Mieses Geld - Harald Betz - E-Book

Mieses Geld E-Book

Harald Betz

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Beschreibung

Das Geld wie wir es kennen gibt es bald nicht mehr. Der programmierbare E-Euro steht kurz vor der Einführung. Marc Kröger beschäftigt sich intensiv mit der Geldtheorie. Bald erkennt er, die Menschen werden betrogen und Krisen vertuscht. Deshalb gründet Marc die Bitcoin-Bewegung. Gleichzeitig erhält ausgerechnet die machthungrige Hedgefonds-Managerin Katharina Heinicke den offiziellen Auftrag, den programmierbaren E-Euro einzuführen. Schnell zeigt das digitale Geld seine dunkle Seite. In Verbindung mit einem Sozialkreditsystem entsteht eine radikale Diktatur mit grausamen Konsequenzen. Denunziation und soziale Unruhen greifen um sich. Als die Gruppe um Marc gegen den digitalen Euro vorgeht, gerät sie ins Visier der Mächtigen.

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Bettina und Harald Betz

   MIESES GELD   

Das perfide Spiel mit dem digitalen Euro

Copyright © 2023 Aprycot Media

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk wurde von Aprycot Media - Held & Tröndle GbR veröffentlicht.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen elektronischen oder mechanischen Mitteln, einschließlich Informationsspeicher- und Informationsabfragesystemen, ohne schriftliche Genehmigung des Autors/Herausgebers reproduziert werden, mit Ausnahme der Verwendung von kurzen Zitaten in einer Buchrezension. Haftungsbeschränkung/Ausschluss von Garantien: Obwohl Autor und Verlag bei der Erstellung dieses Buches alle Anstrengungen unternommen haben, geben sie keine Zusicherungen oder Gewährleistungen in Bezug auf die Richtigkeit oder Vollständigkeit des Inhalts dieses Buches und lehnen insbesondere alle stillschweigenden Gewährleistungen der Marktgängigkeit oder Eignung für einen bestimmten Zweck ab. Es kann keine Gewährleistung durch Handelsvertreter oder schriftliche Verkaufsunterlagen geschaffen oder erweitert werden. Weder der Verlag noch der Autor haften für entgangene Gewinne oder andere kommerzielle Schäden, einschließlich aber nicht beschränkt auf besondere, zufällige, Folge- oder sonstige Schäden.

ISBN 978-3-949098-47-5 (Print)

ISBN 978-3-949098-48-2 (ePub)

Lektorat: Gregor Ohlerich

Layout & Satz: Michi Nussbaumer

Umschlag- und Innengestaltung: Michi Nussbaumer

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Verlag: Aprycot Media, Rheinfelden

1. Auflage 2024

Aprycot Media – Der Bitcoin Verlag – www.aprycot.media

Twitter & Instagram: @aprycotmedia

Harald & Bettina Betz: www.miesesgeld.de, YouTube @miesesgeld

https://aprycot.media/

Dieser Roman ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte. Daher erhebt der Roman keinen Anspruch, Geschehnisse und Personen und ihre beruflichen und privaten Handlungen authentisch wiederzugeben. Vielmehr haben die Autoren ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.

Wenn die Leute das gegenwärtige Bank- und Geldsystem verstünden, würde es vermutlich eine Revolution noch vor morgen früh geben.

Henry Ford

INHALT

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

EPILOG

NACHWORT UND DANK

Über die Autoren

PROLOG

Das flackernde Licht des ‚Aladdin‘-Schriftzugs zauberte bläuliche Schatten auf Janus’ Gesicht. Die leise Klaviermusik im Hintergrund beruhigte ihn. Seit Stunden starrte er auf den Bildschirm und beobachtete den Chatverlauf. Doch bisher nichts Interessantes unter ‚Spezielle Dienstleistungen‘.

Da, eine neue Nachricht blinkte auf. Lover_99 suchte jemanden für einen Denkzettel. Janus lächelte, das Warten hatte sich gelohnt! Er begann zu tippen, der Kopf mit den zwei Gesichtern an seinem Siegelring schimmerte bei jeder Bewegung des Mittelfingers.

‚Lover_99, komm in den private room, dann klären wir die Einzelheiten.‘

Lover_99 ließ nicht lange auf sich warten.

<Janus> Worum geht’s?

<Lover_99> Vorlauter Typ, so Anfang 20, bräuchte eine Abreibung. Lässt sich da was machen?

<Janus> Benötige nähere Infos. Irgendeine Art von Kampfsport, dauerhafte Schäden gewünscht, genauer Termin?

<Lover_99> Null Kampfsporterfahrung, eher schmächtiger Typ, nichts Bleibendes, so bald wie möglich.

<Janus> Lässt sich einrichten, kostet 100 Bitcoin.

<Lover_99> Deal.

<Janus> Ich schicke dir einen Link, dort lädst du Foto, Name und Adresse des Klienten hoch. Auf der Seite findest du zwei Bitcoin-Adressen. Auf die eine überträgst du 90 Bitcoin, auf die andere die restlichen 10. 24 Stunden später kannst du mit dem Link nochmal reingehen und den Behandlungstermin abrufen. Danach wird der Link nicht mehr funktionieren.

<Lover_99> Ok.

<Janus> Vielen Dank für deinen Einkauf!

Janus schickte den vorbereiteten Link und schloss das private Chatfenster. Einige Stunden später kündigte ein dezentes ‚Pling‘ eine neue Nachricht in seinem Shop an. Die Bitcoinzahlungen waren auf seine Wallets eingegangen. Er betrachtete das Foto des Klienten und die Adresse. Nach kurzem Überlegen griff er zu seinem Handy, einem anonym erworbenen Mobiltelefon mit Prepaidkarte. In der Kontaktliste scrollte er zu Cobra und wählte.

„Ja?“

„Ich habe einen Auftrag in deiner Gegend. Leichte Spezialbehandlung. Keine besonderen Schwierigkeiten, junger, harmloser Typ. Lass dir was Kreatives einfallen.“

„Bezahlung wie immer?“

„Zehn Bitcoin.“

„Geht klar.“

„Gut. Informationen wie immer. Geld nach Durchführung und Hochladen des Belegs.“

„Gerne doch, stets zu Diensten.“

Janus legte auf. Er machte sich einen Kaffee, dann öffnete er seine Wallet. Die Transaktion war bereits ausgeführt. Der Preis für einen Bitcoin sprang gerade auf 223 US-Dollar! Er pfiff durch die Zähne und übertrug die Wallet-Datei für Cobras Honorar. Den digitalen Schlüssel würde Cobra erst nach Auftragsausführung bekommen.

  1  

25. OKTOBER 2008ISMANING IN SÜDDEUTSCHLAND

Die Kälte des Plastiks drang durch den dünnen Stoff seiner Hose. Marc fröstelte. Was wollte sein Alter von ihm? Sie müssten reden, hatte er angekündigt und ihn dabei mit kritischem Blick gemustert. Die Sorte Blick, bei der Marc schon im Vorhinein wusste, dass das Gespräch unangenehm werden würde. Wenn er es sich genau überlegte, waren die letzten Unterhaltungen mit ihm allesamt sehr unerfreulich verlaufen. Umso mehr, seit sein Bruder Jan die Ausbildung bei Vater in der Bank begonnen hatte.

Schwere Schritte waren auf der Treppe zu hören, da wurde auch schon die Klinke mit einem Ruck heruntergedrückt. Das Gesicht seines Vaters war gerötet, er fuhr sich mit einer nervösen Geste durch das Haar, eine graue Strähne löste sich und fiel ihm in die tief zerfurchte Stirn. Er war leicht nach vorne gebeugt, als trüge er eine unsichtbare Last mit sich, die für seine schmalen Schultern viel zu schwer war. Seit wann ging sein Vater wie ein alter Mann? Jetzt nahm er umständlich auf der Eckbank Platz und legte den Packen Blätter vor sich auf den Tisch. Ein Anschreiben mit Briefkopf. Marc konnte nicht entziffern, was in dicken Lettern darunter stand. Sah aus wie etwas Amtliches. Das Schweigen war erdrückend.

Endlich räusperte sich sein Vater und seine schneidende Stimme zerriss die Stille. „Sohnemann, es ist Zeit, die Weichen für deine Zukunft zu stellen. Jan ist bereits äußerst erfolgreich in der Sparkasse.“ Er lächelte, wurde jedoch gleich wieder ernst. „Wenn du es nicht vergeigst“, er machte eine Pause, sein vorwurfsvoller Blick traf Marc, „hast du nächstes Jahr im Juni die allgemeine Hochschulreife in der Tasche.“

Marc verdrehte innerlich die Augen. Dieses Thema hatten sie doch bereits durch! „Meine Meinung hat sich nicht geändert, falls du das meinst. Ich werde in Frankfurt Wirtschaftsinformatik studieren. Programmieren und Wirtschaft sind genau mein Ding. Mit Herrn Kuhn habe ich schon ausgesucht, welche Kurse für mich …“

Marc hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da wusste er, dass es ein Fehler gewesen war, Herrn Kuhn ins Spiel zu bringen. Unwillkürlich duckte er sich, da polterte sein Vater schon los.

„Der Kuhn schon wieder! Der soll sich da mal raushalten! Der hat damals unser Engagement nicht zu würdigen gewusst.“

Es war so klar, dass sein Alter jetzt das Planspiel Börse brachte. Das war drei Jahre her. Dabei war es genau das Projekt gewesen, durch das er auf die Themen aufmerksam geworden war, die ihm wirklich Spaß machten. Bei dem Wirtschaftsprojekt mit dem Fonds hatte er mitgeholfen, das Verwaltungsprogramm zu schreiben. Aber das interessierte seinen Alten sowieso nicht.

