Milva Lotti SommerEis - Thorolf Gorski - E-Book

Milva Lotti SommerEis E-Book

Thorolf Gorski

4,8

Beschreibung

Milva Lotti ist noch immer der Geheimtipp unter den Verzweifelten der Hansestadt Hamburg. Nachdem ihr Leben eine Wende nimmt, wirft ihr Sorgentelefon zwar jede Menge brisante Situationen aus, aber es reicht nicht aus, um davon leben zu können. Ein Job muss her. Das Schicksal hält allerdings noch etwas mehr für sie bereit: Männerbekanntschaften aus dem Chat. Die kommen ihr gerade recht, denn auf einen Mann will sie sich maximal elektronisch einlassen. Kurze Zeit später sitzt sie wieder im Flugzeug, um vor ihrem Leben davonzujetten - dazu noch in einem unbequemen Kleid, Modell "Meerjungfrau". Nordisch frisch und turbulent - ganz Milva Lotti.

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Für all jene, die schon einmal allein gewesen sind, obwohl sie das so nie geplant hatten.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins: In der Falle

Kapitel Zwei: Spezialagentin Milva Lotti

Kapitel Drei: Das Odysseus-Syndrom

Kapitel Vier: Sterne in der Mönckebergstraße

Kapitel Fünf: Das Lamm und der Lump

Kapitel Sechs: Schlangen hinter Schleiern

Kapitel Sieben: Porzellanzarte Popöchen

Kapitel Acht: Mit Schmackes

Kapitel Neun: Mexiko um halb sechs

Kapitel Zehn: Online-Gigolo

Kapitel Elf: Mein Perser

Kapitel Zwölf: Unantastbar

Kapitel Dreizehn: Eine Schüssel Reis

Kapitel Vierzehn: Sommereis

Kapitel Fünfzehn: Die elektronische Beziehung

Kapitel Eins

In der Falle

»Haben Sie Flugangst?«, fragt mich eine kühle Stimme von der Seite, während ich verzweifelt versuche, den Gurt von meiner Hüfte loszumachen. Ich wollte ihn bloß ausprobieren und nun bekomme ich ihn nicht wieder gelöst. Besonders vertrauenerweckend finde ich das nicht, gerade für eine deutsche Fluggesellschaft.

Ich bin in großer Not. Vor dem Start muss ich unbedingt noch einmal an mein Handgepäck, um nachzusehen, ob ich alles dabei habe, was ich benötige.

Das sind mein Personalausweis, mein Reisepass, meine Geburtsurkunde, meine Meldebestätigung und mein Visum. Fünf Dinge. Mindestens sieben Mal habe ich sie gezählt. Nun befürchte ich, dass die Meldebescheinigung eine alte und damit die Verkehrte sein könnte.

Zur Erinnerung daran habe ich mir die Zahl ›5‹ auf den Handrücken geschrieben, mit einem Kugelschreiber. Die beklierte Hand sieht wenig erwachsen aus. Und schon gar nicht weiblich, eher kindisch. Ganz im Gegensatz zu meinem Kleid.

Eben war ich noch auf einer Hochzeit und nun bin ich spontan in einem Flieger gelandet und befinde mich auf einer Art Flucht.

Glauben Sie mir, ich bin nicht angemessen angezogen für einen Flug. Ich trage ein bodenlanges Schleppenkleid, Modell ›Meerjungfrau‹, mit ellenlangem Bogenschleppen-Saum. Es ist ärmel- und trägerlos, weshalb ich andauernd befürchten muss, dass bei einer ungeschickten Bewegung meine Möppies herauspurzeln. Mein Rücken ist bis zur Mitte frei. Deshalb klebt meine Haut am Ledersitz der Boing.

Es ist aus zartem Chiffon in der Farbe Flieder geschneidert, der eigentlich Glätte und Sanftheit auf der Haut verspricht. Das war gelogen. Er kratzt nämlich ein wenig. Dafür sieht das Kleid schön aus – zumindest bei einer Sommerhochzeit am Strand - vor allem mit der zierlichen, weinroten Schärpe. Deren Schleife drückt sich beim Sitzen ungemütlich in meinen Unterrücken. Auch die Korsage drückt, besonders oben herum. Mein Busen sieht aus, wie in einem Dirndl, weil die Schale des Kleides alles hochschiebt.

Es ist nun einmal ein Stehkleid und keineswegs ein Sitzkleid. Eines, mit dem man lediglich flanieren sollte. Vom Rand des Altars hinunter zum Beispiel. Oder auch vom Brautwagen aus bis zum seidenen Strandzelt und darin dann maximal zwischen den Stehtischen umher. Niemals jedoch auf der Tanzfläche. Bereits bei den ersten Takten würden die Gäste auf der Schleppe herumtrampeln und es zu einem beinfreien Kleid machen, das wenig nach Meerjungfrau, sondern nach abgeranzter Jungfer aussähe. Das wäre unschön und zudem äußerst peinlich.

Dieser Gefahr bin ich unverhofft entgangen und mein derzeitiges Problem ist viel akuter: der Gurt. Den bekomme ich nicht mehr auf.

Ergeben sehe ich durch die kleinen Fenster nach draußen und wünsche mich zurück zur Hochzeitsfeier am Elbstrand in Övelgönne.

Der Abend ist sonnig. Der Himmel hat eine ähnliche Färbung wie mein Kleid angenommen. Es ist kaum bewölkt. Zum Glück. Aber von schönem Wetter darf man sich im Allgemeinen nicht täuschen lassen. Das sagt die Erfahrung.

Von dicken Wolken lasse ich mich auch nicht mehr ins Bockshorn jagen. Allgemein versuche ich es zu vermeiden, Meteorologisches orakelartigen Einfluss auf meine Gedanken nehmen zu lassen.

Das Sprichwort »Ins Bockshorn jagen« stammt aus dem Umstand, eine Person auf das Horn eines Bocks zuzujagen. Aber ich schwöre, ich war nicht auf der Jagd. Viel eher bin ich der Bock. Ich wurde in dieses Flugzeug hineingezwungen. Wahrscheinlich vom Schicksal. Aber deswegen bin ich nicht weniger bedient.

Der widerspenstige Sicherheitsgurt gibt nun sein Quäntchen zu diesem Zwangscharakter hinzu.

»Geht es Ihnen gut?« Die Stimme neben mir klingt besorgt.

Am Gurt rüttelnd gebe ich ein bebendes »Ja-aaa« von mir, viel hektischer als gewollt und versehentlich auch lauter als geplant.

Die Dame, der die Stimme gehört, zieht ihren Kopf in ihren Rüschenkragen zurück wie eine Schlange.

Entsetzt halte ich inne und sehe sie an. Dabei bleibt mein Blick eine Weile auf ihrem wirklich unglaublich langen Hals liegen. Ihre Nase und Ohren sind auffallend klein und eben. Sie sehen auf natürlichem Weg gewachsen aus, das kann ich mit Bestimmtheit sagen. Ich bin nämlich Schönheitschirurgin. Neuerdings habe ich mich in meinen Beruf zurückbegeben. Zumindest annähernd.

Was mich stocken lässt, ist, dass ich Schlangen nicht über den Weg traue. Sie haben keine Gesichtszüge, bewegen sich in Zeitlupe, um dann blitzartig nach vorn zu schießen und kurzen Prozess zu machen.

Frauen, die wie eine Schlange aussehen, finde ich daher suspekt. Männer übrigens auch. Reptilienrelikte am menschlichen Erscheinungsbild sind allgemein kein gutes Zeichen. Dann sind die Gene alt. Eine alte Seele ist in Ordnung, ein altes Wesen, alte Weisheiten, alte Werte - alles super. Aber rudimentäre Gene? Medizinisch gesehen: nicht gut.

