Millennium Kingdom: Der Wikinger - Tonny Gulløv - E-Book
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Millennium Kingdom: Der Wikinger E-Book

Tonny Gulløv

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Beschreibung

Dänemarks blutiger Weg in ein tausendjähriges Königreich: die Legende von Ulv Palnatoki, dem unbeugsamsten Krieger König Gorms des Alten. Der erste Band der neuen, wuchtigen Wikingersaga von Tonny Gulløv. Wir schreiben das Jahr 937. Erneut wird Britannien von plündernden Dänen heimgesucht. Der hitzköpfige Ulv wird aus Dyffryn Cudd in Kumraland verschleppt und auf dem Wikingerschiff Havormen an die Ruderbank gekettet. Doch er weigert sich, das Sklavendasein zu akzeptieren. Nicht einmal der große und starke Ymer, der ihn beschützen will, kann ihn davon abbringen. Wer ist Ulv wirklich? Wer war seine Mutter, die einst auf einem Drachenschiff nach Britannien gekommen war? Als die Havormen das Land der Dänen erreicht, soll Ulv auf dem Sklavenmarkt von Haithabu verkauft werden. Eine vornehme Herrin scheint etwas in dem Jungen zu sehen. Sie kauft ihn. Und für Ulv öffnet sich eine neue Welt … Ein faszinierendes, humorvolles und gnadenloses Abenteuer für alle Fans von Bernard Cornwell, Bjørn Andreas Bull-Hansen und von «VIKINGS».

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Seitenzahl: 750

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Tonny Gulløv

Millennium Kingdom. Der Wikinger

Historischer Roman

 

 

Aus dem Dänischen von Justus Carl und Frank Zuber

 

Über dieses Buch

Der Tod kommt von meiner Hand oder zu mir

 

Wir schreiben das Jahr 937. Erneut wird Britannien von plündernden Dänen heimgesucht. Der hitzköpfige Ulv wird aus Dyffryn Cudd in Kumraland verschleppt und auf dem Wikingerschiff Havormen an die Ruderbank gekettet. Doch er weigert sich, das Sklavendasein zu akzeptieren. Nicht einmal der große und starke Ymer, der ihn beschützen will, kann ihn davon abbringen.

Wer ist Ulv wirklich? Wer war seine Mutter, die einst auf einem Drachenschiff nach Britannien gekommen war? Als die Havormen das Land der Dänen erreicht, soll Ulv auf dem Sklavenmarkt von Haithabu verkauft werden. Eine vornehme Herrin scheint etwas in dem Jungen zu sehen. Sie kauft ihn. Und für Ulv öffnet sich eine neue Welt …

 

Die Legende von Ulv Palnatoki, dem unbeugsamsten Krieger von Harald Blauzahn.

 

Der erste Band der neuen, wuchtigen Wikingersaga von Tonny Gulløv.

Vita

Der Autor

Tonny Gulløv verschlang zahllose historische Mittelalter- und Wikingerromane von Autoren wie Ken Follett und Bernard Cornwell, recherchierte drei Jahre lang und sprach mit mehr als zwanzig Experten, bevor er anfing zu schreiben. Als der erste Band seiner Serie «Millennium Kingdom» in Dänemark erschien, wurde das Buch sofort zum Erfolg. Wenig später erschienen seine Bücher auch auf Schwedisch und Norwegisch und eroberten Skandinavien im Sturm. Der Autor lebt mit seiner Familie in Kopenhagen und arbeitet als Chef-Steward bei Scandinavian Airlines.

 

 

Die Übersetzer

Justus Carl absolvierte vor dem Schulabschluss ein Auslandsjahr in Schweden, studierte Politikwissenschaft und Romanistik und erlangte den Abschluss Master of Arts in Skandinavistik. Seit 2017 arbeitet er freiberuflich als literarischer Übersetzer aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen. Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds sowie des Literarischen Colloquiums Berlin geehrt. Heute lebt Justus Carl in Heppenheim an der südhessischen Bergstraße.

 

Frank Zuber hat einen Master of Arts in Skandinavistik, Deutscher Philologie sowie Anglistik. Zehn Jahre lehrte er an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Heute arbeitet er als freier Übersetzer für Belletristik und Sachbuch aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen. 2018 wurde er von der norwegischen Literaturförderung NORLA für seine Übersetzungen ausgezeichnet. Frank Zuber lebt in Wiesbaden.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «1000-årsriget» im Forlaget McGUGL, Company, Kopenhagen.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«1000-årsriget» © 2015 by Tonny Gulløv

All rights reserved.

Redaktion Maike Dörries

Karte Midgard © Peter Palm, Berlin

Karte Europa © Daniel Sauthoff, Hamburg

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich, nach dem Original von McGUGL Denmark

Coverabbildung Illustration: Stinne Fuglsbjerg

ISBN 978-3-644-01703-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Für Anette, Anna und William

Europa um 940

Prolog

Ich bin Ulv. Nicht Ulv Schnellfuß oder Palnatoki, wie manche mich nennen. Einfach nur Ulv, wie der Wolf. Eigentlich sollte ich gar nicht hier sitzen und meine Geschichte erzählen, geschweige denn noch unter den Lebenden weilen, aber Thor, Odins Erstgeborener und ebenso rothaarig wie ich, hat immer wieder eine schützende Hand über mich gehalten. Und sich dabei sicher köstlich über meine Fehltritte amüsiert. Das unterscheidet mich von allen anderen im Clan der Cymru, dem ich mich lange Zeit zugehörig fühlte.

Die Cymru sind wie Kaninchen, hieß es. Sie hauen ab, sobald ein Fuchs in Sicht ist. Angeblich stammt der Clan aus Bretland. Schon unsere Urahnen seien Wegelagerer gewesen und deshalb von dort vertrieben worden.

Weder die Sachsen noch die Pikten redeten gern über die Cymru, und wenn sie es taten, dann mit wenig schmeichelhaften Worten. Wir waren zu einem Dasein in den Tälern und Wäldern des Ödlands verdammt, eingeklemmt zwischen wilden Pikten und doppelzüngigen Sachsen.

Die Pikten sind nicht besser als Tiere, auf sie will ich keine Worte verschwenden, nicht einmal schlechte. Die Sachsen und Bretländer sprechen eine Sprache, die ich heute noch verstehe, auch wenn mir die wirkliche Bedeutung der Worte nicht viel klarer ist als damals, als ich unter ihnen lebte. Sie sind einfach ein verlogenes Pack.

Meine Mutter war gebürtige Dänin und kam an Bord eines Drachenschiffs nach Kumraland. So jedenfalls wurde es mir erzählt.

Warum sie mit den Dänen auf Raubzug gefahren war, fand ich erst später heraus, aber ich weiß, dass ihre Zeit in Dyffryn Cudd, dem verborgenen Tal, alles andere als glücklich war. Meine geliebte Mutter – möge es ihr in Walhall wohlergehen – starb in meinem elften Lebensjahr wie ein wahrer Krieger, mit dem Schwert in der Hand. Ihr Mörder war mein Vater, das Dreckschwein. Ich beweinte ihren Tod und gab den Gedanken an Rache nie auf, denn so bin ich. Leider kam mir das Schicksal zuvor, was mich nach all den Jahren noch immer ärgert.

Alles, was mir von ihr blieb, sind vage Erinnerungen und ein fingerlanges Amulett aus tiefgrünem Jade. Geformt wie Thors Hammer Mjölnir mit einem eingravierten Wolfskopf. Dass sie von ihrem Platz in Walhall aus mehrfach mein Leben rettete, stärkt meine Gefühle für diese Frau, an die ich mich kaum erinnere.

Mein Vater hieß Rhi. Nur Rhi, wie es die Tradition für das Oberhaupt unseres Clans verlangte. Er war groß und stark, seine Oberarme spannten mühelos die größten Bögen aus Eibenholz, über welche die Skalden Furcht einflößende Verse schrieben. Denn mit einem Bogen in der Hand waren die Cymru wahrlich Furcht einflößend.

Ich sah Rhi nicht ähnlich, hatte aber seine Größe, sein Temperament und seine Kraft. Meine Augen sind grün, und mein Haar hat die Farbe frisch geschmiedeten Kupfers – die zwei deutlichsten Eigenschaften, die ich von meiner Mutter geerbt habe. Gut, heute sind Bart und Haupthaar fahl wie Birkenasche im Langfeuer, aber sie sind noch immer dicht und lassen sich zu Zöpfen flechten, wenn wir die Sonnwende feiern und Bier trinken.

Dass ich einmal als zahnloser Greis enden würde, ahnte ich nicht, als ich damals durch das sommerlich grüne Laub spähte und ein Dutzend riesenhafter Dänen im Harnisch erblickte. Ich war dreizehn Jahre alt und hatte keinen Schimmer, dass man das Jahr 937 schrieb. Das erfuhr ich erst später von den emsigen Mönchen, die einen Mann anbeten, der an ein Kreuz genagelt wurde und einen Dornenkranz auf dem Kopf trägt.

