hört nicht auf zu suchen!

Es heißt, dass die Schicksalsgöttinnen unsere wichtigsten Erinnerungen verwahren – die guten, aber auch die schlechten. Sie holen sie immer dann hervor, wenn wir uns ihrer besinnen müssen.

Oder wenn sie uns quälen wollen.

Dass die Götter grausam sind, ist mir nicht neu. Dass es ihnen Freude bereitet, uns Sterbliche zu quälen, ebenso wenig.

Was ich jedoch nicht verstanden habe, ist, warum sie ständig meine Familie für ihre Spielchen auswählen.

Während ich einen Arm fest um meine schluchzende Mutter schlinge, um sie aufrecht zu halten, stelle ich mir wieder und wieder die Frage, was wir getan haben, um in der Gunst der Götter zu sinken. Nur schwach übertönen die rituellen Gesänge meiner Zwillingsschwester Elvi das Wehklagen unserer Mutter.

Als der Sichelmond langsam über dem Rand des Meeres aufsteigt, enden Elvis Gesänge abrupt. Sterbend verbleibt der letzte Ton für einen Moment, ehe auch er sich auflöst und in der beginnenden Nacht verschwindet.

Das Rauschen und Brechen der Wellen ist nun das einzige Geräusch neben Mutters Schluchzen. Das ganze Dorf ist anwesend und beobachtet uns. Ein nicht geringer Teil von mir will ihr zuzischen, dass sie sich zusammenreißen soll, doch das wäre nicht richtig.

Sie darf die Liebe ihres Lebens und den Mann, den sie fast zehn Jahre lang gepflegt hat, betrauern. Auch öffentlich.

Die Schicksalsgöttinnen wählen genau diesen Moment, um mir meine früheste Erinnerung an meinen Vater zu schicken. Elvi und ich sitzen auf seinen Knien, während er uns am prasselnden Kamin Göttersagas erzählt – angepasst an unsere Kinderohren. Er hat immer gelacht, wenn er mit uns zusammen war, und hat uns nie auf diese abwartende Weise angesehen wie Mutter. Er war nicht bloß ein liebevoller Vater, sondern auch ein gerechter und angesehener Clanführer. Schon als kleines Kind wusste ich, dass ich so werden will wie er. Da ich die Älteste bin, sollte ich seine Nachfolgerin werden, und ich freute mich darauf, alles von ihm zu lernen und eines Tages in seine Fußstapfen zu treten.

Doch mein Traum von dieser Zukunft endete, als Elvi und ich sechs Jahre alt waren.

Die Schicksalsgöttinnen rauben mir die schönen Erinnerungen und ersetzen sie mit jener vom Tag, an dem mein Vater von den Prüfungen zurückkehrte: auf einer Trage, die auf den Schultern von vier Männern ruhte und der Männer und Frauen folgten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Auch ein paar Kinder waren unter den Ankömmlingen, doch ich hatte bloß Augen für meinen Vater.

Ich wollte auf ihn zurennen, ihn begrüßen und fragen, warum er denn so müde sei, doch irgendjemand hielt mich zurück. Ich weiß nicht mehr, wer es war. Erst als Mutter mit wankendem Schritt auf die Prozession zuging, spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Als ich ihre bebenden Schultern sah, tastete ich nach der Hand meiner Zwillingsschwester, die sich stets so nah bei mir aufhielt, dass sie sie sofort ergriff. Stumm spendeten wir uns Trost und sahen genauso stumm dabei zu, wie die Trage ins Langhaus und anschließend ins Schlafzimmer unserer Eltern getragen wurde. Hinter Mutter schloss sich die Tür.

Elvi und ich blieben zurück. Übersehen und vergessen. Und obwohl wir nicht verstanden, was vor sich ging, spürten wir dennoch, dass etwas Schreckliches mit Vater geschehen sein musste.

Während sich andere Frauen um die Verköstigung der Ankömmlinge kümmerten, hörten wir Mutters Weinen gedämpft durch die Tür, ebenso wie fremde Stimmen, die ruhig auf sie einredeten.

Es dauerte lange, bis sich die Tür zum Schlafzimmer wieder öffnete. Mutters Gesicht war weiß wie Schnee und ihre Augen rot vom Weinen, als sie heraustrat und dabei krampfhaft Haltung bewahrte. Langsamen Schrittes ging sie hinüber zu dem Podest, auf dem vier Stühle standen. Die beiden mittleren waren reich verziert und mit Fellen bestückt. Die kleineren an den Seiten gehörten Elvi und mir.

Ich weiß noch, wie ich die Stirn darüber runzelte, dass Mutter sich auf Vaters Stuhl setzte.

Daraufhin ging ein Raunen durch das Langhaus, ehe die Anwesenden ihre Krüge erhoben und auf Mutters Wohl tranken.

Erst später durften wir das Schlafzimmer betreten. Vater lag in seinem Bett, begraben unter viel zu vielen Fellen. Er musste furchtbar schwitzen. Außerdem war es bereits helllichter Tag.

Ich ging zu ihm und rüttelte an seiner Schulter, um ihn zu wecken. »Du musst aufstehen, Papa«, sagte ich, als er sich nicht rührte. »Du hast mir doch versprochen, mit mir auf die Jagd zu gehen.«

»Euer Vater«, murmelte Mutter mit vom Weinen rauer Stimme, »wird erst aufwachen, wenn die Götter es wollen.«

Damals verstand ich nicht, was sie meinte. Verwirrt sah ich jeden Tag dabei zu, wie sie ihm Wasser, Met und vorgekaute Nahrung einflößte. Vaters unerklärlicher Zustand forderte Mutters gesamte Aufmerksamkeit. Elvi und ich wurden von anderen Clanmitgliedern erzogen.

Ich musste älter werden, um zu erfahren, dass es während der Prüfungen der Clanoberhäupter, die alle fünfzehn Jahre stattfinden, einen Zwischenfall gegeben hatte. Ein rivalisierender Clan – der Schwingenclan – soll dafür gesorgt haben, dass Vater während einer Prüfung stürzte und sich so schwer am Kopf verletzte, dass er nicht mehr aufwachte.

Trotz Mutters hingebungsvoller Pflege über so viele Jahre hinweg öffnete er die Augen kein einziges Mal mehr und zeigte auch sonst keine Regung.

Die folgenden Jahre waren schwer für uns; die Götter legten uns weitere Prüfungen auf, an denen andere Familien wahrscheinlich zerbrochen wären. Aber nicht wir. Vielleicht war auch das der Wille der Götter – uns zu prüfen und uns stärker zu machen. Zumindest klammere ich mich an den Gedanken, um nicht vollends zusammenzusinken, so wie Mutter in diesem Moment.

Denn in der vorletzten Nacht waren die Götter der Meinung, dass sie den Geist meines Vaters genug gequält hätten, und befahlen ihn zu sich. Er starb, ohne uns eine weitere Saga zu erzählen oder die jungen Frauen zu sehen, zu denen seine beiden Töchter herangewachsen waren.

Er starb nicht ehrenvoll im Kampf, wie es seine Bestimmung hätte sein müssen, sondern bettlägerig und ständig auf Hilfe angewiesen. Ein ehrenloser Tod, wie ich ihn nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen würde, geschweige denn dem Mann, der meine Kindheit geprägt hat und dem ich nacheifere, seit ich denken kann.

Wäre er nicht einst der Clanführer gewesen, hätte ihm keine rituelle Beerdigung zugestanden. Sie ist allein den Mutigen und Tapferen vorbehalten. Ich bin froh, dass meine Schwester Elvi, die spirituelle Valkra unseres Clans, die Sache in die Hand genommen hat. Noch während Mutter schluchzend neben Vaters totem Körper kniete und ich die übrigen Clanmitglieder von seinem Tod unterrichten musste, traf sie Vorbereitungen.

Ich wünschte nur, sie könnte mit eigenen Augen sehen, welch ehrenvolle Bestattung sie für unseren Vater ausgerichtet hat. Doch seit ihrer Kindheit sieht Elvi bloß noch Visionen.

Nachdem sie ihren Gesang beendet hat, stellt sie sich an meine andere Seite und tastet nach meiner Hand. Ich drücke sie, während ich mit der anderen Hand Mutter aufrecht halte.

»Sie schieben nun das Boot hinaus aufs Meer«, flüstere ich Elvi zu.

Sie nickt, als würde meine dürftige Beschreibung Bilder in ihr wecken. Vielleicht tut sie das. Obwohl sie blind ist, sieht sie mehr als die meisten. Mehr als ich.

»Er hätte nicht auf diese Weise sterben dürfen«, flüstert sie zurück.