Die Ader an Vaters Stirn schwoll an. „Schlag dir das aus dem Kopf! Du kannst von Glück reden, dass ich über so gute Verbindungen verfüge. Sieh mal, was ich dir besorgt habe.“ Diese gönnerhafte Geste, mit der er ihm die Papiere rüberschob!

‚Ausbildungsvertrag‘, darunter sein Name ‚Marc Kröger‘ und die Adresse der örtlichen Bausparkasse. Wie kam sein Alter auf diese absurde Idee? Er atmete tief durch. „Was soll der Bullshit?“

„Jetzt mal halblang! Damit helfe ich dir auf die Sprünge, alleine kriegst du das eh nicht hin. Dein Bruder Jan war da schon mehr auf Zack“, erwiderte sein Vater scharf. „Mal ganz abgesehen davon, dass die dich bei der Sparkasse nicht mal nehmen würden. Sei froh, dass ich dich in der Agentur untergebracht habe.“

„Ich sag dir jetzt mal, was ich davon halte.“ Marc erhob sich halb, beugte sich über den Tisch und sah seinem Vater fest in die Augen. Es war, als ob alle Schleusen geöffnet wären, es sprudelte nur so aus ihm heraus. „Du hast zu Hause immer einen auf dicke Hose gemacht. Und dann … Wie war das mit deiner Chefin, die dich zusammengestaucht hat? Weißt du noch, im Praktikum? Ich habe damals an der Tür gelauscht. Zu Hause hast du dich wieder als der große Macker aufgespielt. Es war einfach erbärmlich. Du warst nur der kleine Banker und hast deinen Ärger in der Bank immer an mir rausgelassen. Du hast mir nichts mehr zu sagen. Auch wenn es dir nicht passt, ich werde Wirtschaftsinformatik studieren. In Frankfurt!“

Tränen brannten hinter seinen Augen. Warum? Hatte er insgeheim immer noch gehofft, seinen Vater zu überzeugen?

Der Adamsapfel seines Vaters hüpfte auf und ab, seine Stimme klang mühsam beherrscht. „Schluss jetzt. Keinen Cent wirst du dafür von mir bekommen! Hier“, seine Knöchel wurden weiß, als er den Zeigefinger förmlich in den Ausbildungsvertrag bohrte, „bau ich dir eine goldene Brücke.“

Goldene Brücke, dass er nicht lachte. Marc griff sich einige Blätter und schwenkte sie vor den Augen seines Vaters hin und her. „Und dann? Dann häng ich den Kunden an den Eiern und verkaufe alten Omis, die schon mit einem Fuß im Grab stehen, Bausparverträge?“

Er nahm die Papierbögen zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, mit der Linken fasste er sie an der Oberseite und zog sie sanft nach hinten. Ein kleiner Widerstand, dann gab das Papier nach. Ein kurzes ‚Ratsch‘ und im oberen Rand der Blätter klaffte ein gezackter Riss.

„Das wagst du nicht“, flüsterte sein Vater tonlos.

Millimeter um Millimeter glitt Marcs Hand nach unten. Da hatte sein Alter den Agenturleiter bekniet, um für seinen nutzlosen Sohn einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Und jetzt war der so undankbar! Mit jeder Bewegung, mit der seine Hand sich auf das Blattende zubewegte, vergrößerte sich der innere Abstand zu seinem Vater. Im Grunde war seine Beziehung zu ihm nie richtig eng gewesen. Seit dem Tod seiner Mutter hatten sie sich nichts mehr zu sagen gehabt. Ein letzter Ruck, dann war es vollbracht. Marc starrte auf die Ränder der Abrisskanten. Er legte die beiden Hälften des Vertrags vor seinem Vater auf den Tisch, strich sie fein säuberlich glatt und verließ mühsam beherrscht die Küche.

Draußen schwang er sich auf sein Fahrrad. Die unterdrückte Wut bahnte sich ihren Weg an die Oberfläche. Was fiel seinem Vater ein, so über sein Leben zu bestimmen? Kraftvoll trat er in die Pedale, ließ das Ortsschild hinter sich und bog in einen Feldweg ein. Kieselsteine spritzten zur Seite. Links und rechts von ihm zogen Felder vorbei, auf denen noch der herbstliche Nebel stand. Die kalte Morgenluft brannte in seinen Lungen. Einfach nur weitertreten. Seine Mutter hätte ihn verstanden. Seit sie nicht mehr da war, fühlte er sich zu Hause wie ein ungebetener Gast. Vater war es immer nur um Jan gegangen. Jan hier, Jan dort, Jan, der tolle Banker. Was interessierte ihn sein Bruder? Und was interessierte ihn, was sein Alter von ihm wollte? In wenigen Wochen wäre er achtzehn, dann konnte der ihm sowieso keine Vorschriften mehr machen.

Marc saß im Schneidersitz in seinem Zimmer und blätterte den letzten Zehn-Euro-Schein vor sich auf den Boden. Achthundertfünfzig Euro! Das reichte für die Fahrkarte in die Mainmetropole und die ersten beiden Monate. Vor seiner Abfahrt musste er sich noch bei Manfred bedanken, der ihm den Job an der Tankstelle beschafft hatte. Damit hatte er sich in den letzten Monaten genügend Kohle für den Neustart verdient. Sein Alter hatte ihn zu Hause eh nie vermisst. Falls sie sich abends doch mal über den Weg gelaufen waren, hatte sich sein Vater bestenfalls ein kurzes ‚Hallo‘ abgerungen, ihn ansonsten aber wie Luft behandelt. Ihm konnte es egal sein, seit gestern hatte er sein Abizeugnis, morgen konnte es endlich losgehen.

Hatte er an alles gedacht? Laptop, einige Bücher, Klamotten und Schlafsack. Das Wichtigste fehlte noch. Er ging zu seinem Bett, hob die Matratze ein Stück an und zog sie zu sich nach vorne. Dann öffnete er den Reißverschluss des Schonbezugs und fasste mit seinem linken Arm durch den offenen Schlitz. Vorsichtig tastete er nach vorne. Hier war es! Mit Daumen und Zeigefinger zog er das schmale, in eine Plastikfolie eingewickelte Büchlein heraus und drückte es an sich. Seine Mutter. Warum tat es immer noch so weh, obwohl es schon so lange her war? Sein Blick fiel auf das Foto auf seinem Schreibtisch. Seine lachende Mutter auf einer Wiese, mit rosa Blüten im Haar und Kirschen als Ohrringe. Ihre ansteckende Lebensfreude fehlte ihm. Was sie wohl zu dieser Aktion gesagt hätte? Er schluckte, dann verstaute er das Foto und die Plastiktüte in seinem Rucksack. Nachdem er den Wecker auf vier Uhr gestellt hatte, legte er sich schlafen.

Piep, piep, piep! Marc schreckte auf. Leise zog er sich an, nahm seinen Rucksack und schlich die Holztreppe hinunter. Er musste jetzt höllisch aufpassen, dass die Dielen nicht knarzten, sein Alter schlief gleich nebenan und hatte einen unruhigen Schlaf. Wenn der aufwachte, würde es ungemütlich werden. Noch zwei Treppen, geschafft! Er zog sich seine Turnschuhe an, sperrte die Haustür auf und ging nach draußen. Kurz verharrte er in der Bewegung. Nein, er würde nicht mehr zurückkommen, nie wieder! Er legte den Schlüssel deutlich sichtbar auf die Kommode. Nach einem letzten Blick zurück zog er die Haustür von außen hinter sich zu. Das war der Startschuss für sein neues Leben!

Um diese Uhrzeit fuhren nicht viele Leute im Zug mit. Das traf sich gut, dann konnte er das Gefühl besser genießen, seiner strahlenden Zukunft entgegenzufahren. Er hatte seine eigene Bleibe, neun Quadratmeter unter dem Dach, Küchen- und Badbenutzung inklusive. Endlich weg aus dem miefigen Kaff, künftig würde er nicht mehr als der Sohn von Bürgermeister Kröger durchs Leben gehen, sondern konnte er selbst sein. Er drehte den Kopf zur Seite und versuchte, ein wenig zu schlafen.

„Nächster Halt Frankfurt Hauptbahnhof“, ertönte die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher. Marc schreckte auf. Der Zug fuhr langsam durch den Bahnhof Hanau.

Im Treppenhaus roch es nach einer Mischung aus Kohl und Bohnerwachs, die Holzstufen waren ausgetreten, das ehemals rote Geländer hatte einen Farbanstrich bitter nötig. Vierter Stock, kein Aufzug. Marc atmete tief durch und drückte die Klingel. Nach zigmaligem Läuten wurde die Tür geöffnet.

„Ach, du?“

„Hi Rainer, erster Juli, hatten wir doch besprochen.“ Marc streckte ihm die Hand entgegen.

Der großgewachsene dunkelhaarige Student machte keine Anstalten, seine Hand zu ergreifen, sondern kratzte sich ausgiebig am Kopf. „Ah. Echt jetzt? Naja, wir kennen uns ja schon. Jedermann nennt mich Lenin, tritt ein. Ich zeig dir dein Reich. Übrigens, oberste Regel hier: Mein – dein – das nehmen wir nicht so ernst. Alles is für alle da.“

Er ging voran zu einer Zimmertür am anderen Ende des Gangs. ‚Eigentum ist Diebstahl‘ prangte in roten Lettern auf seiner Jeansjacke. War das von Marx?

