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An der Hamburger Elbchaussee wird ein Immobilienmakler erhängt aufgefunden. Das Polizistenduo Udo Kronenberg und Katharina Esbjerg ermittelt, verstärkt um einen thailändischen Trainee. Einen Todesfall später suchen sie nach einem Hamburger Politiker: Auf Mindanao, einer Bürgerkriegsinsel im Südchinesischen Meer.
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Seitenzahl: 304
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Hinweis: Alle Figuren in diesem Roman sind frei erfunden, die zugrundeliegenden Strukturen und Handlungsorte allerdings nicht. Die Organisationsstruktur der Hamburger Polizei ist verändert dargestellt.
OTTENSEN
ELBCHAUSSEE
FRANKFURT / MAIN
ELBCHAUSSEE
ALTONA / MÖRKENSTRASSE
HAMBURG / UHLENHORST
ALTONA-NORD
ELBCHAUSSEE
ALTONA / MÖRKENSTRASSE
HAMBURG / OTTENSEN
ALTONA / RATHAUS
TEUFELSBRÜCK
ALTONA / GROSSE BERGSTRASSE
GROSSE FREIHEIT
DAVAO / MINDANAO
ALTONA / GROSSE ELBSTRASSE
HAMBURG-HAFEN-CITY / AM KAISERKAI
ALTONA / HEINEPARK
ALTONA / MÖRKENSTRASSE
ALTONA / NIENSTEDTEN
ALTONA / NIENSTEDTEN
HAMBURG / JOHANNISWALL
HAMBURG / JOHANNISWALL
ALTONA / MÖRKENSTRASSE
DAVAO / MINDANAO
HAMBURG / JOHANNISWALL
HAMBURG / JOHANNISWALL
DAVAO / MINDANAO
MANILA / PHILIPPINEN
DAVAO / POLIZEIHAUPTQUARTIER
BALISAN
HAMBURG / JOHANNISWALL
DAVAO / QUEZON BOULEVARD
BASILAN
HAMBURG / JOHANNISWALL
DAVAO / HILL RESTAURANT
BASILAN
ZAMBOANGA / MINDANAO
BASILAN
BONGAO
HAMBURG / JOHANNISWALL
SULU-SEE
HAMBURG / JOHANNISWALL
BASILAN
LAMINTAN / BASILAN
ALTONA / PALMAILLE
LAMINTAN / BASILAN
HAMBURG / JOHANNISWALL
LAMINTAN / BASILAN
LUNGSOD NG ISABELA / BASILAN
LUNGSOD NG ISABELA / TABUK BARRACKS
BASILAN / ANSON’S HOTEL
ENDE EINER ENTFÜHRUNG
ZAMBOANGA / MINDANAO
ZAMBOANGA / MINDANAO
MANILA / PHILIPPINEN
EPILOG
Die Blätter peitschten ihm ins Gesicht. Er sah sie auf sich zukommen, fühlte ihre klatschende Nässe jedoch nicht. Atemlos stolperte er, fiel.
Als er seinen Kopf hob, sah er in ein leuchtend gelbgrünes Augenpaar beidseits einer mächtigen schwarzen Schnauze. Über den Augen ging braunes Fell in weiße Felder über, die von schwarzen Streifen unterbrochen waren. Die Augen verengten sich zu Schlitzen. Unter der Nase öffnete sich ein zahnbewertes Maul. Er konnte sich nicht bewegen, lag wie zum Reißen bereit.
Ein fürchterlicher Stoß riß das Gesicht weg. Zentimeter vor seinen Augen bohrte sich ein mächtiger Stamm in den Tiger, schlug ihn einfach weg.
Er schreckte auf. Sein Telefon dudelte Dvoraks Neunte. Der Wecker zeigte 4 Uhr 6. Benommen griff er zum Hörer.
»Tut mir leid, ich weiß, wie früh es ist. Elbchaussee 825, wir müssen sofort hin.«
»Warum denn mitten in der Nacht? Das hat doch auch in 4 Stunden Zeit.«
»Von Ribbenstrop.«
»Was, von Ribbenstrop? Muß man den kennen?«
»Immobilienmakler, bis in Senatskreise bekannt. Erhängt.«
»Hat er sich oder wurde er?«
»Weiß ich nicht. Ein privater Wachdienst hat es vor einer halben Stunde gemeldet, die Haustür stand offen. Jedenfalls sollen wir sofort hin, bevor jemand anderes Witterung aufnimmt.«
Vor ihm blitzten kurz das leuchtende Augenpaar und die Reißzähne unter der großen, schwarzen Nase auf. Was immer der Grund für diesen Alptraum gewesen sein mag, schlimmer könnte die angekündigte Wachszene jedenfalls nicht sein.
»Na gut, holst Du mich ab?«
»An der Ecke Holländische Reihe, liegt auf dem Weg. In den Einbahnstraßendschungel Ottensens fahre ich nicht rein. In zwanzig Minuten.«
Fahrig griff er nach Hemd, Hose und Sweater, suchte fluchend nach den Socken. Im Bad wischte er sich übers verwitterte Gesicht und drückte den Deo-Stift unter die Achseln.
Feucht und kühl war es. Auf der Straße bewegte sich nichts, nur der Hafen sandte seine Geräuschkulisse und orangefarbenes Licht herüber. Hier, wenige hundert Meter von der Elbe entfernt, wurde es niemals richtig dunkel.
Nach wenigen Minuten blitzte am Ostende der Holländischen Reihe ein Blaulicht auf. Katharina hatte die zwanzig Minuten genau geschätzt. Er riß die Beifahrertür auf und ließ sich auf den Sitz fallen.
»Ich habe schlecht geträumt.«
»Besser als schlecht oder gar nicht geschlafen. Was hat dich denn gepackt?«
»Fast gepackt«, grinste er müde. »Ein Tiger. Den hat aber kurz vorm Reißen ein Baumstamm weggeschleudert.«
»Manche haben eben immer Schwein, ob verdient oder unverdient.«
Hauptkommissar Udo Kronenberg grübelte die Fahrt über nach, warum sie »unverdient« gesagt hatte. Vielleicht war es nur der frühe Morgen, der das Gehirn lähmte und das Mundwerk unkontrolliert plappern ließ.
