Mogadischu - Reiner Gütter - E-Book

Mogadischu E-Book

Reiner Gütter

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Beschreibung

Men-Never (Memphis) im zweiten nachchristlichen Jahrhundert: Eine junge Frau haucht ihr Leben aus. Die Galeasse „Gottfried“ kentert 1822 mit ihrem Sarkophag am Dieksander Gatt in einem der stärksten Orkane über der Nordsee. Fast zwei Jahrhunderte später explodiert ein Containerschiff vor Cuxhaven. Kurz darauf ankert ein Trampfrachter vor dem Hafen von Tilbury/Essex. Die Geschichte führt ans Horn von Afrika, wo ein Dreißigjähriger Krieg tobt. Haben Piraten aus den staubtrockenen Wüsten, vor deren Küsten Raubfischer wüten, eine wirksamere Form gefunden, ihre Interessen durchzusetzen? Kriminalhauptkommissar Udo Kronenberg in Altona und General Horatio Nelson Brightwood in London kommen der Wahrheit nur schrittweise auf die Spur. Sie verhandeln mit einem dubiosen Sheikh aus Somaliland. Der Internationale Seegerichtshof in Altona spricht ein Wort. Gründlich recherchiert, nicht einfach, spannend. Ein unbequemer Beitrag zur Diskussion über die Migration aus Afrika und ihre Gründe.

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Seitenzahl: 532

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Hinweis: Alle Figuren in diesem Roman sind frei erfunden, die zugrundeliegenden Strukturen und Handlungsorte und die Namen internationaler und somalischer Institutionen allerdings nicht. Die Organisationsstruktur der Hamburger Polizei ist insofern verändert, als ein Teil des Morddezernats nicht beim Landeskriminalamt, sondern bei einem örtlichen Polizeikommissariat angesiedelt ist. Die Interpretation des internationalen Seerechts ist allein die konkludente Idee des Verfassers.

Inhalt

VORWORT

MEN-NEFER (MEMPHIS) / ÄGYPTEN, 11. MÄRZ 145 n.Chr.

TRIEST, 20. JANUAR 1822

GALEASSE GOTTFRIED

ELBMÜNDUNG, 11. MÄRZ 1822

OTHMARSCHEN, 24. FEBRUAR 1823

HAMBURG / REESENDAMM 25. FEBRUAR 1823

DIEKSANDER GATT, 11. MÄRZ 2015

HAMBURG FUHLSBÜTTEL AIRPORT, 15. MÄRZ 2015

ALTONA / OELKERS ALLEE, 22. MÄRZ 2015

SENATSKANZLEI HAMBURG, 21. MÄRZ 2015

HAMBURG / JOHANNISWALL, 22. MÄRZ 2015

HAMBURG PORT AUTHORITY, 23. MÄRZ 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 24. MÄRZ 2015

ALTONA / VAN-DER-SMISSEN STRASSE, 27. MÄRZ 2015

ALLGEMEINES KRANKENHAUS ALTONA, 27. MÄRZ 2015

ALTONA – OELKERS ALLEE, 28. MÄRZ 2015

HAMBURG / JOHANNISWALL, 31. MÄRZ 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 31. MÄRZ 2015

HAMBURG / ST. PAULI, 11. APRIL 2015

HAMBURG / POLIZEIPRÄSIDIUM ALSTERTAL, 12. APRIL 2015

LONDON COLLEGE, 15 APRIL 2015

LONDON / VAUXHALL, 16. APRIL 2015

HAMBURG / JOHANNISWALL, 17. APRIL 2015

HAMBURG / JOHANNISWALL, 19. APRIL 2015

HAMBURG / MÖRKENSTRASSE, 20. APRIL 2015

HAMBURG / JOHANNISWALL, 22. APRIL 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 23. APRIL 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 23. APRIL 2015

TILBURY / ESSEX, 25. APRIL 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 27. APRIL 2015

TILBURY / ESSEX, 28. APRIL 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 29. APRIL 2015

TILBURY / ESSEX, 30. APRIL 2015

ALTONA / NIENSTEDTEN, 2. MAI 2015

TILBURY / ESSEX, 3. MAI 2015

SHANGHAI / CHINA, 3. MAI 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 3. MAI 2015