„Hier wären wir, Matratze musste dir besorgen, die hat Achim sich gekrallt.“

Marc schluckte. Das Zimmer passte zu dem Empfang. Einzige Einrichtungsgegenstände waren ein kleiner, mit orangener Folie beklebter Hängeschrank und ein klobiges Regal, übersät mit Aufklebern der Simpsons. Das, was Rainer beim Videocall als ‚Schreibtisch‘ bezeichnet hatte, war ein eichefarbener Teewagen mit orangener Fliesen-Auflage und abgebrochenem Griff. Da würde er sich schnell etwas organisieren müssen. Hell war es auch nicht gerade, durch ein winziges Dachfenster drang schummeriges Licht herein, an der Wand hing eine kahle Glühbirne.

„Kannste happy sein, is eh das schönste Zimmer hier“, merkte Rainer an. „Ach ja, hab ich vergessen: Bring dir `n Verlängerungskabel mit, so zwei Meter, Steckdose is nich, kannste aber in der Küche anstöpseln.“

Er drehte sich um und öffnete die Tür des Zimmers direkt gegenüber. „Okay, jetzt die Gemeinschaftsräume. Bad mit Dusche und Klo.“

Braune Fliesen mit Blumenmuster! Von der Decke hing ein blassrosa Duschvorhang, der die Schimmelflecken hinter der Badewanne nur mäßig verdeckte. Marc rümpfte die Nase.

„Biste wohl was Feineres gewohnt“, meinte Rainer. „Kannste ruhig aktiv werden, müsste eh mal wieder so’n bisschen aufgehübscht werden.“ Er machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. „Ach ja, wart immer so `ne halbe Stunde, wenn einer geduscht hat, das Wasser is sonst eher fresh.“

„Oh, du bist der Neue?“ Ein dunkelhaariger Mittzwanziger in Boxershorts trat durch die Tür und durchquerte das Bad. „Moin, ich bin Karl. Ist gestern echt spät geworden.“ Er streckte sich, gähnte, steuerte Richtung Toilette und klappte den Deckel nach oben.

Die beiden hier waren ihm etwas zu ungezwungen. Wie würde das erst werden, wenn er länger hier wohnte?

Rainer hatte offensichtlich seinen Blick bemerkt. „Wir haben hier keine secrets, der Schlüssel is sowieso futsch.“

Die Küche war erstaunlich groß. Ein Resopaltisch, beladen mit Frühstücksresten, und vier bunt zusammengewürfelte Stühle standen mitten im Raum. An einem Hochschrank fehlte eine Tür, die andere hing schief in den Scharnieren. Wetten, dass hier einer Gras geraucht hatte? Marcs Sohlen quietschten, irgendein klebriger Belag hatte sich auf dem Linoleumboden abgesetzt.

„Darfste nich so genau hinschaun. Achim, dein Vorgänger, hat immer reinegemacht. Aber der is ja jetzt weg“, erklärte Rainer. „Bei uns funzt das so: Jeder organisiert was zu essen, und wer Hunger hat, isst, was da ist. Keiner bunkert hier seine Privatvorräte, klaro? Putzplan is hier.“ Er deutete auf einen fleckigen Zettel mit drei leeren Spalten.

Marc nickte beklommen. „Gibt’s Internet?“

„Der Typ unter uns hat `ne Flat, die nutzen wir. Dafür kommt er ab und zu bei uns auf `ne Bong vorbei.“

Da hatte er sich also nicht getäuscht. Das konnte ja lustig werden!

„Fernseher?“

Rainer winkte ab. „Wir sind hier eher auf Konversation. Weißte, philosophischer Austausch bildet.“

„Aha. Mein Fahrrad?“

„Du hasts echt nicht geschnallt. Nicht ‚dein‘, ‚unser‘ Fahrrad. Kannste also gleich im Flur parken. Hier auf der Straße kommt eh viel weg.“

Lenin war schon am Hinausgehen, da drehte er sich noch einmal um. „Wär super, wenn du noch was shoppen gehst. Einkaufszettel is da drüben.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Hochschrank. „Bring `ne Pulle Bier und Knabberzeug mit, dann feiern wir heut’ Abend deinen Einzug. Aber bloß keine Erdnüsse, ich hab da ne Allergie.“

Weg war er. Marc inspizierte den Inhalt des Kühlschranks und fand eine halbe Packung Toast und ein fast leeres Glas Marmelade. Der Mülleimer war schon länger nicht mehr geleert worden, im Unterschrank roch es nach etwas Vergammeltem. Marc schlich in sein Zimmer. Er brauchte jetzt Frischluft! Schwarze Schmutzkrümel rieselten vom Dachfenster und der Gestank von Abgasen schlug ihm entgegen. Rasch schloss er das Fenster wieder.

Bei der Suche nach einem Job wurde er schneller fündig als erwartet. In einer kleinen Karaoke-Bar zwei Straßen weiter konnte Marc sofort anfangen. Arbeitszeiten Freitag bis Sonntag von siebzehn bis dreiundzwanzig Uhr. Kellnern und Gläser spülen. Mit diesem Geld war zumindest die Miete gesichert. Zum Semesterbeginn in drei Monaten musste er dann sein Konto auffüllen.

Für den Rest des Tages standen lästige bürokratische Pflichten auf dem Programm. Die Ummeldung beim Einwohnermeldeamt, das Beschaffen unzähliger Unterlagen wie den Bafög-Antrag oder die beglaubigten Kopien für die Studieneinschreibung. Seine To-do-Liste war geistesgestört lang. Am späten Nachmittag sank er auf seine Isomatte, seine Füße brannten. Bis zu seiner Einstandsfeier in zwei Stunden würde er sich ein wenig ausruhen.

„Hey, du verpennst deine Fete!“

Marc schreckte hoch, er musste eingenickt sein. Lenin lehnte im Türrahmen, eine Bierflasche in der Hand. Verschlafen rappelte Marc sich auf und folgte seinem Mitbewohner in die Küche. Dort saßen bereits Karl, eine Frau Mitte zwanzig, die Lenin als Ruth vorstellte, und ein bärtiger Typ, der ihn mit stechendem Blick musterte. Sie waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft.

„Auch ein Bier?“ Karl prostete ihm zu und schob eine Flasche über den Tisch.

„…nicht allein die Schuld der Kapitalisten. Der Kapitalist steht im Wettbewerb mit den anderen seiner Klasse, und wenn er die Arbeiter weniger ausbeutet, geht er im Konkurrenzkampf unter“, echauffierte sich Ruth.

„Genau darum geht es doch“, entgegnete der Bärtige ungerührt. „Jede Form von Privateigentum führt letztlich zur Ausbeutung der Arbeiter. Eure Bude hier gehört dem Vermieter, und Lenin, Karl und“, er blickte fragend in seine Richtung, „wie heißt du überhaupt?“

„Marc.“

„Okay, Lenin, Karl und Marc. Was passiert wohl, wenn ihr keine Miete mehr zahlt?“

„Na, dann kriegen wir ’nen Tritt in den Arsch“, antwortete Lenin grinsend.

„Siehst du. Der muss nichts für euch tun, der hat einfach Kapital und ihr müsst für ihn arbeiten, also beutet er euch aus.“ Der Bärtige machte eine ausladende Geste.

Was redete der denn? Marc räusperte sich. „Also, so ganz richtig …“ Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. Sein Herz schlug schnell. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzusprechen. „Ich meine, der Vermieter hat die Wohnung hier doch auch gekauft und für das Geld gearbeitet.“

Stille. Eine unangenehme, quälende Stille. Hätte er nur den Mund gehalten.

Der Bartträger sah ihn durchdringend an. „Das heißt, wenn ich dich kaufe und du für mich arbeiten musst, ist das in Ordnung?“

„Nein, das geht natürlich nicht. Das wäre Sklaverei und somit verboten“, erwiderte Marc.

Sein Gegenüber grinste. „Bis zur Abschaffung der Sklaverei war es aber legal. Und ich sage dir: Privateigentum ist nichts anderes als Sklaverei, nur dass es eben noch erlaubt ist.“

Wieder wandten sich alle Blicke ihm zu. Er war wie gelähmt. Es fühlte sich an, wie all die Jahre zuvor beim Abendessen in Ismaning. Sein Vater und Jan diskutierten miteinander und nahmen das, was er sagte, nicht ernst. Er starrte auf die Tischplatte und murmelte leise „Also, ich … So hab ich das noch nie gesehen.“

Drei Monate später wuchtete Marc die schwere Tasche in den Kofferraum des Toyota. Sein letzter Koffer, sein letzter Tag als Gepäckträger am Frankfurter Flughafen. Sauer verdientes Geld, aber die Ausgaben bis Semesterende waren gerettet. Das Studentenleben konnte beginnen!

Noch vor acht Uhr stand er am nächsten Morgen vor dem Hörsaal, Vorkurs Mathematik. Er atmete tief durch. Neben einem sympathisch aussehenden Mitstudenten in der hinteren Reihe war noch ein Platz frei. Okay, das war schon anspruchsvoller als in der Schule. Obwohl er in Mathe immer ganz gut gewesen war, würde er einige Nachtschichten einlegen müssen, um mithalten zu können. Als er seinen Kommilitonen nach einem zusammenfassenden Lehrwerk fragte, schüttelte dieser ebenfalls nur ratlos den Kopf.

Im Anschluss fand die Orientierungsveranstaltung für die Erstsemester statt. Der Hörsaal füllte sich, bis rund dreihundert junge Studenten Platz genommen hatten. Aufgeregtes Stimmengewirr drang durch das Audimax. Erklärt wurde, was und wofür Credit-Points waren, welche Anforderungen in den angebotenen Lehrveranstaltungen vorausgesetzt wurden, wie man einen Stundenplan auf CampUAS erstellte, der Sinn von Tutorien, wie man Bücher in der Bib auslieh, was Modulhandbuch oder HISQiS waren. Wie sollte er da jemals durchblicken? Resigniert schlich er in Richtung Ausgang.