Ich würde niemals mein Schicksal in die Hände eines solchen Pechvogels wie dem Weißen Christus legen, der die furchtbarsten Qualen für mich erlitten haben soll. Wenn mir einer damit kommt, lege ich die Hand an den Schwertgriff und sage: «So etwas Dummes habe ich nicht gehört, seit König Harald Blauzahn sich zum Christusanbeter erklärt und verlangt hat, dass alle es ihm gleichtun. Falls jemand unbändige Lust hat, für mich zu leiden – bitte sehr, ich helfe gern nach!» Meistens vergeht den Mönchen dann ihre unablässige Lust am Predigen. Von ihrer Sorte gibt es viel zu viele, seit Bischof Poppo, der übereifrige Scheißer, seine schiefe Rattennase in alles hineinsteckt. Er war es, der Harald Blauzahn verblendet hat. Doch davon erzähle ich später.

Nun lasse ich meine Worte in der Reihenfolge fließen, wie sie meinem Gedächtnis entspringen. Edmund der Einfältige, Poppos kleines Miststück von einem Klerikerlehrling, wird sie schon sortieren. Er kann das, sonst hätte ich ihm längst den Rücken gebläut.

BRITANNIEN IM JAHR 937

Kapitel 1

Äste knackten, ein Mann hustete gedämpft, und Rhi legte einen langen schwarzen Pfeil an den Bogen. Neben ihm hörte man vier weitere Bogensehnen leise knarren. Dafi, Orbo, Elisud und Meuric, der kleine Bruder meines Vaters – unsere besten Krieger.

Ein Dutzend Dänen mit Harnischen, Helmen und runden bemalten Holzschilden tauchte dicht vor uns auf.

Den Äxten, Speeren und Schwertern der Dänen hatten wir nur Messer entgegenzusetzen, aber wir hatten unsere Bögen. Nur Rhi besaß ein Schwert. Es war alt und stammte von einem Sachsen, den er vor vielen Jahren getötet hatte. Es war scharf geschliffen, und immer wenn er wütend wurde, was sehr oft geschah, legte er die Hand an den Schaft. Eine Angewohnheit, die ich mir bewahrt und noch immer nicht ganz abgelegt habe.

Rhi brummte leise, und die nachtschwarzen Pfeile fanden ihr Ziel mit einer Präzision, die in Midgard ihresgleichen sucht. Fünf Dänen sanken zu Boden, aber die übrigen rückten sofort dicht zusammen und duckten sich hinter den runden Schilden mit den glänzenden Metallbuckeln wie hinter einer Wand aus bunt bemaltem Holz. Ich war fasziniert vom lauten Krachen der Schilde, als sie sich blitzschnell überlappten und eine Schildburg formten.

«Wir sind zu dicht dran», sagte Meuric.

«Stimmt», sagte Rhi und zog sich hastig zurück, ohne die Schildburg aus den Augen zu verlieren.

Sie hatten recht. Die Cymru gehen nicht freiwillig in einen Nahkampf, weil ihre Bögen dann nutzlos sind. (Dass ich selbst einmal in einer solchen Schildburg kämpfen sollte, konnte ich damals nicht wissen. Diesen Teil der Geschichte wird Edmund der Einfältige irgendwann zwischen seinen ewigen Gebeten und Kirchenliedern noch niederschreiben.)

Wie alle Cymru bin auch ich äußerst geschickt mit dem Bogen. Selbst heute noch treffe ich eine Amsel aus so großem Abstand, dass ich sie kaum sehen kann.

Die Männer unseres Clans hatten die Dänen schon mehrere Tage lang beobachtet, aber am Tag zuvor waren sie in einen Hinterhalt geraten, der die halbe Schar das Leben gekostet hatte. Zwei axtschwingende Dänen mit blauen Drachentätowierungen hatten sie aus nächster Nähe niedergemetzelt.

Das hatte ich am selben Abend in unserem Lager gehört, denn ich durfte noch nicht mit den Erwachsenen losziehen. Auch jetzt nicht. Die Männer wussten nicht, dass ich ihnen den ganzen Tag heimlich gefolgt war.

Rhi ging voran, hinter ihm kam Meuric. Plötzlich blieb er stehen, lauschte und blickte sich um. Ich konnte mich nicht mehr verstecken und stand wie versteinert da. Fünf lange Schritte brachten ihn zu mir. Der Häuptling der Cymru verpasste mir eine schallende Ohrfeige, dann setzten wir die Flucht vor den Dänen fort.

Ich nahm den Schlag ohne einen Mucks entgegen, hatte jedoch unbändige Lust, ihm mein Messer in den Arsch zu rammen. Ich hatte es sogar schon gezogen, als er sich umdrehte.

«Halt!», sagte er. Ich dachte, er meinte mich und steckte das Messer in die Scheide. Doch er sprach nicht zu mir. Rhi reckte den Hals und lauschte wie ein Eichhorn, das jeden Laut des Waldes wahrnimmt.

«Da sind noch mehr», sagte er. Ich hörte nur Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Blättern, aber Meuric nickte und zeigte in die Richtung, in die wir gingen.

«Wir sind umzingelt. Schon wieder!» Vorwurfsvoll sah er Rhi an, dessen Gedankenlosigkeit fünf Cymru das Leben gekostet hatte.

Nun hörte man aus allen Richtungen laute Flüche in der Sprache der Dänen, und ich begriff als Letzter, dass wir umringt waren. Das war nicht gut. Die Dänen durchsuchten den Wald an den Ufern des Irthing nach Dörfern und Sklaven und ganz besonders nach den Wegelagerern, die ihre schwarzen Pfeile mit ungeheurer Präzision abschossen.

Rhi wirkte verwirrt und nervös. Besonders Ersteres überraschte mich, da kaum ein Mann die Wälder und Täler so kannte wie er. Das verborgene Tal, Dyffryn Cudd, und Kumralands Wildnis waren unsere Heimat und unsere Jagdgründe.

 

Ein trockener Zweig knackte, und wir verschwanden unter welkem Laub, umgestürzten Bäumen und in anderen Verstecken. In kindlicher Freude ließ ich meine Gedanken schweifen und erwartete nichts als Glück von den drei Nornen, die zwischen den Wurzeln Yggdrasils leben und unsere Lebensfäden spinnen. Ich war ein Narr.

Vielleicht hatte ich mehr Angst, als ich mich erinnern kann hier am Langfeuer, mit vollem Bauch und einem Krug Bier. Sicher ist aber, dass ich das Mjölnir-Amulett, das an einem Lederriemen um meinen Hals hing, fest umklammerte und Thor um Schutz bat. Weil ich schon immer gewusst habe, dass Odins Sohn mir besser helfen kann als Gottes Sohn, der Weiße Christus. Obgleich unser Priester, Pater Pillgryes, unermüdlich die Vorzüge dieses Gottessohns predigte. Der größte davon sei gewesen, dass er sein Leben für die Menschheit gegeben hatte. Wozu das gut sein sollte, verstand ich nie. Dennoch glaubten die Cymru ebenso inbrünstig an den Weißen Christus wie an den Wald und an ihr Recht, die Ernte der Bauern zu stehlen oder Kaufleute zu überfallen. Letzteres verurteilte Pater Pillgryes vehement, bis sein Magen so laut knurrte, dass es seine frommen Gebete störte.

Wie ein Mönch so tief in die Ödnis Kumralands vordringen konnte, blieb mir immer ein Rätsel. Pillgryes war eines Tages mehr tot als lebendig in unser Dorf gewankt. Seine Kleider waren zerrissen, aber man erkannte ihn noch als Mönch. Deshalb ließen wir ihn am Leben, er durfte bleiben und fand ein dankbares Publikum. Er redete so gut, dass alle ihn Pater nannten, obwohl er nur ein einfacher Bettelmönch war. Meine Frage, warum er allein in die Wildnis gezogen sei, beantwortete er mit einer Schimpftirade gegen den Abt von Lanercost und dessen Engstirnigkeit.

Der wohlbeleibte Pater Pillgryes hatte einen gesunden Appetit, und obwohl er stets gegen das Stehlen wetterte, verschwand doch ein beträchtlicher Teil der Beute in seinem Magen – oft, während er uns Vorwürfe machte.

«Der Herr gab Moses zehn Gebote, und das siebte Gebot lautet verdammt noch mal: ‹Du sollst nicht stehlen›», murmelte er schmatzend, rülpste und bekreuzigte sich.

Pillgryes war Krieger, bevor er den Ruf des Herrn empfing, noch dazu ein guter. Jedenfalls behauptete er das, und wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Trotz der vielen grauen Haare in der Tonsur war er jedenfalls noch ziemlich lebendig. Und er trainierte mich in einem Waffengebrauch, der beträchtlich von unseren Traditionen abwich.

Mit einem hölzernen Schwert brachte Pillgryes mir bei, wie man hieb, stach und schlug und vor allem in Bewegung blieb. Nur so habe er all die Jahre überlebt und Männer besiegt, die stärker und geschickter waren als er.

«Einzig und allein wegen meiner Beweglichkeit», sagte er und machte es vor. Es sah komisch aus, wenn er mit einem Holzschwert in der Hand wie ein Hase umherhüpfte und Haken schlug. Er hieb in die Luft, schwang das Schwert im Kreis und bewegte sich rascher, als ich es für einen Mann seiner Statur für möglich gehalten hätte.