OTTENSEN, 4. MAI 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 4. MAI 2015

TILBURY / ESSEX, 5. MAI 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 6. MAI 2015

SECRETA DOMUS, 8. MAI 2015

HAMBURG / NIENSTEDTEN, 10. MAI 2015

ALTONA / BAHRENFELD, 17. MAI 2015

HAMBURG / NIENSTEDTEN, 20. MAI 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 22. MAI 2015

TILBURY / ESSEX, 23.MAI 2015

ANTWERPEN, 24.MAI 2015

BRUNSBÜTTEL, 25. MAI 2015

ALTONA / NIENSTEDTEN, 25. MAI 2015

NORD-OSTSEE-KANAL, 25. MAI 2015

FÄHRANLEGER BREIHOLZ, 25. MAI 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 28. MAI 2015

ALTONA / NIENSTEDTEN, 29. MAI 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD 1. JUNI 2015

INDISCHER OZEAN, 5. JUNI 2015

INDISCHER OZEAN, 6. JUNI 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 10. JUNI 2015

INDISCHER OZEAN, 10. JUNI 2015

ALTONA / NIENSTEDTEN; 10. JUNI 2015

INDISCHER OZEAN, 12. JUNI 2015

ALTONA / NIENSTEDTEN, 13. JUNI 2015

KISMAAYO / SOMALIA, 13. JUNI 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 15. JUNI 2015

INDISCHER OZEAN, 15. JUNI 2015

ALTONA / JESSENSTRASSE, 16. JUNI 2015

INDISCHER OZEAN, 16. JUNI 2015

HILLINGDON / NORTHWOOD, 17. JUNI 2015

ALTONA / SCHULGARTEN, 20. JUNI 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 21. JUNI 2015

FREETOWN / SIERRA LEONE, 21. JUNI 2015

HAMBURG / SHANGHAI-ALLEE, 22. JUNI 2015

GROSSHANSDORF, 22. JUNI 2015

LONDON / VAUXHALL, 23. JUNI 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 25. JUNI 2015

ALTONA / FRIEDENSALLEE, 6.JULI 2015

ABIDJAN / ELFENBEINKÜSTE, 10. JULI 2015

ALTONA / NEUMÜHLEN, 16. JULI 2015

LONDON / VAUXHALL, 16. JULI 2015

CENTURION / SÜDAFRIKA, 17. JULI 2015

LONDON / VAUXHALL, 20. JULI 2015

DJIBOUTI, 22. JULI 2015

ABIDJAN / PLATEAU, 22. JULI 2015

INDISCHER OZEAN, 24. JULI 2015

KISMAAYO / SOMALIA, 24. JULI 2015

ALTONA, 25. JULI 2015

ABIDJAN / PLATEAU, 27. JULI 2015

MARSEILLE, 27. JULI 2015

KISMAAYO, 28. JULI 2015

ABIDJAN / PLATEAU, 28. JULI 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 13. AUGUST 2015

BLANKENESE, 20. AUGUST 2015

ABIDJAN / PLATEAU, 20. AUGUST 2015

ALTONA, 21. AUGUST, 2015

ABIDJAN, 21 AUGUST 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE; 22. AUGUST 2015

KISMAAYO, 30. AUGUST 2015

AUSSENKEHR / NAMIBIA, 3. SEPTEMBER 2015

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 12. SEPTEMBER 2015

ABIDJAN / PLATEAU, 12. SEPTEMBER 2015

LISTE DER HANDELDEN PERSONEN

GLOSSAR / ABKÜRZUNGEN

VORWORT

Dies ist im Kern eine maritime Geschichte, angeregt durch die Piraterie am Horn von Afrika, den darauf folgenden internationalen Einsatz von Kriegsschiffen zur Sicherung einer Welthandelsroute, die Verurteilung somalischer Piraten in Hamburg und die ungesühnte Raubfischerei vor den Küsten Afrikas.