„Hier, deine Ersti-Tüte, guten Start.“ Mit diesen Worten drückte ihm ein älterer Student am Ausgang eine prall gefüllte Geschenktüte in die Hand.

Marc schluckte. Fast wie bei seiner Einschulung. Ein Getränkebecher, Süßkram, eine Dosensuppe, Kugelschreiber und Kondome. Und jetzt? Alle anderen standen in Grüppchen zusammen und schienen sich prächtig zu unterhalten.

„Hi, auch Ersti?“ Marc hatte nicht bemerkt, dass jemand neben ihn getreten war.

„Ja, und du Hellseher?“, konterte er.

„Habe eben scharf kombiniert.“ Sein Gegenüber grinste. „Die Erstitüte ist nicht zu übersehen. Ich bin Daniel. Du siehst aus, als könntest du einen Happen zu essen gebrauchen. Willst du mit in die Mensa?“

„Ja, gern.“

„Okay, warte kurz, ich sag schnell Andi Bescheid, der kommt auch mit.“

Beim Essen erzählten die beiden von ihrem Studienstart.

„Weißt du, dann stand ich um Punkt acht auf der Matte, kein Schwein da. Bis ich gecheckt hab, dass c.t. bedeutet, dass es um Viertel nach losgeht.“ Daniel wickelte Spaghetti auf seine Gabel. „Lauter so Kleinigkeiten. Aber mal im Ernst, der Studienbeginn war für mich trotz aller Hürden wie eine Erlösung. Endlich bin ich aus dem Kuhkaff raus, als Schwuler ist es da nicht so lustig. Mein Vater hatte volles Verständnis und hat mir eine Wohnung spendiert.“

Marc lachte. „Das glaube ich dir sofort! Ich bin auch aus einem Kuhkaff, mein Alter ist bei der Sparkasse, Bürgermeister und im Kirchenrat. Hey, ich bin so froh, hier in Frankfurt zu sein!“

Sein erstes Mensaessen, bezahlt mit selbst verdientem Geld und zwei neue Freunde. Was wollte er mehr? Alles Weitere, etwa das mit seinen Mitbewohnern oder das Nachholen für den Mathekurs, würde sich finden.

So verging das erste Semester wie im Flug und am Ende hatte sich Marc richtig eingelebt.

  2  

31. MAI 2010FRANKFURT AM MAIN

Noch fünf Minuten, dann würde er aufstehen. Seine Augenlider brannten, sein Kopf war bleischwer. Kein Wunder, nach drei Stunden Schlaf. Bis vier Uhr nachts hatte er für die Uni gebüffelt. Das hätte er gleich am Samstag machen sollen, aber da war er bei Daniels Geburtstagsfeier versumpft. Oder sollte er die Vorlesung sausen lassen? Nein, die erste VWL-Vorlesung durfte er nicht verpassen. Grünwald legte angeblich großen Wert darauf, dass die Studenten im neuen Kurs vollzählig erschienen. Marc rollte sich von seiner Matratze und schlurfte ins Bad.

Zwei Minuten vor Vorlesungsbeginn ließ er sich auf seinen Sitz fallen. Was war noch mal Thema der heutigen Veranstaltung? ‚Geld im Wandel‘! Das klang so spannend wie ein Kaffeekränzchen mit dem schwerhörigen Onkel Horst.

„Montag, acht Uhr morgens und alle Plätze belegt. Das lässt auf ein profundes Interesse an der Geschichte des Geldes schließen.“ Grünwald grinste breit. „Oder ist die Partyszene in Frankfurt mittlerweile ausgestorben?“

Seinen Prof hatte er sich ganz anders vorgestellt. Mit den zu einem Pferdeschwanz zusammengefassten grauen Haaren und den dunkelbraunen Biker-Boots wirkte er eher wie ein Streetworker.

„Eine leichte Frage, die sicherlich auch die unter Ihnen beantworten können, bei denen es gestern spät oder feuchtfröhlich geworden ist.“ Er hielt einen Fünfzigeuroschein in die Höhe. „Wer denkt, dass dieser Geldschein wertvoll ist? Ich bitte um ein Handzeichen.“

Sofort schossen unzählige Hände nach oben.

Scheiße Mann, dachte Marc, den hätte er gerne! Den würde er gleich in ein warmes Essen in der Mensa investieren. Heute war der Einunddreißigste. Das Geld hatte gerade noch für eine Tüte Semmeln gereicht, davon waren drei übrig. Damit musste er bis morgen über die Runden kommen. Es hatte sich noch immer keine neue Geldquelle aufgetan, seit die Karaoke-Bar letzten Monat dichtgemacht hatte.

„Nun die Gegenprobe. Wer ist vom Gegenteil überzeugt?“ Niemand meldete sich.

„Sehr gut, dann können Sie mir sicher alle erklären, warum dieser Geldschein einen Wert hat. Wer möchte beginnen?“

Ein braungebrannter Student mit zurückgegelten Haaren antwortete anzüglich grinsend: „Wenn ich mit diesem Fuffi in die Kaiserstraße gehe, bekomme ich dafür schon einiges an Gegenleistung, das für mich einen Wert hat.“ Er erntete spärliche Lacher. Der war doch auch in seinem Stochastik-Kurs. Wie hieß der Typ nochmal? Schleimiger Idiot!

„Schön, dass Sie uns Einblicke in Ihr Liebesleben gewähren. Das führt uns gleich zur nächsten Frage. Was denken Sie, aus welchem Grund Ihre Geschäftspartnerin in der Kaiserstraße Ihrem Fuffi einen Wert beimisst?“

Die hellgrünen Blätter der Linde im Hof bewegten sich sanft im Wind. Er brauchte dringend einen Job. Morgen bekam er BAföG, dann konnte er die Miete bezahlen. Wenn er nur jeden zweiten Tag in die Mensa ging, reichte das Geld bis zum Achtzehnten. Daniel war seit ein paar Wochen als Werkstudent bei einer IT-Firma. Aber die hatten ihn nur wegen seiner Kryptografie-Skills genommen. Ihn konnten die sicher nicht gebrauchen.

„Für die Ureinwohner in Borneo ist das natürlich nur wertloses, bedrucktes Papier.“ Jetzt musste er aber aufpassen. Was faselte der Gelkopf da von Eingeborenen?

Professor Grünwald griff die Antwort auf. „In der Tat ist dies eine wichtige Erkenntnis, die Sie bei sämtlichen weiteren Überlegungen mitbedenken sollten. Das, was wir als Geld nutzen, hat nur deshalb einen Wert, weil wir alle dem Geld einen Wert zuschreiben und darauf vertrauen, dass dieser beständig ist. Vertrauen in die Werthaltigkeit des Geldes spielte von Anbeginn an eine wesentliche Rolle.“

Reiß dich zusammen, sonst schaffst du die Prüfung am Ende nie, ermahnte sich Marc. Er schrieb die Daten von der Overhead-Folie ab, ‚US-Dollar – der Weg zur Weltwährung‘, und einen Zeitstrahl. ‚1792 Coinage Act Gold, Silber und Kupfermünzen, 1861 Papiergeld (Greenback) zur Finanzierung der Sezessionskriege, 1875 Wiedereinführung des Edelmetallstandards, 1900 Currency Act Goldstandard …‘

Mist, jetzt hatte er nicht mehr gesehen, wie das Tauschverhältnis von Gold zu Dollar war. Er schielte zu seinem Sitznachbarn, der offensichtlich schneller beim Schreiben war. Eine Unze, also 31,1 Gramm, entsprachen 20,67 Dollar.

Grünwald hatte inzwischen den Projektor abgeschaltet. „Noch vor weniger als einhundert Jahren wurden alle Preise in Gold denominiert. Das Papiergeld war nur dazu da, den Handel zu vereinfachen. Für jeden Geldschein, egal, ob Dollar, Pfund, Franc oder Mark, hatten die Zentralbanken eine entsprechende Menge an Gold eingelagert. Diese festgeschriebene Menge Gold konnte gegen Geldscheine zurückgetauscht werden. Das Ganze nannte man den Goldstandard.“

Langweiliges Auswendiglernen irgendwelcher Zahlen. Seine Mitstudenten hatten ihn bereits vorgewarnt, dass VWL-Vorlesungen nur mit reichlich Kaffee zu ertragen wären.

„So, meine Herrschaften, jetzt wird es spannend. Die Weltwirtschaftskrise brachte die amerikanischen Banken in Schwierigkeiten. 1933 gingen in Michigan zwei systemrelevante Geldinstitute bankrott. Bankenretten war damals noch nicht so an der Tagesordnung wie heute.“ Der Professor erntete einige Lacher. „Anders als beim Platzen der Immobilienblase vor zwei Jahren ließ man dem freien Markt seinen Lauf. In Europa bekam man kalte Füße. Allen voran die Briten und die Holländer. Sie tauschten also ihre Dollarnoten zurück gegen Gold und die Goldvorräte der amerikanischen Zentralbank schrumpften. Daraufhin zog Präsident Roosevelt die Notbremse. Er verbot, Gold ins Ausland auszuführen, und ließ alle Banken vier Tage zusperren. Dann legte er fest, dass die Notenbank nicht nur gegen Gold, sondern auch für Bankguthaben neue Dollars drucken durfte. Mit dieser Maßnahme löste Roosevelt zwar die Vertrauenskrise der Banken, es gab aber schlagartig mehr Dollars als Gold. Als am 13. März 1933 die ersten Banken wieder aufsperren durften, was denken Sie, passierte dann?“

Niemand rührte sich. „Mitarbeit ist im Gegensatz zu manch anderem Kollegen in meiner Vorlesung durchaus erwünscht“, durchbrach der Professor die Stille.