«Schlage Haken wie ein Hase, brülle wie ein Bär und greif an wie eine Schlange», stöhnte er. «Dann wirst du alt genug, um die Söhne deiner Söhne zu sehen.» Ich grinste breit und wurde im nächsten Moment von einem dicken, wütenden Mann in einer zerfetzten Kutte zu Boden geschlagen.

Als ich wieder zu mir kam, hatte Pillgryes mit Birkenrinde kleine Kreise auf dem Boden markiert, und ehe ich etwas sagen konnte, befahl er mir, mit dem Schwert in der Hand von Kreis zu Kreis zu springen. Ich gehorchte ihm stumm, weil die Schläge immer noch auf der Haut brannten, und lernte rasch.

Pillgryes zeigte mir, wie ich das Schwert schwingen und gleichzeitig damit zuschlagen konnte. Was ich für kreiselnde Bewegungen gehalten hatte, stellte sich als unzählige Hiebe von links und rechts heraus, alle in verschiedene Richtungen. Wir trainierten so oft wie möglich, bis Braith, die Frau meines Onkels, uns dabei erwischte und wie eine wild gewordene Henne zu gackern begann.

Mein Stamm fand es unpassend, dass ein Mönch einem Heiden den Schwertkampf beibrachte. Pillgryes sagte, er wolle nur den Teufel aus meinem störrischen und heidnischen Gemüt vertreiben, und wenn dies nur durch Waffenlehre möglich sei, würde er es probieren. Er behauptete sogar, dass der gesamte Stamm dadurch besser durchs Fegefeuer käme, wenn es einmal so weit sei. Danach beschwerte sich keiner mehr, nicht einmal Braith, solange Pater Pillgryes Gottes Wort und Waffenspiele halbwegs gerecht verteilte.

Aber Pillgryes legte wesentlich mehr Eifer an den Tag, mich in die Geheimnisse der Schwertkunst einzuweihen, als mich von den Vorzügen des Weißen Christus zu überzeugen.

«Du bist der geborene Krieger, Ulv», sagte er oft zu mir. «Du bewegst dich flink, denkst schnell und bist für dein Alter ziemlich firm mit dem Schwert. Aber mein Herz weint um dich. Der Herr ist nicht auf deiner Seite, weil du nicht auf ihn hören willst.» Ich gab ihm eine freche Antwort – eine alte Angewohnheit, die ich noch immer nicht los bin. Und ich habe gern das letzte Wort.

Pillgryes gab mir eine schallende Ohrfeige, aber seine Worte hatten Gewicht. Er war mein Freund, der einzige, den ich außer Mutter und ihrer kleinen Schwester Heldis dort hatte. Für einen Moment erwog ich sogar, den Weißen Christus zu meinem Gott zu machen.

Leider hat Pillgryes den letzten Winter nicht überlebt. Er wurde geisteskrank und lief nackt im Wald herum, bis er tot umfiel. Nicht besonders christlich, wie Braith bemerkte, obwohl sie Pillgryes eifrigstes Gemeindemitglied war.

Zwei Dinge geschahen, nachdem der Bettelmönch gestorben war. Die Waffenlehre hatte ein Ende, und Braith übernahm das Predigen. Die vergrämte Alte wurde nie müde, mich zu belehren. Was mir nicht alles verboten war, vor dem Herrn, seiner Heiligkeit in Rom, dem Weißen Christus und sogar der Heiligen Jungfrau, der Mutter des Gottessohns – eine endlose Litanei aus Geboten und Verboten, die mir gar nicht gut bekam.

Ihr Sermon focht einen vergeblichen Kampf gegen die glühenden Geschichten meiner Mutter über Hel, Odin, Thor, Tyr, Freya, Frigg und viele andere Götter aus, deren Namen ich oft vergesse. Alle waren sie stärker und mächtiger als der ans Kreuz genagelte Jämmerling, dessen Anhänger nackt im Wald herumliefen und erfroren.

Ein halbes Jahr war vergangen, seit Pillgryes als lallender Idiot geendet war. Ich vermisste ihn sehr. Das Training mit dem Holzschwert setzte ich allein fort, aber das war nicht dasselbe.

 

Knackende Zweige und flüsternde Stimmen dicht an meinem Versteck rissen mich aus den Gedanken. Mit dem Auge, das nicht von Blättern bedeckt war, sah ich zwei breitschultrige Männer mit dichten Vollbärten und blauen Tätowierungen an Händen und Armen. Der eine trug einen Lederharnisch mit Metallverstärkungen, zwei silberne Armringe und einen Eisenhelm, der trotz einer Delle von einem Hieb ebenso kostbar war wie das Schwert, das er in der Hand hielt. Auf seinem Rücken hing ein Zwischending aus einem langen Messer und einem kurzen Schwert. Wie ich später erfuhr, nannten sie es Langsax.

Der zweite trug ein ledernes Wams mit Schuppenpanzer, eine riesige Axt und einen Helm mit Gesichtsschutz, der durch die Augenhöhlen einem Totenschädel glich. Beide hatten bunte Schilde mit Metallbuckeln in der Mitte, mit denen sie sich ihren Weg durchs Gebüsch bahnten.

Ihr Anblick weckte gemischte Gefühle in mir, aber ich hatte keine Angst, denn sie würden uns nicht finden, es sei denn, sie traten direkt auf uns. Stattdessen spürte ich den großen Drang, sie zu berühren, besonders ihre Waffen und Armringe.

«Wo stecken die Scheißkerle?», sagte der eine und kratzte sich am Bart. «Die verschwinden ja schneller als Mäuse in einem Kornspeicher.»

In diesem Augenblick ging mir auf, dass ich ihre Sprache verstand. Die Worte klangen etwas anders als die meiner Mutter, aber ich verstand sie. Es war die Sprache, die ich in meinen Träumen hörte und sprach, die Sprache der Dänen.

Dann waren sie weg. Rhi stand als Erster auf, ich als Letzter, um nicht noch mehr Prügel von ihm einzustecken.

Rhi lief in dem Tempo, das die meisten aus unserem Clan den ganzen Tag lang durchhalten konnten, eine Mischung aus Gehen und Rennen. Obwohl ich für mein Alter recht groß war, waren meine Beine nicht so lang, aber ich ließ Dafis Rücken keine Sekunde aus den Augen, auch wenn ich kaum mithalten konnte.

Wir liefen zwischen Bäumen hindurch und durchs Unterholz, über kleine Lichtungen, sprangen von Stein zu Stein und folgten einem schmalen Bach. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir den engen Pass erreichten, der in unser kleines Tal führte.

Dort blieben sie so plötzlich stehen, dass ich Dafi umrannte, der sich das Knie an einem Stein aufschlug.

«Du kleines Dreckstück», fauchte er, stand auf und hob die Hand zum Schlag. Ich war so ermattet, dass ich nicht reagierte.

«Schscht!», zischte Rhi. Dafi hielt inne und betrachtete Orbo, der wie ein Hund mit der Nase witterte.

«Es riecht verbrannt», sagte er, und sofort war alle Müdigkeit verflogen. Die Feuerstellen von Dyffryn Cudd konnte man von hier aus nicht riechen. Meuric brummte und rannte in Richtung des Dorfes, wir folgten ihm. Diesmal so schnell, dass ich nicht mehr mitkam.

Am Rande der Siedlung, die seit meiner Geburt meine Heimat gewesen war, blieben wir stehen. Zum ersten Mal im Leben sah ich die Verwüstung nach einem Raubzug der Dänen.

Die kleinen Hütten aus geflochtenen, mit Erde abgedichteten Wänden, umgrenzt mit Weidenzäunen, standen nicht mehr. Es sah aus, als hätte Thor seinen Hammer Mjölnir durch das ganze Dorf gezogen und ihn dann in die Erde gerammt, damit der Blitz den Rest verbrannte. Neun Holzhütten mit Torfdach waren dem Erdboden gleichgemacht. Meine Welt war mit einem Schlag in Rauch aufgegangen, aber merkwürdigerweise musste ich lächeln. Warum, wusste ich nicht, aber ich wusste, dass Menschen starben, wenn Krieger mit Schwertern, Speeren und Äxten in Langschiffen ankamen, ohne den Drachenkopf am Steven abzunehmen.

Ich spann den Gedanken weiter, bis ich die erste verkohlte Leiche erblickte, die in einem Baum hing, damit alle sie sehen konnten. Auf dem Boden lag ein Paar einfache Lederschuhe, die mit roten Kreuzen verziert waren, also musste die Tote Elisuds Frau Gwarwr sein. Ihr Gesicht glich einer verkohlten Maske, von Angst und Schmerz verzerrt.

In diesem Moment begriff ich, dass Dänen auf Plünderungszug Untiere waren, wahnsinnige Ungeheuer. Der Gedanke plagt mich manchmal noch heute, obwohl ich selbst allerhand Grausamkeiten mitgemacht habe. Bis dahin hatten die Geschichten meiner Mutter eine Illusion erschaffen, in der alle Dänen Jarle, Könige oder Götter waren und der ganze Rest Heuchler und Schwächlinge. Ich umklammerte mein Amulett und bat Thor, meine kläglichen Gedanken zu vertreiben.

Ein Rabe landete auf Gwawrs verbranntem Kopf und hackte mit dem Schnabel in die Augenhöhlen. Er sah mich mit seinen schwarzen Augen an.