Ich teile ihre Meinung. Das Ansehen unseres Clans hat in den letzten Jahren stark gelitten. Da Vater nicht wirklich tot war, konnte offiziell kein neuer Clanführer gewählt werden. Also übernahm Mutter seinen Posten, für den ich vorgesehen war. Ich war noch zu jung und es mangelte mir an Ausbildung, deshalb war ich froh, noch ein wenig Aufschub zu bekommen. Nun wird es jedoch keinen weiteren Aufschub geben.

Eine Frau als Anführerin ist nicht ungewöhnlich, solange sie die richtigen Eigenschaften mitbringt. Ich liebe meine Mutter; sie ist eine gütige und rücksichtsvolle Person, aber genau diese Wesenszüge machten sie als Anführerin ungeeignet. Sie ließ sich zu oft von weinenden Kinderaugen oder dem Wimmern anderer Mütter blenden und verteilte unsere wenige Nahrung nicht gerecht. Die Starken starben, während die Schwachen irgendwie überlebten. Es kam zu Zwistigkeiten innerhalb unserer Gemeinschaft, die teilweise zu Fehden ausarteten; Elvi und mir gelang es nicht immer, die Streitereien zu schlichten.

Die meisten jungen Männer und Frauen verließen unseren Clan und suchten ihr Glück in der Fremde. Zurück blieben nur jene, die meinem Vater treu ergeben waren, oder jene, die zu alt oder zu gebrechlich waren, um von einem anderen Clan aufgenommen zu werden.

Die anderen Clans lachten über uns und fielen über uns her wie die Heuschrecken, um uns auch den letzten Rest unserer Vorräte zu stehlen. Und unsere Würde. Ich tat mein Bestes, um uns zu verteidigen, doch die wenigen Kämpfer, die mir zur Seite standen, waren zu alt oder zu geschwächt, um etwas ausrichten zu können. Also gaben wir es irgendwann auf und ließen die anderen plündern, um nicht noch mehr Einwohner zu verlieren.

Unser einst glorreicher Küstenclan steht kurz davor auseinanderzubrechen und in Vergessenheit zu geraten. Und all das nur, weil ein anderer Clan dafür gesorgt hat, dass mein Vater über Jahre dahinsiechte. Mit ihm an der Spitze wäre es nie und nimmer so weit gekommen. Er hätte gewusst, was zu tun gewesen wäre. Obwohl er als Vater sanftmütig war, hätte er sich als Anführer nicht erweichen lassen, sondern das große Ganze im Blick behalten.

Und anders als ich hätte er nicht aufgegeben.

Der andere Clan hat nicht nur mir meinen Vater und mein Vorbild geraubt, sondern auch unseren Leuten die Zukunft. All das, was hätte sein können, liegt nun tot und kalt dort draußen in einem Boot auf dem Meer, bereit, von den Fluten verschlungen zu werden.

Ich wispere Elvi zu, dass sie sich an Mutters andere Seite stellen und sie festhalten soll. Sie fragt nicht nach, was ich vorhabe, und ich bin ihr dankbar dafür. Wahrscheinlich weiß sie es als Valkra sowieso. Bestimmt wusste sie es bereits, bevor ich den Entschluss gefasst habe.

Als vier Bogenschützen ihre Pfeile in die Flammen halten, um sie kurz darauf auf das Boot mit Vaters Leichnam zu schießen, drücke ich eine meiner Äxte gegen die rechte Handfläche. So tief, dass ich mit versteinertem Gesicht die Zähne zusammenbeißen muss, um keinen Laut von mir zu geben. Mutters Wehklagen neben mir dringt von ganz weit weg an mein Ohr, als ich die alten Worte murmele, die mir niemand beibringen musste, weil ich sie unzählige Male als Kind im Langhaus mitangehört habe. Worte in der alten Sprache, die für meine Kinderohren keinen Sinn ergaben, sich aber nun so einfach in meinem Kopf formen, als hätte ich sie mein Leben lang gesprochen. Heilige Worte, mit denen wir die Götter anrufen, um ihre Unterstützung zu erbitten, oder ihnen ein Versprechen geben, das wir mit unserem Blut besiegeln.

Während mein Blut zu Boden tropft und zwischen den groben dunkelgrauen Steinen versickert und Vaters Boot am Horizont in Flammen aufgeht, leiste ich einen Schwur, der mich ewig binden wird.

Ich werde erst ruhen, wenn ich Vaters Tod gerächt und das Ansehen unseres Clans wiederhergestellt habe.

Koste es, was es wolle.

Ein dunkler Schatten huscht am Rand meines Sichtfelds vorbei, zeitgleich werde ich von einem Schauer gebeutelt, der nicht vom kühlen Wind herrührt. Ich vernehme ein hohes Kichern wie von einer uralten Frau, das sonst niemand zu hören scheint. Mir ist klar, dass die Götter meinen Schwur akzeptiert haben, denn noch bevor der vierte Tropfen meines Blutes zwischen den Steinen versinkt, spüre ich, wie sich etwas in mein Herz krallt und sich in meiner Brust einnistet. Etwas Dunkles und Mächtiges.

Und ich werde dieses Etwas erst wieder los, wenn ich meinen Schwur erfüllt und den Tod meines Vaters gerächt habe.

Obwohl ihre Augen vor Jahren geblendet wurden, wendet sich meine Schwester zielgerichtet mir zu, die milchigen Augen direkt auf meine Brust gerichtet.

»Es tut mir leid«, flüstert sie.

Ich nicke, ohne den Blick von dem brennenden Boot zu nehmen, das nun nach und nach in den Fluten versinkt. »Mir auch.«

Ich bewege mich so langsam, dass kein Zweig unter meinem Gewicht knackt und verrät, wo ich bin. Leise wie ein Luftzug pirsche ich näher, mein Ziel fest im Blick.

Mit dem Rücken zu mir sitzt sie in sich und ihre Tätigkeit versunken auf der Lichtung, doch ich weiß, dass das nichts bedeutet. Es ist mir noch nie gelungen, mich unbemerkt an sie heranzuschleichen, aber ich habe mir fest vorgenommen, es heute zu schaffen.

Dies ist meine selbst gestellte Abschlussaufgabe, bevor ich aufbreche, um die Zukunft für mich, sie und alle anderen Mitglieder unseres Clans zu ändern.

Ich versuche nicht, an die unendliche Last auf meinen Schultern zu denken, die mich beinahe zu Boden drückt, sondern konzentriere mich auf ihren schmalen Rücken. Ich passe mich ihren Atemzügen an und setze lediglich einen Fuß vor, wenn sie ausatmet. Sie hebt den Kopf und ich erstarre. Erst als sie sich erneut dem Kranz aus getrockneten Zweigen und kleinen Knochen widmet, den sie in ihrem Schoß flicht, wage ich es wieder, mich zu bewegen.

Gerade als ich die Lichtung betreten und meinen Sieg verkünden will, murmelt sie beinahe beiläufig: »Ich habe dich schon bemerkt, als du noch über zwanzig Meter entfernt warst.«

Ich stoße frustriert den Atem aus. »Du kannst mich nicht bemerkt haben«, protestiere ich. »Ich habe nicht das kleinste Geräusch verursacht!«

»Du vielleicht nicht«, gibt sie zurück und als sie sich flüchtig zu mir umdreht, ist es, als würde ich für einen Wimpernschlag in einen Spiegel blicken. »Aber Bran ist beim besten Willen nicht zu überhören. Und wo er ist, bist du nicht weit, Schwester.«

Ich verdrehe die Augen, ehe ich meinem Tierwesen zu verstehen gebe, dass es sich zu uns gesellen darf.

Brans riesige Tatzen verursachen einen solchen Lärm im getrockneten Laub und den heruntergefallenen Zweigen, über die sich bereits der erste Raureif des nahenden Winters gelegt hat, dass mir die Ohren klingeln. Seinen massigen, bärenähnlichen Körper schiebt er ohne Rücksicht durch die Sträucher, deren Dornen nicht die leiseste Chance haben, sein dichtes dunkelbraunes Fell zu durchstoßen. Sollten sie es dennoch schaffen, an seinem Pelz vorbeizukommen, träfen sie bloß auf seine panzerähnliche Haut, an der sogar die meisten Pfeile abprallen würden.

Sein Schnaufen und protestierendes Brummen, weil ich ihn zurückgelassen habe, dringt bereits aus mehreren Metern Entfernung zu uns.

»Hörst du?«, fragt meine Schwester Elvi, ohne sich in die Richtung des Lärms zu drehen.

»Ich habe ihm befohlen, am Waldrand zu warten«, erwidere ich.