Das gab mir zu denken: Warum begannen Somali, vor ihren staubtrockenen Küsten große Schiffe zu kapern? Weil es einen dreißigjährigen Bürgerkrieg zu nähren galt und sich schnell ergab, dass Lösegelder für Handelsschiffe konkurrenzlos ergiebige Geldquellen waren? Warum hat die Europäische Union, die keine eigene Flotte besitzt, in einer gemeinsamen Mission Kriegsschiffe in den Golf von Aden gesandt, verstärkt um lose assoziierte Schiffe anderer Nationen? Warum hat der UN-Sicherheitsrat erstmals in seiner Geschichte einem Mitgliedsland offiziell die Souveränität entzogen, ohne seinen Folgepflichten nachkommen zu können?

Den wenigen, oft in Behördensprachen verfaßten Untersuchungen kann und will ich keine weitere hinzufügen. Stattdessen habe ich eine Geschichte geschrieben, deren Fiktion sich im Kern mit Weiterentwicklungen befaßt: Mit einer neuen Form von Piraterie, die gezielt und konzentriert erdumspannende Warenströme trifft. Mit einer Antwort im internationalen Seerecht, die enthemmte Raubzüge vor fremden Küsten ebenso verfolgt wie das Kapern unbewaffneter Handelsschiffe. In dieser Geschichte gibt es Antagonisten, Protagonisten und Zwielichtige, die Wirklichkeit und Hoffnung in sich vereinen wollen, so, wie es die meisten Menschen auch tun.

Ich habe auch einen afroeuropäischen Roman geschrieben. Ohne Grundkenntnis darüber, wie afrikanische Gemeinschaften ticken, kann man über diesen Handlungsraum nicht schreiben. Afrika ist kein Kontinent mit 55 Staaten, sondern ein Erdteil aus Tausenden von Stämmen, Clans, Subclans, für die Frieden nur ein Versprechen innerhalb ihrer selbst ist, aber kaum zwischen ihnen. Ausgeprägte Gruppenorientierung. Eine »Zivilgesellschaft« im europäisch-amerikanischen Sinne gibt es kaum. Die jüngsten Genozide fanden meistens in Afrika statt.

Manch international Handelnder macht sich diesen Umstand zunutze, in meiner Geschichte ist der Antagonist auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern, zwar zynisch, aber harmloser als sich derzeit die Wirklichkeit zum Beispiel im Südsudan, dem »jüngsten Staat der Erde«, darstellt. Eine grundsätzliche Frage lautet, wer das Land und seine Schätze besitzt. Das traditionelle Afrika südlich der Sahara kennt kein Eigentum an Grund und Boden, sondern Nutzungsrechte der darauf Lebenden. Dagegen laufen internationale Konzerne – Plünderer und »Piraten« – Sturm, Arm in Arm mit örtlichen Kleptokraten und Mördern. Das »Herz der Finsternis« liegt nicht in Mogadischu, am Kivu-See oder am Kongo, sondern hinter edlen Fassaden am Genfer See, in Delaware und in Shanghai.

Im Unterschied zu den Handlungsorten meiner bisherigen Romane war ich nie in Mogadischu, wo man sich seit drei Jahrzehnten als Außenstehender nur in gepanzerten Fahrzeugen mit schwer bewaffneter Begleitung bewegen kann. Auf diese Weise läßt sich aber kein Ort erleben und begreifen, sondern nur für Kriegsberichterstatter als Kampffeld, was in Mogadischu sehr oft tödlich endet. Deshalb habe ich »um diese Stadt herumgeschrieben«, keine Handlung findet dort statt. Dennoch habe ich die Geschichte »Mogadischu« genannt, denn diese Hauptstadt von Irgendwas steht in krasser Ausprägung für das Elend Afrikas, das deutlich nach Europa ausgreift und Europa mindestens so stark herausfordern wird wie mittelamerikanische Länder seit Jahrzehnten Nordamerika herausfordern. Ein Afrika, das sich nicht allein organisieren kann gegen Räuber aus dem Nordwesten und dem Fernen Osten, aber auch im Innern keinen Frieden findet, sondern von »Kriegern«, Kriminellen beherrscht wird, sucht Fluchtpunkte nördlich des Mittelmeers.