Ich möchte aufstehen und ein paar Reihen hinter mir Platz nehmen, am liebsten in der anderen Sektion hinter der Trennwand. Dort sitzt jemand, der mir um einiges lieber ist. Dort bin ich ganz bestimmt sicher vor Schlangen. Allerdings nicht vor frustrierten Seekühen. Ich spreche von einer sehr renitenten Mitbürgerin, die mir den Platztausch gleich nach dem Einstieg verwehrt hat. Sie sieht aus wie ein Manati, ist rund und stämmig. Ihre Augen sind klitzeklein, ihre Füße sehen aus wie zwei runde Fluken, ihr Gesicht ist behäbig und es ist am Kinn behaart. In Schwere und Gemächlichkeit kommt sie der Seekuh gleich. Nun aber sitze ich neben der Schlange.

»Issst ja gut!«, zischt sie spitz. »Ich bin ja direkt neben Ihnen.«

Mir wird unbehaglich. Den Gurt lasse ich erschrocken in meinen Schoß fallen.

In der Falle, denke ich. Dreizehn Stunden Flug und ausgeliefert ...

»Ist es nun Flugangst?«, will sie einen Augenblick später wissen. Ihre Augen sind sehr groß. Wahrscheinlich ist ihre freundliche Hartnäckigkeit eine Taktik. Ich denke unweigerlich an die Schlange Kaa. Die kam damals genau so langsam wie diese Dame auf das Dschungelkind zu. Hier fehlen bloß die Spiralen in ihren Augen, die mich hypnotisieren sollen.

»Wissen Sssie«, beginnt sie gedämpft zu sprechen, »ich habe auch immer ein wenig Bedenken beim Fliegen.« Dabei schlängelt sie ihre schlanke Hand langsam aus einer Falte ihres Chanelkleides. Ihr Blick bleibt starr auf mich gerichtet. Ihre Mimik ist wie eingefroren. Ihre Augen fixieren mich. Die andere Hand zieht etwas hervor, das unverkennbar ein Schlangenmuster trägt.

Oh Gott! Sie ist wirklich eine! Sie ist ein Mutant! Ich kenne das aus dem TV.

Mein Blick fällt zu dem Schlangenmuster hinunter, von dem ich dachte, es sei Teil ihrer wahren Gestalt, und ich muss eingestehen, dass meine Nerven schlicht und ergreifend blank liegen. Es ist ihre Handtasche, die übrigens wunderbar zum CC-Kleid passt.

Anders als erwartet beginnt ihr Gesichtsnerv eine Regung: ein süffisantes Lächeln, unter dem sie den Verschluss der Tasche aufschnappen lässt. Sie zieht ein kleines Fläschchen daraus hervor.

»Ressscue Tropfen?«, bietet sie mir an und hält die Flasche hoch, wie Chanel No.5. »Die helfen mir. Meissstens.«

Ich lehne dankend ab. Wer weiß schon, was da drin ist. Selbst beim Original habe ich keine guten Erinnerungen daran. Während dessen ärgere ich mich, dass ich nicht zumindest den Fensterplatz bekommen habe. Wenn der Flieger abschmiert, wäre ich nach wie vor gern die Erste, die das rettende Eiland im Ozean entdeckt, damit ich an der richtigen Seite rausspringen kann. Aber daran ist nun nicht mehr zu denken.

Ich fühle mich ausgeliefert und gehe im Kopf durch, wie wahrscheinlich es ist, dass mein Flieger niedergeht. Stochastik gehört nicht zu meinen Stärken. In Mathe habe ich genau bis zum Eckenrechnen alles verstanden. Das war in der vierten Klasse. Zum Zeitpunkt der Bruchrechnung in der siebenten Klasse wurde das Eis dünn. Allerdings retteten mich die Vergleiche mit Tortenteilen. Bei den gemischten Zahlen wie 126 300/45 bin ich dann misstrauisch geworden und Tags drauf habe ich aufgehört zu denken.

Was soll das für ein Tortenstück sein?

Die Zahlen Eins, Zwei, Drei ... - alles entspannt.

Nachkommastellen - vorstellbar.

Brüche hingegen sind für mich bereits höhere Mathematik und gemischte Zahlen gehören, meiner Meinung nach, in ein Physikerstudium.

Nun können Sie sich vorstellen, unter welcher Anstrengung ich die Landetangente dieses Fluges zu kalkulieren versuche. Mir steht kalter Schweiß auf der Stirn.

Weshalb ich zu einem Mittel wie Mathematik greife? Weil Kaa mich aufmerksam beobachtet, ganz so wie ein Beutekaninchen. Das sind extreme Bedingungen. Und wer mich kennt, wird wissen, da greife ich instinktiv zu extremen Mitteln.

Insgesamt betrachtet ist dieser Flug ähnlich extrem. Ich verstehe gar nicht, weshalb mich das Schicksal immer wieder in Flugzeuge treibt, wenn etwas aus dem Lot geraten ist. Ich bin Hamburgerin und gern in Hamburg.

Mein letzter Flug war der zu meiner Schwester nach Nizza. Für den sehr verspäteten Rückweg habe ich die Bahn genommen. Und dann habe ich mich dem gramerfüllten Gesicht meines Mannes, seinem Weh und Ach stellen müssen und gleich im Anschluss den Unannehmlichkeiten unserer Scheidung.

Weil er es vermasselt hat, reichte er die Scheidung ein - auf mein logisch dargebrachtes Drängen - und ich konnte alles behalten. Tat ich auch. Sogar seinen Namen.

Einen klangvollen Namen wie Lotti gibt man nicht besonders gern her, und Sie werden mir zustimmen, wenn ich Ihnen sage, wie mein Mädchenname lautet: Hohl.

Kleeblatt oder Hübsch, vielleicht Osterhof – das sind wohlklingende Namen, aber eine Dame namens Hohl? Das senkt den Flirtfaktor um mindestens 80%. Man verliebt sich nämlich nicht in hohle Dinger. Es sei denn, ihr Vater ist unglaublich reich und in meinem Fall ist der Vater eben nicht herausragend reich.

Nun, sogar Ralphs schicken Lammwoll-Anzug habe ich behalten. Er gab ihn nach richterlichem Beschluss her, ebenso wie seinen unsäglichen, weißen Seidenschal, der ohnehin ruiniert war. Irgendwie wollte ich ihn aber behalten, weil er so etwas wie mein Spion gewesen war. Deshalb habe ich ihn besonders lang, dafür besonders schonend, von seinen Flecken befreit.

Eines muss klar sein: Ich wollte die Kleidungsstücke nicht behalten, um deren Stoff des Nachts mit den bitteren Tränen einer Verlassenen zu durchweichen. Ich wollte sie nur, um sie bei der Kochwäsche schrumpfen zu sehen.

Normalerweise möchte man ja Rache nehmen und heckt Schlachtpläne aus, die den Ehebrecher in die Knie zwingen. Aber Ralph entpuppte sich neben den berechtigten Vorwürfen als völlig ungeeignete Zielscheibe.

Zu Zeiten unserer Ehe war das vollkommen anders. Aber ich konnte ihm schlecht den Freund ausspannen. Das kam des Freundes wegen schon mal gar nicht in Frage. Menschen, die Schnecken essen, sind mir ebenso suspekt wie Menschen, die wie Schlangen aussehen.

Seinerzeit war ich kurz davor gewesen, mir einzugestehen, dass ich an Möglichkeiten minderbegütert war. Also rief ich meine Freundin Ulli an. Und ausgerechnet sie musste dann etwas ziemlich Treffendes dazu sagen, dass meine willentlich ausgetriebenen Knospen für den Rosenkrieg im Keim erstickte: »Milva«, sagte sie, »womit willst du denn gegenanstinken? Du hast jetzt zwei Talente zu viel für Ralph. Und eines zu wenig.«

Ich blickte an mir hinunter, als sie das so forsch formulierte.