Grübeln gehörte zu den Eigenschaften, die Udo Kronenberg bei der Polizei Hamburg auszeichneten. Der Mann mit dem wirren, ergrauten Haarschopf und der hageren Figur war dafür bekannt, keine schnellen Entscheidungen treffen zu können. Deshalb kam er zu keiner Zeit als Einsatzleiter in brenzligen Situationen in Frage. Seine Vorgesetzten schätzten jedoch seine Fähigkeit, gedanklich gegen den Strich zu bürsten. Zuerst im Wirtschafts-, dann im Morddezernat. Diejenigen, die sein Privatleben auch nur etwas kannten, führten seine grüblerische Art auf eine gescheiterte Ehe zurück. Mit gescheiterten Ehen kannten sich viele bei der Polizei aus. Die üblichen Wechselschichten überstanden nur sehr stabile Ehen und Partnerschaften.
Auf der Elbchaussee kamen ihnen nur wenige Autos entgegen. Ihre Scheinwerfer mußten auf Außerirdische wie seelenlose Augen wirken. Er erinnerte sich an die Science-Fiction-Geschichte, in der Beobachter der Erde die Autos für die Hauptbewohner hielten, die Menschen darin für Parasiten. Die Beobachter wollten die Hauptbewohner von ihrer Krankheit befreien.
Kronenberg hielt das für unwahrscheinlich. Erstens waren Außerirdische über der Erde sicher intelligenter als die Menschen, sonst wären sie nicht so weit gekommen. Zweitens unterstellte die Geschichte, daß Außerirdische gutmütig seien. Das hielt Kronenberg für noch unwahrscheinlicher. Vermutlich würden Außerirdische die Erde ausplündern oder selbst bewohnen wollen. Die Unterstellung, daß eine fremde Spezies mit den mutmaßlichen Hauptbewohnern der Erde freundlicher umgehen sollte als die Menschen das untereinander taten, hielt er für kindisch.
Die Elbchaussee 825 lag hinter einer Tujahecke und einem tiefen, mit Rhododendren und Zierlorbeer bestandenen Vorgarten. Das zweigeschossige Backsteinhaus mit riesigem Walmdach, fein unterteilten Fenstern und einem überdimensionierten Portikus war hell erleuchtet. Mehrere Peterwagen und ein kastenförmiges Krankenauto standen auf der geschwungenen Vorfahrt.
»Sieht aus wie beim Nachtdreh«, sagte Katharina Esbjerg.
»Außer, daß die Leiche echt ist.«
Der Raum hinter dem Portikus war eine Empfangshalle. Auf den bis Mannshöhe gekachelten Wänden schwammen Fische und Segelboote, der Boden spiegelte im Licht eines Kronleuchters. Auf beiden Seiten der Halle schwangen sich Treppen ins Obergeschoß. Ein Uniformierter zeigte nach oben.
Die Zimmer im Obergeschoß waren über einen langen, zur Eingangshalle quer liegenden Gang erschlossen. Am linken Ende des Gangs standen mehrere Personen, einige davon in weißen Overalls.
Das mit hellem, gemustertem Marmor ausgekleidete Badezimmer war riesig. Außer der Tür zum Gang gab es eine zweite Tür, die zu einem großen Schlafzimmer führte.
An der Stahlstange, die einen Vorhang zwischen der Badewanne und dem Rest des Bads führte, hing die Leiche eines etwa Vierzigjährigen. Schlanke Figur, etwa 1 Meter 80 groß, schwarzes, gegeeltes Haar, in der Mitte streng gescheitelt. Die Augen waren aus den Höhlen herausgetreten, die Zunge hing schlaff seitlich aus dem geöffneten Mund. Dunkelblaue Anzugshose, weißes Hemd, helle Schuhe. Schräg neben der Leiche lag ein umgestürzter Hocker.
»Zunächst keine Anzeichen von Fremdeinwirkung. Wahrscheinlich Selbstmord, aber nicht sicher«, haspelte einer der weißen Overalls.
»Morddezernat. Warum reißen Sie uns dann mitten in der Nacht aus dem Schlaf?«
»Weiß ich auch, daß Sie vom Morddezernat sind. Dann wissen Sie auch, daß die ersten 48 Stunden die entscheidenden sind. Außerdem ist das der von Ribbenstrop«.
»Na und?«, blaffte Kronenberg zurück. »Scheint ja was ganz Besonderes zu sein. Siphylitischer Landadel ist noch lange kein Grund, mich aus dem Bett zu werfen.«
Der weiße Overall zuckte mit den Schultern. »Man weiß ja nie. Er dürfte – noch dazu bei seinem Beruf – nicht nur Freunde gehabt haben. Der Fall könnte sich schnell zum Mord auswachsen.«
»Haben Sie irgendein Zeichen dafür, irgend etwas Verwertbares?«
»Dafür sind ja nun höhere Gehaltsklassen da«, meinte der Overall herausfordernd.
Im Schlafzimmer war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Schwere Decken lagen über den Leintüchern, auf dem Mahagoni-Mobiliar herrschte makellose Ordnung.
Katharina Esbjerg und Udo Kronenberg gingen über den langen Gang, öffneten eine Tür nach der anderen, bewegten die Lichtschalter, die man drehen mußte, nicht knipsen. In einem Zimmer, das wohl der »Blaue Salon« war, hielten sie inne. Auch hier herrschte peinliche Ordnung. In der Mitte des Raums, zwischen dunkelblau bezogenen Sesseln, stand ein unregelmäßig geformter Tisch, der einer geschnittenen, riesenhaften Wurzel glich.
»Redwood, sehr exklusiv«, bemerkte Kronenberg.
Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche Glenmorangie. Nach Inspektion der Zimmer im Obergeschoß die einzigen Zeichen dafür, daß vor dem Tod des von Ribbenstrop hier Leben stattgefunden hatte. Zeichen darauf, daß die Elbchaussee 825 keine Einsiedelei war, sondern ein Haus, in dem man wenigstens gemeinsam Whisky trank.
»Mitnehmen, auf Spuren überprüfen«, wies Kronenberg einen der Uniformierten an. Er hatte das Gefühl, daß dieser von Ribbenstrop ein einsames Leben in großem Stil geführt haben mußte. Die Ordnung in diesem großen Haus erinnerte eher an ein Museum, als an ein Heim. Von Ribbenstrop dürfte allein gelebt haben. Die Ordnung wies jedoch darauf hin, daß er entweder ein Pedant war, oder ihm jemand dabei geholfen haben mußte. Kronenberg fragte, ob Ergebnisse aus dem Einwohnerzentralregister vorlägen.