»Ich habe ihn dennoch gehört.« Sie tippt sich gegen das Ohr. »Wenigstens das kann ich besser als du.«

Dem kann ich nicht widersprechen. Elvis Gehör ist von den Göttern gesegnet. Leider ist das nicht das Einzige …

Als mein Zwilling wurde sie genau wie ich in der Nacht der roten Lichter geboren. In einer jener schicksalhaften Nächte, in denen die Göttin des Himmels Árora ihren Zorn darüber nicht mehr zügeln kann, dass sie die jüngste der Schicksalsgöttinnen ist und deshalb niemals auf Erden wandeln darf. Die meiste Zeit gilt sie als die gutmütigste ihresgleichen und schenkt uns in der Dunkelheit grüne und blaue Lichter, die uns unseren Weg weisen. Doch wenn ihr Zorn hervortritt, färben sich ihre Lichter rot, und mit ihnen sendet sie einen Teil ihrer Magie zu uns herab. Um uns zu segnen, sagen einige. Um uns zu bestrafen, meinen andere.

Als Bran zu uns aufgeschlossen hat, schmiegt er seinen mächtigen Körper an mich und holt mich dadurch fast von den Füßen. Erst als ich ihm durchs Fell streichele, hört er auf, mich vorwurfsvoll anzubrummen.

Ich hatte Glück und kann die Magie, mit der Árora mich belegte, als Gabe bezeichnen, denn durch sie habe ich Bran erhalten. Mein besonderes Tierwesen, das ebenfalls in einer roten Lichternacht geboren wurde und nicht bloß größer und stärker als ein gewöhnlicher Bär ist, sondern darüber hinaus mit mir kommunizieren kann. Ich bin eine Flüsterin, gesegnet mit einem mächtigen Wesen, das zeit seines Lebens an meiner Seite bleiben wird.

Die Magie meiner Schwester Elvi würde ich jedoch nicht als Gabe bezeichnen.

Als hätte sie meine Gedanken gehört, hebt sie den Kopf und schenkt mir ein Lächeln. Angesichts ihrer Schönheit vergesse ich oft, dass wir Zwillinge sind, denn ich habe bereits vor Jahren die Zartheit abgelegt, die ihren Zügen noch zu eigen ist. Jeder ledige Mann würde sich nach meiner Schwester umdrehen, wenn er im Dorf oder anderswo ihren Weg kreuzt, wären da nicht die Narben, die sich strahlenförmig um ihre milchig weißen Augen erstrecken und sie als das kennzeichnen, was sie ist.

Ich setze mich neben sie ins Gras und neige den Kopf vor ihr. Heute ist der letzte Tag vor meinem Aufbruch. Zum ersten Mal werde ich die Sicherheit meines Dorfes verlassen. Werde weiter gehen, als ich es auf der Jagd muss, und sogar auswärts schlafen, weil die Reise und die Prüfungen mehrere Wochen in Anspruch nehmen.

Ein wenig mulmig ist mir dabei schon zumute, meine gewohnte Umgebung, mein gewohntes Bett zurückzulassen. Mulmiger, als ich es je zugeben würde. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich einen alten Schwur vergesse, den Elvi und ich uns gegeben haben, als sich ihre Magie zeigte.

»Gesegnete Valkra, welche Zukunft haben die Götter für mich im Sinn?«

Nachdem ich als Kind Elvis Vision über Verletzungen und Tode mit anhören musste, haben wir uns ein Versprechen gegeben: Ich würde nie nach meiner Zukunft fragen, und sie würde es mir nicht sagen, wenn sie etwas sieht. Doch hier geht es nicht bloß um mich. Mein Schicksal ist zu eng mit dem meines Clans verknüpft. Alle Augen sind auf mich gerichtet. Die Hoffnungen aller ruhen auf mir. Wenn ich versage, bürde ich allen Bewohnern unseres Dorfes weitere fünfzehn Jahre Hunger und Entbehrungen auf.

Nach kurzem Zögern legt mir Elvi erstaunlich zielsicher für eine Geblendete die rechte Hand auf den Scheitel. Wie jedes Mal erschauere ich kurz, meine ich doch, die Macht, die in ihr schlummert, durch diese Berührung spüren zu können.

Während ich eine Flüsterin bin und eine tiefe geistige Verbindung mit meinem Tierwesen eingehen kann, ist Elvi eine Valkra, die den Willen der Götter verkündet und manchmal in die Zukunft blicken kann. Ihr Wort hat mindestens genauso viel Gewicht wie das eines Clanführers, doch nicht jedes Oberhaupt ist bereit, seine Macht zu teilen oder gar einen Fehler einzugestehen, sobald sich die Meinung der Valkra von seiner unterscheidet.

Wie gut, dass seit einigen Jahren mir die undankbare Aufgabe zugefallen ist, unseren Clan vor dem sicheren Tod zu bewahren. Ich käme nie auf die Idee, an Elvis Worten zu zweifeln. Wenn ich eine Entscheidung treffe, ist sie die Erste, deren Meinung ich hören will. Nicht immer findet unser Vorgehen Anklang; vor allem die Ältesten unseres Clans schütteln die Köpfe über uns. Bei manchen Zusammenkünften befürchte ich, dass sie gleich eine Gehirnerschütterung davontragen oder vor lauter unterdrückter Wut platzen. Aber keiner von ihnen würde es öffentlich wagen, uns infrage zu stellen. Gegen eine von uns würden sie vermutlich aufbegehren, aber nicht gegen beide.

Es wurmt mich, dass sie bloß wegen unserer Gaben die Füße stillhalten, nicht wegen unserer Taten. Denn allzu viel haben Elvi und ich nicht erreicht. Unser Clan hungert. Jeder Winter ist gefühlt kälter, länger und härter als der vorherige. Menschen erfrieren und sterben an Krankheiten oder Mangelernährung.

Und wir können nichts tun, als untätig danebenzustehen.

Zumindest war das bisher der Fall. Doch dieses Jahr findet endlich wieder das Merthing statt: eine Versammlung aller Clanoberhäupter unseres Reiches. Lediglich alle fünfzehn Jahre machen sich die Anführer auf gen Norden, weit hinaus in die weißen Lande, in denen noch mehr Schnee liegt als im tiefsten Winter, um die heilige Stätte der höchsten Götter zu betreten und ihnen ihre Ehrerbietung darzubringen.

Aber der wahre Grund des Merthings ist nicht Gottesfürchtigkeit. Während der Zusammenkunft findet ein Wettkampf statt, bei dem der oberste Anführer unserer Clans ernannt wird.

Schon vor Urzeiten gingen die weit verstreuten Clans dazu über, im Falle des Angriffs eines fremden Stammes unter einem einzigen Anführer als Einheit zu kämpfen. Da sie sich jedoch nie auf einen einigen konnten, wäre unser Volk vor einigen Generationen beinahe vollständig ausgelöscht worden. Damit dies nie wieder geschieht, versammeln sich die Clanführer alle fünfzehn Jahre zum Merthing, um den stärksten, klügsten und geschicktesten unter ihnen zu ihrem neuen Oberhaupt im Verteidigungsfall zu wählen.

Als das letzte Merthing stattfand, waren Elvi und ich gerade einmal sechs Jahre alt gewesen. Ich erinnere mich bloß noch dunkel an diese Zeit, aber die Aufregung meiner Familie ist weiterhin spürbar. Unser Vater war das damalige Clanoberhaupt und stolz darauf, in den Hohen Norden zu ziehen, um sich mit den anderen Anführern zu messen. In der Nacht, als er aufbrach, hatte Elvi ihre erste Zukunftsvision, die so schrecklich war, dass unsere Mutter sie drei Tage lang einsperrte, damit niemand aus dem Clan ihre Worte hörte. Denn nicht jede Valkra ist gern gesehen; jene, deren Visionen zu grauenhaft sind oder die lediglich eine furchtbare Zukunft vorhersagen, werden nicht selten aus dem Clan verbannt und verenden allein in der rauen Kälte unseres Reiches. Ich erinnere mich daran, dass Elvis damals noch intakte Augen sogar im Dunkeln leuchteten. Und ich erinnere mich daran, dass ich mir weinend beide Ohren zugehalten habe, um ihr nicht mehr zuhören zu müssen. Zwar verstand ich damals bereits, dass Elvi – genau wie mir – eine Macht innewohnte, aber ich konnte nicht begreifen, dass diese Macht sie dazu zwang, den schrecklichen Unfall unseres Vaters vorherzusagen.

Irgendwann verstummte Elvi, weil ihre Stimme versagte. Erst dann ließ Mutter sie aus dem Zimmer, nicht ohne ihrer Tochter unentwegt ängstliche Blicke zuzuwerfen.

Etwa zwei Wochen später brachten die Männer, die mit Vater in den Hohen Norden aufgebrochen waren, seine leblose Hülle nach Hause. Mutters Wehklagen verstörte mich beinahe noch mehr als Elvis Visionen. Ihre Stimme klang nicht nach ihr, sondern war verzerrt vor Trauer und Furcht.