War das ein Zeichen? Mir schauderte, und ich war mir sicher, dass Odin den Vogel geschickt hatte, um mich zu beobachten.

Ich nickte dem Raben zu und flüsterte mit zitternder Stimme auf Dänisch, die Cymru seien nur entflohene Sklaven aus Bretland und könnten geopfert werden. Ich jedoch habe dänisches Blut und wolle mit dem Schwert in der Hand sterben.

Der Rabe zog den Schnabel aus Gwawrs Augenhöhle, krächzte und verließ mich mit kräftigen Flügelschlägen. Erleichtert ließ ich das Amulett los, doch der Anblick von Gwawrs verkohltem Gesicht ließ mich erneut schaudern.

Wir gingen zwischen den zerstörten Hütten umher und zogen Leichen aus der Asche. Als wir keine mehr fanden, begruben wir sie. Nur ein einfaches Holzkreuz zierte das Massengrab. Der Einzige, der etwas sagte, war Meuric.

«Blutrache», zischte er. «Blutrache.»

Rhi schüttelte den Kopf. «Sie haben die Frauen und Kinder als Sklaven genommen und nur die Alten getötet und alle, die Widerstand geleistet haben. Die Gefangenen bringen sie zu ihren Drachenschiffen – dorthin müssen wir.»

Rhi deutete flussabwärts und führte uns ans Ufer des Irthing – der Fluss, auf dem meine Mutter vor vielen Jahren mit einem Drachenschiff angekommen war.

Im letzten Licht der Dämmerung verließen wir von Zorn getrieben Dyffrin Cudd und gingen selbst dann noch weiter, als Mani schon mit seinem Gespann über den Himmelsbogen fuhr.

Über uns stieß ein Bussard seinen Schrei aus, und plötzlich wusste ich, dass ich die Heimat meiner Kindheit für immer verlassen würde. Ich blieb stehen, legte die Hand um mein Amulett und blickte noch einmal über das Tal, in dem meine Mutter begraben war.

«Leb wohl, Mutter», flüsterte ich.

 

Wir trafen weder auf weitere Krieger noch andere Menschen, denn niemand läuft ohne guten Grund mitten in der Nacht umher. Aber ihre Spuren waren so deutlich, dass wir ihnen im Mondlicht gut folgen konnten.

Die Erste, die wir fanden, war Braith. Sie lag mit unnatürlich verdrehtem Nacken am Boden, ihr Schädel war gespalten. Im Mondlicht sah sie halb tot und halb lebendig aus. Bei ihrem Anblick umklammerte ich erneut mein Amulett und bat Thor still um Schutz gegen die bösen Geister, die Midgard des Nachts heimsuchen.

Meuric ging in die Hocke und schloss Braiths starrende Augen. Dann zog er sein Messer und legte verbissen einen Schwur ab. Ich war nur ein großer Junge, hin- und hergerissen zwischen den Geschichten meiner Mutter und den Grausamkeiten, die ich sah. Aber ich war zornig und hatte den unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn eines Kindes. Deshalb verstand ich Meurics Worte. Sie sollten ein Motto werden, an das ich mich mein Leben lang hielt.

«Der Tod kommt von meiner Hand oder zu mir», knurrte er und stand auf.

Rhi legte eine Hand auf die Schulter seines kleinen Bruders, aber Meuric wich aus.

«Der Tod ist besser als Einsamkeit oder Sklaverei, Rhi. Das solltest du wissen, mehr als jeder andere.» Dann drehte er sich um und folgte dem Pfad, den die Dänen und ihre Sklaven ausgetrampelt hatten.

Die zwei nächsten Toten auf unserem Weg waren aus dem Nachbardorf, was erklärte, wie die Dänen unser Dorf gefunden hatten. Es folgten ein toter Mann und eine Frau, die ich nicht kannte, beide trugen Kleidung aus Wolle und Leinen, wie die Sachsen. Dafi meinte, sie seien aus Gils, einem sächsischen Dorf unweit des alten Grenzwalls, der sich bis ins Unendliche zog, wie es hieß. Jenseits des Walls befand man sich im Land der Pikten, und alle, die jemals dort gewesen waren, sagten, das sei ein gefährlicher Ort.

Die toten Sachsen waren ältere Leute, denn die Dänen nahmen nur Kinder und Jugendliche als Sklaven, was ich damals noch nicht wusste. Ich nickte respektvoll, weil ich dachte, die Alten hätten sich gewehrt.

Kurz bevor der Pfad eine Biegung machte und am Flussufer endete, fanden wir noch eine Leiche. Ich war schon einmal dort gewesen, obwohl es weit von unserem Dorf entfernt war. Damals hatte ich gehört, dass ein paar Drachenschiffe den Fluss hinaufgesegelt seien, und konnte der Versuchung nicht widerstehen. Aber da waren weder Drachenschiffe noch Dänen, nur abgebrannte Lagerfeuer und ein toter Mönch, der mit aufgeschlitztem Bauch kopfüber in einem Baum hing.

Jetzt war ich nicht mehr sicher, ob ich noch Lust hatte, dem Volk meiner Mutter zu begegnen.

 

«Feuer!» Rhi blieb stehen. «Viele Feuer!» In der Ferne sah man das Flackern etlicher Lagerfeuer. Wir versteckten uns, bis die Sonne die Landschaft hellgrün färbte und die Vögel zu singen begannen.

Ich aß das letzte Stück Trockenfleisch aus dem Lederbeutel an meinem Gürtel, und während ich kaute, beobachtete ich den Bruder meines Vaters.

Meuric sah Rhi ähnlicher als je zuvor, der Hass stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er zog eine Grimasse und fletschte die Zähne wie ein Raubtier. «Der Tod kommt von meiner Hand oder zu mir», zischte er erneut und stand auf.

Rhi stand ebenfalls auf, und die anderen folgten ihnen.

Was dann geschah, ging so schnell wie ein Wimpernschlag, aber ich schwöre bei Thor, dass es sich wirklich zugetragen hat. Durch das Astwerk hindurch sah ich den Wasserspiegel des Flusses und darauf acht Langschiffe und ein kleineres Schiff, alle mit Drachenköpfen am Steven. Eines davon glitt langsam den Fluss hinab. An der Seite hingen Schilde voller Kerben und Schrammen. Die schmalen Ruder ragten aus kleinen Löchern in der Bordwand wie eine einzelne Reihe Igelstacheln. Sie bewegten sich rhythmisch und kraftvoll, und das Wasser tropfte von den Ruderblättern, wenn sie angehoben wurden.

Am Achterende stützte sich ein Mann steuerbord auf die Ruderpinne, als wäre er müde, aber er reagierte sofort, als der Mann, der am Vordersteven Ausschau hielt, den Arm hob und eine Warnung brüllte. Das Drachenschiff drehte leicht ab und fuhr am anderen Ufer entlang. Das rasche Manöver weckte in mir den unwiderstehlichen Drang, an Bord dieses prachtvollen Schiffes zu sein.

Eine durchdringende Stimme vom Ufer her ließ mich das Schiff vergessen. Ein Mann beschwerte sich lauthals, wie langweilig die Schiffswacht sei und dass er Durst habe. Er heulte wie ein Wolf. Eine andere Stimme antwortete etwas, das ich nicht verstand, gefolgt von Gelächter.

Zwei Schiffe wurden ins Wasser geschoben und glitten den Irthing hinab. Nun waren nur noch zwanzig Wächter bei den übrigen sechs Schiffen, entweder sehr jung oder alt, und nur einer trug mehr als einen Lederharnisch. Jedoch waren sie alle mit Schwertern, Äxten, Speeren und Schilden ausgerüstet. Meuric zog sein Messer, aber Rhi schüttelte den Kopf.

«Denk nach», sagte Rhi und spannte den Bogen.

 

Fünf Pfeile schwirrten durch die Luft und trafen ihr Ziel. Dann aber tat Meuric etwas, das kein Cymru unter normalen Umständen je tun würde. Er ließ den Bogen los, zog das Messer und stürmte auf die Feuerstelle zu.

Drei Dänen lagen still am Boden, einer fluchte vor Schmerz, die anderen schrien nach einer Schildburg. Meuric rannte weiter auf sie zu.

Ich war sicher, dass sie ihn niedermetzeln würden, doch vier weitere Pfeile schufen erneut Chaos unter den Dänen. Dann war Meuric dort, rammte sein Messer in einen Dänen und stach nach einem zweiten starken Krieger. Dieser jedoch schwang die Axt und schlug ihn mit einem einzigen Hieb zu Boden.

So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich war fasziniert von der Kraft und der Bewegung, obwohl es mein Onkel war, der dort starb. Es war, als ob sich eine Tür in mir öffnete, auch wenn ich es erst viele Jahre später verstand.

Rhi, Orbo und Dafi, die Meuric gefolgt waren, blieben wie vom Blitz getroffen stehen. Meurics Mörder kam grinsend auf die Cymru zu, schwang sein Schwert und sagte, er werde laut lachend auf ihre abgeschlagenen Köpfe pissen.

Ich wollte näher heran, aber Elisud hielt mich fest.

Rhi sah den Fehler als Erster ein und trat den Rückzug an. Er nahm einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an den Bogen und schoss.