»Vierzig Jahre alt, geboren in Hamburg, geschieden, keine weiteren Einträge«, antwortete ein Uniformierter. »Unbefriedigend und unvollständig«, dachte sich Kronenberg.
Nachdem er und Katharina noch den Boden des Hauses begangen hatten, schlug er die Rückfahrt vor. Auf der Elbchaussee kamen ihnen ein paar mehr zweiäugige Hauptbewohner der Erde entgegen. Nach knapp 30 Minuten ließ ihn Katharina aussteigen.
»Nicht vor 12 Uhr«, knurrte Kronenberg. »Falls Du früher rauskommen solltest, überprüf bitte den Wachdienst, und wer in der Elbchaussee 825 Ordnung gemacht hat. Nachbarn befragen und so. An der Unordnung arbeiten wir danach weiter.«
Aha«, dachte er, als das Flugzeug auf der Landebahn West aufsetzte, »auch hier haben sie den Airport mitten in die Prärie gebaut.« So wie in Suvarnabhumi, wo der Airbus 12 Stunden zuvor gestartet war.
Suvarnabhumi liegt 40 Kilometer östlich der thailändischen Hauptstadt Bangkok. Eigentlich war der Bau des neuen Flughafens nicht erforderlich gewesen. Das alte Flugfeld Don Muang hätte es noch lange getan. Einige Generale, die zur Politik konvertiert waren, hatten jedoch vor 30 Jahren beschlossen, das sumpfige Grasland aufzukaufen und zu behaupten, daß dort die Zukunft des interkontinentalen Luftverkehrs Südostasiens läge. Über die Jahre gelang es ihnen, Freunde im wichtigen Komitee für Soziale und Wirtschaftliche Entwicklung davon zu überzeugen. Tausende von Rai Land wechselten die Eigentümer. Unter den neuen Grundbesitzern befanden sich viele Ehefrauen hoher Beamter und Militärs. Das war so üblich, seitdem die Nationale Anti-Korruptions-Kommission die Konten aktiver Beamter und Politiker überprüfte, die durch »auffallend hohen Wohlstand« auffielen.
Polizeileutnant Vichaj Bangramsan studierte während dieser Zeit noch an der Militärakademie. Sein Studienschwerpunkt war Drogenbekämpfung. Er hatte diesen Schwerpunkt gewählt, weil dort besonders viele Ausländer, vor allem Amerikaner, lehrten. So konnte er sein zuvor mäßiges Englisch verbessern und internationale Bande knüpfen. Die schulterklopfenden, grobschlächtigen Amis waren ihm zwar nicht sonderlich sympathisch. Als Thai war er jedoch solche Elefanten im Porzellanladen gewohnt. Selbst in seiner Heimatstadt Phitsanulok, einer verschlafenen Provinzhauptstadt auf dem zentralen Plateau Thailands, stolperten sie einem fast täglich vor die Füße.
Vichaj wunderte sich über die doppelte Paßkontrolle am Flughafen Frankfurt / Main: Eine kurz hinter der Gangway, eine zweite an einer Reihe von Kabinen, an denen Nicht-EU-Bürger von solchen mit Pässen der Europäischen Union getrennt wurden. Ihm fiel auf, daß bei der ersten Kontrolle nur Menschen mit nicht-kaukasischen Gesichtszügen angehalten wurden. Für Ostasiaten waren alle Weißen und Araber Kaukasier, also solche, die von dort aus gesehen hinter dem Kaukasus oder in Australien geboren waren. Vielleicht, dachte Vichaj, war der Kaukasus für die Chinesen die natürliche Grenze zwischen ihrem Einflußbereich und der Landmasse westlich davon. Nur die Türken, die in China Uiguren heißen, störten dieses Weltbild.
Hinter der Kabinenreihe näherte sich ihm ein großer, stattlicher Mann mit wettergegerbtem Gesicht und ungekämmtem, blondem Haar.
»Mister Bangramsan?«, fragte ihn der Ungekämmte mit tiefer Stimme.
»Vichaj«, antwortete er.
Nach einem kurzen, unsicheren Flackern in seinen Augen antwortete sein Gegenüber: »Hans«. Noch bevor Vichaj seine Hände zum instinktiven Wai heben konnte, drückte ihm Hans die rechte Hand, als wollte er sie zerquetschen. »Ob sie jenseits des Kaukasus oder jenseits des Pazifik leben, sie pflegen bis heute wilde Manieren«, dachte sich Vichaj.
»Did you have a nice journey?«, fragte ihn Hans auf Englisch mit unverkennbar deutschem Akzent.
»Danke, hatte ich«, antwortete Vichaj auf Deutsch mit Thai-Akzent.
»Ah, Sie sprechen Deutsch!«, zeigte sich Hans erfreut.
»Habe ich zwei Jahre lang bei der Touristenpolizei gelernt«, gab Vichaj zurück.
»Das macht die Sache einfacher.«
Daß der 500-er BMW, mit dem Hans ihn abholte, nicht direkt am Ausgang des Flughafenterminals stand, sondern in einem riesigen Parkhaus dahinter, verwunderte Vichaj. Daß es ein BMW war, schon viel weniger. Manche hohe Polizeioffiziere in seinem Land fuhren auch solche Wagen. Nicht dienstlich, natürlich, denn erstens fuhren ihre Frauen vorsichtiger und zweitens kann sich die Polizei des Königreichs der Thai nur japanische Wagen leisten. Hans mußte also ein Polizeioffizier sein, der seinen Verdienst mit dem einen oder anderen Nebenjob aufbessern und das auch ungeniert zeigen konnte.
Als sie die Autobahnauffahrt Richtung Westen hinter sich hatten, gab Hans kräftig Gas. Anfangs flitzten andere Autos an ihnen vorbei. Es dauerte aber nicht lange, bis Hans auf der Überholspur war.
»Sie fahren sehr schnell«, bemerkte Vichaj.