Einem breiteren Publikum ist Mogadischu bekannt durch die Befreiung der Lufthansa-Maschine »Landshut« vor einem halben Jahrhundert und durch afrikanische Schatten im US-Kriegsfilm »Black Hawk Down«, der zwar spannend gemacht ist und auf Angaben des US-Verteidigungsministeriums beruht, aber vielleicht deshalb dieses Afrika ganz überwiegend als bedrohliche Welt der Nacht beschreibt. Der Ermordung der italienischen Journalistin Ilaria Alpi und ihres Kameramanns Miran Hrovatin in Mogadischu gehen die Dokumentation »Die Müll-Mafia« von Sandro Mattioli und die Filmdokumentation »Tödliche Reportage« nach; es wurde bis heute nicht geklärt, ob die N´Drangheta hinter diesen Morden steckt oder Piraten in Boosaaso / Puntland, die eines der Giftschiffe aus Italien kaperten, über die Ilaria berichten wollte. Ebenso tief gehen die Bilder, die der dänische Fotojournalist Jan Grarup bis 2013 in Mogadischu, in den Flüchtlingslagern Dabaab (Kenia) und Dollo Ado (Äthiopien) aufnahm. Diese Bilder zeigen einen Teil der Erde, in dem Niemand außer den dort Lebenden wohnen will – und auch die dort Lebenden würden gern woanders leben, wenigstens aber unter anderen Verhältnissen. Bis zur Grenze des Erträglichen geht Hubert Sauper mit seiner Dokumentation »We Come as Friends« im Südsudan, dessen 2,5 Millionen Flüchtlinge überwiegend in Äthiopien und Uganda aufgenommen wurden. Einen guten Überblick über Nordostafrika gibt der Band »Wegweiser zur Geschichte - Horn von Afrika« des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (Schöningh-Verlag 2007).

Dieser Roman ist keine Kampfschrift. Ich habe Etwas geschrieben, das hoffentlich spannend, unterhaltsam und zuweilen nicht ohne Humor ist, der Niemandem im Halse stecken bleiben soll. Es soll zum Verstehen und Weiterdenken anregen. Seit Mitte 2018 gibt es auch positive Entwicklungen am Horn von Afrika.

Ich danke Alexander Hund für das Durchredigieren meines Entwurfs, der ohne ihn nicht fehlerfrei gedruckt hätte werden können. Gerhard SaIow danke ich für Übersetzungen vom Hoch- ins Plattdeutsche in einem der Kapitel. Ich danke auch Wirot Krasungnoen für seine unendliche ostasiatische Geduld mit mir.

Reiner Gütter, 2018

MEN-NEFER (MEMPHIS) / ÄGYPTEN, 11. MÄRZ 145 n.Chr.

Das glitzernde blaue Band des Nils, grüne Streifen beidseits des Flusses, die gelbbraune Unendlichkeit jenseits, die dem Land dreitausend Jahre Frieden brachte: In der alten Hauptstadt Unterägyptens war es heiß, trocken, still. Im Haus des Glasmachers Piket lag Senchonsis auf einem mit roten Tüchern bedeckten Granitquader. Bei ihr standen mönchartig in braune Gewänder gekleidete Gestalten. Ihre Gesichter waren von breiten Kapuzen verdunkelt.

Senchonsis´ Kehle rasselte. Schleim hatte sich abgesetzt. Jeder Atemzug zwängte sich durch die glitschige Masse. Die Angst zu ersticken war nur langsam von ihr gewichen, als leise Luftzüge zwischen die Pfeiler des Raums zogen. Der Priester hatte ihren Oberkörper aufgerichtet, ihr ein Tuch mit ätherischem Öl gegen die Nase gehalten. Er betete halblaut.

Seit Tagen hatte sie nichts mehr gegessen, kaum getrunken. Ihre Zunge versagte den Genuss des Geschmacks. Ihr Mund war trocken, die Zunge klebte am Gaumen. Ihr Kopf war voller Einsamkeit, Schmerz und Schuld aus vielen Quellen. Sie war erst fünfundzwanzig Jahre alt.