»Dort wo er nun seinen Kopf niedergehen lässt, ist bei dir im wahrsten Sinne nichts.«

Für diese Ansprache war ich stinksauer und ich habe zwei Monate nicht mit ihr gesprochen, was ihr nicht auffiel, weil wir eher sporadisch - oder wie sie sagt - sporalisch in Kontakt stehen. Eine dieser Freundschaften, die mit wenig auskommt, sogar ohne Vorwürfe.

Mit meinem besten Freund Reza hab ich auch eine Weile nicht mehr gesprochen. Die Kameradensau hätte mich vorwarnen können. Er wusste, dass mein Mann mich am anderen Ufer betrügt.

Zugegeben, er hat versucht, mich zu warnen. Aber nicht deutlich genug. Ich finde, konkrete Situationen bedürfen konkreter Aussagen. Das machen wir sonst auch so. Wir geben uns stichhaltige Schlagworte, die deutlich warnenden Charakter haben. Aber »Ich hab was geseeeeeeeeehennnn!« via SMS finde ich nicht aussagekräftig genug, um mir mitzuteilen, dass er Ralph mit Schnecken-Frank hat herumknutschen sehen.

Na, was solls? Was ändert es jetzt?

Ebenso undeutlich wie Rezas Hinweis ist die Durchsage des Piloten. »Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie an Bord …« klingt bereits heruntergeleiert. Mehr verstehe ich nicht, denn die Schlange Kaa hat mich weiterhin im Visier.

»Esss geht gleich losss. Wir starten gleich«, sagt sie und lässt dabei einen Hauch Beunruhigung in ihrer Stimme mitschwingen. Ihre langen Finger streichen achtsam das akkurate Haar zu den Seiten ihres Gesichtes fort. Es sieht aus, als wäre sie soeben vom Casting für Shampoo-Werbespots gekommen. Es ist sehr verwunderlich, welche Zerbrechlichkeit dies ihrer interessanten Schönheit verleiht.

Schlangen sind glatt und schön und unberechenbar.

Während der Pilot etwas Nuschelndes sagt und die Flugbegleiterinnen die Sicherheitsinstruktionen von sich geben, beobachte ich die falsche Schönheit dabei, wie sie ihre Beine nervös aneinander reibt. Sie sehen unter dem Stoff ihres Sommerkleides irgendwie noch immer aus wie Schlange.

Mir wird kodderig. Ich schaue verzweifelt hinter mich. Weiter hinten sieht es sicherer aus.

Sicher fühlte ich mich auch in Anwesenheit meines Scheidungsanwaltes. Er ist groß gewachsen, hat dunkles krauses Haar und graue Schläfen. Wenn man ihm nur lang genug dabei zusieht, wie er Paragrafen studiert und sich bei Geistesblitzen entschlossen an die Schläfen fasst, dann findet man ihn sexy.

Ich wollte mich ursprünglich niemals von Ralph scheiden lassen, aber die Umstände ließen nichts anderes zu. Also ließ ich mich in den Ablauf einer Scheidung und die brillanten Worte meines Anwalts einwickeln. Gut gewählte Worte finde ich ebenso anziehend – egal worum es geht. Solange ich das Gefühl habe, ein Mann weiß genau, wovon er spricht, bin ich beeindruckt. Fängt sein Wissen an, fadenscheinig zu werden, fällt alle Erotik ins Wasser. Bleibt er allerdings am Ball, hänge ich an seinen Lippen.

An denen meines Anwalts hing ich auch eine Weile, bis ich ihn dann küsste. Ich bin mir gar nicht sicher, ob es verboten ist, seinen Scheidungsanwalt abzuknutschen, aber es half ungemein, denn er legte sich danach für den Lamm-Anzug und auch für alles andere dermaßen ins Zeug, als gäbe es kein Morgen mehr.

Sowohl das Familiengericht als auch Ralph fanden es hinterher nur logisch, alles herauszugeben. Ihm blieb nichts, als eine Jeans und zwei T-Shirts. Und der Wagen. Ein wirklich schnelles Ding, dessen schwergängige Pedale nichts für Frauenfüße sind. In der Hinsicht ist Ralph ein echter Kerl.

Der Pilot offenbar auch, denn er drückt nach gemächlichem Anrollen auf dem Rollfeld so sehr auf die Tube, als würden wir zum Mond starten.

Ich bekomme Angst, nicht zuletzt vor dem Ausgang dieses Fluges, und mir schießen wilde Gedanken darüber durch den Kopf, wie ich hier hergekommen bin.

»Meine Tropfen wirken nicht!«, ruft Kaa beinahe panisch aus. Ihre Augen sind dabei so weit aufgerissen, dass sie wie Beistellteller aussehen.

Ich antworte ihr laut: »Sie wirken schneller, wenn Sie zwei Flaschen davon trinken ... uuuoaah!«

Als wären Senkrechtstarts alltäglich, stemmt sich die Boing springend gegen die Schwerkraft und wir ziehen steil aufwärts.

Mein Magen ist nicht ganz so schnell und klebt noch auf der Startbahn. Ich fürchte den Moment, in dem er hinterhergeschnellt kommt, und ich suche hektisch in der Klemme im Sitz vor mir nach einer Spucktüte. Sie versteckt sich hinter den Sicherheitsinstruktionen.

Ich ziehe daran.

Sie landen hinter mir, zusammen mit ein paar Luftraum-Einkaufsmagazinen.

Die Spucktüte rutscht auch heraus und fällt seitlich in den Gang hinab. Noch muss ich sie nicht benutzen, aber vielleicht ist es gleich soweit. Wir preschen in den Himmel über Hamburg.

Zu viel Aufregung.

Zu viel ist schief gelaufen.

Ich sitze in der Falle. Was für eine Farce ..!

Kapitel Zwei

Spezialagentin Milva Lotti

Es ist alles Rezas Schuld.

Der kleine Knackarsch hatte sich in der Zeit nach meiner Scheidung, in der wir vorübergehend nicht miteinander sprachen, ein Smartphone zugelegt. Ich nehme an, aus Langeweile fing er zu chatten an, um seine Sammlung von Jagdtrophäen anzureichern.

Von da an konnte er von überall aus Verabredungen treffen, sehen, wer gerade in der Nähe war, und loslegen. Das machte ihm ziemlichen Spaß, bis er Dr. Rolig traf. Dieser Mann war interessant für ihn und schien Reza so zu faszinieren, dass er mich, trotz verhängter Funkstille, pausenlos anrief. Er versuchte es sogar mit unterdrückter Nummer, aber ich ging nicht ran.

Schließlich wich der Fuchs auf mein Sorgentelefon aus. Damit konnte ich nicht rechnen. Er rief ins Telefon: »Ich will reden! Ich hab einen Job für dich.«

Zwar hatte ich nach der Scheidung ganz gut abgeschnitten, aber Geld wird natürlich irgendwann einmal knapp. Gleichzeitig wird das Nervenkostüm auf wundersame Weise dünner.

Mein Sorgentelefon ist eine Einnahmequelle, aber eine andere als diese war mir nicht geblieben. Tatsächlich sind die Anerkennungen meiner Klienten ja freiwillig, also war ich von ihren Spendierhosen abhängig. Als Nebenverdienst wirklich angenehm, auf Dauer aber kein gutes Hauptgeschäft, das muss man sagen.

Deshalb kümmerte ich mich jetzt mehr um die Probleme betrogener Frauen. Hier zog ich die Zügel und begann für sie zu spionieren. Freizeit hatte ich mehr als genug.