»Wir in Deutschland haben ja auch schnelle Wagen«, antwortete Hans, um gleich besorgt nachzulegen: »Fühlen Sie sich nicht wohl dabei?«
»Nein, nein, bei uns haben vorgeschriebene Geschwindigkeiten auch nur empfehlenden Charakter«, wehrte Vichaj ab und dachte an die Bilder des letzten Verkehrsunfalls, den er auf dem Bangna-Trad-Highway wenige Stunden zuvor gesehen hatte. Für den Motorradfahrer, der wohl mit hoher Geschwindigkeit einen Bus überholt hatte, konnte er nichts mehr tun. Außerdem gehörte er nicht zu den Uniformierten der Metropolitan Police, die untätig herumstanden oder eifrig ihre Notizbücher traktierten. Thailand hatte die höchste Verkehrsopferrate der Erde.
Nach vierzig rasenden Minuten hielt der BMW vor einem langgestreckten Betonklotz aus den 1970-iger Jahren, an dessen Eingang »Bundeskriminalamt« stand. Hans hatte Vichaj unterwegs erzählt, daß er schon zweimal seinen Urlaub in Thailand verbracht, sich aber das Sawat Di zur Begrüßung nur kurz überlegt hatte, bevor er es wieder verwarf. Phuket und Kho Phi-Phi seien wunderschöne Flecken, das Schnorcheln in der Andamanischen See ein einmaliges Erlebnis. Wie klar das Wasser dort doch sei …
Vichaj bemerkte vorsichtig, daß Phuket und Kho Phi Phi sicher schön seien, das wirkliche Thailand dort jedoch kaum erlebt werden könne. Was Hans nicht davon abhielt, vom wunderbaren Wetter, schönen Stränden und seinen netten Urlaubsbekanntschaften zu schwärmen.
»Für die Deutschen muß Urlaub unerhört wichtig sein, wenn sie sofort und so lange darüber reden«, mutmaßte Vichaj. Aber vielleicht war es auch nur der nette Versuch von Hans, internationale Bande zu knüpfen.
Solche Nettigkeiten war er von den Amis gewöhnt. Die waren allerdings oft auch schnell mit einem Urteil über sein Volk zur Hand. Hans beschränkte sich auf die Anmerkung, daß die Thais doch alle sehr freundlich seien. »Hätte er recht, dann hätte ich meine Arbeit nicht«, dachte sich Vichaj.
»Das Land des Lächelns« hatte viele Bedeutungen: Lächeln, weil man es so meint; lächeln, um eine schwierige Situation aufzulösen; lächeln aus Verlegenheit; lächeln, um die Dummheit anderer zu kommentieren. Undsoweiter. Einer seiner US-Lehrer hatte ihm einmal erbost gesagt: »You people are grinning even after having stolen my purse.« Das war kurz, nachdem sie ihm seine Geldbörse auf einer kurzen Parallelstraße zur Sukhumvit Road entwendet hatten. Die Gasse heißt im Volksmund »Soi Cowboy« und sie gab es schon seit den Tagen des Vietnamkriegs. Damals erholten sich dort Tausende von GI`s von den Strapazen des Dschungelkampfs in den Betten der Huren und wurden so manchen zusätzlichen Dollar für die Familien in Isaan los. Die meisten Nutten Bangkoks stammen aus Isaan, der großen, trockenen, ländlichen Nordostregion Thailands. Überhaupt mag wohl die Hälfte der zehn Millionen Einwohner der Hauptstadt von dort her kommen. Deshalb ist die Stadt während des Wasserfestes Sonkran, mit dem im April Neujahr gefeiert wird, halb leer, während in den sonst so trägen Provinzen der Tiger tanzt.
Hans bedeutete Vichaj, sein Gepäck im Wagen zu lassen. Ein Herr namens Schneider begrüßte sie im obersten Stockwerk des Betonklotzes. Ja, er kenne General Sereepisut Taemeeyaves, sagte Schneider erfreut. Er habe mit ihm ein Seminar des UN Office on Drugs and Crime über die Bekämpfung internationaler Drogenkartelle besucht. »Ein sehr tüchtiger Polizist, hoch intelligent«, betonte Schneider. Nun solle Vichaj die Erfahrungen Deutschlands bei der Drogenbekämpfung kennen lernen.
Das sei ehrenvoll, antwortete Vichaj, aber eigentlich strebe er eine Position in der National Anti Corruption Agency (NACC) an, die sich insbesondere mit Fällen politischer Korruption befasse. Herr Schneider reagierte verlegen, murmelte etwas von der bisherigen Kommunikation mit dem thailändischen Innenministerium und bat Vichaj, doch zunächst an dem für ihn vorbereiteten Programm teilzunehmen. »In Ordnung«, antwortete Vichaj preußisch und bemerkte, daß General Sereepisut von der neuen Regierung in den vorläufigen Ruhestand versetzt worden sei. »Schade, das passiert also auch bei euch«, bedauerte Schneider.
Die folgenden Tage erinnerten Vichaj an das alte Sprichwort Chao cham yeu cham. Dessen eine Interpretation heißt »Bloß nicht überanstrengen« und bezeichnet ein Vorurteil seines Volks gegen Staatsbeamte. Alles, was ihm die Kollegen des Bundeskriminalamts zeigten und erklärten, hatte er an der Polizeischule bereits gelernt. Selbst, daß der »Krieg gegen das Böse« Afghanistan zum Hauptlieferanten von Opiaten gemacht hatte, war ihm schon längst geläufig. Die Bedeutung Osteuropas als Transitraum war für Thailand bedeutungslos. Die Russen traten in Bangkok eher als Lieferanten und Nachfrager preiswerter Huren, denn als Drogenbosse auf. Gegen die Billighuren aus Rußland hatten die einheimischen bereits gestreikt. Für das asiatische Drogengeschäft waren die Russen schlichtweg zu grobschlächtig.
Die andere Interpretation heißt »Faul bis in die Knochen« und bezeichnet einen heimlichen Wunsch seines Volks für Staatsbeamte: Die mögen an Knochenfäule sterben. Das fand Vichaj sehr unhöflich, seit er Staatsbeamter geworden war.
Vichaj lernte in dieser Woche Wiesbaden kennen und schätzen. Seine schöne gründerzeitliche Innenstadt, den Neroberg, auf den sogar eine Bergbahn fährt, die öffentlichen heißen Quellen offenbarten ihm eine Noblesse, die sein Land nur an wenigen Orten kannte, die meistens mit königlichen Residenzen und frühen chinesischen Handelshäusern verbunden waren.