Ich verehrte meinen Vater und tue es heute noch. Er ist es, dem ich nacheifern will. Für meine Mutter empfinde ich hauptsächlich Mitleid. Eine junge Witwe, geschlagen mit gleich zwei Kindern der roten Lichter und noch dazu ohne männlichen Erben. Während Elvis Gabe früh zutage trat, spürte ich mit jedem Jahr deutlicher Mutters wachsamen Blick auf mir, doch meine Gabe zeigte sich erst kurz nach meinem zwölften Geburtstag.

Während ihre Hand noch auf meinem Scheitel liegt, leuchten Elvis geblendete Augen, deren Iriden einst die gleiche dunkelblaue Farbe hatten wie meine, leicht auf. Erneut erschauere ich. Während meines Trainings, in einem Zweikampf oder auf der gemeinsamen Jagd mit Bran brüste ich mich damit, vor nichts Angst zu haben, doch meine Schwester erweckt in mir den Wunsch, unsichtbar zu werden und nicht aufzufallen.

Nach einer Weile gleitet ihre Hand von meinem Kopf und gesellt sich zu der anderen, die ruhig in ihrem Schoß liegt, ehe Elvi seufzt. »Verzeih, Yrsa, aber ich sehe nichts als dichten Nebel, wenn ich in deine Zukunft blicken will. Es ist, als hätten sich die Götter selbst noch nicht entschieden, was sie mit dir anfangen wollen.«

Ich lächele gezwungen, obwohl sie es nicht sehen kann, und überspiele damit meine eigene Unsicherheit. Ich rede mir ein, dass ich perfekt vorbereitet bin. Im Kampf mit zwei einhändigen Äxten kann mir schon seit Jahren kein Clanmitglied mehr das Wasser reichen. Ich bin schneller und wendiger als alle anderen in meinem Alter. Außerdem bilden Bran und ich eine unschlagbare Einheit. Ich kenne all unsere Bräuche und Riten, sowie deren Ursprünge, und fürchte mich daher auch nicht vor den Wissensfragen während des Merthings.

Und doch will das ungute Gefühl in meiner Magengrube einfach nicht verschwinden.

Als ich nach Vaters Tod offiziell zur Clanführerin ernannt wurde, konnte das Merthing für mich gar nicht schnell genug kommen. Ich brannte darauf zu beweisen, dass ich die Tochter meines Vaters war und sein Versagen beim letzten Merthing nicht wiederholen würde. Auch wenn es niemand öffentlich aussprach, hing diese Schmach doch wie ein dunkler Schatten über unserer Familie – zusätzlich zu der Tatsache, dass meine Mutter gleich zwei Kinder während einer roten Lichternacht geboren hatte. Nicht wenige dachten, dass unsere Familie von den Göttern verflucht sei. Ich denke, dass auch Mutter diese Ansicht heimlich teilte, wenn sie in die geblendeten Augen ihrer Tochter sah, während sie unruhig darauf wartete, dass sich die Gabe der anderen zeigte.

Aber ich werde nicht versagen! Ich werde alle Rechte und Privilegien, die mit dem Than der Thane einhergehen, in unser Dorf zurückbringen, auf dass niemand mehr verhungern muss. Mein Name wird es sein, der in den Sagas unseres Clans für nachfolgende Generationen unvergessen bleibt.

Aber vor allem werde ich all jene verstummen lassen, die glaubten, meine Familie sei verflucht. Nie wieder werden sie hinter unserem Rücken flüstern oder meiner Mutter mitleidige Blicke zuwerfen, die sie mit einem Lächeln abtut. Nie wieder will ich die hoffnungslose Miene meiner Mutter sehen, wenn sie glaubt, ich würde es nicht bemerken.

Ich werde ihr und allen anderen beweisen, dass ich von den Göttern dazu bestimmt bin, unseren Clan in eine glorreiche Zukunft zu führen.

Ein wenig Unterstützung von der Valkra wäre dabei schön gewesen, aber ich schaffe es auch ohne eine klare Vorhersage. Selbst wenn Elvi mir ein sicheres Scheitern vorausgesagt hätte, wäre ich in den Hohen Norden aufgebrochen, denn aufzugeben kommt für mich nicht infrage.

Ich erhebe mich und reiche meiner Schwester eine Hand, die sie ergreift. Ich habe schon früh aufgehört, mich über Dinge zu wundern, die sie eigentlich nicht sehen oder bemerken kann. Obwohl meine Schwester noch ein kleines Kind war, als sie wie alle Valkras geblendet wurde, erschien sie nie hilfebedürftig. Ihre anderen Sinne schärften sich so stark, dass sie sich nur in wenigen Situationen auf andere verlassen musste, und in diesen waren Mutter und ich zur Stelle.

Behände lässt sie sich auch jetzt von mir auf die Füße helfen, obwohl sie meine Unterstützung nicht benötigt hätte. Während mich die Jahre des Waffen- und Ausdauertrainings geformt haben und ich stolz auf jeden Muskel und jede Narbe bin, die ich davongetragen habe, besitzt Elvi den anmutigen Körper unserer Mutter. Ein Äußeres, dem Männer und Frauen gleichermaßen zu Füßen lägen, doch als Valkra wird sie nie eine Familie gründen, sondern ihr ganzes Leben den Göttern weihen.

Also ist es an mir, unsere Linie fortzuführen; eine weitere Last auf meinen Schultern, die mit den Jahren nicht leichter wird. Alle Mädchen, mit denen wir aufgewachsen sind, sind mittlerweile verheiratet und haben Kinder, während ich einer ungewissen Zukunft entgegensehe, die nicht einmal die Valkra für mich entschlüsseln kann.

Der Raureif knirscht unter unseren Füßen und Brans Pranken, als wir ins Dorf zurückgehen. Meine Lungen stechen bei jedem tiefen Atemzug. Ohne den Fellumhang, den ich um mich geschlungen habe, würde ich frösteln.

Wenn ich den Ältesten Glauben schenke, wird der kommende Winter erbarmungslos werden und viele Opfer fordern. Dank Brans und meinem Jagdgeschick muss unsere Familie zwar nur selten Hunger leiden, doch ich vergesse nicht, dass ich gegen uralte Gesetze verstoße, wenn ich abseits unseres Gebietes einen Hirsch oder Hasen erlege.

Denn nur dem Than der Thane und dessen Clan ist es gestattet, auch in gebietsfremden Wäldern zu jagen, während sich die anderen mit dem zufriedengeben müssen, was die Götter ihnen auf ihrem eigenen Land zur Verfügung stellen.

Was gerade im Winter bei uns so gut wie nichts ist.

Unser Clan hat zwar das Glück, direkt an der Küste zu siedeln, sodass wir über das Jahr hinweg vom Fischfang leben, aber sobald das Meer zufriert, werden wir unserer Lebensgrundlage beraubt. Egal wie viel Fisch wir vorher gefangen und eingelegt haben, werden unsere Vorräte nie für einen langen Winter genügen.

»Du grübelst«, sagt Elvi, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen.

Und gerade das trifft einen Nerv bei mir. Ich frage mich dann stets, ob nur sie das bemerkt oder ob jeder andere mich genauso leicht durchschauen kann. Hoffentlich nicht. Als Clanoberhaupt muss ich auch angesichts der Aussichtslosigkeit Zuversicht ausstrahlen.

Doch gegenüber Elvi versuche ich gar nicht erst, es abzustreiten. Stattdessen bleibe ich stehen und lasse den Blick über die Küste und den dunklen, mit unzähligen Steinen gesäumten Strand schweifen. Die Wellen rauschen heute nur leise, als warteten sie bloß darauf, dass die Luft kalt genug wird, um sie zu Eis erstarren zu lassen, damit sie sich in ihre Winterruhe begeben können.

Manchmal wünschte ich, dass wir das auch könnten. Dass wir uns wie die Bären die Bäuche vollschlagen, uns in eine sichere Höhle zurückziehen und erst wieder aufwachen, wenn das Schlimmste überstanden ist.

»Der Winter ist nicht mehr fern«, sagt meine Schwester. »Ich rieche ihn im Wind.« Sie neigt den Kopf in meine Richtung. »Hast du Vorbereitungen getroffen für den Fall, dass der erste Schnee kommt, während du weg bist?«

Ich presse die Lippen aufeinander. »Mutter wird sich um die Verteilung der Lebensmittel kümmern.«

Es fiel mir nicht leicht, diese Entscheidung zu treffen. Die Rationierung unserer Nahrungsmittel ist eine undankbare Aufgabe, die mich die letzten Winter an den Rand der Verzweiflung getrieben hat. Ich durfte mich für das Wohl des gesamten Clans nicht von weinenden Müttern oder ausgemergelten Kindern beeinflussen lassen. Dass ich heimlich den Großteil meiner eigenen Rationen unter den Hungernden verteilt habe, ist ein Geheimnis, das ich mit ins Grab nehmen werde. Dennoch hat es nicht gereicht.