Es war bereits erstaunlich, was Menschen bei düster aussehenden Karten und guten Tipps überwiesen. Aber es ist unfassbar, was Frauen mit zu brechen drohenden Herzen ausgeben, wenn ihre Schnüffelei und Taktik nicht mehr gegen die Verschleierungen ihrer Hallodris ankommt.

Nun wusste ich von Reza alles über die männlichen Künste der Vertuschung, also war ich gut ausgestattet, um ein Nischenprodukt anzubieten: Beschiss-Agentin. Keine, die billige Verabredungen trifft, um sich dem Lüstling zu nähern, ein Tête-à-Tête als Secret Lover einzurichten und im entscheidenden Moment: »Zack, du wurdest erwischt, Don Juan!« mit drei Fotos vom fast begonnenen Akt hinauszurennen. Viel zu unfallträchtig. Außerdem war nicht jeder Mann mein Typ.

Nein, nein. Ich ließ mir Beschreibungen von Arbeitsplatz und Aussehen geben. Fotos über Whatsapp waren auch sehr hilfreich, und dann ging die Spionage los.

Manchmal ging es zu Hotels, in denen ihre Schnecken zu warten schienen. Anderenfalls fasst man es kaum, wie lässig sich manche mit Küsschen auf offener Straße trafen. Meist in der Nähe des Hauptbahnhofs. Dann ging es Richtung Alster und ganz viele brachten die Konkubine sogar zur Feenteichbrücke. Das ist eine spitzbogenartige Steinkonstruktion, erbaut von Bauingenieur Franz Ferdinand Carl Andreas Meyer. Sie überspannt seit 1884 die Mündung des Feenteichs, der in die Alster fließt, und ist Teil einer wirklich schönen Aussicht. Dazu sagt man ihr Romantisches nach.

Als Passantin getarnt, bekam ich regelmäßig mit, wie die Männer die herzerwärmende Feenteich-Sage auspackten, dass der Kuss auf dieser Brücke ewige Liebe versprach.

Beim ersten Mal fand ich es ehrlich gesagt sehr ausgewählt. Dann habe ich diesen von Sagen umwobenen Umstand gegoogelt und herausgefunden, dass es gar nicht stimmte, was sie erzählten. In Wirklichkeit sagt man nur dem Kuss bei Vollmond auf der Feenteichbrücke die Geburt der ewigen Liebe nach.

Bereits beim Mal darauf überspannte die falsch erzählte Geschichte meine gegoogelten Kenntnisse. Ich tat so als würde ich das Selfie eines einsamen Singles in der Randkulisse machen und schoss stattdessen Fotos mit der Rückenkamera meines eigenen Smartphones. Schöne, kleine, schlau konstruierte Geräte, auch für Frauen in den Startvierzigern.

Nun, Reza bot mir einen Job an. Ich stockte, statt den Hörer aufzulegen.

Reza arbeitet als Textillaborant.

Ich ziehe Kleidung lieber an, statt auseinanderzudividieren, aus was sie bestanden oder in welcher Chemikalie sie getränkt waren. Also, ich wollte wirklich nicht in ein FKK-Leben hineinbugsiert werden, schon gar nicht aus einer Not heraus. Eher arbeitete ich als Baumchirurgin und klebte Pflaster auf Baumstämme.

Weil ich nicht sofort wieder auflegte, schob er schnell hinterher: »Du kannst in deinen alten Beruf zurück.«

»Ich muss immer Brechen, wenn ich ...«

»Milva!«, unterbrach er mich ungeduldig. »Als Assistentin. Du brauchst einen Job!«

Da hatte er recht, ich gab es nur nicht besonders gern zu. »Das stimmt so nicht.«

»Dann sag mir, wie lange du Miete und Leben so weiter betreiben kannst wie jetzt, wenn kein Geld hereinkommt.«

Ich überlegte kurz. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass man ein gewisses Polster niemals unterschreiten sollte, um sich sicher und frei zu fühlen. Nun, ich bewegte mich am Rand dieses Polsters. Also rang ich mich seufzend durch und antwortete dumpf: »Willst du es in Tagen oder Stunden wissen?«

Sein Lachen als Antwort gefiel mir gar nicht.

»Was ist es?«, wollte ich wissen.

»Eine Stelle beim Doktor.«

»Bei welchem Doktor?«

»Meinem Doktor.«

»Ach, dein Wunderheiler.«

»Milva, er ist renommiert! Er ist Hautarzt und richtet die Models für große Modefirmen her. Noch ne Frage? Das könnte deine Rückkehr bedeuten. Alle haben deine Arbeit geschätzt. Ich besorge dir auch eine Jahrespackung Spucktüten für den Anfang. Das kann doch nicht sein. Wir haben dich nicht umsonst auf die teure Schule geschickt.«

»Die teure Schule war die Uni in Kiel und meine Eltern haben das Studium bezahlt«, berichtigte ich ihn.

»Ja, und jetzt enttäuschst du sie gehörig. Die Armen! Sie haben sich abgearbeitet, um dir dein Studium zu bezahlen, damit du es gut hast.« Er weckte mein gut verstecktes, schlechtes Gewissen. »Und Herr Doktor hat außerdem ebenso dort studiert. Außerdem findet er Hamburgerinnen elegant. Schwester Petrine, hat sich selbst rauskatapultiert. Also ist ne Stelle frei.«

»Wer bitte ist Schwester Petrine?«

»Eine aufständische Hilfskraft, die sich für Deus ex Machina gehalten hat. Und Punkt.«

»Verstehe.« Eine Wunderbraut ohne Wunder, dachte ich. Danach schwieg ich.

»Geh nach Hause, Milva. Das Spionieren ist nichts, als ein ausgeprägtes Voyeurismus-Hobby.«

»Das zufällig Geld bringt«, ergänzte ich stolz.

»Ja, ab und zu. Und es mag ja auch Spaß machen. Trotzdem denke ich, dir werden geregelte Arbeit und ein festes Einkommen gut tun. Das Sorgentelefon kannst du ja weiterführen. Es wäre nicht das erste Mal, dass du deine Sprechzeiten neu arrangierst.«

Wieder hatte er recht. Mir wurde zum dritten Mal klar, weshalb ich es vermieden hatte, mit ihm zu sprechen. Wenn man empört ist, sucht man sich jene Gesprächspartner unter seinen Bekannten aus, die mit einem empört sind. Und wenn man bemitleidet werden will, steuert man diejenigen an, die besonders zart besaitet sind. Und wenn es direkt werden sollte, dann solche, die ihrem Herzen mit einem zusammen Luft machen. Nur bei Wahrheiten, die Anlass zur Annahme von verfahrenen Lebensweisen geben, sucht man sich mit Absicht jemanden, der die Fahne nach dem Wind dreht.

Ich gab versuchshalber klein bei: »Wie ist der Doktor so?«

»Ein wenig verdreht im Kopf und er kann nicht richtig sprechen.«

»Wie bitte?«

»Seine Eltern haben ihn als Kind durch siebzehn Länder geschleppt, also kann er aus jedem Land ein bisschen. Er hat keine Muttersprache. Die sollte eigentlich schwedisch sein, aber sein Schwedisch ist Südschwedisch. Klingt ein wenig dänisch. Also, ehrlich gesagt klingt es sogar ein bisschen behindert auf der Zunge. Er sagt er sei ein Bayer aus Schweden. Ich behaupte, er ist ein schwedischer Sachse.«

»Du liebe Zeit, sächsisch versteht man so schwer.«

»Eben!«

»Und was spricht er nun?«

»Rolig.«

»Rolig?«

»Ja, das ist sein Name. Jakob Rolig. Er hat seine eigene Sprache. Wenn du hinhörst, und zuhören kannst du deines Sorgentelefons wegen ja so gut – deshalb habe ich auch sofort an dich gedacht - dann verstehst du ganz genau, dass er zwar einfach spricht, dabei aber vielschichtig ist. Und du liebst doch brillante Worte.«

Er machte eine kurze Pause.