Wiesbaden war aber entschieden nicht »Down to Earth«, wie die Thais es üblicherweise lieben. Das »Laisser faire« seines Volks, das die Fremden in ihrem Urlaub so schätzen, kam in dieser Stadt nicht vor. In Wiesbaden konnte man sein Gesicht auf ganz andere Weise verlieren als in Thailand. Zum Beispiel, indem man ganz offensichtlich kein Geld hatte.
Herr Schneider verlor sein Gesicht nicht. Nach exakt einer Woche des Chao cham yeu cham bat er Vichaj in sein Büro. Er habe eine Reihe von Kollegen in den Ländern kontaktiert und könne ihm zwei Alternativen anbieten: Im Kampf gegen die Korruption seien die Behörden in Frankfurt und in Hamburg besonders aktiv. Frankfurt sei die Stadt der Banken, Hamburg der größte Seehafen des Landes. Allerdings, schränkte Herr Schneider ein, sei das raue Wetter in Hamburg für einen Thai vielleicht eine Zumutung.
Für Vichaj hatte der internationale Seehafen dennoch den besseren Klang, zumal er von Hamburg als Drogenumschlagplatz schon einiges gehört hatte. Die Chinesen schienen diese Stadt allein wegen ihres Namens zu mögen, den sie mit Han Bao übersetzen, was so viel bedeutet wie »Burg der Chinesen«.
»Das müssen Sie selber wissen«, antwortete Herr Schneider mit feinem Lächeln.«In spätestens drei Tagen habe ich es für Sie vorbereitet.« Vichaj war nach der ersten Woche instinktiv an den Handschlag gewöhnt. Herrn Schneiders Händedruck war bemerkenswert weich. Wahrscheinlich hatte das viel mit Beamten zu tun, die wie Herr Schneider den gesamten Tag am Schreibtisch verbringen und mit dem Formulieren von Kompromissen beschäftigt waren. Das Privileg der Khon awnsoo, der höheren älteren Staatsdiener.
Das Bundeskriminalamt buchte Vichaj einen direkten ICE nach Hamburg. Die Flugzeugen ähnelnde, aber geräumigere Ausstattung der Waggons erstaunte Vichaj, der zuletzt als Jugendlicher die rumpelige Königlich Thailändische Eisenbahn benutzt hatte, danach nur noch die schnelleren Überlandbusse oder den eigenen Pick-Up. Als der Zug nördlich von Fulda die ersten Tunnel durchraste, mußte Vichaj gähnen, um den Druck in seinen Ohren zu lösen. »250 km/h« stand auf dem Monitor zwischen den Waggons. »Wenn das mal an den Straßenübergängen gut geht«, dachte Vichaj. Dort passierten in Thailand die verlustreichen Unfälle zwischen Tanklastern und Eisenbahnzügen. Straßenübergänge sah er aber nicht.
Am Hamburger Hauptbahnhof wartete niemand auf ihn. Ein Uniformierter antwortete knapp: »Die Taxistände befinden sich auf der Hauptbahnhof-Nordseite«, nachdem ihm Vichaj die Adresse »Gästehaus des Senats« entgegengehalten und gefragt hatte, wo denn dieses Gästehaus zu finden sei. »Raue Menschen«, dachte sich Vichaj und suchte die Bahnhofs-Nordseite. Es dauerte eine Weile, bis er die Wagen mit dem Taxi-Schild gefunden hatte.
Der Fahrer war kein Deutscher, das sah Vichaj auf den ersten Blick. Seine Augenbrauen waren buschig, seine Hautfarbe braun. Ja, er sei aus dem Iran, antwortete er, als sich Vichaj als Thai vorgestellt hatte
»Vielleicht wissen Sie, daß bei uns die Mullahs regieren«, antwortete der Fahrer. Sein Vater habe zu Zeiten des Shahs Reza Pahlewi eine Brauerei betrieben.
»Deutschland ist kein Wirtschaftswunderland mehr«, sagte der Perser bitter. Es sei schwer, überhaupt eine Arbeit zu finden. Als Selbständiger sei man ohnehin verloren, da einem die Behörden mit bürokratischem Kram und hohen Steuern den Start vermiesen würden. »Vielleicht gehe ich nach Abu Dhabi oder Doha«, sagte der Perser resigniert. Nur seine drei Kinder hinderten ihn daran, weil sie in eine deutsche Schule gingen. »Wenn die Zukunft am Persischen Golf liegen sollte, dann sollten Ihre Kinder Arabisch lernen – besser noch Chinesisch«, antwortete Vichaj. Der Fahrer schwieg.
Zehn Euro für eine kurze Fahrt nach Uhlenhorst erschienen Vichaj sehr hoch. »Das Taxameter lügt nicht, wird regelmäßig überprüft«, antwortete der Perser beleidigt. Taxameter gab es auch in Bangkok. Eine vergleichbare Fahrt hätte dort jedoch weniger als zwei Euro gekostet. »Vielleicht ist es der Mercedes«, dachte sich Vichaj und ärgerte sich, nicht nach einem Toyota Ausschau gehalten zu haben.
Er betrat das pompöse, klassizistische Gästehaus des Senats am Feensee und war überrascht, daß der Empfang über seine Ankunft und Mission vollständig informiert war. Vichaj machte sich Gedanken darüber, ob das miese Wetter und die Akuratesse der darunter leidenden Menschen in einem systematischen Zusammenhang stehen könnten . Schließlich waren auch die Schweden, Finnen und Norweger für ihre Akuratesse bekannt. Das Winterwetter dort sollte angeblich die Zumutungen Hamburgs um ein Mehrfaches übertreffen. Die tief über die Außenalster ziehenden, dunklen Wolkenberge bedrückten ihn allerdings schon ohne jeden Gedanken an das noch nördlicher gelegene Skandinavien ebenso wie die menschenleeren Straßen des Nobelviertels. Er wollte so schnell wie möglich weg von hier. Wenn schon Regen, dann nicht auch noch diese Kälte.
Udo Kronenberg stürzte in sein Büro. Er war sich sicher, daß sich die Kollegenschaft das Maul darüber verriß, ihn erst gegen Mittag zu sehen. Außer Katharina wusste niemand, daß er kurz nach 4 Uhr morgens aus dem Bett geklingelt wurde, um einen Selbstmord zu begutachten, der angesichts von zwei Whiskygläsern im Blauen Salon der Elbchaussee 825 vielleicht keiner war. Andererseits war es nicht ungewöhnlich, daß sich Kronenberg nach nächtlichen Einsätzen tagesstündliche Freiheiten nahm. Das war jedenfalls aus seiner Sicht nur recht und billig, war er doch nicht mehr der Jüngste.