Die Ältesten sagten, dass dies der Lauf der Dinge sei, wenn man zu den unterlegenen Clans gehört. Ich hingegen starrte auf die fahrig in der harten Erde ausgehobenen Gräber und verdammte den Schwingenclan, der damals meinen Vater daran hinderte, beim Merthing als Sieger hervorzugehen, und meine Mutter zur Witwe machte.

»Hältst du es für eine gute Idee, Mutter damit zu beauftragen?«, fragt Elvi. Erneut liegt keinerlei Vorwurf oder Zweifel in ihrer Stimme.

Sie ist die Einzige im gesamten Clan, deren Vertrauen in mich unverrückbar ist. Sie und Bran sind meine engsten Vertrauten, und wenn es sein muss, werde ich die Welt aus den Angeln heben, um sie zu beschützen.

Unsere Mutter liebt mich, das weiß ich, aber ihr Glaube an mich ist schwach. Sie ist zu sehr in der Illusion gefangen, dass die Götter sie für eine Tat bestrafen, die nur sie kennt und über die sie nie ein Wort verlieren würde.

»Ich vertraue den Ältesten nicht«, erwidere ich auf Elvis Frage. »Sie würden sich in meiner Abwesenheit zu den neuen Clanführern erheben. Meine Mutter kennen sie bereits in der Position des Oberhaupts. Bis sie sich dazu durchgerungen haben, sie zu stürzen, und damit den erzürnten Geist unseres Vaters heraufbeschwören, bin ich sicherlich zurück.«

»Siegreich, hoffe ich.«

Ich stoße sie mit dem Ellenbogen an. »Als Valkra solltest du nicht bloß hoffen, sondern wissen.«

Sie hebt den Kopf, als wollte sie in den Himmel schauen. »Wie ich sagte, liegt deine Zukunft im Nebel. Und ich habe nicht vergessen, auf wen du beim Merthing treffen wirst.«

Ich schlucke angestrengt, ehe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpresse: »Auch ich habe es nicht vergessen. Aber das tut nichts zur Sache. Ich bin schließlich kein junges Mädchen mehr.« Ich balle die Hände so fest zu Fäusten, dass meine Fingernägel mir in die Handfläche schneiden. »Ich werde ihn besiegen.«

»Denk nur daran, dass ihr euch im Hohen Norden auf heiligem Boden befindet.« Elvi hebt mahnend den Zeigefinger. »Kein Blutvergießen außerhalb der Wettkämpfe!«

Grummelnd wende ich mich ab. »Das hat diesen feigen Hund auch nicht interessiert, als er unseren Vater hinterrücks ermordet hat!«

»Heiliger Boden«, wiederholt Elvi ruhig. »Blutfehde hin oder her, du darfst ihn dort nicht angreifen.«

Ich winke ab. »Dann hat er eben auf dem Weg zu den Wettkämpfen einen bedauerlichen Unfall.«

Zu meiner Verwunderung beginnt Elvi zu lachen. »Wie gut, dass ich dich kenne, Schwester. Du würdest keine Nacht mehr schlafen, wenn du ihn nicht während eines ehrenhaften Kampfes auf Leben und Tod besiegen und damit Vaters Ermordung rächen würdest.«

Ich stoße den Atem aus. Natürlich hat sie recht, denn eine Blutfehde kann bloß auf diese Weise beigelegt werden. Weder uns noch dem ruhelosen Geist unseres Vaters wäre damit geholfen, wenn ich den Anführer des Schwingenclans hinterrücks umbrächte. Ich will, dass er mir dabei in die Augen sieht und mir mit seinem letzten Atemzug den Grund nennt, warum er uns den Vater genommen hat. Erst dann ist mein Eid erfüllt und die Götter werden zufrieden mit mir sein.

Ich bin zehn Minuten älter als Elvi, also war es an mir, den Bluteid zu leisten. Sollte ich scheitern, wird meine Schwester ihn weitertragen. Nach ihr wird er auf einen unserer entfernteren Verwandten übergehen, auch wenn wir mit ihnen kaum etwas zu tun haben. Ein mit Blut besiegelter Eid ist heilig; der Zorn der Götter selbst würde denjenigen treffen, der sich ihm entzieht.

»Hast du dich schon entschieden, wer dich begleiten wird?«, fragt Elvi, als sie sich bei mir unterhakt und mich weiter Richtung Dorf zieht.

»Ich habe Astrid und Vangar gefragt. Sie fühlten sich geehrt.«

Jeder Clanführer darf bis zu fünf seiner besten Kämpfer mit in den Hohen Norden nehmen. Mir fiel die Wahl meiner Begleiter leicht, was auch daran liegt, dass wir nicht mehr als zwei herausragende Kämpfer zu bieten haben. Die beiden Schildmaiden Astrid und Vangar sind drei Jahre älter als Elvi und ich und nicht nur auf dem Schlachtfeld ein Paar. Im Kampf sind sie mir beinahe ebenbürtig. Mit ihnen an meiner Seite habe ich auf dem Weg nichts zu befürchten. Außerdem werden sie meine Taten bezeugen und von ihnen berichten, sobald wir zurückgekehrt sind. Oder meiner Schwester und meiner Mutter die Kunde über mein Scheitern überbringen.

Ich schüttele den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Seit Wochen denke ich an nichts anderes als meine Reise zur heiligen Stätte, meine bevorstehenden Prüfungen und den Sieg, den ich davontragen werde. Erst als Elvi meine Zukunft nicht sehen konnte, beschlichen mich Zweifel. Mein Sieg war plötzlich nicht mehr unumstößlich. Die Prüfungen nicht mehr so einfach, als dass ich sie spielend absolvieren könnte. Ich gebe mir Mühe, die nagenden Gedanken zu vertreiben und ihnen keinen Platz in meinem Kopf zu bieten, aber sie kommen stets wieder und gewinnen mit jedem neuen Erscheinen an Kraft.

»Ich erwarte euch drei morgen früh vor Sonnenaufgang vor meiner Hütte«, sagt Elvi, als wüsste sie genau, was gerade in mir vorgeht.

Bran gibt neben mir ein Brummen von sich.

Ein Lächeln zeichnet sich auf den Lippen meiner Schwester ab, als sie den Kopf zu meinem Tierwesen neigt. »Und dich natürlich auch. Als würde ich einen von euch ohne den Segen der Götter in den Hohen Norden ziehen lassen!«

Die wenigen Dorfbewohner, an denen wir auf unserem Weg vorbeikommen, neigen respektvoll die Köpfe vor Elvi und mir. Während ich schweigend danebenstehe, hat sie für jeden ein freundliches Wort übrig. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob sie die bessere Anführerin gewesen wäre, wenn sie ihr Augenlicht nicht eingebüßt hätte.

Elvis Hütte befindet sich etwas abseits. Wie alle anderen Behausungen ist sie aus Holz errichtet, das über die Jahre dunkelgrau geworden ist. Den würzigen Geruch, den ihr Kräutergarten verströmt, rieche ich schon aus mehreren Metern Entfernung. Ihre Hütte könnte heimelig wirken, wären da nicht die Gebilde aus Knochen und Ästen, die sich im leichten Wind wiegen und ein schauriges Klappern verursachen.

Elvi benötigt bloß zwei Griffe an dem niedrigen Zaun, der ihre Hütte umgibt, um sich zu orientieren. Da ich weiß, wie sehr sie es hasst, wenn ich sie hineinführe, warte ich ab, bis sie den Weg allein gefunden hat.

An der Tür dreht sie sich zu mir um. »Du wirst zurückkommen.« In ihrer Stimme liegt eine solche Gewissheit, dass sogar ich daran glaube.

Nachdem ich mich von meiner Schwester verabschiedet habe, gehen Bran und ich zum Langhaus, das sich in der Mitte des Dorfes befindet. Die mit Abstand größte Hütte ist das Zuhause von meiner Mutter, Bran und mir sowie der kulturelle Mittelpunkt des Dorflebens. Es vergeht kein Tag, an dem mich nicht ein Bittsteller um Rat fragt oder ein zeremonieller Ritus abgehalten werden muss, um die Götter zu besänftigen.

Auch heute riecht es im Inneren nach frischem Blut und alter Glut.