Ein Student in der ersten Reihe hob die Hand. „Ein Bankrun, die Leute haben ihr Geld abgehoben.“

Grünwald grinste süffisant. „Naheliegend, aber nachdem zwei große Banken pleite gegangen waren, hatten viele Amerikaner die Sparkonten bereits geplündert und ihr Vermögen unter dem Kopfkissen deponiert. Der Präsident versprach also, die Banken verfügten über genügend Liquidität und es wäre viel sicherer, das Geld unter der Matratze hervorzuholen und wieder auf ein Konto einzuzahlen. Diese Empfehlung haben die Amerikaner dann auch befolgt.“

Wenn es plötzlich mehr Geld als Gold gab, musste man mehr Ocken für die gleiche Menge Edelmetall abdrücken, überlegte Marc. Aber war das nicht zu einfach?

„Gold wurde teurer“, meldete er sich zu Wort.

Grünwald sah zu ihm hoch. „Interessant! Wie heißen Sie?“

Es war absolut still, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Zu allem Überfluss wandten auch noch einige Studenten aus den vorderen Reihen ihre Köpfe zu ihm um.

„Kröger … Marc Kröger.“

„Herr Kröger. Wie begründen Sie Ihre Theorie?“

Oh Mann, hätte er nur den Mund gehalten. „Na ja“, begann er zögerlich, „ich dachte mir, wenn es mehr Geldscheine gibt und gleichviel Gold, dann … muss man mehr Scheine für die gleiche Menge Gold hergeben.“

Professor Grünwald lächelte. „Sie brauchen Ihre Theorie gar nicht so zaghaft vorstellen, genau das ist geschehen. Die Amerikaner erkannten das ebenfalls und innerhalb weniger Tage stieg der Goldpreis rasant an. Versetzen Sie sich einmal in die damalige Zeit. Papiergeld und Gold hatten sechzig Jahre lang einen festen Wechselkurs und auf einmal bekam man immer weniger Gold für die gleiche Menge Dollar. Die Amerikaner waren verunsichert und fingen an, das Gold dem Dollar vorzuziehen. In vielen Verträgen gab es seinerzeit eine Goldklausel, durch die der Zahlungsempfänger auf eine Zahlung in Gold bestehen konnte. Der Goldkurs stieg und stieg.“ Grünwald nickte ihm zu.

Vielleicht war Volkswirtschaft doch gar nicht so öde! Der Professor projizierte ein altes Schriftstück an die Wand, eine Verfügung des Präsidenten vom 5. April 1933. Krass, da wurde der private Goldbesitz verboten! Die amerikanischen Bürger mussten alles Gold innerhalb von drei Wochen zu einem festen Kurs von 20,67 Dollar pro Feinunze abgeben. Wer dennoch damit erwischt wurde, zahlte bis zu zehntausend Dollar Strafe oder wanderte in den Knast!

„Böse Zungen würden behaupten, der amerikanische Staat wollte hiermit verhindern, dass die Bürger sahen, wie die bedruckten Papierscheine immer weniger wert wurden. Der Staat nutzte die Möglichkeit, neue Dollars zu drucken, ohne dafür Gold hinterlegen zu müssen, und tilgte damit die Staatsschulden. Konsequenterweise wurde ab 1956 der Aufdruck, der Schein könne gegen Gold getauscht werden, durch ‚in god we trust‘ ersetzt. Bei diesem Geldkonstrukt war Gottvertrauen tatsächlich angebracht.“ Vereinzeltes Gekicher war zu hören.

„Kann mir jemand den aktuellen Kurs für eine Unze Gold sagen?“ Niemand rührte sich. Grünwald schritt an der vordersten Sitzreihe entlang und blickte die Studenten fragend an. Dann blieb er stehen und fixierte eine Studentin in der ersten Reihe. „Schätzen Sie einfach mal.“

„Fünfzig Dollar“, riet die Schwarzhaarige.

Grünwald hob eine Hand. „Fünfzig Dollar, mehr als doppelt so viel wie zur Zeit des Goldstandards. Bietet jemand mehr?“ Einige Hände schnellten nach oben. „Mehr als hundert Dollar?“ Sämtliche Hände gingen nach unten. Vor Kurzem hatte Marc irgendetwas von über tausend Dollar gelesen, aber die anderen waren sicher besser informiert. Schnell ließ er ebenfalls die Hand sinken.

„1.237 US-Dollar.“

Wie bitte? Die Leute waren gezwungen worden, ihr Gold für lumpige zwanzig Dollar abzudrücken, und jetzt wäre das zwölfhundert Dollar wert. Dass der Staat die Bürger so verarschen konnte!

„Das überraschende Ende des Goldstandards kam am 15. August 1971. Dieses Datum ging als sogenannter ‚Nixon-Schock‘ in die Geschichtsbücher ein. Die Details dazu erarbeiten Sie sich bitte aus den in meiner Literaturliste genannten Büchern. Und ja, um die Frage vorwegzunehmen, auch dieser Stoff ist prüfungsrelevant.“

Da war wieder eine Nachtschicht zum Büffeln fällig. Aber egal, das Thema stellte jeden Polit-Thriller in den Schatten.

„Warum erzähle ich Ihnen das alles? Seit einigen Jahren ist es unter Ökonomen modern geworden, diese Fakten zu ignorieren. Falls einige von Ihnen mit dem Gedanken spielen, eine solche Laufbahn einzuschlagen, haben Sie wenigstens in meinem Kurs die Thesen von Menger, Mises und Friedman gehört, um nur einige der Wichtigsten zu nennen. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass einer meiner Studenten diese Ideen in die Europäische Zentralbank trägt, damit meine Pension in neunzehn Jahren noch etwas wert ist.“

Der Professor legte eine neue Folie auf und Marc notierte sich die vier aufgelisteten Titel. „Legen Sie bei Ludwig von Mises besonderen Wert auf das Regressionstheorem und vergleichen Sie dazu die Positionen von Keynes. Friedman können Sie sich als kurzweilige Abendlektüre zu Gemüte führen. Ach Moment, da habe ich doch tatsächlich das beste Werk zur Geldtheorie vergessen.“ Grünwald kramte ein Buch aus seiner Aktentasche heraus und hielt es hoch. „Mir fällt gerade der Autor von Solide Geldkonstrukte nicht ein, aber ein wirklich sehr, sehr gutes Buch.“

Marc grinste und ergänzte auf seiner Liste Solide Geldkonstrukte von Professor Grünwald.

„Und nun, wie jeden Montag, die ökonomische Kuriosität zum Wochenstart. Vergangenen Samstag, am 22. Mai, postete ein kalifornischer Programmierer in einem Kryptografie-Forum die Nachricht, er bezahle zehntausend Bitcoin für zwei Pizzen. Sie werden es kaum glauben, aber es ließ sich tatsächlich jemand darauf ein, lieferte die beiden Pizzen im Wert von knapp vierzig Dollar und ist jetzt stolzer Besitzer von zehntausend Bitcoin. Ich versichere Ihnen, in zehn Jahren wird man über einen von beiden lachen. Mal sehen, über wen.“

Mit diesen Worten beendete er die Vorlesung. Ein paar Dutzend Klappsitze schnellten gleichzeitig in die Höhe und knallten mit einem dumpfen ‚Plopp‘ gegen die Rückenlehne. Alle strömten Richtung Tür.

Die Statistik-Vorlesung begann erst in knapp zwei Stunden, genügend Zeit, um die Bücher von Grünwalds Literaturliste auszuleihen. In der Bibliothek war wenig los. Marc setzte sich an einen der Computer, um die Webseite des Professors aufzurufen. Wie erwartet empfahl Grünwald neben den vier Büchern noch etliche andere Werke. Der Bücherstapel passte gerade so in seinen Rucksack. Das Werk von Carl Menger würde er sich anderswo beschaffen müssen.

Wenn er schon am Schwarzen Brett vorbeikam, konnte er gleich die Jobangebote checken. Am Frankfurter Flughafen wurden wieder Gepäckträger gesucht. Nein danke. Aber was war das hier? Eine Telefongesellschaft suchte einen Verkäufer. Aufwandsentschädigung plus Erfolgsprämie, freie Zeiteinteilung, ab sofort. Das klang gut. ‚Bei Herrn Linus melden‘ und eine Telefonnummer. Marc riss einen Abschnitt mit den Kontaktdaten ab und steuerte den Ausgang an.

Beim Hinaustreten schlug ihm die Hitze entgegen. Er brauchte jetzt dringend etwas zwischen die Kiemen. Ein schattiger Platz am Mainufer war verlockender, als die trockenen Semmeln in der düsteren WG-Küche zu verspeisen, zumal sich der WG-Kühlschrank seit heute Morgen sicher nicht auf wundersame Weise gefüllt hatte.

Marc radelte zu einer der Brücken. Dort war ganz schön viel los, das herrliche Wetter hatte etliche Frankfurter an den Main gelockt. Er suchte sich ein freies Fleckchen und setzte sich ins Gras. Die Bankentürme der Frankfurter City waren zum Greifen nah. Eines der großen Ausflugsschiffe fuhr träge flussabwärts, die Bugwelle klatschte gegen die Kaimauer. Er schüttelte die Brösel von seinem T-Shirt und holte den Bücherstapel aus dem Rucksack. Er wollte mit Friedmans Geld regiert die Welt starten und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Kapitel 1, die Insel des Steingelds, Kapitel 2, Geld – ein Rätsel … Das Verbrechen von 1873. Das klang richtig spannend.

Als ein kühler Luftzug ihn frösteln ließ, dämmerte es bereits. Neun Uhr! Er hatte gar nicht bemerkt, dass es schon so spät war. Marc klappte das Buch zu und schwang sich auf sein Rad.

Endlich wieder eine warme Mahlzeit! Die Spaghetti rochen verlockend. Marc stand mit seinem Tablett in der Mensa und sah sich nach einem freien Platz um.