Ich überlegte mit gerunzelter Stirn, wie das gehen sollte, einfach und dabei vielschichtig. Das klang für mich nach einem Orakel.

»Gut, seine Worte klingen auf den ersten Blick nicht besonders gut. Grammatik kann er auch nicht ...«

»Oh man, Reza!«

»Ja, aber warte, seine Grammatik setzt sich aus Deutsch, Englisch und Arabisch zusammen. Eigentlich lässt er bloß Deklinationen und Artikel weg.«

Mir stand der Angstschweiß auf der Stirn.

»Ehrlich Milva, es ist ganz leicht. Man muss sich nur darauf einlassen. Und das kannst du ja.«

Ich schwieg. Reza wusste ganz sicher, dass es in mir ratterte.

»Überleg es dir. Und jetzt viel Spaß bei deiner Sprechstunde.« Es klickte und dann saß ich schweigsam da. Mein Deutsch ist super, aber mein Englisch lückenhaft und mein Arabisch praktisch nicht vorhanden. Wie sollte ich da ..?

Langsam erhob ich mich und wankte, von Informationen und Gedanken über Rückkehr in meine Branche überflutet, ins Badezimmer. Es ist ein wenig zu gelb gekachelt, aber so ist das in Winterhuder Dunkel-Klinker-Bauten.

Ich legte den Stöpsel in den Abfluss der Wanne, goss ein wenig Badeöl hinein und drehte den Wasserhahn auf. Erst ganz heißes Wasser, dann kaltes, ein Schäufelchen Salz und wieder warmes Wasser, um unverbrannt in die Wanne zu steigen, ging ich im Kopf durch, da klingelte das Festnetztelefon in meiner Hand.

Mir war nicht danach.

Ich brauchte ein wenig heile Welt, denn darin nehme ich für gewöhnlich Dienstag-Mittags ein Bad. Ich setze mich danach auf meinen Balkon im ersten Stock oder sehe vom Fenster aus seelenruhig dabei zu, wenn Einparkende den Hintermann anditschen und so tun, als wäre nichts geschehen.

Seit meiner Scheidung zähle ich die Tage nicht mehr. Ich sehe nur, wie sich die Jahreszeit ändert. Und manchmal denke ich darüber nach, meinen Hamster Gérôme im Wald freizulassen. Sein Leben in Freiheit ist eine schöne Vorstellung, bis zu dem Moment, da er Opfer eines Uhus wird. Zudem meide ich ländliche Regionen und bleibe dort, wo Menschen sind.

Ich tat, was mir gefiel in meiner kleinen, heilen Welt.

Ein Drama-Gespräch war nun wirklich nicht das, was ich beim Badengehen wollte. Andererseits war mein Sorgentelefon meine einzige Einnahmequelle.

Missmutig drehte ich das Wasser also wieder ab, verließ das Badezimmer mit klingelndem Telefon in der Hand und ging zu meinem Berater-Sessel.

»Hallo, hier ist Milva. Was kann ich für dich tun?«

Natürlich weinte jemand am anderen Ende. Das gehört dazu bei einem Sorgentelefon. Die Menschen rufen nicht an, um mir zu sagen, wie schön unkompliziert sie meine SEPA finden. Nein, sie rufen an, weil sie Sorgen haben und diese sind zumeist mit Tränen verbunden.

»Ich saß gerade mit meinem Mann im Auto«, schluchzte eine Stimme, hörbar versucht, gefasst zu wirken. Es war Marlene Roudette, eine Halbfranzösin ohne Französischkenntnisse, die sich vor vier Jahren glücklich verheiratet hatte und seit einem guten halben Jahr unglücklich war, weil sie vermutete, ihr Mann würde Fremdgehen.

Bevor ich mich in meinem Beraterstuhl zurücklehnte, hob ich meinen halb abgesenkten Po noch einmal an, um zu meinem Multimedia-Mobiltelefon zu laufen. Es lag im Flur auf dem Garderobentisch. Ich griff es mir und entsperrte es mit einer gekonnten Zick-Zack-Linie über das Display. Dann tippte ich auf die Verwaltungs-Applikation und erhielt eine Liste meiner Klienten. Rechts am Rand tippte ich den Bereich zwischen Q und U, um R zu treffen und landete in den R-Namen. Ein paar Schwenks mit dem Daumen weiter erreichte ich die digitale Kartei von Frau Roudette:

MARLENE ROUDETTE, GEB. 26. MAI 1980, HALBFRANZÖSIN

KEINE

F

RANZÖSISCHKENNTNISSE, EINGEBILDETE

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ARIS

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KURZES

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AAR, DUNKELBLOND, JUNGES

D

IPLOMATENGESICHT

Neben den Notizen erschien ein Foto von ihrem Ehemann, das sie mir beim letzten Mal per elektronischer Nachricht hatte zukommen lassen.

»Hallo Marlene. Was ist denn passiert, Madame?«

Sie holte zwei Mal kurz Luft. »Ich will, dass du mich entliebst.«

»Was meinst du mit entlieben?«

»Ich habe mich mit René im Auto gestritten. Und dann sind mir die Worte ausgegangen. Wir haben uns im Kreis bewegt, wie immer, wenn mir die Worte und ihm die Lust fehlen, aber noch alles ungeklärt ist.«

Ich legte eine taktische Pause ein. »Was ist ungeklärt?«

»Na ja«, greinte sie. »Erst war ungeklärt, wer von uns beiden nach dem Halten das Auto als Erstes verlässt.«

»Nachgeben ist schwer. Aber klug, manchmal.«

»Überhaupt nicht« widersprach sie. »Wäre ich zuerst ausgestiegen, hätte ich die Kinder aus dem Kofferraum holen und mich beherrschen müssen.«

»Aus dem Kofferraum?«

»Wir haben neue Kindersitze eingebaut, die in unseren Pampersbomber passen. Das nach hinten rausschauen beruhigt die Kinder, weil sie uns nicht die ganze Zeit sehen und deshalb nicht zu uns wollen. Sie vergessen, dass wir da sind und träumen auf der Straße.«

»Aber bei einem Streit hören sie euch, oder nicht?«

Und wenn euch jemand hinten draufbrettert, sehen sie den Kühlergrill direkt an, der sie platt macht ... Also, ich weiß ja nicht.

»Ja, unsere Kleine hat sehr geweint, als René mich angeschrien hat. Dabei habe ich ihn nur gefragt, was ein Kleid aus dem Phönix-Center auf seiner Kreditkartenrechnung macht.«

»Was hat er geantwortet?« Ich tippte ein X neben Renés Namen ein. Ein X bedeutet auffälliges Verhalten.

Marlene schluchzte derweil und schien sich dann um ihre Kinder zu kümmern. Also wartete ich ab, bis sie von sich aus fortfuhr.

»Er ist total ausgerastet und meinte, ich sei geisteskrank, dass ich die Abrechnung kontrollieren würde. So könne er mir keine Überraschungen mehr machen.« Dann weinte sie bitter.

Ich wartete einen Moment. »Gibt es ein Päckchen im Schrank, das du übersehen haben könntest?«

Ein kurz angebundenes und enttäuschtes »Nein« kam mir zur Antwort.

»Hat er es vielleicht bei der Arbeit deponiert?«

Noch ein »Nein!«, diesmal bitter, gepaart mit einem weiteren Schluchzen.