Meine Zimmer befinden sich im hinteren Teil des Gebäudes, dennoch habe ich nie das Gefühl von Privatsphäre. Es ist eine Ehre, im Langhaus zu leben, doch nicht selten wünsche ich mir eine kleine Hütte wie Elvis, deren Tür ich hinter mir zuziehen und dadurch die gesamte Welt aussperren kann.

Ich passiere die große Halle, in der nahezu das gesamte Dorf Platz findet, die heruntergebrannten Feuerstellen in der Mitte, den aufwendig verzierten hohen Stuhl an der Stirnseite des Saals, auf dem einst mein Vater gesessen hat und auf dem ich nun Platz nehmen muss, wann immer es von mir verlangt wird, und begebe mich schnurstracks in meine Zimmer.

Auf meine Reise werde ich nicht viel Gepäck mitnehmen; das wenige habe ich bereits zusammengesucht und in zwei Bündel verschnürt.

Da es nichts mehr zu tun gibt, werfe ich mich aufs Bett. Bran rollt sich auf dem großen Teppich davor zusammen und beginnt fast augenblicklich damit, leise zu schnarchen. Begleitet von diesem beruhigenden Laut und der wohligen Wärme, die sein Körper abstrahlt, fallen auch mir alsbald die Augen zu.

Es ist noch stockdunkel draußen, als meine Mutter mit einer Kerze in der Hand mein Zimmer betritt. Ich höre sie bereits, als sie eine der knarzenden Dielen erwischt. Wie von selbst gleitet meine Hand zu der Axt, die neben mir auf dem Bett liegt, und ich entspanne mich erst, als ich ihre vertraute Schrittfolge erkenne.

»Du musst aufstehen«, sagt sie, während sie im Türbogen stehen bleibt.

Ich setze mich auf und fahre mir mit der Hand durch mein zerzaustes dunkelblondes Haar.

»Lass mich dir helfen.«

Mit einem verstohlenen Seufzen winke ich sie näher. Während sie Bran umrundet, damit sie die Kerze auf dem Nachttisch abstellen kann, versuche ich mich daran zu erinnern, wann ich ihr das letzte Mal gestattet habe, mir beim Anziehen und Frisieren zu helfen. Es muss der Tag gewesen sein, an dem ich Vaters Platz eingenommen habe. Meine Finger zitterten damals so sehr, dass ich mein Haar niemals selbst hätte flechten können, und Elvi, die ich normalerweise um Hilfe gebeten hätte, war damit beschäftigt, die Zeremonie vorzubereiten.

»Bist du aufgeregt?«, fragt sie, während sie die benötigten Utensilien aus meiner Kommode zusammensucht.

Ich stoße den Atem aus. Bereits als Kind schlug ich eher nach meinem Vater und stand ihm näher als meiner Mutter. Außer den tiefblauen Augen und dem blonden Haar, das am Ansatz etwas dunkler ist, habe ich kaum etwas von meiner Mutter geerbt. Ihre schlanke, grazile Statur hat sie Elvi vermacht. Oder würde ich ebenfalls so aussehen, wenn ich nicht von klein auf wie eine Berserkerin trainiert hätte? Ich kann mir ein solches Leben nicht vorstellen, ebenso wenig wie eines, in dem ich offen mit ihr über meine Gefühle spreche. Das steht mir als Anführerin nicht zu; nicht einmal gegenüber meiner Mutter. Dennoch gebe ich mir einen Ruck.

»Ein wenig«, sage ich daher ausweichend.

Mutter nickt nachsichtig, während sie mich betrachtet und darauf wartet, dass ich das Bett verlasse. Ich tue ihr den Gefallen und streife meine einfache Kleidung von gestern ab. Mit geschickten Handgriffen hilft sie mir in die aufwendigeren Gewänder, die mich sowohl vor der Kälte im Hohen Norden schützen als auch meinen Stand unterstreichen sollen. Die wollene Tunika hat Mutter eigenhändig mit goldenen Stickereien an den Säumen versehen, die Bärentatzen zeigen. Um die Taille legt sie mir ein Mieder aus Leder an, ebenso wie einen Gürtel, an dem ich meine beiden Äxte befestigen kann. Nachdem ich in die gefütterte Lederhose und die ebenso mit Fell ausgekleideten kniehohen Stiefel geschlüpft bin, legt Mutter mir den Mantel meines Vaters um. Das weiche Wolfsfell schmiegt sich an meine Wangen, und ich meine, noch immer schwach Vaters Duft wahrnehmen zu können, wenn ich nur tief genug einatme.

Mutter betrachtet mich von oben bis unten und nickt schließlich anerkennend. »Diesmal steht dir die Tracht besser als vor drei Jahren.«

»Ich denke nicht, dass ich seither gewachsen bin«, halte ich dagegen.

»Das nicht«, sagt sie, wobei sie mir zu verstehen gibt, dass ich mich auf den Schemel bei der Kommode setzen soll. »Dennoch füllst du sie besser aus.«

Behutsam bürstet sie die Knoten der letzten Tage aus meinem hüftlangen Haar, ehe sie es an den Schläfen zurückflicht. Während der Prozedur sprechen wir kein Wort; in Gedanken hänge ich noch dem nach, was sie eben gesagt hat. Es war wohl das beste Lob, das ich je von ihr gehört habe. Als Frau des Clanführers war Mutter nie eine Frau großer Worte, sondern voller Erwartungen, die ich als Heranwachsende nie erfüllen konnte.

Oder glaubte, sie nie erfüllen zu können.

Doch in dem Blick, mit dem sie mich eben bedachte, meinte ich, Stolz zu erkennen. Nicht die Furcht, die stets darin lag, als ich noch jünger war und sich meine Gabe noch nicht gezeigt hatte. Und auch nicht die Trauer, als ich auf dem hohen Stuhl saß und nicht mein Vater.

Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass sie mich sieht. Nicht ihre Tochter, die dummerweise während einer roten Lichternacht geboren wurde, und auch nicht die neue Clanführerin, die ihren Mann ersetzen soll und wohl nie an ihn heranreichen wird.

»Ich werde dich nicht enttäuschen«, rutscht es mir heraus, ehe ich die Worte aufhalten kann.

Mutter tritt vor mich, legt mir einen Finger unters Kinn und wartet, bis ich den Blick zu ihr hebe. »Dein Versprechen, mich nicht zu enttäuschen, will ich nicht.«

Mein Herzschlag gerät ins Stolpern, und für einen Augenblick bin ich wieder das junge Mädchen, das sich nach der Anerkennung sehnt, für die es hart arbeiten musste. Auch jetzt scheint sie mir verwehrt zu werden, obwohl ich mich anstrengen will.

Erst als Mutter mir ihre andere Hand an die Wange legt und die Wärme ihrer Berührung mich durchströmt, beruhige ich mich.

»Ich will, dass du gesund zu mir, zu unserem Clan zurückkehrst«, sagt sie sanft. »Dieses Versprechen würde ich mit Freuden entgegennehmen. Denn dein Leben und alles, was du für unsere Leute tust, ist tausendmal mehr wert als dein Sieg beim Merthing.« Sie hebt den rechten Mundwinkel zu einem Lächeln, wodurch sie beinahe aussieht wie ich. »Wobei ich keine Sekunde daran zweifle, dass du diesen alten, wohlgefälligen Männern, die seit Jahrzehnten nicht mehr aus ihren Stühlen aufgestanden sind, haushoch überlegen bist.«

Zögerlich erwidere ich ihr Schmunzeln. »Ich werde mein Bestes geben.«

»Ich weiß.« Sie lehnt sich vor und küsst mich auf die Stirn. »Mir ist noch nie ein Mensch begegnet, der bei jeder noch so banalen Tätigkeit sein Bestes gibt, so wie du es tust.«

Sie klingt, als wäre sie nicht glücklich darüber, doch ich will diesen seltenen Moment nicht zerstören, deshalb frage ich nicht nach, sondern genieße es, von ihr frisiert und anschließend geschminkt zu werden. Mit schwarzer Farbe, die aus Wurzeln und Asche hergestellt wird, umrahmt sie großflächig meine Augen bis hin zu den Schläfen.

Als ihre Finger über die wulstige Narbe an meinem rechten Auge streichen, murmelt sie: »Ich erinnere mich noch genau an die Nacht, als du blutüberströmt mit der Verletzung nach Hause kamst und einen kleinen Bären in deinen Armen hieltest.«

Mein Blick huscht zu Bran hinüber, der nun von niemandem mehr als klein bezeichnet werden würde und der noch immer friedlich schläft.

»Es war bitterkalt«, fährt Mutter fort, »und ich war außer mir vor Sorge, weil du einfach verschwunden bist.«

»Ich habe seine Stimme gehört«, sage ich. »Brans. Er hat um Hilfe gerufen. Er hat mich gerufen.«

Mutter stößt den Atem aus. Ich habe es ihr bereits damals erklärt, doch auch jetzt scheint sie mich nicht verstehen zu können. Wahrscheinlich kann das niemand, der kein Flüsterer ist wie ich.