„Hey Marc, du kannst dich bei uns dazusetzen!“

Daniels Stimme von hinten aus der Ecke. Er quetschte sich neben ihm auf die Bank.

„Wo warst du denn gestern?“ Sein Freund gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Letzter Montag im Monat ist Pizzatag, da hast du echt was verpasst.“

„Ich … ich musste noch Bücher besorgen und hab es dann nicht mehr rechtzeitig geschafft.“ Er wickelte Spaghetti auf seine Gabel. Warum hatte er nicht einfach die Wahrheit gesagt? Er schämte sich zuzugeben, dass er ständig pleite war.

Daniel hatte sich wieder den anderen zugewandt. „Ach ja, die nutzen da tatsächlich noch Triple-DES als Verschlüsselung für die Geheimzahlen am Geldautomaten, und zwar offline am Endgerät, stellt euch mal vor!“

Er hatte Daniel anscheinend bei einer Geschichte aus dessen Werkstudententätigkeit unterbrochen. Die anderen lachten. Blöd, dass er bei den Witzen aus der Welt der Computer-Nerds nie mitlachen konnte.

„Post das mal im Kryptoforum, das glaubt dir keiner. Total lost!“ Andi schlug sich auf die Schenkel.

Irgendwas von gestern hatte er noch erzählen wollen. Pizzatag, richtig, das war es. „Apropos Kryptoforum: Ein Programmierer hat sich für zehntausend Bitcoin zwei Pizzen bestellt.“

„Echt jetzt?“ Godzilla, der eigentlich Leon hieß und einen Kopf kleiner als Marc war, blickte ihn über seine dickrandige Brille an und lachte trocken. „Haha, da wartet der noch heute drauf.“

„Nein, Grünwald sagte, ein Restaurant hat zwei Pizzen geliefert.“

„Habt ihr da was mitbekommen?“ Godzilla schaute fragend in die Runde und wies mit dem Kinn auf Daniel. „Du hast doch mal was zu Cybergeld geschrieben.“

„Meine Hausarbeit ging über B-Geld, das hat sich ein Microsoft-Entwickler patentieren lassen. Aber ich habe nie davon gehört, dass irgendein Cybergeld umgesetzt wurde. Ich dachte, Bitcoin ist auch nur ein theoretisches Konzept. Hab mich aber schon länger nicht mehr damit beschäftigt. So.“ Daniel klopfte zweimal mit der flachen Hand auf den Tisch. „Jungs, ich muss los. Wir sehen uns morgen.“

Schade, dass keiner etwas wusste. Marc sollte jetzt auch langsam los, auf seinem Schreibtisch wartete Mises. Die Schriften dieses Wirtschaftswissenschaftlers waren etwas älter als die Friedmans, mal sehen, was der Interessantes von sich gegeben hatte.

Er trat hinaus in die Sonne und fischte den Schlüssel seines Fahrradschlosses aus der Tasche. Da machte sich eine Frau an seinem Fahrrad zu schaffen! „Hey“, legte er los. Aber nein, sie hatte sich nur zu ihrem Rad hinuntergebeugt, das direkt neben seinem abgestellt war. Jetzt fuhr sie hoch, scheinbar hatte sie ihn nicht kommen hören, und drehte ihr Gesicht in seine Richtung. Marc registrierte ihre feinen Gesichtszüge, die von blonden Haaren eingerahmt wurden. Jetzt bloß nicht zu sehr starren, ermahnte er sich.

„Hi, nichts zu machen.“ Sie zuckte resigniert die Achseln und deutete auf den Vorderreifen, der platt und breit auf die Pflastersteine gedrückt wurde. „Da wird sich die Werkstatt freuen.“ Sie verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Ich war erst letzte Woche da. Die verdienen sich mit mir eine goldene Nase.“

„Na, so ein Glück, dass ich Räder reparieren kann. Wenn ich wegen jedem Plattfuß Geld abdrücken müsste, wäre ich schon längst pleite.“ Die sah einfach umwerfend aus. „Schieb dein Rad raus, damit ich einen Blick drauf werfen kann.“ Er untersuchte den Reifen. Ein kleiner Nagel hatte sich durch das Gummi des Mantels gebohrt. „Schau mal, da haben wir den Übeltäter. Soll ich dir den Reifen schnell richten?“

Sie strahlte. „Das wäre super!“

„Klar, wir müssen nur rüber zum Brunnen am Vorplatz, damit ich das Loch finde.“

„Hey, danke! Ich bin übrigens Sophie.“

Marc schnappte sich sein Fahrradwerkzeug und die Luftpumpe und schob Sophies Rad zum Brunnen vor der Universität. Da hatte ihm sein Vater endlich mal etwas beigebracht, was er tatsächlich brauchen konnte! „Hier haben wir die Ursache!“ Triumphierend zeigte Marc auf die Blasen, die von dem aufgepumpten Schlauch im Wasser nach oben stiegen. „Jetzt kommt noch ein Flicken drauf, dann bau ich dir den Reifen wieder ein.“

„Danke. Wie kann ich mich bei dir revanchieren?“

Er versuchte, seine Stimme neutral klingen zu lassen. „Gegen einen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden.“

„Gerne. Jetzt habe ich keine Zeit, aber wir können Nummern austauschen.“

Nichts lieber als das. Marc drückte den Zettel mit ihrer Nummer fest an sich.

Sophie hatte sich nach der Verabschiedung rasch entfernt. Er blickte ihr nach und sah einen großen, athletischen Typ in weißem Polohemd auf sie zugehen. Leider konnte er nicht verstehen, was der zu ihr sagte, er war zu weit entfernt, aber er schlang einen Arm um Sophies Taille und küsste sie auf den Mund. Das war’s dann. Shit! Er zerknüllte den Zettel in seiner Hand und ließ ihn achtlos auf den Gehsteig fallen.

Ganz sicher hatte er seine Zimmertür heute Morgen hinter sich zugezogen! Hatte Lenin wieder etwas ausgeborgt oder rumgeschnüffelt? Marc sah sich um. Die Fotografie seiner Mutter lag umgefallen auf dem Schreibtisch. Sein Magen krampfte sich zusammen und er blickte hektisch um sich. Wo war das Buch? Er stürzte in die Küche. Lenin und Karl saßen am Tisch und hoben die Köpfe.

„Wo ist das Buch?“, schrie Marc Lenin an.

„Biste übergeschnappt? Jetz chill erst mal.“ Lenin sah ihn gelassen an.

Der hatte Nerven! „Das Tagebuch meiner Mutter, es lag auf meinem Schreibtisch. Jetzt ist es weg. Rück das sofort raus!“

„Hab mir nur die Schere geholt. Is vielleicht runtergefallen. Musste eben genauer schauen.“

„Bleib gefälligst aus meinem Zimmer raus!“ Marc stürmte aus der Küche. Die Tür donnerte hinter ihm ins Schloss. In seinem Zimmer beugte er sich über den Tisch. Tatsächlich, zwischen Wand und Schreibtisch klemmte das Tagebuch. Erleichtert zog er den Tisch ein kleines Stück von der Wand weg. Ein Knall, und das Buch lag aufgeschlagen auf dem Boden. Zwei eng beschriebene Seiten. Die gleichmäßige runde Schrift seiner Mutter, ‚14. Oktober 89 …‘

Seit er das Tagebuch aus der Mülltonne gefischt und vor seinem Vater versteckt hatte, war kein Tag vergangen, an dem er nicht kurz davor gewesen war, es zu lesen. Und doch hatte er der Versuchung jedes Mal widerstanden! Er würde den Text auch jetzt nicht lesen, er war kein Schnüffler. Schnell klappte er das Büchlein zu und hob es auf. Mitten in der Bewegung erstarrte er. Auf dem Boden, direkt vor seinen Füßen, lag ein Foto. Es musste aus dem Tagebuch gefallen sein. Ein Stück Klebestreifen haftete noch an der rechten oberen Ecke. Seine Mutter. Er nahm das Bild in die Hände. Jünger als er sie in Erinnerung hatte, schmiegte sie sich zärtlich an einen elegant gekleideten Mann. Groß, mit markantem Gesicht und Dreitagebart. Beide schienen sehr glücklich zu sein. Das war nicht sein Alter. Im Hintergrund ein See, Berge und Boote. Er drehte das Foto um. Eine alte Farbfotografie, noch in einem Fotolabor entwickelt und mit einem Datumsstempel versehen: 13.06.1990.

Das finstere Gesicht seines Vaters, wenn er ihn anblickte. All die Jahre über hatte er sich keinen Reim darauf machen können. Jetzt traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht. Marc wurde schwarz vor Augen.

Marc legte den Schraubenzieher beiseite und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Endlich war Schluss mit Ausborgen. Das hätte er schon längst tun sollen. Er trat einen Schritt zurück. Das neue Schloss wirkte für seine einfache Zimmertür überdimensioniert. Lenin würde Augen machen und rumstänkern, aber seine Tage in der WG waren eh gezählt. Wenn es in seinem neuen Job weiterhin so gut lief, war er seine Geldsorgen bald los und konnte sich um eine andere Bude kümmern. Siebenundvierzig Euro für nicht mal zwei Stunden, das war absoluter Rekord! Okay, es war nicht sein Traumjob, sich in einem Plüschkostüm vor Kindern zum Vollhonk zu machen, aber seine Strategie ging auf. Die Kids von heute liebten die Figur des rosaroten Panthers offensichtlich genauso wie er früher und zogen ihre Eltern in seine Richtung. Für ein paar Minuten Ruhe vor ihren Sprösslingen waren Mütter und Väter bereit, die Umfragebögen auszufüllen, mit denen die Telefongesellschaft sämtliche persönlichen Daten abgriff. Mit dem nächsten Geld würde er eine Hängevorrichtung für sein Fahrrad kaufen. Dann bräuchte er nicht immer die Matratze hochklappen, damit das Bike in seinem Zimmer Platz fand.