Und dann packte Marlene aus: »Was macht er denn auf der anderen Seite in Harburg? Ihr Name ist wahrscheinlich Denise. Schön, dass er sich gerade eine Frau mit französischem Namen aussucht.«

»Rüpel!«, bestätigte ich, wenngleich unklar blieb, ob die Geliebte wirklich einen solchen Namen trug. Sie konnte auch Regine oder Lorna heißen.

Plötzlich begegnete mir Marlene mit unvorhergesehener Abgeklärtheit: »Ich bin nicht dumm, Milva. Er hat mich mit den Kindern in unserer Ausfahrt stehen lassen, hat gesagt er wolle auf der Autobahn nachdenken und ist davon gebraust.« Ihre Stimme wurde trocken. »Er ist im Atlantic.«

»Woher weißt du das?«

»Weil mein Handy im Auto liegt und mein iPad sagt, mein iPhone sei im Atlantic.«

Praktisch! »Willst du, dass ich hinfahre?«

»Ja! Weißt du, wir haben dies beide sterben lassen, bis alles nur noch im Kreis lief. Mir ist egal, wie oft mein Herz zerrissen wurde oder wie oft ich allein im Dunkeln aufgewacht bin, ohne ihn. Als ob ich das nicht merken würde, dass er sich nachts davonschleicht, um mir hinterher zu erzählen, er hätte drei Stunden lang Zigaretten geholt, die seinen Hals nach Laura Biagiotti riechen lassen. So ein Arsch!«

»Also wirklich!« Wie klassisch dämlich sind manche Männer eigentlich? Klassischer Duft ganz klassisch am Hals.

Marlene entschuldigte sich sofort: »Pardon! Die Ausdrucksweise. Die Kinder.«

Räuspernd quittierte ich und begann zu tippen:

S

PEZIALAGENTIN

M

ILVA

L

OTTI AUF

S

TREIFE IM

A

TLANTIC

L

AURA

B

IAGIOTTI AUSFINDIG MACHEN

»Ich fahre hin!«

»Oh Milva, das ist meine Rettung. Ich will das so nicht mehr. Erstens will ich sie sehen, du musst also Fotos machen und zweitens: Finde heraus, ob wir noch eine Chance haben, bevor ich mich entliebe.«

Als ob das so einfach geht, dachte ich. Die Fotos waren schnell gemacht, wenn ich mich in die Nähe der Rezeption setzte. Wenn er vor etwa zwanzig Minuten losgefahren war, dann brauchte sein Frustakt maximal dreißig Minuten. Eventuell zuzüglich eines Gespräches über die Plagen seiner Ehe und ein wenig Kuscheln, hatte ich etwa fünfundvierzig Minuten Zeit. Zum Atlantic benötige ich zwölf Minuten. Es blieben also nur noch dreiunddreißig, bis er zufrieden grinsend aus dem Fahrstuhl trat, um durch die Eingangshalle zur Tiefgarage zurückzugehen. Ich musste mich beeilen. »Lass mich nur machen. Ich schicke dir, was du haben willst.«

»Das kannst du nicht.«

»Wie bitte?«

»Liebe mit im Angebot?«

»Die ist leider aus, fürchte ich. Aber die Fotos bekommst du, Marlene. Verlass dich auf mich. Schick mir dreihundert Euro. Und wenn es zu deinen Gunsten ausgeht, noch einmal dreihundert«, forderte ich frech.

Madame heulte »drei- und fünfhundert« und schob ein unbeherrschtes »Ich will sie sehen!« hinterher, als ich mich von ihr verabschiedete.

Ich griff mir also meine Sonnenbrille, denn draußen war eitel Sonnenschein, und machte mich auf den Weg.

Als ich am Hotel Atlantic Kempinski ankam und An der Alster 72-79 parkte, hatte ich nur noch siebzehn Minuten bis zum errechneten Abgang von Monsieur René. Für Parkgebühren hatte ich keine Zeit, legte also mein täuschend echtes Apotheken-Lieferanten-Schild in die Windschutzscheibe und eilte in die Eingangshalle des Hotels. Dort gab es bequeme Sessel und flache Tische, nur leider keine Frauenzeitschrift. Also blätterte ich in Politmagazinen herum und behielt dabei meine Uhr, den Fahrstuhl und die Treppe im Blick.

René brauchte ziemlich lange. Vielleicht war er beschnitten, das hatte ich Marlene nie gefragt.

Jemand kam, um mich zu fragen, ob ich alles hätte, was ich bräuchte. Aus dem Hanseatischen ins Deutsche übersetzt bedeutet das: »Kaufen Sie etwas? Wenn nicht, raus.«

Ich bat darum, mir einen Tee zu bringen.

Man brachte ihn mir Sekunden später an den Platz. Ich muss schon sagen, für 6,90 Euro war der Tee recht dürftig ausgestattet mit einem kleinen Kakao-Nuss-Keks und einem Alu-Löffel, der nach Metall schmeckte. Das Porzellan jedoch war exquisit.

Ich verbrannte mir die Lippen beim Nippen und stellte ihn schnell wieder auf den Tisch zurück, um mich politisch fortzubilden. In Wirklichkeit las ich bloß Passagen und hoffte, ein paar hübsche Bilder beim Umblättern zu finden, die mein Auge erfreuten. Weil sie jedoch bloß hohe Tiere aus der Politik abbildeten und mir schnell langweilig wurde, begann ich nachzudenken.

Marlene hatte gesagt, sie wolle entliebt werden. Wie sollte so etwas gehen? Ich meine, das führt doch niemand für einen durch. Man entliebt sich von allein, zum Beispiel wenn etwas Unfassbares geschieht, das alles in einem erstarren lässt. Oder man wacht eines Morgens auf und bemerkt, dass man nicht mehr liebt. Und dann muss man die Erste sein, die geht. Eigentlich.

Marlenes René liebte vielleicht nicht mehr, aber als Erstes aussteigen wollte er offenbar auch nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Bloß in selbst geschaffenen Laura Biagiotti-Zeitzonen. Ich verstehe nicht, weshalb Menschen einander so feige entfleuchen, wo sie doch einmal alles füreinander bedeutet haben.

Das Ende meiner Ehe war nicht minder schön gewesen. Einen optimalen Trennungsverlauf gibt es nun einmal nicht. Aber es war kurz und konsequent vonstattengegangen.

Frauen wie Marlene standen schon mehrere Male vor dem Aus ihrer Beziehung. Zumindest die Betroffenen dieser Stadt riefen mich dazu immer wieder an. Und keine von Ihnen will einen Schlussstrich ziehen, weil sie alle behaupten sie und ihr Mann würden es verdienen, glücklich zu sein. Es mag sein, dass ihre Mühen belohnt werden sollten. Aber nicht mit Demütigungen und Ignoranz, sondern mit Freiheit. Sie alle wissen es. Aber sie haben Angst vor Freiheit. Weil sie es mit Alleinsein gleichsetzen. Seltsam, oder?

Sie sind Opfer ihrer Genetik, fürchte ich. Wenn der Nestbau eingeleitet ist und erst einmal ein Ei darin liegt, sind sie verloren. Gibt es keine Eier, sei es nun aus biologischen oder aus Karrieregründen, dann erschaffen sie welche. Sie erdenken sie. Und wenn sie sie häkeln, ganz egal. Das Ei, das eine Familie mimt, muss her!

Zieht der Herr dann öfter und länger umher und beginnt sich über das Nest zu beschweren, versuchen sie es zu verschönern. Damit sind sie so beschäftigt, dass sie darauf bestehen ihre hoch polierten Nestränder hätten es verdient, bewohnt zu werden, und zwar gemeinsam und glücklich für alle Zeit. Jeden Tag laufen sie dabei gegen Mauern und verschwenden ihre Lebenszeit. Das ist, wie Regenbögen jagen, um einen Topf voller Gold zu finden.

Was sie nicht verstehen, ist, dass das Ende des Regenbogens nicht existiert. Er ist rund.