Am Fußende des Quaders stand ein langbeiniger Junge mit ebenmäßigen Gesichtszügen und makelloser, brauner Haut. Er schob sein Gewand zur Seite, gab seinen schmalen Körper frei, lächelte sie mit seinen großen, braunen Augen an, erschien wie Nefertem, Sinnbild der Jugend, Schönheit und Vollkommenheit, Sohn des Ptah und der löwenköpfigen Sachmet. Ptah war der Stadtgott Men-Nefers, Schutzpatron der Steinhauer, Maler und anderer Handwerker, ihm verdankte die Hauptstadt Unterägyptens ihre Stärke als Gewerbezentrum und Waffenschmiede.

Senchonsis lächelte zurück. Ihr Atem stockte. Die Figur des Jungen verschwamm. Ihre Gelenke und ihre Augenlider färbten sich blau. Senchonsis starb und nahm Nefertem mit ins Leben danach.

Ihre Eingeweide wurden entnommen, das Gehirn vorsichtig aus Nase und Rachen gezogen, der Körper wieder zugenäht, einbalsamiert. Vom Gesicht wurde ein Abdruck genommen und vergoldet wieder aufgesetzt.

Ihr Vater Piket, einer der reichen Glasmacher Men Nefers, ließ in Sakkara ein großes Schachtgrab aus Granitblöcken bauen. Fünfzig Nubier arbeiteten sechs Monate lang, rollten Granitblöcke auf Baumstämmen vom Hafen Peru-Nefer in die Nekropole, seilten sie in den Schacht und schichteten sie aufeinander.

Lange, nachdem Piket gestorben war, öffneten Räuber das Grab und nahmen alle Beigaben mit sich, vor allem jene aus Gold. Den schweren Steinsarkophag ließen sie ungeöffnet zurück.

Das Grab und der darüber geschichtete Granithügel versanken in den Sandstürmen der Jahrhunderte. Sie wurden im Jahr 1820 von Dutzenden Arbeitern ausgegraben. Die Arbeiter suchten lange, bis sie den Sarkophag fanden und an die Oberfläche hievten. Mehrere Dhaus brachten ihn und 96 Kisten über den Nil an die Gestade des Mittelmeers nach Alexandria, des nach dem Einzug Alexanders in Ägypten gegründeten großen Hafens. Alexander, genannt Der Große, hatte in Men-Nefer Ptah gehuldigt, dem heiligen Stier Apis Opfer gebracht und sich von den Hohepriestern des Ptah zum Pharao weihen lassen, zum »Geliebten des Re und dem Erwählten des Amun«.

TRIEST, 20. JANUAR 1822

Der kalte, wütende Sturm aus den Karstbergen Sloweniens hatte nachgelassen, die wilden Wogen der Adria glätteten sich. In einem der aus Backstein gemauerten Lagerhäuser des Hafens lag eine exotische Fracht, die Heinrich Menu von Minutoli nur mit Hilfe des preußischen Konsuls Brandenburg aus Alexandria schaffen konnte. Die Zollbeamten des Vizekönigs und früheren albanischen Söldners Mehmed Ali in Alexandria hatten sich geweigert, eine Exportgenehmigung zu erteilen. Minutolis Hinweis auf die teure Nilpassage fruchtete nichts. Konsul Brandenburg zog schließlich ein Bündel englischer Pfundnoten aus seinem Jackett. Er wusste, dass Minutoli im Auftrag von König Friedrich Wilhelm dem Dritten unterwegs war. Der König wollte in Berlin ein altägyptisches Museum bauen, es dem britischen Königreich gleichtun, das Hunderte Preziosen der Pharaonen in die Hauptstadt des Empire verschleppt hatte. Die Elite Europas war sich der Brücke bewusst, die Nordostafrikas Hochkultur ins antike Griechenland und in das Großreich der Römer gebaut hatte. Die Kultur Abessiniens, Oberägyptens und des Nildeltas war Quelle der Kultur Südeuropas, welche die Europäer »Die Antike« nennen. Nordeuropäische Reiche wollten sich des Ursprungs ihrer Kultur bemächtigen, die Relikte in ihre Länder schaffen.