‚Pling‘. Eine Nachricht von Daniel. Hi Marc, hast du heute Abend Zeit? Godzilla und ich brüten über einem Problem und nur du kannst uns weiterhelfen. Ich koche für uns.

Was sie wohl von ihm wollten? Schnell noch unter die Dusche und dann los!

„Du willst wirklich nichts mehr, Marc?“ Daniel warf ihm einen fragenden Blick zu und balancierte ein weiteres Stück Lasagne auf Godzillas Teller.

„Danke, nein. Ich platze gleich.“

Daniel schwenkte sein Rotweinglas. „Eigentlich hätte ich heute Pizza kredenzen müssen.“

„Spann mich nicht so auf die Folter!“

Sein Freund grinste ihn an. „Die Bitcoin-Story deines Profs hat mir keine Ruhe gelassen. Ich habe das Ganze verifiziert: Laszlo Hanyecz hat am Samstag vor einer Woche diesen Post abgesetzt und tatsächlich zwei Riesenpizzen geliefert bekommen.“

„Hätte mich auch gewundert, wenn Grünwald Quatsch erzählt hätte.“

„So, jetzt pass mal auf.“ Daniel beugte sich vor und blickte ihn verschwörerisch an. „Bitcoin wurde schon vor eineinhalb Jahren geschaffen. Und zwar von Satoshi Nakamoto, ein Pseudonym. Der kommuniziert nur über Mailinglisten innerhalb der Cypherpunk-Bewegung, und alles, was wir“, Daniel reckte das Kinn in Richtung Godzilla, „rausgefunden haben, ist, dass das, was Nakamoto realisiert hat, technisch absolut genial ist.“

Godzilla hatte jetzt ebenfalls fertiggegessen. Er tupfte sich mit seiner Serviette über den Mund und nickte. „Noch nie gab es eine trustless Blockchain-Technologie. Bitcoin löst mit seinem Konsensus-Mechanismus das Double-Spending Problem!“

Nicht ein Wort verstand Marc von dem, was der Computer-Nerd da von sich gegeben hatte, aber das war nichts Neues. Fragend blickte er zu Daniel.

„Was Godzilla meint, ist Folgendes“, beeilte der sich zu erklären. „Man kann eine digitale Münze nicht zweimal ausgeben. Außerdem kommt Bitcoin ohne zentrale Stelle wie eine Bank aus. Das Bitcoin-Netzwerk sorgt selbst dafür, dass niemand betrogen wird. Vielleicht ist es so am einfachsten zu verstehen: Das, was das Internet für Informationen ist, könnte Bitcoin für Geld sein.“

Das hätte Godzilla ja auch gleich so erklären können. „Okay, Bitcoin ist also eine neue Technologie und ihr denkt, dass sich das irgendwann zu einer Art elektronischem Geld entwickeln könnte. Zumindest mit den beiden Pizzen hat das ja schon geklappt. Und was habe ich damit zu tun?“

„Pass auf. Die Cypherpunks setzen sich schon seit über zwanzig Jahren für den freien Zugang zu öffentlichen Informationen, mehr Privatsphäre und Datenschutz ein. Die haben sich schon Gedanken um Big Data gemacht, da gab es Facebook, Google und Co. noch gar nicht. Wenn solche Leute ein elektronisches Zahlungssystem entwickeln, haben sie sich was Gravierendes dabei gedacht.“

„Okay. Da wirst du recht haben.“

Daniel grinste breit. „Wir brauchen deine Hilfe, um ein Rätsel zu lösen. Nakamoto liebt es, sich geheimnisvoll auszudrücken. Godzilla hat im Genesis-Block, dem ersten Block der Blockchain, etwas gefunden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Nakamoto diesen selbst erstellt und darin eine Botschaft hinterlassen.“

Godzilla schob ihm einen Ausdruck zu. Eine Schlagzeile aus der Times. The Times 03/Jan/2009 Chancellor on brink of second bailout for banks.

Daniel schaute ihn erwartungsvoll an. „Der Schatzkanzler schnürt ein zweites Paket zur Bankenrettung. Warum hat der sich die Mühe gemacht, das in die Blockchain zu schreiben?“

Marc zuckte die Achseln. Woher sollte er das wissen? Klar, vor zwei Jahren war in Amerika die Spekulationsblase am Immobilienmarkt geplatzt. Die Schrottkredite hatten die Bankenlandschaft erschüttert und die Notenbank musste mit frisch gedrucktem Geld aushelfen. Aber was sollte das mit Bitcoin zu tun haben?

„Kein Plan. Wo kommen denn die neuen Bitcoin her? Wo hat zum Beispiel der Programmierer, der die Pizza gekauft hat, die zehntausend Bitcoin her?“

„Vom Mining-Prozess“, erklärte Godzilla. „Du musst mit deinem Computer eine Rechenaufgabe lösen und der Erste, der sie richtig löst, bekommt fünfzig neue Bitcoin.“

„Das heißt, man kann beliebig viele Bitcoin selber erzeugen? Ich brauche nur den Computer laufen lassen?“

Daniel schüttelte den Kopf. „Nein, es gibt nur am Anfang fünfzig Bitcoin, das halbiert sich über die Zeit immer wieder. Im Endeffekt ist das System so programmiert, dass es maximal einundzwanzig Millionen Bitcoin geben kann.“

Eine feste Obergrenze. Das würde verhindern, dass Bitcoin unbegrenzt vermehrt werden konnte. „Es ist vielleicht ein Fingerzeig Nakamotos auf die Schwachstelle des herkömmlichen Geldes: Bitcoin kann man nicht einfach vervielfachen wie unser Geld, um damit Banken zu retten.“

Godzilla warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Nee du, die Euro für die Bankenrettungen muss man sich doch irgendwoher leihen. Das kann es nicht sein.“

„Irrtum, dachte ich vor Kurzem auch noch! Unser Geld ist sogenanntes Fiatgeld. Das wird aus dem Nichts erzeugt. Wenn Banken gerettet werden müssen, wird das dafür benötigte Geld einfach neu gedruckt.“

„Aber“, warf Godzilla ein, „da gibt es doch diesen Gold… Wie hieß das noch? Goldstandard, genau. Was ist damit?“

„Abgeschafft seit 1971.“

Daniel und Godzilla sahen ihn ungläubig an. Endlich konnte er mal glänzen vor den beiden Nerds. „Also, da muss ich ziemlich weit ausholen. Einen Monat nach dem Zweiten Weltkrieg trafen sich die westlichen Verbündeten in Bretton-Woods und verhandelten darüber, wie ein künftiges Weltwährungssystem funktionieren sollte. Nach dem Ort hat man dann auch das System benannt. Die Franzosen, Engländer und die übrigen Europäer vereinbarten, die Goldbestände in den USA zu verwahren. Die Amerikaner sollten den US-Dollar mit Gold hinterlegen. Und zwar fix eine Unze Gold für 35 Dollar. Das war der Goldstandard. Alle anderen europäischen Währungen wie Franc, Pfund und acht Jahre später auch die Deutsche Mark bekamen ein festes Tauschverhältnis zum Dollar. Ihr habt sicher schon mal von Fort Knox gehört, oder?“

Godzilla nickte. „Das ist doch der extra sichere Bunker in Amiland.“

„Ja, und genau da lagerten die Amerikaner um die achtzehntausend Tonnen Gold und sicherten zu, jederzeit für fünfunddreißig Dollar eine Feinunze Gold einzutauschen. Also behielten die Länder einfach die Dollars aus Papier und verzichteten darauf, das Gold immer über den Atlantik zu schippern.“

„Macht ja auch Sinn“, meinte Daniel trocken und beugte sich vor. „Was ist dann passiert?“

„Die Amerikaner haben sich nicht dran gehalten. Sie brauchten Geld für den Vietnamkrieg. Viel mehr Geld, als sie Gold zum Hinterlegen hatten. Also druckten sie einfach Dollar, ohne Gold zu hinterlegen. Die Europäer bekamen das raus und wollten die Dollars gegen ihr Gold in den Kellern der Amerikanischen Zentralbank zurücktauschen. Anfangs luden die Amerikaner noch Goldbarren in die Schiffe, aber 1971 war abzusehen, dass die Goldvorräte bald ganz abgezogen wären, wenn es so weiterging. Und dann gab Präsident Nixon bekannt: Leider, leider, können wir ab jetzt keine Dollars mehr gegen Gold zurücktauschen.“ Marc wandte sich an Daniel. „Hol doch mal dein Notebook und gib in YouTube ‚Nixon-Schock‘ ein.“

Daniel stellte seinen Rechner auf den Tisch und startete das Video.

Godzilla deutete auf den Bildschirm. „Willst du jetzt ’nen Western mit uns schauen? Was machen die Cowboys da?“

„Nixons Rede wurde nach Bonanza gesendet. Das war eine beliebte Westernserie und da hingen die meisten Amis vor der Glotze ab.“

Nixon flimmerte über den Bildschirm, Daniel und Godzilla schienen sich genauso zu wundern wie er, als er das Video vor einigen Tagen zum ersten Mal gesehen hatte.