Weil unsere Männer Menschen sind, verhalten sie sich komplexer als Vögel. Und vor allem sind sie meist schon vor den Jungen flügge.

Andererseits gibt es auch betrogene Männer. Ihre Antwort auf Fremdgänge ist bestenfalls Revierverhalten. Nur, weil viele umgestiegen sind auf geistiges Revierverhalten mit Erwartungen und Forderungen, die ihren Wünschen entsteigen, Wünsche aber nicht einfach so erfüllt werden, schon gar nicht, wenn Abneigung im Spiel ist, nützt die schönste und ausgeklügeltste Herleitung nichts. Auch hier läuft ein genetisches Programm, das gegen konventionelle Vernunft gewinnt. Denn wenn sich jemand entliebt, dann steht er wieder auf Anfang.

Ich hatte mein Telefon schon wieder in der Hand, um mir Notizen zu meinen Gedanken zu machen und speicherte sie in meiner Kartei unter Ratgeber.

Mittlerweile dampfte mein Tee nicht mehr so sehr und ich wagte einen Schluck. Aus Vorsicht geriet er etwas zu schlürfend, sodass sich zwei andere Gäste zu mir herumdrehten. Ich tat so, als wäre ich es nicht gewesen und senkte die Tasse in meinen Schoß hinab. Dann schaute ich auf die Uhr, unsicher, ob ich René beim Denken und Tippen verpasst haben konnte. Allerdings lag ich falsch, denn wenn mich nicht alles täuschte, kam er soeben aus dem Restaurant spaziert. Ausgelassen, gut gekleidet und mit einem unglaublich schönen Luxuswesen am Arm.

Sie war vielleicht gerade fünfundzwanzig. Die Haut zart wie Porzellan, die Arme schlank und lang, die Figur fest und griffig mit gut gewachsenen Brüsten und einem modischen Tattoo, das sich unter ihrem ärmellosen Kleid auf der Schulter blicken ließ. Die Haare dunkel und glatt, die Wangenknochen weit gestellt mit großen blauen Augen, deren Augenwinkel sich zu den Seiten nach oben neigten. Das bestach ungemein und vertuschte, dass ihre Lippen eine Kollagen-Spritze brauchten. Sie ging in eleganten Ballarinas neben Marlenes Mann her, löste sich dann von seinem Arm und begab sich zur Treppe, während René etwas an der Rezeption zu klären schien. Ich taufte sie auf den Namen Laura, des Parfüms wegen.

Meine Gelegenheit war gekommen, ein Foto von ihr zu machen. Ich muss schon sagen, sie sah aus wie bei einem Fotoshooting, als sie sich leicht schmollend auf der Treppe herumdrehte und mit der Fußspitze im Teppich zu bohren begann, während sie wartete.

Meine Finger gingen auf dem Touchscreen auseinander, um sie heranzuzoomen. Sie war wirklich sehr attraktiv. Arme Marlene. Nach zwei Kindern war ihr Busen sicher nicht mehr so fest wie der von Laura.

Ich war vor Kurzem neununddreißig geworden und ging mit langsamen Schritten auf die Vierzig zu, aber wenn René mein Mann gewesen wäre, dann hätte ich mir bei dem Erhalt solcher Fotos keine Hoffnung mehr gemacht. Für Marlene gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie ließ zu Hause die Französische Revolution Einzug halten, um in andere Lebensumstände zu gehen, oder sie nahm sich das Irdische, um verfrüht in ein anderes zu entfliehen. Tendenziell war ich für die erste Variante, bei den Fotos hätte ich persönlich jedoch zum Schierlingsbecher geneigt.

René stieß dazu. Sie gingen gemeinsam die Treppe hinauf. Dummerweise bekam ich nur Profil- oder Frontalbilder von ihr. Ich wollte Marlenes Leben erhalten und eine Rückenansicht fotografieren. Mein Telefon hochzuhalten und zu klicken, wäre zu auffällig gewesen, also schnappte ich mir meine Tasche und ging ihnen hinterher.

Sie waren bereits oben an der Treppe angelangt, als sich ein guter Aufnahmemoment ergab und jemand überraschend von unten durch die Halle rief: »Hey, wo wollen Sie denn so eilig hin? Sie haben Ihren Tee noch nicht bezahlt!«

Alles verfolgte den Blick des Kellners und traf dabei auf mich. Auch oberhalb der Treppe drehte man sich herum. Ich zog schleunigst das Telefon herunter. In diesem Moment drückte ich den Auslöser ein letztes Mal. In der Miniaturansicht sah ich, dass ich schon wieder das Gesicht erwischt hatte. Und zwar ein empörtes.

»Haben Sie mich etwa fotografiert? René, ich glaub, die hat mich fotografiert. Was soll das?« Beide kamen einen Schritt die Treppe herunter. Verlegen ließ ich das Telefon in meiner Tasche verschwinden.

Jetzt bloß nicht panisch reagieren, dachte ich.

»Haben Sie meine Freundin fotografiert?«, drängte René nach einer Antwort. Von unten tönte es mahnend: »Der Tee!«

Ich hob den Finger und bat René damit um einen Moment Geduld. Dann zog ich meine Geldbörse hervor und warf dem Kellner eine Zehneuronote über das Geländer. »Der Rest ist für Sie«, warf ich scharf hinterher und beachtete das flatternde Geld nicht weiter. Ich drehte mich René und seiner Sexpuppe zu und begann, die Treppen hochzugehen. Flucht nach vorn ist immer die bessere Lösung. Dabei setzte ich ein breites Grinsen unter meine Sonnenbrille und stieg hurtig zu ihnen hinauf.

»Hören Sie«, sagte René ungemütlich, »ich muss Sie bitten, die Bilder augenblicklich zu löschen. Sie verstoßen gegen meine Persönlichkeitsrechte.«

»Gegen meine auch!«, gab Laura quengelnd hinzu. Ihr Tonfall ließ auf wenig Horizont schließen, ihre Hüftknochen und ihr flacher Bauch, die ich durch das Kleid sehen konnte, jedoch auf eine exzellente Beckenbodenmuskulatur.

Als ich endlich bei Ihnen ankam, hob ich ihnen beide Hände zu einer beschwichtigenden Geste entgegen. »Haben Sie keine Bedenken. Ich habe lediglich versucht zu sehen, wie sich ihre schöne, junge Frau in einem Rahmen macht. Ich habe kein Foto gemacht. Natürlich nicht.«

Beide sahen mich ungläubig an.

»Mein Name ist Rolig. Und ich habe Ihnen etwas Unglaubliches mitzuteilen.«

»Was kann das sein? Wir kennen Sie nicht. Kennst du sie, Kassandra?«

Natürlich, Laura heißt Kassy... beinahe hätte ich die Augen verdreht.

Kassy antwortete, indem sie ihre Haare zu sehr für eine erwachsene Antwort von links nach rechts warf. Ihr Haar verlor dabei jedoch weder Fülle noch Form. Und genau da fand ich einen spontanen Ansatz: »Kassandra! Was für ein schöner, klassischer Name für eine so hübsche, junge Frau.«

»Oh, danke«, quiekte sie und kräuselte kokett die Lippen.

»Mein Mann ist für Coco Chanel tätig. Er ist Dermatologe und richtet die Models für Chanel her.«

Kassandra schien nicht besonders schlau zu sein, aber sie wusste, wenn jemand im Begriff war, ihre Schönheit zu küren. Sie schnappte beim Klang des französischen Modelabels nach Luft.

René hingegen wurde energisch: »Was hat das zu bedeutet? Hat sie jemand geschickt? Ich kenne Ihren Mann nicht. Hab nie von ihm gehört. Und ich möchte mich davon überzeugen, dass sie keine Aufnahmen von uns gemacht haben.« Er kam einen halben Schritt auf mich zu. René war nicht besonders groß, aber er war trotzdem größer als ich, zumal er eine Stufe über mir stand.