Der Däne ließ das Schwert fallen, hob die Hand ans Auge und packte den Pfeil. Doch ehe er ihn herausziehen konnte, kippte er auf den Rücken, zuckte noch einmal und blieb liegen.

Ich biss Elisud in die Hand, rannte zu dem toten Krieger und ergriff sein Schwert. Es war viel schwerer, als ich gedacht hatte, schließlich war ich erst dreizehn und hatte noch nie ein echtes Schwert in der Hand gehalten. Doch ich wollte es nicht hergeben, wankte zurück, stolperte und schlug mit dem Kopf gegen einen Stein am Ufer.

Benommen kam ich wieder auf die Beine und sah vier Dänen, die sich im Schutz ihrer Schilde vorwärtsbewegten. Die Schilde waren rund und groß, jedoch nicht groß genug, um einen Mann von Kopf bis Fuß zu schützen – und die Pfeile der Cymru fanden immer ihr Ziel.

«Schildburg!», brüllte eine Stimme mehrmals. Die Dänen blieben stehen, ein Speer flog über die Schilde hinweg und traf Orbo in die Brust. Darauf folgten Flüche und Schimpfworte, die uns Waldleute aufforderten, wie Männer zu kämpfen. Orbo sank auf die Knie und kippte vornüber, aber der Speer stützte ihn. Er sah mich überrascht an und öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, während das Blut über sein Kinn lief.

Mehr Dänen näherten sich. Sie gingen gebückt und hielten die Schilde geschlossen zu einem halbrund geformten Dach über sich. Es waren mehr, als wir geglaubt hatten, und sie griffen an, obwohl viele verletzt waren.

Die Dänen übertönten Orbos Todesröcheln mit wüsten Flüchen und Provokationen – eine Kunst, die sie ziemlich gut beherrschten. Im Grunde war es schade, dass ich der Einzige war, der sie verstand.

Die Cymru blieben bei ihrer Abstandstaktik, zogen sich zurück und spannten erneut die Bögen. Wir gewinnen, dachte ich. Jetzt zeige ich, was ich kann. Ich war ungewöhnlich stolz auf meinen Clan, erhob das Schwert mit beiden Händen und rannte auf die letzten kampffähigen Dänen zu.

Eine laute Warnung von Elisud stoppte meinen naiven Angriff. Plötzlich wimmelte es von geharnischten, bärtigen Kriegern mit glänzenden Helmen. Trotz des kurzen Abstands tötete Rhi zwei von ihnen mit seinen Pfeilen. Elisud fiel, als ein Schildbuckel sein Gesicht zerquetschte, gefolgt von einer Streitaxt. Dafis Pfeil traf Elisuds Mörder in der Schulter, was ihn jedoch nicht aufhielt. Dafi warf sich zur Seite, um der Axt zu entgehen, rollte herum und schoss einen Pfeil in den Hals des Dänen.

Dafi jubelte über seinen Treffer, doch im nächsten Moment spaltete eine riesige Axt, geschwungen von einem ebenso riesigen Mann mit Schuppenpanzer, seinen Schädel bis zum Hals.

Der Hüne zog die Axt aus Dafis Kopf und walzte auf Rhi zu. Das Clanoberhaupt spannte den Bogen und schoss blitzschnell, doch der Däne hielt die Axt vors Gesicht und drehte sie ebenso rasch. Mit einem lauten Klicken prallte der Pfeil an der Schneide ab und fiel zu Boden. Rhi griff nach seinem Köcher. Er war leer. Hastig warf Rhi den Bogen weg, zog das Messer und das kleine Schwert und ging ein paar Schritte auf den Wald zu, doch bald merkte er, dass er umzingelt war.

«Willst du kämpfen, Sachse?», fragte Dafis Mörder und lachte höhnisch.

Ein Mann mit einem goldenen Helm und rotem Bart trat vor und befahl, dass der Räuber seinen Kampf bekommen sollte. «Vielleicht kann Torkil dann heute Abend trinken, ohne zum Berserker zu werden.»

Die Dänen spotteten und lachten. Rhi hatte keine Chance gegen den Riesen Torkil, und obwohl ich Rhi hasste, kochte ich vor Wut. Und Wut ist nie gut für einen klaren Kopf.

Torkil forderte Rhi auf, sein Essbesteck wegzuwerfen und einen raschen Tod entgegenzunehmen. Er würde sowieso das Blut von Rhis Gesicht pissen, damit er besser aussah als im Leben.

Das war ein gutes Angebot, doch leider verstand Rhi kein Wort. Als Antwort warf er das Messer gegen Torkil und traf den oberen Teil des Harnischs. Das Messer prallte nach oben ab und riss einen fingerlangen Schnitt in Torkils Wange.

Der Riese grunzte überrascht und schwang die Axt in einer Acht vor sich, während das Blut seinen blonden Bart rot färbte. Dann stürzte er auf Rhi zu.

Rhi warf sich zur Seite und entging dem Hieb. Dies gelang ihm dreimal, bis er endlich mit dem Schwert zurückschlug. Die Klinge zerbrach an der Schneide der Axt, und Rhi sah sich nach einem Fluchtweg um.

«He, Räuber! Bete zu deinem angenagelten Weibergott!», zischte Torkil mit blutigem Mund und ließ die Axt auf Rhi niedersausen. Rhi duckte sich, aber Torkils Axt wechselte so schnell die Richtung, dass Rhi überrascht auf die Knie sackte, die Augen aufriss und Torkil trotzig ansah, ehe er umkippte.

«Der war für Tyr!», brüllte Torkil und riss die Axt wieder an sich.

Es klang weniger Furcht einflößend als beabsichtigt, denn das Blut aus der Wunde an der Wange füllte seinen Mund, sodass er die Worte fast gurgelte. Torkil spuckte es auf Rhi und prahlte, er habe jetzt Lust auf einen anständigen Kampf.

In diesem Augenblick rastete ich aus. Nicht dass mich Rhis Tod sonderlich berührt hätte, aber die Ausrottung meines Clans und Torkils Beleidigungen machten mich rasend. Ich erhob das Schwert und rannte auf Torkil zu, und obwohl ich den Schaft mit beiden Händen hielt, fraß sich die Klinge mit jedem Schritt in meine Schulter.

«Für Thor!» Es war mein erster Kriegsruf in der Sprache der Dänen, er kam ganz von selbst.

Torkil spuckte mehr Blut auf den Boden und sah mich überrascht an.

«Für Thor!», schrie ich noch einmal und schwang das Schwert mit aller Kraft, die ein Dreizehnjähriger aufbringen konnte.

Es war ein erbärmlicher Hieb, der nicht viel Schaden anrichtete und auf den ich nicht stolz bin.

Torkil packte die Klinge mit der linken Hand, wobei er den kleinen Finger verlor, und entriss mir mühelos das Schwert. Er grinste und sagte zu seinen Freunden: «Seht euch diese mickrige Ameise an …»

Ich trat ihm so fest in die Eier, dass ich dachte, mein Fuß würde brechen.

Torkil stieß einen Schmerzensschrei aus, sank auf die Knie und hielt die Hände in den Schritt. Mit Staunen stellte ich fest, wie schnell ich war.

«Stirb, Sklave Lokis», jaulte ich aus unerklärlichen Gründen und schlug ihm die Faust ins Gesicht, was keine andere Wirkung hatte, als dass Torkil stöhnend eine Hand aus dem Schritt nahm und mich mit dem Handrücken k.o. schlug.

Später erfuhr ich, dass Torkil nie zuvor Schmerz gezeigt hatte, nicht einmal, als ihm ein Schmied mit seiner Zange einen faulen Backenzahn gezogen und gleich zwei gesunde Zähne mit erwischt hatte. Der sturzbetrunkene Schmied hatte den Irrtum nicht überlebt, aber Torkil hatte die ganze Zeit nur gelacht.

Als ich wieder zu mir kam, saß Torkil auf einem Stein und hielt sich noch immer mit einer Hand den Schritt. Mit der anderen presste er einen Lumpen an seine Wange. Ihm fehlte ein kleiner Finger, und was ich von seinem Gesicht sehen konnte, war kreidebleich. Er atmete angestrengt und sah mich verblüfft an.

«Du hast mir den kleinen Finger meiner Schildhand genommen», sagte er, als hätte ich ihm einen Krug Mehl gestohlen.

Ich nickte. «Du hast meinen Vater getötet.»

Er erwiderte das Nicken, und falls er verwundert war, weil ich seine Sprache konnte, ließ er es sich nicht anmerken. Er sah auf seine linke Hand. «Ich habe ihn nicht so oft gebraucht», nuschelte er.

«Ich habe ihn nicht besonders gemocht.»

«Wen, Junge?», fragte Torkil, wechselte die Position und stöhnte.

Ich zeigte auf Rhi, der noch an derselben Stelle lag, das zerbrochene Schwert in der Hand. Das steigerte zumindest seine Chancen, zu Odins auserwählten Kriegern nach Walhall zu kommen, aber ich bezweifelte, dass Rhi mit dem Volk, das ihn getötet hatte, an einem Tisch sitzen wollte. Ohne ein Schwert in der Hand riskiert ein Krieger, bei Freya in Folkwang zu landen oder – noch schlimmer – bei der Riesin in Hel. Kein Mann will so enden.

«Meinen Vater», sagte ich und spuckte in dessen Richtung. «Den Drecksack.»