Polizeikommissarin Katharina Esbjerg meldete sich nach nur dreimaligem Klingeln. Sie war schon seit zwei Stunden wieder im Dienst. Katharina war sein heimlicher Goldschatz: Lange blonde Mähne, nordisches Gesicht mit Stupsnase, locker im Umgang, geschieden nach Ehestreß wegen ihrer Wechselschichten, aber mit einem Kind, um dessen Zukunft sie sich mit ihrem Ex häufig auseinander setzen mußte. Eine lebenskluge Frau, auf die man sich absolut verlassen konnte. Sie war zwanzig Jahre jünger als er.
»Das Einwohnerzentralamt gibt nicht mehr her, als wir bereits wissen. Der von Ribbenstrop ist seit fünf Jahren geschieden, es war eine kurze Ehe. Seitdem lebt er angeblich allein. Sein Büro liegt am Neuen Wall, feine Adresse. Der Wachmann, der ihn gestern Nacht entdeckt hat, ist völlig unbedarft. Rentner, der sich etwas hinzuverdienen muß. Beim Finanzamt liegt nichts Negatives über Ribbenstrop vor. Im letzten Jahr hat er rund 30 Millionen Euro ordentlich versteuert. Insolvent war der jedenfalls nicht.«
Allerdings konnte sich Katharina die penible Ordnung im Haus Elbchaussee 825 immer noch nicht erklären: »Der Mann müsste schon ein Pedant gewesen sein. Das sind wenige in seinem Alter.«
Kronenberg und Katharina beschlossen, die Elbchaussee 825 erneut aufzusuchen. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie an den Tagesbaustellen vorbei das Anwesen erreichten. An den nächtlichen Fund erinnerte nur ein Flatterband, das in den weißen Feldern den Aufdruck »Polizei« enthielt. Kronenberg hob das Flatterband hoch, um Katharina einen allzu tiefen Bückling zu ersparen. Er empfand sich als galant.
Das Siegel an der Tür war kein wirkliches Hindernis. Es war bereits aufgebrochen. Kronenberg drückte die schwere Klinke. »Fahrlässig«, ging es durch seinen Kopf. In der Nachbarschaft wohnte jedoch niemand, der es nötig gehabt hätte, sich der Preziosen im Haus Nummer 825 bemächtigen zu müssen.
In der Küche des Erdgeschosses werkelte eine kleine, rundliche Frau mit malayischen Gesichtszügen, das schwarze Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Sie stellte sich überrascht als Dolores vor, Haushälterin des Herrn von Ribbenstrop. Der Herr sei bisher nicht aufgewacht, mutmaßte Dolores in einem Mix aus Englisch und Deutsch. Wie sie denn in das Haus gekommen sei, fragte Katharina in fürsorglichem Ton. Sie habe einen Schlüssel und das Band vor dem Schloß habe sie weder gestört, noch habe sie es verstanden, antwortete Dolores. Jedenfalls sei das Frühstück für den Herrn von Ribbenstrop bereits fertig und im Esszimmer aufgetischt.
»Er wird nie mehr ein Frühstück zu sich nehmen können«, sagte Katharina. Dolores war verwirrt. Eigentlich habe sie gehofft, ihn heiraten zu dürfen. Daß er es nicht gewollt habe, weil sein Status weit über ihrem lag, habe sie verstanden. Immerhin sei es besser, Hausmädchen in Deutschland zu sein als Hausmädchen auf den Philippinen oder auf der saudi-arabischen Halbinsel.
Ob sie der junge Herr denn missbraucht habe, fragte Katharina. Dolores reagierte verständnislos.
»Na ja, fuck, fuck«, legte Katharina nach.
Dolores hob beide Hände wie zum Schwur und rief: »Nein, nein, good master, no fuck, fuck!«.
Ob sie denn eine Arbeitsgenehmigung habe, fragte Kronenberg. Dolores reagierte erneut verständnislos: »Er immer bezahlen, kein Problem.« Weitere Fragen nach ihrem Aufenthaltsstatus blieben unbeantwortet. Dolores stand die Angst in ihren mandelförmigen Augen: »Ich habe nix getan, bitte …«.
Katharina und Kronenberg ließen von ihr ab, nachdem Dolores beteuert hatte, das Haus am vergangenen Abend gegen 20 Uhr verlassen zu haben. Niemand außer von Ribbenstrop sei zu diesem Zeitpunkt noch anwesend gewesen. Er habe auch keinen Besuch erwartet, soweit sie das beurteilen könne. Dolores brach in Tränen aus. Ob sie nun ihre Arbeit verliere, fragte sie verängstigt.
»Das mag schon sein«, antwortete Kronenberg kühl. Der strafende Blick Katharinas entging ihm.
»Das ist eine arme, einfache Seele«, kommentierte sie beim Hinausgehen.
»Bisher die einzige, die uns Hinweise auf den Umgang des von Ribbenstrop geben könnte«, bemerkte Kronenberg trocken.
Im Vergleich zu Bangkok ist Hamburg eine kleine Stadt. Nur der Hauptbahnhof und der Hafen sind größer. Vor allem aber bemerkte Vichaj, daß das Wetter deutlich schlechter war als in Bangkok, selbst als in Washington D.C., wo er gelernt und den nördlichen Winter kennen gelernt hatte. Es war noch nicht einmal Winter in Hamburg.
Das Dezernat für Interne Ermittlungen hatte ihm Kronenberg zugewiesen, obwohl Kronenberg nicht im Dezernat arbeitete. Vichaj wunderte sich, warum er vom Bundeskriminalamt an das Hamburger DIE und von dort wieder an die Mordkommission verwiesen wurde. Suk ao pao kin, dachte er und begann, sich über die vermutete Schlampigkeit seiner deutschen Kollegen zu wundern.
Auch Kronenberg ärgerte sich über das Ansinnen seiner Kollegen vom DIE. Was sollte er mit einem thailändischen Trainee anfangen, der zwar Erfahrungen in der Drogenbekämpfung hatte, aber weder bei der Bekämpfung von Korruption, noch gar in einem Morddezernat Erfahrungen aufzuweisen hatte?