Selbstsicher stellte mich mit ihm auf eine Stufe. Jetzt logen wir eben beide. Und zwar ungehörig.

»Kassandra, Liebes.« Ich stieg mit ausgestreckten Armen zu ihr hinauf und war damit über Renés Kopf angelangt. »Wir sind seit geraumer Zeit auf der Suche nach einer jungen Dame wie Ihnen. Für eine Werbekampagne. Als ich Sie gesehen habe, unten an der Treppe«, ich wies atemlos mit dem Finger an Renés Nase vorüber in die Lobby, »da habe ich mich beinahe an meinem Tee verschluckt.«

Sie kicherte. »Oh?«

Mit geöffnetem Mund nahm ich meine Sonnenbrille ab und ließ den Blick erst um ihr Gesicht kreisen und dann an ihrem Körper hinabgleiten. »Woher kommen Sie, Kleines?«

Ihr Blick schoss einmal kurz zu René hinüber, bevor sie antwortete: »Aus Harburg.«

Aha, keine echte Hamburgerin!, urteilte ich, sagte jedoch nichts. Meine Lippen pressten sich zusammen und gingen zu einem diabolischen Lächeln über, das meine Wangen hochschob. »Ein Elbkind, wie erfreulich.« Ich nahm ihren Arm und zog sie die Treppe hinauf fort. »Gut, dass Sie ganz in der Nähe wohnen. Ich wäre untröstlich, wenn Sie von weit herkämen, vielleicht bloß auf der Durchreise wären. Mädchen wie Sie findet man hier nur selten. Und ich würde es mir nie verzeihen, hätte ich Sie nicht angesprochen. Deshalb bin ich Ihnen die Treppe hinauf gefolgt«, versicherte ich.

»Oh.«

Theatralisch atmete ich ein, so als sei ich unglaublich zufrieden. Dann ergriff ich ihre Hände. »Sie müssen mir versprechen, dass wir uns in den nächsten Tagen zu einem Check sehen. Das muss bei neuen Models sehr sorgfältig gemacht werden und so früh wie möglich. Sie sind noch so frisch. Das Elbklima tut Ihnen gut, nehme ich an?« Für den nächsten Satz senkte ich meine Stimme, beugte mich näher zu ihr und bleckte die Zähne: »Jeder Tag ist ein verlorener Tag. Wir altern so rasch.«

So, als hätte sie etwas Schreckliches gesehen, sagte sie wieder: »Oh!«

René kam dazu: »Was ist nun mit den Fotos. Machen Sie hier keine Geschichten.«

»Oh!?«, mahnte sie ihren Liebhaber mit aufgestellten Lidern. Als er meine Hand von Kassandras herunternehmen wollte, wiederholte sie ihr Wort, drehte ihre Hände flugs herum und hielt meine fest, wie die letzte Rettung auf einem sinkenden Schiff. Oder anders: Sie hielt den Hauch einer Zukunft als Model fest und hatte sie kurzerhand gegen vermutlich mittelmäßiges Vögeln eingetauscht. So bekam René uns nicht auseinander. Ich hatte gewonnen.

Er lachte, schaute zur Seite und wischte sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen, wie es Männer tun, die mit ihrem Kahn auf Grund liefen. Dann startete er einen Appell, der sie von mir lösen und mit ihm ins Hotelzimmer gehen lassen sollte. Leider sind Männer sehr ungeschickt, wenn ihnen die Glocken im Kopf bimmeln.

»Kassy, du glaubst doch nicht im Ernst, dass du gerade als Model entdeckt worden bist?«

Kassys Gesichtsnerv zeigte, was er konnte: Ihre schmalen Brauen gingen ruckartig tief bis zum Nasenbein hinunter, ihre Lider sperrten sich weit auf, ihre Nasenflügel klappten und der Atemzug ging wie ein Silberglanz an ihrem Hals entlang. Dann stieß sie ein »OH!!?« der Extraklasse aus, löste ihren Klammergriff von meinen Händen und stapfte förmlich auf René zu, ganz und gar nicht elegant.

»Was fällt dir ein?« empörte sie sich und schubste ihn zurück. Er wich auf die Treppe aus, hielt sich am Geländer fest und begann damit, sich stotternd zu entschuldigen. Ohne Erfolg.

Sie schnaubte einmal und machte sich größer über ihm.

Als Mann wollte er sich dies sicher nicht gefallen lassen und stieg wieder zu ihr hinauf.

Doch Kassandras Lust auf ihn schien gebrochen zu sein. Sie holte mit ihren schlanken Armen aus und schubste ihn ein weiteres Mal, diesmal an der Schulter. »So schön bist du auch wieder nicht, du Hammel!«

Ich amüsierte mich im Stillen über ihren ungewöhnlich ländlichen Ausdruck und sah, wie René das Geländer verfehlte und einige Stufen nach unten fiel.

Für dieses Haus war das schon ein ausgewachsener Skandal.

Kassy stapfte hinter ihm her, fischte mit flinkem Griff den Zimmerschlüssel aus Renés Brusttasche, eine kleine Plastikkarte in Kreditkartengröße, wirbelte herum und kam zu mir zurück. Dabei schüttelte sie ihren hübschen Kopf und ihre Schultern einmal leicht und ließ René damit hinter sich.

Bei mir angekommen, griff sie entschlossen nach meinem Arm und zog mich zügig den Flur entlang. »Wir müssen darüber sprechen«, sagte sie energisch.

»Über ihn? Den Hammel? Mehr gibt es nicht zu sagen, oder?« Ich verkniff mir ein Lachen.

»Über Chanel«, korrigierte sie nachdrücklich. Im Gehen schaute sie dann unentschlossen auf die Schlüsselkarte in ihrer Hand. Plötzlich blieb sie stehen und wandte sich noch einmal hauchend um: »Oh!« Ich glaube sie meinte: »Warten Sie!«

Die Karte in die Luft hochhaltend zwitscherte sie so als würde sie um etwas Alltägliches bitten: »Welches Zimmer, René? Welches Zimmer?«

Dieser war dabei, seinen Kopf klar zu bekommen und seine Körperhaltung wieder herzustellen. Gequält antwortete er: »2-0-7«

»Ah.« Auf halbem Weg zurück, die Karte wie eine lieb geschriebene Postkarte vor sich haltend, drehte sie sich ihm noch einmal zu. »Zwei vorne ist zweiter Stock, oder?«

Auf das Geländer gestützt nickte er, den Blick nach unten gerichtet. Ob nun vor lauter Scham, das kann ich nicht sagen.

Kassandra kam also gänzlich zu mir zurück und führte mich zügig den Gang entlang, der Beschilderung folgend.

Das Zimmer, das wir betraten, war keine Luxussuite. Dennoch war es geräumig und in gutem Zustand. Es roch sauber und vom präzisionsfaltengezierten Doppelbett glänzten uns teure Betthupferl entgegen. Golden eingepackte, feinste Schweizer Schokolade. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Schweiz. Es ist erstaunlich, was komplett ländliche Regionen hervorbringen. Ganz ähnliche Gedanken hatte ich, was Kassandra anging.

Statt direkt auf das Bett zu springen, wie sicher ursprünglich geplant, machte sie sich am Schreibtisch zu schaffen. Sie rückte geschäftig einen Sessel heran und stellte mir den Schreibtischstuhl bereit, um zu einem Gespräch über ihre Zukunft Platz zu nehmen. Das tat ich, allerdings auf der Bettkante. »Kommen Sie erst einmal hierher ins Licht. Ich möchte Sie näher betrachten.«