Torkil schüttelte den Kopf und sagte, dass ihm wohl nichts anderes übrig bliebe, als mich zu töten – als Strafe für den Finger. Aber er bedaure das mit Rhi, und außerdem sei ich ein guter Junge.

Er stand auf, zog mich hoch und klopfte mir mit der flachen Seite der Axt auf den Rücken. «So ein feiner, junger Kerl», sagte er. «Bald siehst du aus wie ein platt getrampelter Kuhfladen.»

Ich nickte und betrachtete die Wunde, die Rhis Messer ihm zugefügt hatte. Sie begann einen Fingerbreit neben dem Mundwinkel und zog sich bis unter sein Ohrläppchen. Trotz meiner Angst konnte ich mir eine schnippische Bemerkung nicht verkneifen – diese Angewohnheit werde ich wohl nie los. «Euer Lächeln ist ein wenig breiter geworden, mein Herr, aber das steht euch gut», sagte ich.

Brüllendes Gelächter rief mir ins Bewusstsein, dass wir Zuschauer hatten. Offenbar amüsierten sie sich köstlich über Torkils Missgeschick.

Torkil der Lachende, wie er später genannt wurde, hob die Axt. «Grüß deinen Vater von mir, du kleines Stück Dreck», zischte er.

Starr vor Schreck starrte ich die Schneide an, auf der noch Rhis Blut klebte.

«Aufhören, Torkil!», donnerte eine Stimme.

«Er gehört mir, Herr», grunzte Torkil und packte mich am Arm. Meinen mutigen Worten zum Trotz hatte ich mir beim Anblick der großen Axt fast in die Hosen gepisst.

Der große Mann mit dem goldenen Helm und dem roten geflochtenen Bart baute sich vor mir auf. Seine breiten Arme quollen aus dem kurzärmeligen Kettenhemd, bedeckt mit etlichen Silberringen. An seinem Gürtel hing ein Schwert, dessen Knauf und Scheide mit Silber verziert waren.

Er nahm den Helm ab und ging vor mir in die Hocke. Auf seinen Hals war ein Drachenschwanz tätowiert, der sich bis über die Stirn zog. Das Schwanzende schlang sich genau zwischen den dichten Augenbrauen um Thors Hammer. Das Haar des Mannes glänzte wie frisch geschmiedetes Kupfer, und einen Augenblick lang dachte ich, Thor persönlich stünde vor mir. Doch an den Schläfen und im Nacken war sein Haar kurz rasiert, gegen die Läuse, was Thor sicher nicht nötig hatte.

«Wie heißt du, Junge?»

Ich antwortete nicht.

«Hast du einen Namen, oder sollen wir dich einfach Schnellfuß nennen?» Er lachte schallend und sah Torkil von der Seite an.

«Genug, Rollo Jarl. Wenn du willst, verpasse ich dir gern auch so einen Tritt», brummelte Torkil. «Es war wie ein Schlag von Mjölnir.» Sie sahen einander an und lachten herzhaft.

«Du antwortest nicht auf meine Frage», sagte Rollo Jarl, «obwohl du unsere Sprache sprichst?»

Mein Mund war trocken, ihre Nähe überwältigte mich. Seit Rhi meine Mutter getötet hatte, hatte ich ihre Sprache nicht mehr gesprochen, und nun bekam ich kein Wort heraus.

«In Ordnung.» Er stand auf und nickte Torkil zu. «Er gehört dir.»

«Wartet», quäkte ich, und meine Stimme wurde mit jedem Wort klarer. «Ich heiße Ulv.»

Rollo Jarl lächelte. «Ulv wer?»

Ich wollte schon «Rhison» antworten, doch dann schüttelte ich den Kopf. «Nur Ulv, wie der Wolf.»

Rollo nickte. «Weißt du, wer ich bin, Ulv Schnellfuß?»

«Nein, Herr.»

«Ich bin Rollo, Jarl von Låland.» Er legte die Hand auf meine Schulter. Damals wusste ich noch nicht, dass die Dänen ihre Gefangenen freundlich behandeln, um sie zum Reden zu bringen. Ich wusste auch nicht, dass Rollo Jarl mich als Sklaven haben wollte, es sei denn, Torkil bestand darauf, mich zu töten. Er hatte das Recht dazu und hielt sich nur so lange zurück, bis Rollo Jarl erfahren hatte, was er wollte.

«Wo ist der Rest deines Clans, Ulv?»

Ich zuckte mit den Schultern. «Hier.» Ich zeigte auf Rhi und Meuric.

«Die Frauen und Kinder?», fragte Rollo.

«Die haben wir hier gesucht, Herr.»

Rollo sah mich an und nickte. «Kannst du zählen, Ulv? Wie groß ist euer Clan?»

Ich nickte. «Zehn Männer, zwölf Frauen und fünf Kinder.»

Rollo strich mit der Hand durch mein rotes Haar, stand auf und sah mich an. «Warum sprichst du unsere Sprache, obwohl du bei den Sachsen, Pikten und Räubern lebst?»

«Meine Mutter war aus dem Land der Dänen.»

«Wie hieß sie?»

Ich musste nachdenken, weil ich sie nie bei ihrem Namen genannt hatte und es über ein Jahr her war, seit Rhi sie getötet hatte. «Ingeborg. Sie hieß Ingeborg.»

Rollo Jarl sah enttäuscht aus. Er seufzte und sah Torkil an, der mit einer Hand einen Lappen auf seine Wunde drückte und in der anderen die Axt bereithielt. «Nur Ingeborg, nichts weiter?»

Ich zuckte mit den Schultern.

«Woher kam sie?»

«Aus dem Land der Dänen.»

«Das hast du schon gesagt. Aber aus welchem der Länder?»

Ich dachte angestrengt nach und hätte gern eine interessante Antwort gegeben, doch ich kam nur auf einen kurzen, mir fremden Namen, dem ich keine Bedeutung zumaß. «Aus Fünen.»

«Fünen?» wiederholte Rollo.

Ich nickte, und Rollo kratzte sich am Bart. «Aus Odins Vi auf Fünen», sagte ich, obwohl ich nicht sicher war. Aber meine Mutter hatte den Namen öfter genannt, und dabei wurde sie immer traurig und versank tief in Gedanken. Und manchmal rief sie nachts nach einer Person, die nicht in unserem Dorf lebte, und weinte laut.

«Warum hat sie bei den Sachsen gelebt?», fragte Rollo.

Das wusste ich nicht, aber ich suchte nach einer Antwort für den geharnischten Jarl. «Sie … sie hat mit ihrer kleinen Schwester das Land verlassen, sie haben auf einem Drachenschiff das Meer überquert.»

«Auf welchem Schiff?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Hat ihre Schwester einen Namen?»

Ich nickte. «Sie selbst hat sich Isabella genannt, aber meine Mutter nannte sie Heldis.»

«Heldis?» Rollo kratzte sich am Bart und meinte, Heldis müsse eine Sklavin gewesen sein. «Und dein Vater hat sie also getötet?»

«Ja. Heldis hat versucht, ihn aufzuhalten. Da hat er zuerst sein Schwert in Heldis gerammt, und als meine Mutter sich noch immer nicht fügen wollte, hat er auch sie getötet.» Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich blinzelte sie fort.

«Wollte er sie vögeln?»

Damals war ich nicht sicher, was «vögeln» bedeutete. Er vertiefte es nicht, und ich schwieg.

«Er wollte sie vögeln!», konstatierte er mit abwesendem Blick.

«Er war betrunken, Herr», sagte ich, was stimmte. Doch Rollo hatte sein Interesse an mir verloren. Er rief nach einem Mann namens Eskil Steuermann und stieg in eines der Schiffe. Ich verlor mich in Erinnerungen an Mutter und Heldis, die Rollo für die Sklavin meiner Mutter gehalten hatte. Ich vermisste sie beide mehr denn je.

Torkil der Lachende riss mich aus den Gedanken. Er verprügelte mich gründlicher, als Rhi es je getan hatte, und als ich wie ein blutiger Klumpen Brotteig am Ufer lag, setzte er sich neben mich und seufzte tief. «Was willst du lieber, Junge, die Axt oder Sklaverei?»

Ich hatte keine Ahnung, was der Tod bedeutete und wollte es auch nicht unbedingt herausfinden, aber die Schmerzen, die Sehnsucht nach Mutter und Torkils Hohn machten mich trotzig.

«Die Axt, Herr. Nehmt die Axt, ich kann nicht als Sklave leben.» Ich richtete mich halb auf die Knie auf und warf einen Blick auf Rhi, der selbst im Tod noch Kraft ausstrahlte.

«Vielleicht könnt ihr mir ein Schwert in die Hand geben, wenn die Axt fällt?»

Er nickte, zog mich zu einem flachen Stein und befahl mir, den Kopf daraufzulegen. «Schieb deinen Kopf weit genug über die Kante, damit ich mir keine Kerben in die Axt haue. Das wäre ärgerlich», sagte er.

Mir war das herzlich egal. Ich starrte auf den kupferfarbenen Stein, der dieselbe Farbe wie mein Haar hatte. In der Mitte strahlte ein Fleck aus demselben Grün wie die Augen meiner Mutter. Torkil folgte meinem Blick, dann sah er mir tief in die Augen. Irritiert flackerte sein Blick zwischen dem Stein und mir, und er seufzte tief.