Daniel schüttelte ungläubig den Kopf. „Die haben das nach dem Western im Fernsehen gebracht, ohne die diplomatischen Kanäle zu informieren. Krass! Das konnten die europäischen Länder doch nicht einfach so akzeptieren?“

„Aber genau das haben sie. Die Amerikaner haben zehnmal mehr Dollar gedruckt, als es Gold auf der ganzen Welt gab, doch die Regierungen von Deutschland, Frankreich und England sagten nur: ‚Oh schade, da kann man jetzt halt auch nichts machen. Behaltet eben das Gold und gebt uns einfach noch ein paar von den bunten Dollarscheinen, dann ist das auch okay.‘“

Godzilla starrte gedankenverloren vor sich auf den Tisch. „Spooky! Klingt nach Verschwörungstheorie! Die Europäer haben sich von den USA total abziehen lassen, einfach so. Und keiner erinnert sich da heute noch dran?“

„Ich bin noch lange nicht fertig“, fuhr Marc fort. „Nach Ende des Goldstandards wurde unser heutiges Fiatgeld eingeführt. Das wird einfach aus dem Nichts erzeugt, wenn eine Bank einen neuen Kredit vergibt. Mein Alter arbeitet in einer Sparkasse, und sogar der hat immer gelabert von wegen sie müssten sorgfältig abwägen, wer Kredite bekomme, sie würden Kundengelder verleihen. Einen Scheiß verleihen die. Die können Geld mehrfach verleihen. Teilreserve-System und Giralgeldschöpfung nennt sich das.“ Er machte eine kurze Pause. „Im Prinzip ist es so, dass jemand mit dem Kredit etwas bezahlt. Der Verkäufer zahlt das Geld wieder bei der Bank ein und die kann die Kohle dann zum größten Teil noch mal verleihen. Und so weiter, und so weiter. Deshalb gibt es immer mehr Geld. Ach ja, und wenn ein paar Banken gerettet werden müssen, nimmt den Kredit einfach der Staat auf.“

„Und wer zahlt den dann zurück?“, fragte Godzilla tonlos.

Marc zuckte mit den Schultern.

Daniel schaute ihn fragend an. „Und das geht ewig so weiter? Das muss doch irgendwelche Folgen haben.“

„Ich bin gerade dabei, mich durch den riesigen Bücherstapel aus Grünwalds Literaturliste durchzuarbeiten. So viel habe ich schon verstanden: Die Leute suchen sich eine Alternative zu Papiergeld. In der sparen sie, wenn die Menge an Papiergeld anwächst. Darum ist der Preis von Gold auch in den letzten vierzig Jahren von fünfunddreißig auf tausendzweihundert Dollar gestiegen. Und …“

„What?“ Godzilla war aufgesprungen. „Mein Opa sammelt Goldmünzen! Die Dinger, die er mal für um die dreißig Euro gekauft hat, sind jetzt über tausend Flocken wert?“

Marc nickte. „Ja, dein Opa hat dafür vermutlich noch in D-Mark bezahlt, aber vom Prinzip sind die Münzen heute dreißig- oder vierzigmal so viel wert wie damals.“

Der Mann auf dem Foto musste sein leiblicher Vater sein, Marc hatte es von der ersten Sekunde an gewusst. Die stechend blauen Augen waren unverkennbar. Genau wie seine. Warum hatte ihm sein Alter nie etwas davon erzählt? Hatte der das überhaupt gewusst? Vermutlich schon, weil er kurz nach Mutters Tod all ihre Sachen weggeworfen hatte.

Für ihn war damals eine Welt zusammengebrochen, als er die Sachen seiner Mutter in der Mülltonne gefunden hatte. Nächtelang hatte er sich in den Schlaf geweint und eine unaussprechliche Wut gegen seinen Vater empfunden. Was hatte seine Mutter zu diesem Seitensprung bewogen? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder drängte sich diese Frage auf. Marc seufzte tief.

Schon sechs Uhr. Seit Stunden saß er hier am Schreibtisch und starrte auf die Fotografie. Jetzt war Schluss, er konnte sowieso keinen klaren Gedanken mehr fassen. Marc legte das Bild zum Tagebuch in die Schublade.

Sein Magen knurrte. Schon bevor er die Tür zur Küche öffnete, hörte er die Stimmen seiner Mitbewohner. Für Diskussionsrunden mit den roten Brigaden hatte er jetzt keinen Nerv. Egal. Er nickte kurz mit dem Kopf zur üblichen Viererrunde hinüber, die um den Küchentisch saß und hitzig diskutierte.

„… erst später abschaffen! Lenin hat die Oktoberrevolution so erfolgreich umgesetzt, weil er vorher die Bourgeoisie und die Kapitalisten gegeneinander aufgehetzt hat.“

Die sprachen sicher vom echten Lenin und nicht von Rainer. Sieh einer an, jemand hatte Milch gekauft und Müsli war auch noch da. Er würde sich eine Schüssel voll mit in sein Zimmer nehmen.

„Da ist es.“ Karl zog ein Blatt aus einem Stapel Papier. „Ein Interview von Lenin aus der New York Times vom 23. April 1919. ‚Hunderttausende Rubelnoten werden täglich von unserer Staatskasse ausgegeben. Dies geschieht nicht, um die Staatskasse mit praktisch wertlosem Papier zu füllen, sondern in der bewussten Absicht, den Wert des Geldes als Zahlungsmittel zu zerstören.‘“ Marc erstarrte und hielt den Atem an. In Russland war Geld gedruckt worden, um den Kommunismus einzuführen? „Und wartet, noch im selben Jahr hat irgendein kapitalistischer Ökonom … Hier. Keynes hieß der, John Maynard Keynes. Der schreibt …“

Marc war wie elektrisiert. Keynes, den hatte Grünwald auch erwähnt. Den musste er unbedingt noch lesen. Die vier waren so vertieft, die beachteten ihn gar nicht. Er hantierte mit der Milch und lauschte wie gebannt.

„Lenin soll erklärt haben, dass, ich zitiere, ‚der beste Weg, das kapitalistische System zu zerstören, die Ausbeutung der Währung sei. Durch einen anhaltenden Inflationsprozess können Regierungen heimlich und unbeobachtet einen wichtigen Teil des Vermögens ihrer Bürger beschlagnahmen. Und zwar auf eine Art und Weise, die nicht einer von einer Million Menschen diagnostizieren kann.‘ Kapiert ihr? Weil plötzlich sogar die Kapitalisten die Ungerechtigkeit am eigenen Leib gespürt haben, konnten die Genossen sie auf die geldlose kommunistische Gesellschaft einschwören.“

Er hatte genug gehört. Marc packte die Schüssel, dass die Milch fast überschwappte, und verließ eilig die Küche. Zeus brauchte mal wieder ewig, bis er hochfuhr. Zeus war der Name seines Notebooks. Wie alle anderen IT-Komponenten hatte er es nach einer Gottheit aus der griechischen Mythologie benannt. Die Geräte bekamen so etwas mehr Persönlichkeit.

Was hatte Keynes zu dieser Zeit veröffentlicht? Als erster Treffer erschien Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages. Das war doch der Titel, den er sich ausgeliehen hatte. Er schlug das Buch auf und begann zu lesen.

Die Inflation sei ein wirksames Mittel des Staates, den Bürgern unbemerkt das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Staatsschulden würden so immer weniger wert und wären irgendwann getilgt. Auch könnten so die wahren Kosten von Kriegen verschleiert werden.

Nutzte der Staat die Inflation, um Kriege zu finanzieren? Der Vietnam-Krieg! Die Amerikaner hatten Geld gedruckt, um die Kriegskosten zu bezahlen. Er suchte seine Notizen aus Grünwalds Vorlesung heraus. Da war es: 1861 Aussetzung des Goldstandards zur Finanzierung der Sezessionskriege. Er googelte ‚Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg‘. Tatsächlich. Seit 1970 waren weltweit immer mehr neue Konflikte aufgeflammt. Das musste er Daniel und Godzilla erzählen. Wenn er es richtig verstanden hatte, konnte bei Bitcoin niemand die Geldmenge einfach ausweiten und die Leute heimlich um ihr Geld bringen. War es das, was Satoshi Nakamoto mit seiner versteckten Botschaft sagen wollte? Es ergäbe Sinn.

Wie viel Geld war seit 1971 neu gedruckt worden? Er tippte ‚Geldmenge‘ und ‚USA‘ in die Suchleiste ein und fand ein Diagramm. Krass! Die Geldmenge hatte sich in der Zeit mehr als verzehnfacht! Das gleiche in Deutschland beim Euro. Das musste doch irgendwelche Folgen haben. Die Menschen wurden durch das Gelddrucken quasi vom Staat beklaut.

Er suchte weiter, fand Diagramme und Zahlen und konnte es einfach nicht fassen. „What the fuck!“

  3  

EINIGE JAHRE VORHER:30. AUGUST 2006ZÜRICH

Zehn Millionen US-Dollar. Was für ein lächerlich geringer Betrag! Ihr war sofort klar gewesen, dass die geringe Summe die größte Herausforderung darstellte. In den Ohren normaler Menschen mochte es nach viel Geld klingen, für einen Hedgefonds war es nur Spielgeld.

Seit Tagen stand die Zahl unverändert da. Das Einzige, was stetig fortschritt, war das Datum neben dem Saldo ihres Kontos. Die Zeit verstrich ungenutzt, viel schneller, als es Katharina lieb war, dabei hatte sie insgesamt nur zwei Jahre Zeit, Mendez zu beweisen, dass sie die Beste war.

Mendez suchte für seinen Hedgefonds einen neuen Partner. Jemanden mit Biss und besonderen Fähigkeiten, der keine Skrupel kannte. Sie war jahrelang die erfolgreichste Händlerin gewesen, aber ihre bisherigen Leistungen interessierten den legendären Fonds-Manager nicht. Die Handelsabteilung war ohnehin nur Fassade, Geld verdiente Mendez mit anderen Geschäften. Wenn sie künftig beim großen Spiel dabei sein wollte, musste sie den Highlander-Wettbewerb gewinnen.