Überhaupt: Was wird in dieser Stadt auf die »Frontschweine« abgewälzt, weil die Damen und Herren in den Behörden des Senats zu faul und träge sind, irgend etwas zu bewegen?
»Sie haben momentan den interessantesten Fall für ihn. Von Ribbenstrop war Immobilienmakler mit Verbindungen bis in höchste politische Kreise und wurde möglicherweise wegen krummer Geschäfte umgebracht. Sein Hausmädchen ist Philippina, kommt also aus der Region unseres Trainees. Da kann Ihnen der Ostasiate eine echte Hilfe sein.«
Kronenberg wusste, daß Widerstand gegen den Chef des DIE zwecklos war. »Die schicken uns einen Lehrling aus Thailand«, grummelte er in Richtung Katharina.
Vichaj betrat das schlicht eingerichtete Dienstzimmer Kronenbergs mit einer kurzen Verbeugung. Der wirrhaarige, nachlässig gekleidete Mensch erschien ihm als die letzte Instanz, die Hamburg ihm zuordnen wollte. Kronenberg blickte in das zierliche, jungenhafte Gesicht des schmalen Asiaten und dachte unwillkürlich »Lehrling«.
»Herr Kronenberg?«, fragte Vichaj, obwohl der Name seines Gegenübers auf dem Plastikschild neben der Tür stand. Was hätte er die letzte Instanz für ihn sonst fragen sollen?
»Yes, nice to meet you«, grinste Kronenberg.
»Wir können Deutsch miteinander reden«, gab Vichaj zurück.
»Das macht es einfacher. Wo haben Sie Deutsch gelernt?«
»Ich arbeitete bei der Tourist Police in Bangkok. Weil wir in Thailand so viele Touristen aus Deutschland begrüßen dürfen, habe ich mehrere Kurse Deutsch belegt.«
»So, so, Sie dürfen Deutsche begrüßen. Sie sind mir aber doch nicht als Polizist für Touristen zugewiesen worden. So etwas haben wir hier nicht.«
»Nein, ich wollte gar nicht zur Tourist Police. Eigentlich war ich bei der Drogenbekämpfung.«
»Das ist auch nicht unser Geschäft. Wir bearbeiten hier vermeintliche oder wirkliche Morde und ich weiß nicht, warum Sie das DIE in seiner grenzenlosen Weisheit uns zugeordnet hat.«
»Die Drogenbekämpfung lernte ich in Washington und an der Militärakademie meines eigenen Landes.«
»Sie sind also ein Drug-Enforcement-Spezialist. Wird Ihnen bei uns langweilig werden außer vielleicht am Bertha-von-Suttner-Park.«
»Dort erfuhr ich über Beziehungen hochrangiger Beamter und Politiker zur Drogenszene. Seitdem interessiere ich mich für das Thema Korruption. Die National Anti-Corruption-Commission hat meine Bewerbung um ein Praktikum in Deutschland unterstützt. Deshalb bin ich hier.«
»Wir werden versuchen, diesen Fall von Ribbenstrop gemeinsam zu lösen«, antwortete Kronenberg kopfschüttelnd. Dem milchgesichtigen Thai gegenüber entwickelte er jedoch instinktiv ein väterliches Gefühl. »Ich würde Sie gerne beim nächsten Gespräch mit dem Hausmädchen des Herrn von Ribbenstrop dabei haben. Sie ist eine Philippina, stammt also aus derselben Region wie Sie.«
»Die Philippinos sind erstens Malayen oder Chinesen und zweitens katholisch. Mit uns Thais haben sie so viel zu tun wie Sie mit den Arabern. Ich werde Sie aber gerne begleiten.«
»Milchgesicht und rechthaberisch«, dachte sich Kronenberg.
Das Zimmer lag im Dunkeln. Durch die zugezogenen Vorhänge drang nur ein schwacher Lichtschimmer. Vichaj blickte auf das Ziffernblatt des krächzenden Weckers, bevor er auf die Stummtaste schlug und sich schlaftrunken wieder auf die Seite legte. Daß es schon 8 Uhr sein sollte, wollte er nicht glauben.
Es schien nur kurze Zeit vergangen zu sein, als er sich wieder wälzte und auf das Ziffernblatt sah. Die Zeiger standen auf 11 Uhr, aber der Schimmer durch den Vorhang war nicht heller geworden. An diesem Ort konnte etwas nicht stimmen. Das beunruhigte ihn so sehr, daß er aufstand und den Vorhang beiseite schob. Er blickte ins Grau. Tiefhängende Wolken. Draußen war alles naß. Kein heftiger Regen wie zuhause, aber gründlich naß.
Unlustig machte er sich für den Tag frisch, der kein Tag zu sein schien. Jenseits der Tür aus dem Foyer begrüßte ihn klamm-nasse Kälte. »Einfach widerlich«, murmelte er vor sich hin. Noch nicht einmal eine Bushaltestelle war in der Nähe der Schönen Aussicht. Die Fahrt mit einem sogenannten Metro-Bus und einer Bahn im Tunnel nach Altona dauerte fast eine Stunde.
»Daran müssen Sie sich hier gewöhnen«, quittierte Kronenberg seltsam aufgekratzt. »Wir nennen das Schmuddelwetter.«
»Schmuddel – was heißt denn das?«
»Na, so was wie unordentlich, schlampig.«
»Macht mich kalt und naß von außen nach innen«, antwortete Vichaj.
»Dann kaufen Sie sich doch eine ordentliche Jacke. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung, sagen wir. Aber hier ist erst mal heißer Kaffee.«
»Ars Moriendi«, antwortete Vichaj.