«Ein Zeichen», flüsterte er, griff sich an den Hals und zog ein Lederband hervor, an dem ein Thorshammer aus Holz hing. «Ich kann dich nicht hinrichten.» Verärgert ließ er das Amulett los. «Steh auf», befahl er und zog mich am Ohr. «Du bist jetzt ein Sklave, Ulv Schnellfuß, und wenn du dazu nicht taugst, kann ich dir immer noch den Kopf abschlagen.»

Wieder kochte die Wut in mir hoch. Ich fluchte verbissen und versuchte vergeblich, ihm noch einmal in die Eier zu treten. Torkil ging ungerührt weiter und zog mich so fest am Ohr, dass ich kaum den Boden berührte. Als es Torkil zu viel wurde mit meiner Zappelei, versetzte er mir mit der flachen Seite der Axt einen Schlag in den Nacken. Völlig benebelt landete ich an Bord eines Schiffes, wurde mit den Füßen an eine Ruderbank gekettet und bekam einen eisernen Ring um den Hals gelegt.

Torkil der Lachende verkaufte mich an Rollo Jarl, der mich unter die Aufsicht von Eskil Steuermann stellte, einem hinterfotzigen Kerl, der keinen Spaß verstand. Als Erstes ließ er mich gründlich von Kopf bis Fuß durchsuchen, was sein Auspeitscher mit großem Eifer erledigte.

Torgrim Peitschenhalter nahm mir mein grünes Mjölnir-Amulett ab und schlug mich bewusstlos, weil ich mich darüber beschwerte. Als ich wieder zu mir kam, hatte er mir den Kopf kahl geschoren, was bei den Dänen Sitte ist, um ihre Sklaven zu entlausen. Es war entwürdigend.

Ich beschwerte mich erneut, besonders wegen des Amuletts, und wieder gab Torgrim mir eine gehörige Abreibung. Wir passten gut zusammen, wir beide – ich klagte, er prügelte. Das Ganze fünfmal, bis die Grütze zum Abendessen fertig war, und jedes Mal grinste er breiter. Meine Nase tat irrsinnig weh, meine Augen waren so zugeschwollen, dass ich kaum etwas sehen konnte, auch die Lippen waren dick. Als der Küchensklave mit der Grütze kam, lag ich in meinem eigenen Blut und Urin am Schiffsboden.

«Du musst deine Zunge hüten», sagte der Küchensklave. «Die Dänen sind unberechenbar, besonders wenn sie Bier getrunken haben.» Er schaute wie ein Heiliger drein, als er mir die Kelle mit der Grütze reichte. «Wenn sie in ihrer Hundesprache Lieder grölen, solltest du dich unter der Bank verstecken, denn dann sitzt ihr Schwert immer locker.»

Ich nickte, und obwohl der Küchensklave ein Trottel war, hatte er wohl recht. Trotzdem antwortete ich in seiner Sprache, dass ich selbst Däne sei, und genoss die Panik in seinen Augen, als er die leere Kelle zurücknahm und weiterging. Es half ein wenig gegen die Schmerzen.

Kapitel 2

Nach ein paar Tagen hatten meine Nase, Augen und Lippen wieder annähernd ihre normale Form, und die blauen Flecken taten weniger weh. Während meiner Genesung kamen immer mehr Dänen mit Beutegut und Sklaven im Lager an.

Die rauen Männer aus dem Norden faszinierten mich in jeder Hinsicht, und ich studierte sie ausgiebig. Ihre Waffen, Rüstungen und ihr brutales Auftreten waren anders als alles, was ich gewohnt war. Viele von ihnen hatten blaue Augen und rotes oder blondes Haar, das über den Ohren und im Nacken oft kurz rasiert war. Ihre Bärte waren buschig oder geflochten.

Bei den Cymru waren Mutter und ich die einzigen Rothaarigen gewesen, und obwohl es auch unter den Sachsen ein paar Rotschöpfe oder Blonde gab, hatte ich noch nie so viele Hellhaarige an einem Ort gesehen.

Außerdem hatten die Dänen die seltsame Sitte, Gesicht und Bart häufig zu waschen. Viele benutzten sogar Hornkämme. Doch wer sie deshalb für sanfter hielt, wurde rasch eines Besseren belehrt. Sie waren hart, zynisch und gnadenlos und nahmen sich, was sie wollten – daran änderte auch das Waschen und Kämmen nichts.

Auf unserem Schiff sammelten sich immer mehr Sklaven und Diebesgut an: Schaffelle, Getreidesäcke, Fässer und vieles andere. Auf dem Achterdeck, gegenüber dem Steuerruder, standen ein silberbeschlagener Schrein, ein geflochtener Käfig mit vier Hühnern und ein Fass Bier. Gerade als ich dachte, es sei kein Platz mehr an Bord, kamen nochmals acht Männer in Harnischen, die mit Hohn und Gelächter begrüßt wurden.

«Hast du dich verlaufen, Birger Kundschafter?», lachte Torgrim. Birger nickte und sagte, es sei unmöglich, sich in den Wäldern dieses Scheißlandes zurechtzufinden.

«Deshalb plündere ich lieber Schiffe, Torgrim Peitschenhalter.» Birger sah sich um. «Warum sind wir an Bord der Havormen – wo ist die Svipdag?»

Torgrim warf einen Blick auf Eskil Steuermann und murmelte eine Antwort, die ich nicht verstand. Birger lachte laut. «So, so. Verbrannt?»

«Schsch!» Torgrim legte den Zeigefinger an den Mund. «Kein Wort darüber, oder Eskil wird sauer.»

 

Meine neue Welt hieß also Havormen – die Seeschlange. Ein schöner Name für ein Schiff mit einem kleinen, aber kunstvollen Drachenkopf am Steven. Es waren zu wenig Dänen an Bord für die zwanzig Riemen der Havormen, doch sie hatten auch gar nicht vor, selbst zu rudern, und waren ohnehin viel zu betrunken dazu. Aber der Raubzug war lukrativ gewesen. Nach und nach füllten sich die Ruderbänke mit Sklaven.

Ich wusste, dass der Irthing in den Eden floss, der wiederum in das Große Meer mündete. An den Ufern lagen viele Klöster und Dörfer, von denen Carluel das größte war. Der Wasserstand des Irthing war meist hoch genug zum Rudern, deshalb waren die Männer gut gelaunt. Das Silber in ihren Taschen klimperte fast so laut wie ihr Gelächter.

Trotz Torgrims Prügel saß ich aufrecht auf der Bank und beobachtete aufmerksam die Umgebung. Gegen die Dänen konnte ich nichts ausrichten, und die Sklaven waren mir egal, aber das Schiff faszinierte mich. Das Segel hatten sie abgenommen, und die Rah lag auf zwei gegabelten Stützen. Darunter lagen das gefaltete graue Wollsegel und jede Menge Tauwerk. Die Bänke verliefen von einer Bordwand zur anderen, außer um den Mast. Die Riemen lagen bereit, die Ruderlöcher waren noch verschlossen.

Es war eng an Bord der Havormen. Nicht nur im Lastenraum, sondern auch an Deck, und die Bänke waren beladen mit Beutestücken, Essensvorräten, Trinkwasserfässern, Waffen, zusammengelegten Zelten und Kleidungsstücken. Dazu kamen noch die Besatzung und die Sklaven. Eingegrenzt wurde meine neue Welt von den zerkratzten Schilden, die rundum an der Reling hingen.

 

Eskil gab den Befehl zum Auslaufen. Mit wenigen Worten brachte er die faulen Dänen auf Trab, die mit einem Mal perfekt zusammenarbeiteten. Die schmale Landgangsplanke wurde eingezogen und die Havormen ins Wasser geschoben. Ich erinnere mich noch genau an das zittrige Gefühl, weil ich zum ersten Mal auf einem Schiff fuhr. Ich spürte jede noch so kleine Bewegung.

Die letzten Dänen sprangen an Bord, und wir stakten die Havormen in die Mitte des Flusses. Dann beorderte Eskil uns zurück auf die Ruderbänke und nahm seinen Platz auf dem erhöhten Achterdeck ein.

«Sie gehört dir, Bjørn», sagte Eskil zu dem Mann am Steuerruder. Die Havormen glitt ruhig den Fluss hinab, und Torgrim nutzte die Gelegenheit, um seine Peitschenhand zu trainieren. Abwechselnd erklangen das Geheul der Sklaven, die keine Ahnung vom Rudern hatten, und das Knallen der Peitsche. Ich bekam zwei brennende Hiebe auf den Rücken, schrie mit den anderen und verfluchte Torgrim inständig.

Nach dem dritten Hieb fühlte ich das dringende Bedürfnis, ihm etwas Schweres über den Schädel zu ziehen. Dennoch musste ich seine Ausdauer loben, die mir half, schnell den Rhythmus zu finden, und es freute mich, dass nur noch die anderen seine Hiebe abbekamen.