Die Wurzeln der Familie des Heinrich Menu von Minutoli reichten bis nach Istrien. Minutoli war ein weicher Junge gewesen, den Künsten mehr zugetan als dem Bauerntum oder dem Kriegshandwerk. Früh begeisterte er sich für die Geschichte des Ägyptischen Reichs, dessen Kunstfertigkeit und dessen Mythos. Der König bestimmte ihn zum Erzieher seiner Söhne und gab ihm den ersten Lehrstuhl für Ägyptologie des Kontinents nördlich der Alpen.

Minutoli hatte die Ankunft der Bark aus Alexandria peinlich genau überwacht. Dem Lagermeister von Triest zahlte er eine stattliche Summe Goldmark für die Aufbewahrung der schweren Fracht. Leichtere Teile schickte er in zwanzig Kisten auf Pferdefuhrwerken über die klirrend kalten Alpen. In den Lagerhallen von Triest stapelten sich 76 Kisten und ein Granitsarkophag aus Sakkara.

GALEASSE GOTTFRIED

Die ´Gottfried´ war ein nur dreißig Meter langer Zweimaster, der im Jahr 1815 in Greifswald gebaut und unter dänischer Flagge von Heinrich Jacob Riesberg übernommen wurde. Riesberg, ein vierzigjähriger Mann mit rotem, gestutzem Vollbart und kantigem Gesicht, machte sein Geschäft mit deklarierter Fracht und Schmuggelgut zwischen den Häfen des Mittelmeers und jenen der Nord- und Ostsee. Er kämpfte mit dem zunehmenden transalpinen Landverkehr, warb mit dem Vorteil, Dutzende von Zollgrenzen umfahren zu können. Noch lohnte sich der Betrieb seiner Galeasse wegen der raffgierigen und zänkischen Kleinstaaterei Italiens und des mittleren Europa. Er konkurrierte mit Dreimastseglern und die ersten Dampfschiffe drohten bereits am Horizont. Schiffsgröße und garantierte Geschwindigkeit waren entscheidend für die Frachtraten, die Verlader zu bezahlen bereit waren.

Die ´Gottfried´ lag am langen Kai von Triest, dem einzigen Seehafen des Habsburgischen Reichs, der Citta Mitteleuropea. Der stürmische, kalte Bora hatte sie länger als erwartet festgehalten. Von Nordosten anbrausend, schlug der aus dem Karstgebirge fegende Sturm nur gegen den Bug der Galeasse, nicht gegen die Breitseite.

Heinrich Jacob Riesberg hielt am Hafen und in der Stadt Ausschau nach Verladern. Anbietern aus dem Balkan hörte er nicht mehr zu, weil sie ihm wortreich den Wert ihrer Ware und den Unwert der Fracht erklärten. »Geier« nannte er diese Sorte Mensch und ging ihr, soweit es in Istrien möglich war, aus dem Weg. Es war nicht einfach, seriöse Geschäftspartner zu finden. Andererseits bot Triest im Frühjahr auch Chancen für gute Fracht.

Ein Hafenmeister gab Riesbeck den entscheidenden Hinweis: In einem der langen Backsteinkontorhäuser lagerten 76 schwere Kisten, über die ein preußischer Beamter mit italienischem Namen verfüge. Gegen ein kleines Trinkgeld führte der Hafenmeister den preußischen Beamten seltsamen Namens dem Kapitän der ´Gottfried´ zu. Heinrich Menu von Minutoli erläuterte die Art seiner Fracht.

»Mumien – da fürcht´ sich jeder anständige Seemann vor. Mach´ ich nich´«, reagierte Riesbeck spontan. »Baal word´ zornig sein.«

»Haben Sie alternative Fracht, Capitano?«, fragte Minutoli. »Ich habe in spätestens zwei Monaten einen alternativen Frachtweg – über die Alpen.«

Riesberg war deutlich, dass Minutoli den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Er gab sich zögernd: »Wie hoch is´ der Wert Ihrer schweren Kisten?«

»Die Versicherungssumme liegt bei 27.000 Goldmark«, antwortete Minutoli wahrheitsgemäß.