Es war ein harter Winter. Der eisige Wind pfiff um unser Langhaus und durchdrang selbst die dicksten Felle. Elvi und ich schliefen eng aneinandergekuschelt, als ich plötzlich aufwachte und wie durch eine magische Kraft hinaus in die eiskalte Nacht gezogen wurde.

»Was war es?«, fragt Mutter, während sie mit den Fingern über die Narbe streicht, die sich von meiner Augenbraue hinab über mein Auge bis zur Hälfte meiner Wange zieht. »Ein Falke?«

Ich schüttele leicht den Kopf. »Ein Adler. Er war nicht glücklich darüber, dass ich ihm seine sichere Beute streitig machte.«

Mit einem Seufzen lässt Mutter das Thema fallen. Als ich Bran anschleppte, war sie nicht begeistert, ein weiteres Maul durchfüttern zu müssen. Doch nachdem er größer wurde und Bran und ich auf die Jagd gingen, erkannte auch sie seinen Nutzen. Als meinem Tierwesen blieb ihm das Schicksal erspart, als Teppich oder Umhang oder besondere Trophäe zu enden.

Anders als bei uns Menschen, die in einer roten Lichternacht geboren werden, schlägt sich die Andersartigkeit bei Tierwesen nicht in einer Gabe, sondern ihrem Aussehen nieder. Ich habe von einem Flüsterer eines anderen Clans gehört, dessen Tierwesen ein Pferd mit einem Fischschwanz ist, das so gut schwimmen kann, dass er es dazu einsetzt, sein Fischerboot aufs Meer hinauszuziehen.

Wenn ich das Merthing gewinne, wird es mir vergönnt sein, die weit verstreuten Clans zu bereisen und all die wundervollen Tierwesen zu sehen, die es dort gibt.

Als Mutter, Bran und ich das Langhaus verlassen, hat sich der Großteil des Clans bereits auf dem Dorfplatz direkt davor versammelt. Sie verstummen, als sie mich sehen. Elvi ist ebenfalls anwesend und sticht mit einem blütenweißen Kleid unter den anderen Dorfbewohnern hervor. Mit erhobenem Haupt schreite ich auf sie zu. Astrid und Vangar, die beiden Schildmaiden, die mich in den Hohen Norden begleiten werden, nicken mir zu, ehe sie sich hinter mir einreihen.

Vor Elvi beuge ich das Knie. Astrid und Vangar folgen meinem Beispiel, und sogar Bran senkt den Kopf.

»Valkra, ich bitte dich um deinen Segen für unsere Reise«, sage ich laut genug, damit mich die Anwesenden verstehen können.

Von einer der Maiden, die Elvi unterstehen und die ähnlich gekleidet sind wie sie, wird ihr eine Schale mit frischem Hühnerblut gereicht, das im Namen der Götter geopfert wurde. Vor einer solch wichtigen Reise würde normalerweise ein Stier oder Pferd geopfert werden, aber angesichts des bevorstehenden Winters habe ich angeordnet, kein großes Tier zu schlachten. Ein Teil von mir hadert mit der Entscheidung und hofft, die Götter dadurch nicht zu erzürnen.

Elvi taucht zwei Finger in die Schale mit Blut und malt mit der noch warmen Flüssigkeit das Zeichen unserer obersten Göttin auf meine Stirn: zwei ineinander übergehende Halbkreise, die die über den Hügeln aufgehende Morgensonne darstellen sollen. Dies wiederholt sie bei meinen drei Begleitern, ehe sie das restliche Blut über uns sprenkelt.

»Die Götter blicken wohlwollend auf dein Vorhaben herab, Than Yrsa«, verkündet sie. »Vertraue darauf, dass sie deine Schritte und die deiner Gefolgschaft leiten werden.«

Ich verbleibe noch genau zwei Herzschläge lang kniend, ehe ich mich erhebe.

Ohne mich zu verabschieden oder zurückzublicken, drehe ich mich um und beginne meine Reise in den Hohen Norden, um mein Schicksal zu erfüllen.

An den ersten beiden Tagen strengt mich die Reise kaum an. Nachdem wir die Ebenen der Küste verlassen haben, führt uns unser Weg an einigen Gebirgen vorbei oder zwischen ihnen hindurch, sodass wir unsere Kräfte schonen können. Zwischen den zerklüfteten Felsen der Gebirgsketten finden wir ausreichend Schutz vor Wind und Wetter. Wir rasten erst, sobald die Nacht einbricht; unsere Mahlzeiten nehmen wir über den Tag hinweg beim Gehen ein. Am Abend des zweiten Tages erlegt Bran ein dürres Reh für uns, das wir über einem Feuer braten.

Erst als wir uns am vierten Tag an den Aufstieg machen, spüre ich eine vage Erschöpfung, die jedoch von Aufregung überlagert wird. Ich kann den Gipfel des heiligen Berges nicht sehen, trotzdem fühle ich die Ehrfurcht, die dieser Ort ausstrahlt.

Es heißt, der Berg sei so hoch, dass er beinahe das Wolkenreich der Götter erreicht, von wo aus sie die Taten der Sterblichen beobachten und bewerten. Nur den Aufrichtigsten und Tapfersten von uns gestatten sie, ihr Reich nach unserem Ende zu betreten. Der Rest von uns erhält eine weitere Chance, indem er wiedergeboren wird. Scheitert er erneut im Versuch, die Götter zufriedenzustellen, verschwindet seine Seele, als hätte sie nie existiert, im Vergessen der Unterwelt, wo sie von den dunklen Mächten benutzt wird, um eines Tages die obersten Götter zu stürzen.

Meine Seele braucht keine weitere Chance. Ich werde die Götter beeindrucken und irgendwann, wenn sie mich zu sich holen, neben meinem Vater sitzen, dem ich meinerseits stolz von meinen Taten berichten kann.

Bereits als Kind war ich fasziniert von unseren Sagas und konnte nicht genug davon bekommen. Auch später sah ich es nie als Belastung an, sie Elvi vorzulesen, damit sie sich die Geschichten einprägte, um als Valkra aus ihnen zu zitieren.

Der Pfad zum Gipfel hinauf ist steil, doch glücklicherweise müssen wir nicht klettern, denn sonst wäre uns nichts anderes übrig geblieben, als einen anderen Weg zu suchen. Ohne Bran in meiner Nähe fühle ich mich leer und rastlos gleichermaßen. Auch wenn er mich bei den Prüfungen nicht immer unterstützen darf, hilft mir seine Anwesenheit. Und ihn zurückzulassen käme für mich nie infrage.

Astrid und Vangar sind, ähnlich wie ich, keine Frauen großer Worte; die meiste Zeit schweigen wir. Da wir uns seit unserer Kindheit kennen, gibt es nicht viel, was wir besprechen müssten. Wobei Vangar noch stiller ist als ihre Partnerin Astrid.

Mir sind ihre Verdienste während der letzten Überfälle auf andere Inseln geläufig, da sie sie mehrmals während einer Feier im Langhaus zum Besten geben mussten. Ihr Geschick mit dem Kurzschwert und dem Schild ist so herausragend, dass der amtierende oberste Clanführer sie regelmäßig bei seinen Raubzügen dabeihaben wollte – als einzige Kämpfer unseres Clans. Ich hätte unter meinen Leuten keine bessere und erfahrenere Begleitung finden können als diese beiden Frauen, die sich in jeder Situation blind verstehen.

Je höher sich der Pfad ins Gebirge hinaufschlängelt, desto dünner wird die Luft. Ich bin dankbar für Vaters Umhang, dennoch habe ich das Gefühl, das Wolfsfell würde mir zusätzlich die Luft abschnüren. Mehrmals wird der Drang, mir den Umhang vom Leib zu reißen und lieber den Tod durch Erfrieren in Kauf zu nehmen, fast übermächtig.

Wir entdecken einige Spuren im Schnee, die von den anderen Clans stammen müssen, doch wir begegnen niemandem. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht die letzten sind, die eintreffen.

Das finale Stück des Aufstiegs absolvieren wir am Morgen des sechsten Tages. Die Muskeln in meinen Beinen brennen wie Feuer, während die Haut in meinem Gesicht vor Kälte beinahe taub ist. Ungehindert durch andere Berge pfeift der eisige Wind durch unser Haar und die Kleidung, doch von niemandem höre ich einen Laut des Jammers.

Als wir schließlich das Plateau auf der Spitze des Berges erreichen, zittern meine Beine so sehr, dass sie beinahe unter mir nachgegeben hätten. Lediglich die bereits anwesenden anderen Clans, die unsere Ankunft verfolgen, halten mich aufrecht.