Die meisten Sklaven sind einfältige Idioten, doch auch für freie Männer ist es nicht immer leicht, sich auf den Takt der Riemen einzustimmen. Man muss es mit dem ganzen Körper spüren, wann das Ruderblatt eingetaucht, durchgezogen, wieder aus dem Wasser gehoben und nach vorn geschoben wird – wieder und wieder. Die erwachsenen Sklaven hatten jeweils einen Riemen, während die jungen zu zweit an einem saßen. Ich saß allein, aber das störte mich nicht, denn für mich war es kein Problem, ein Schiff wie die Havormen zu rudern.

«Burg!», rief Eskil, als der Fluss schmaler wurde und eine Biegung machte. Wie auf einen Zauberschlag hin standen alle Dänen auf und rissen Waffen und Schilde an sich. Was sie eine Burg nannten, hieß bei uns Banna. Es war eine alte steinerne Festung, was der einzige Grund war, dass sie nicht geplündert und verbrannt war.

Auf dem Turm standen Männer, Frauen und Mönche, die das Glück gehabt hatten, den Dänen zu entkommen. Sie drohten uns mit Speeren, Äxten, Schwertern und Fäusten und sogar mit einem großen Kreuz.

«Der Herr sieht euch! Der Herr sieht alles und wird euch am Jüngsten Tag gnadenlos bestrafen!», rief ein Mann. «Amen!»

Dann sangen sie alle von ihrem Herrn und dem Erzengel Michael, der mit Satan kämpfte. Anstatt zu psalmodieren, hätten die Schreihälse besser zum Fluss hinunterstürmen und die Dänen abschlachten sollen, die sich vor Lachen die Bäuche hielten.

«Bei Odin, welch schöner Gesang! Kommt aus eurem schönen Steinhaus und tanzt für uns, ihr frommen Lämmer!», brüllte Birger und tanzte über die Riemen. Weil er sich gleichzeitig vor Lachen schüttelte, fiel er ins Wasser.

Die Dänen fischten ihn wieder heraus, und unter noch mehr Gelächter ließen wir die alte Festung hinter uns.

 

Bald erreichten wir Lanercost, das am äußeren Rand meiner vertrauten Welt lag. Dort empfing uns der Geruch von brennenden Strohdächern. Das Kloster stand lichterloh in Flammen.

«Riemen einziehen!», rief Eskil und zeigte auf einen Steg, an dem mehrere Schiffe wie die Havormen, bloß noch größer, vertäut waren. «Anlegen, Bjørn.»

Mit viel Hilfe von Torgrims Peitsche wurden die Riemen eingezogen. Bjørn steuerte die Havormen an einen freien Platz, und das Schiff stieß gegen den Anleger.

«Bjørn, du sollst uns nicht an Land katapultieren, sondern anlegen», rief Eskil.

«Das kommt davon, dass nur Schwächlinge an den Riemen sitzen», erwiderte Bjørn sauer. Die Havormen wurde zurückgestoßen, und die Dänen mussten sie wieder an den Steg heranstaken.

Auf dem Anleger von Lanercost stapelte sich das Diebesgut, sortiert in Haufen, die mit den Wappen der jeweiligen Besitzer markiert waren.

Birger sprang auf die Brücke und machte das Schiff an einem Pfahl fest, ohne den Blick von einem mannshohen silberbeschlagenen Kreuz abzuwenden.

«Birger!», schrie Eskil, als die Trosse von dem Pfahl rutschte und das Schiff abzudriften drohte.

«Tut mir leid», sagte Birger. «Man wird ja richtig geblendet von dem ganzen Silber hier.» Er spannte die Trosse und folgte der Mannschaft, die auf einen Mann mit goldenen Armringen und einem Schwert am Rücken zulief, der alle einlud und großzügig Bier aus einem offenen Fass ausschenkte.

Damals hatte ich noch kein Verhältnis zu Bier. Ich hatte das göttliche Gebräu erst einmal probiert und das in einer besonders bitteren Variante. Vielleicht spricht hier der alte Ulv, aber ich erinnere mich an einen inneren Drang, den Männern zu folgen und das verlockende Getränk zu kosten.

Plötzlich ertönte ein Schrei, gefolgt von einer Tirade aus Schimpfwörtern. Ich vergaß das Fass und erblickte einen Mann, der mehrere Sklaven an einem Seil hinter sich herzog. Sie trugen Joche um den Hals.

«Schneller, ihr elenden Hunde!», brüllte er und zerrte an dem Seil. Von links und rechts schlugen und traten die Dänen nach allen, die nicht schnell genug gingen. Zwei der Sklaven humpelten arg, einer sogar so sehr, dass er stürzte. Dank eines gezielten Axthiebs stand er nicht mehr auf.

«Ketil, du schlägst bares Silber tot», rief ein Däne.

«Krüppel wie der fressen mehr, als sie wert sind», antwortete Ketil. Rund um das Bierfass brach schallendes Gelächter aus. Ein ordentlicher Hieb mit der Axt sei doch mehr wert als eine Handvoll Silber, sagte einer.

Auf das Lachen folgten Pfiffe und Grölen, denn als Nächstes kam eine Reihe Sklavinnen mit zerrissenen Kleidern. Sie waren mit einem Strick um die Hälse aneinandergebunden, hatten aber die Hände frei. Ein paar von ihnen hielten sie vor die nackten Brüste, doch die meisten schritten mit leeren Gesichtern vorbei.

Der edle Spender verließ sein Fass, als noch mehr Dänen mit Diebesgut und Sklaven ankamen. Offenbar war er nicht nur Handelsmann, sondern auch Krieger.

Ich ließ den Blick über die aufgehäufte Beute schweifen: gegerbte Tierhäute, Wolle, Holzkisten, Werkzeug, Geschirr und Waffen. Weitere Haufen bestanden aus Lebensmitteln, Bier- und Weinfässern, Getreidesäcken und Weidenkäfigen mit Hühnern. Die letzte und wertvollste Ladung waren die Sklaven. Sie saßen gefesselt am Boden, aufgeteilt nach Geschlecht und Besitzer. Es wurden stetig mehr. In meinen unerfahrenen Augen sahen die Anleger von Lanercost aus wie der Markt in Carluel, von dem die älteren Cymru oft mit glänzenden Augen schwärmten.

Eskil ging an Land und wurde fröhlich von unserem Wirt begrüßt, der meinte, er sehe durstig aus, und ihm ein großes Trinkhorn voll Bier reichte. Eskil trank gierig, wischte sich den Schaum aus dem Bart, rülpste laut und nickte zufrieden. «Gutes Bier, Snorre», sagte er und hob erneut das Horn.

«Ja», sagte Snorre und nickte in Richtung der rauchenden Klosterruine. «Diese Mönche wissen, wie man Bier braut. Schade, dass wir sie fast alle umbringen mussten.»

Eskil schmatzte grinsend. «Warum habt ihr den Braumeister nicht verschont?»

Snorre zuckte mit den Schultern. «Sie wollten nicht verraten, wer es ist. Sie haben uns verflucht und mit Kreuzen, Schriftrollen und einem halben Unterkiefer bedroht.»

«Schade», sagte Eskil und kratzte sich am Bart. «Wem gehörte der Unterkiefer?»

«Irgendeinem, den sie Sankt Orrogh nannten», sagte Snorre. «Oder Sankt Oswald. Der Mönch war schwer zu verstehen mit Sven Tryggvasons Schwert im Hals.»

Eskil trank weiter, während Snorre ihn zu einer Gruppe Sklaven führte.

Sie redeten eine Weile und schienen nicht ganz einig, doch am Ende lachten beide, tranken aus dem gleichen Horn und schlossen ihren Handel mit einem Händedruck ab.

«Mach’s gut, Eskil Steuermann», sagte Snorre Bierschenk und wandte sich einer Gruppe Neuankömmlinge zu.

Als Resultat ihres Handels stiegen sechs verschreckte Sklaven an Bord und wurden gleich an die Ruderbänke gekettet, die meisten in Paaren. Ich saß weiter allein auf meiner Bank, womit ich im Grunde zufrieden war.

Mit Schaum im Bart und dem seligen Lächeln eines Dänen, der gutes Bier bekommen hat, stieg Eskil an Bord. Er rülpste laut und befahl Birger, die Leinen zu lösen.

Als die Havormen hinausgeschoben wurde und Birger an Bord sprang, kam Snorre zurück und fragte breit grinsend, ob der Steuermann vielleicht noch einen Rudersklaven brauche. Eskil antwortete, er habe schon mehr als genug für die armseligen Schwächlinge bezahlt.

«Nur wenn es der Braumeister ist und du mir einen Freundschaftspreis machst …»

«Vielleicht ist er es – vielleicht auch nicht», rief Snorre. «Jedenfalls kriegst du den hier gratis von mir dazu.» Eine bekuttete Gestalt wirbelte über die Reling, landete vor Eskils Füßen und begann zu salbadern, noch ehe sie auf die Füße kam. Eskil sah verächtlich auf ihn herab und versuchte, das Hohngelächter der anderen Dänen am Ufer zu ignorieren.

«Guter Mann», sagte der magere sächsische Bursche, der höchstens sechzehn oder siebzehn war. «Der Herr schaut mit Missgunst auf euch und eure Freunde, die ihr seine Geduld aufs Gröbste missbraucht.» Er bekreuzigte sich und richtete einen zitternden Finger auf Eskil. «Ihr werdet für eure Missetaten bestraft werden und für eure Teufelsanbeterei, denn es gibt nur einen Gott, und der …»