»Wie bitte?«
»Die Kunst des Sterbens.«
»Was hat denn das mit unserem Wetter oder unserem Kaffee zu tun?«
»Man wird dabei richtig melancholisch. Die Melancholie bewirkt passives Verhalten, Flucht in Scheinwelten und Drogen, aber auch in Gewalt.«
»Moment mal, ziehen Sie da nicht überzogene Schlüsse?«
»Denken Sie doch an die Geschichte Europas. In Europa herrschte die Kleine Eiszeit. Hungersnöte, Pest, Hexenverbrennungen, Folter als Verhörmethode. Die Sommer, die keine Sommer waren, führten zu Verzweiflung und Tod. Wenn ich das richtig erinnere: Das Camposanto von Pisa, der Tanz um den Tod. Wirklich beeindruckend, aber morbide, niederdrückend.«
»Wenn Sie schon so weit in die Geschichte zurückgehen, möchte ich meinen, daß Asien Europa in nichts nachsteht. Schließlich kam die Schwarze Pest aus China über die Seidenstraße nach Venedig.«
»Mag wohl sein, aber in Europa hat sie die große Ernte eingefahren. Sie hat die Hälfte der Bevölkerung weg gerafft. In Europa führte das zu Gewalt – auch staatlicher Gewalt – anstatt zu neuen Heilmethoden.«
»Sie meinen, daß in Ihrem Kulturkreis im Angesicht der Schwarzen Pest positiver gedacht wurde, zum Beispiel an echte Heilmethoden?«
»In China fiel in den Hunger- und Pestjahren zwischen 1618 und 1643 die Ming-Dynastie. Es begann unter anderem mit Schneestürmen in der subtropischen Provinz Yunnan. Wenn die Leute nichts mehr zu essen haben und Tausende auf den Landstraßen sterben, gibt es eben einen Bauernaufstand, also Gewalt.«
»Bei uns gab es damals den Dreißigjährigen Krieg. Danach hatte Mitteleuropa nur noch fünfzig Prozent seiner Bevölkerung.«
»Dann hoffen wir mal auf den Klimawandel, der hier alles freundlicher machen soll – und die Tropen zur Wüste.«
»Hoffen Sie mal nicht zu viel. Rabaul kann jederzeit wieder kommen.«
»Rabaul? Was meinen Sie denn damit schon wieder?«
»Den Ausbruch eines Vulkans auf Papua-Neuguinea, der im 6. Jahrhundert die ganze Erde verdunkelte und zu Missernten führte. Prokopius von Kaiseria schrieb im Auftrag des römischen Kaisers Justinian darüber.«
»Sie meinen so etwas wie den Ausbruch des Krakatau oder dieses unaussprechlichen Bergs auf Island?«
Vichaj nickte. »Ich hätte noch einen Wunsch«, setzte er etwas schüchtern nach.
»Nämlich?«
»Das schlechte Wetter hier wird besonders unerträglich, wenn ich jeden Tag eine Stunde hin und eine Stunde zurück aus diesem vornehmen Viertel an dem großen See fahren muß. Ich würde jeden Morgen schon vollkommen deprimiert hier ankommen. Dazu noch durchnäßt, erkältet undsoweiter.«
»Sie sind an einer der besten Adressen Hamburgs untergebracht, junger Mann«, wunderte sich Kronenberg.
»Adresse ist mir gleichgültig. Kurze Wege zur Arbeit wären hingegen vorteilhaft.«
Kronenberg nahm den Telefonhörer auf, um mit der internen Steuerung die Unterbringung des exotischen Gastes in der Elb-Clipper-Lounge an der Großen Elbstraße zu verabreden.
»Von dort müssen sie nur den Berg rauf gehen, um bei uns zu landen. Abendessen bekommen Sie dort aber nicht.«
»Mai pen lai, das mache ich mir schon selber. In meinem Land sind die Männer ohnehin ihre besten Köche.«
Die Lounge lag an einer viel befahrenen Straße aus Holperpflaster, die beidseitig mit hohen Backsteingebäuden bestanden war. Schräg gegenüber stand ein dunkles Wohnhochhaus, in dem anscheinend wenige Menschen wohnten. Jedenfalls war abends kaum ein Licht zu sehen. Die Geschäfte und Restaurants in der Nähe hatten Preise, an die Vichaj zunächst nicht glauben wollte: »Irgendwie scheint denen ein Komma nach rechts verrutscht zu sein«, dachte er. Aber es hatte System.
Unmittelbar neben der Lounge lag ein Club, dessen Betreiber und Besucher überhaupt nicht in das Viertel paßten. Sie parkten ihre Autos noch rücksichtsloser als die anderen Bewohner und Besucher. Nachts dröhnte aus dem Erdgeschoß oft Musik, die Vichaj nicht melodisch fand. Erst allmählich begann er, das Punkige an dieser Insel zu akzeptieren. Die vollkommen fehlende Disziplin dieses Exils blieb ihm allerdings auf Dauer fremd.
Der alte, heruntergekommene Wohnblock aus Backstein lag am Kaltenkirchener Platz. Auf der Vorderseite die tosende Stresemannstraße, auf der Rückseite S- und Fernbahngleise.
»Wolltest du hier wohnen?«, fragte Kronenberg Katharina. »Sie hat wohl keine andere Wahl«, schnappte Katharina zurück. Vichaj fand die Gegend nicht ganz so übel: »In Bangkok gibt es viel schlimmeres.«
Im dritten Obergeschoß bewohnte Dolores eine winzige Zweizimmerwohnung: Einfachstes Mobiliar, ein Fernsehapparat, vor dem ein alter Sessel stand, alles sauber und sorgfältig aufgeräumt. Angesichts der drei Polizisten, von denen der Asiate sie besonders irritierte, sprang Dolores die Angst ins Gesicht.
»Sie müssen sich vor uns nicht fürchten. Wir wollen mit Ihnen nur noch einmal über Herrn von Ribbenstrop sprechen.«
Sie nahmen den angebotenen Tee schon deshalb an, weil es Dolores beruhigte.
»Erzählen Sie uns doch einmal, wie Sie Herrn von Ribbenstrop kennen lernten. Geschah das in Manila?«
Dolores verneinte. Mehrere freundliche Versuche Katharinas, mehr als ein Wort aus ihr heraus zu bringen, trugen schließlich Früchte: Dolores erzählte ihre Lebensgeschichte.
Sie sei als eines von sieben Kindern einer Straßenhändlerin in der Provinz Maguindanao aufgewachsen. Ihr Vater sei früh gestorben, so daß die Mutter ihre sieben Kinder nur mit Hilfe von Verwandten unter ärmlichen Verhältnissen durchbringen konnte. Maguindanao werde vom Ampatuan-Clan regiert, der über eine private Armee verfüge. Die Ampatuans beherrschten die Wirtschaft der Provinz und hätten eigene Steuern eingetrieben.
Weil ihre Mutter oft nicht in der Lage gewesen sei, diese Steuern zu bezahlen, hätten zwei ihrer Brüder für Andal, den Sohn des alten