Ich erwidere ihre Blicke nach außen hin ungerührt, doch innerlich möchte ich mich am liebsten hinter Bran verstecken. Es ist eine Sache, einem Clan vorzustehen, dessen Mitglieder ich von meinem ersten Atemzug an kenne, aber eine völlig andere, dem Starren fremder und potenziell feindlicher Clans ausgesetzt zu sein, deren Mitglieder ich weder kenne noch einschätzen kann.

Mir entgeht nicht, dass einige von ihnen besonders an Bran interessiert zu sein scheinen. Das ist kein Wunder: Flüsterer mit einem solch großen und kraftvollen Wesen, wie meines eins ist, sind selten. Die meisten Flüsterer müssen mit einfachen Hoftieren vorliebnehmen, die sie beeinflussen können. Nur die mächtigsten von uns können eine Verbindung mit einem Raubtier wie einem Bären eingehen. Wenn dieser Bär außerdem ebenfalls während einer roten Lichternacht geboren wurde und dadurch körperliche Besonderheiten aufweist, ist es nur natürlich, dass er Aufsehen erregt.

Als würde ich nichts von den musternden Blicken und dem Gemurmel wahrnehmen, das um uns herum anschwillt, gehe ich hinüber zum amtierenden obersten Clanführer, für den in der Mitte des Plateaus ein Hochsitz aufgestellt wurde. Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie anstrengend es gewesen sein muss, dieses Ungetüm aus dunkelbraunem Holz und reichen geschnitzten Verzierungen hier heraufzuwuchten … Dazu waren sicherlich mehrere Männer nötig.

Während wir darauf warten, dass wir an der Reihe sind, begutachte ich die Anwesenden verstohlen. Viele von ihnen wirken kräftig und kampferprobt, doch es ist, wie meine Mutter gesagt hat: Die meisten haben den Zenit ihres Lebens bereits überschritten. Sie sind nicht alt, aber nicht mehr jung. Die meisten dürften im Alter meines verstorbenen Vaters sein.

Fast mein ganzes Leben lang habe ich während meines Trainings gegen diese Art von Männern gekämpft. Sie neigen dazu, mich zu unterschätzen – oder sich selbst zu überschätzen –, sind träge und verwenden nahezu alle denselben Stil. Und noch etwas haben sie gemeinsam: Wenn sie vor mir besiegt am Boden liegen, sehen sie mich alle mit dem gleichen überrascht-wütenden Blick an. Ich habe ihn schon so oft gesehen, doch er wird nie langweilig.

Während ich warte, schnappe ich von einer vorbeigehenden Gruppe auf, dass nur acht der zehn Clans ihre Teilnahme zugesagt haben. Aus den übrigen zwei Clans war der Anführer entweder zu alt oder zu jung, um die Prüfung zu bestreiten.

Ich sehe mich weiter um und entdecke am Rand des Plateaus eine Art Dorf: Mehrere kleine Hütten sind dort aufgereiht, vor einer wurde ein großes Lagerfeuer entzündet. Ich habe mich während unserer Reise bereits gefragt, wo wir zwischen den Prüfungen schlafen und essen werden, doch letztendlich spielte die Frage keine große Rolle. Nun ein kleines Dorf hier zu sehen für den Fall, dass ein Merthing stattfindet, ist jedoch beruhigend.

Als die Gruppe eines anderen Clans vor uns ihre Begrüßung des obersten Clanführers abgeschlossen hat, sind wir an der Reihe.

Wie es von mir erwartet wird, senke ich den Kopf vor ihm. Lediglich vor einer Valkra, dem Sprachrohr der Götter, würde ich je das Knie beugen.

»Than der Thane«, sage ich. »Ich bin Yrsa vom Küstenclan und fühle mich geehrt, deinem Ruf Folge zu leisten.«

Der oberste Clanführer muss etwa im Alter meines Vaters gewesen sein, als er diesen ehrwürdigen Posten übernahm; nun, fünfzehn Jahre später, ist er ein alter Mann mit einem löchrigen grauen Bart, der auf seinem Bauchansatz ruht, und tiefen strengen Furchen im Gesicht. Dennoch verströmt er eine so ehrgebietende Aura, als säße unser höchster Gott Noren persönlich vor mir.

»Yrsa«, wiederholt er gedehnt. Ich sehe zu ihm auf. »Du erinnerst mich sehr an deinen Vater. Ich habe den Willen der Götter nie infrage gestellt, aber als sie ihn zu sich riefen, bevor er die großen Taten vollbringen konnte, für die er zweifelsohne vorgesehen war, habe ich gehadert. Doch nun bist du hier. Wirst du diejenige sein, die mich beerbt?«

Ein Prickeln in meinem Nacken lässt mich noch mehr frösteln als die Kälte um mich herum. »Ich werde mein Bestes geben.«

Der oberste Clanführer nickt. »Davon bin ich überzeugt.«

Er entlässt mich mit einem Wink, damit ich jenen Platz machen kann, die nach uns erschienen sind, und ich beeile mich, von ihm wegzukommen. Noch nie stand ich jemandem gegenüber, der mich durch seine bloße Anwesenheit derart einschüchterte. Ob er schon immer ein solches Auftreten besaß? Oder hat seine Position als Than der Thane ihn dazu befähigt?

Während ich noch darüber nachgrübele, wäre ich beinahe in eine andere Gruppe hineingelaufen. Erst im letzten Augenblick stoppe ich meinen Schritt und sehe auf.

Hier oben auf dem Plateau wird die Sonne kaum durch Wolken abgeschirmt, doch ihre Wärme erreicht mich dennoch nicht. Ich blinzele gegen ihre Strahlen an, kann den Umriss des Mannes, gegen den ich beinahe geprallt wäre, trotzdem bloß schemenhaft wahrnehmen.

Gerade als ich beiseitetreten und die Gruppe durchlassen will, sagt er: »Wenn das nicht die kleine Yrsa ist.«

Mein Blick schießt zu ihm zurück. Seine Stimme habe ich noch nie zuvor gehört, denn an sie würde ich mich erinnern. Ihr rauer und gleichzeitig weicher Klang fährt mir direkt unter die Haut, kribbelt noch einen Moment nach, als wolle er sich dort einnisten. Schnell reibe ich mir über die Arme, wo das Gefühl am stärksten ist, um das Kribbeln zu vertreiben.

Um diese Bewegung zu überspielen, hebe ich eine Hand und lege sie mir an die Stirn, um die Sonne abzuschirmen.

Nicht nur seine Stimme ist mir unbekannt, sondern auch die Züge des Mannes, den ich nun Stück für Stück der Helligkeit entreiße. Er ist groß; das fällt mir als Erstes auf, denn ich muss den Kopf ein Stück in den Nacken legen, um nicht bloß sein Schlüsselbein und seinen Hals anzustarren.

Ja, ich starre. Das ist mir völlig bewusst, doch ich kann nichts dagegen tun. Zu drängend ist der Wunsch herauszufinden, wer er ist und woher er mich zu kennen glaubt. Dass ich die Anführerin des Küstenclans bin, ist weithin bekannt, aber ich habe zuvor nur an wenigen Zusammenkünften teilgenommen. Meist nur an denen der Clans, die in meiner unmittelbaren Nähe leben. Und ich würde mein Leben darauf verwetten, dass der Mann vor mir bei keiner dieser Zusammenkünfte dabei war.

Von irgendwoher erklingt das kratzig-hohe Lachen einer alter Frau, doch ich drehe mich nicht danach um.

Nach und nach gibt die Sonne ein scharf geschnittenes Gesicht mit markanten Wangenknochen und einem breiten Kiefer preis. Es ist gerade diese Kieferpartie, die meine Aufmerksamkeit ungemein fesselt. In meinem Dorf gibt es nicht einen Mann, der seine Kindheit hinter sich gelassen hat und keinen Bart trägt. Selbst die Alten, deren Bärte noch löchriger sind als der des obersten Anführers, tragen sie mit Stolz. Doch dieser Mann vor mir ist bartlos. Wann habe ich das das letzte Mal bei einem Mann gesehen, der kein Knabe mehr war?

Während ich diesem verwirrenden Gedanken nachhänge, lehnt er sich ein Stück vor, wodurch ich die Farbe seiner Augen wahrnehmen kann. Sie erinnern mich an Moos im Frühjahr, nachdem es sich einen Weg durch die Schneedecke gebahnt hat. Ein solch klares, sattes Grün ist mir bei Iriden noch nie untergekommen. Muss wohl am Licht liegen, denn grüne Augen wirkten oft dumpf wie die Blätter eines Baumes, die kurz davor sind, sich zu verfärben. Doch bei ihm ist es, als sei …