»Also, die Fracht beträgt dann ein Drittel davon. Das is´n faires Angebot.«

»Ein Viertel und keinen Penny mehr. Ich bin kein frei handelnder Geschäftsmann, sondern als Beamter des Königs von Preußen unterwegs.«

Heinrich Jacob Riesberg willigte schließlich ein. Er wollte sich ohnehin – womöglich in einem anderen Hafen – weitere Einnahmen verschaffen.

Die 76 Kisten und der schwere Steinsarkophag wurden geladen. Riesberg war schnell klar, dass die maximale Ladungsfähigkeit seiner Galeasse damit fast erreicht war. Zusätzliche Fracht musste leicht und werthaltig sein. Ein fast hoffnungsloses Unterfangen.

Riesberg erhielt von Minutoli 6.750 Goldmark auf die Hand. Sie vereinbarten, dass die schwere Fracht spätestens Anfang März in Hamburg angelandet werden sollte, um dann auf dem Landweg nach Berlin befördert werden zu können. Die ´Gottfried´ machte die Leinen los, umrundete Italien.

Livorno war allen Mittelmeerfahrern als kosmopolitischer Freihafen bekannt. Es war nautisch kein leichter Hafen, weil am Tyrrhenischen Meer, südlich der Mündung des Arno, die Berge des Colline Livornensi schroff zur See abstürzten. Wenn man Glück hatte, konnte Livorno jedoch eine Goldgrube sein.

Aufgrund des im Jahr 1590 erlassenen Leggi Livornine, das Ansiedlungs- und Glaubensfreiheit garantierte, hatten sich in Livorno Zuwanderer aus ganz Europa und dem Nahen Osten niedergelassen, darunter sephardische Juden, Syrer und Waldenser aus deutschen Landen. Livorno war zum wichtigsten Seehafen für Fracht aus und nach England am Mittelmeer aufgestiegen.

Das Hafenbecken Darsena Vecchia war schon im 15. Jahrhundert von Antonio da Sangallo im Auftrag des Papstes Giulio de Medici entworfen und gebaut worden. Am Kai des Darsena Vecchia konnten schnell gute Geschäfte gemacht werden. Zu verladen waren beispielsweise Gewürze, Pharmazeutika, Edelmetalle und Waffen. Riesberg einigte sich mit einem armenischen Händler auf zwei Tonnen Gewürze und Medikamente nach London. Aus der guten Fracht zahlte er seinen zwanzig Mann Besatzung die bisherige Heuer und einen ordentlichen Zuschlag.

Einen Teil davon verjuxten sie umgehend und gemeinsam am selben Abend in der von den Genuesern prachtvoll ausgebauten, brodelnden Altstadt Livornos, die im Vergleich zu Triest weltstädtisches Flair bot.

»London, dann Hamburg«, frohlockte Riesberg beim Losmachen der Leinen. Die Mannschaft legte sich mächtig ins Zeug, nachdem jeder seinen Rausch ausgeschlafen hatte.

ELBMÜNDUNG, 11. MÄRZ 1822

Auf Höhe der Bucht von Viskaya begann das Wetter ungemütlich zu werden. Blauschwarze Wolkenwalzen formten sich am westlichen Horizont, der Seegang nahm kräftig zu. Nördlich der Normandie erreichte der Sturm Orkanstärke.

An Bord konnte sich die Besatzung nur noch laut brüllend und gestikulierend verständigen. An Schlafen unter Deck war kaum mehr zu denken. Gegen die Böen auf die Mündung der Themse zu halten erschien Riesberg ausgeschlossen. Er nahm Kurs auf die Deutsche Bucht.

»Dieser verdammte Sarkophag hat Baal doch herausgefordert«, grübelte er vor sich hin. Als Mittelmeerfahrer waren ihm die Geschichten um den mesopotamischen Wettergott bekannt, dessen erhobener rechter Arm die Donnerkeule und dessen linke Hand den Blitzspeer hält. Das ägyptische Memphis, aus dem seine Fracht nach Aussagen des Minutoli stammen sollte, hatte mit Ba´al-Zaphon seit 3.200 Jahren seine eigene Ausprägung dessen, der »Gebrüll im Himmel« verursachen konnte. »Das biblische Monster Ba´al-Zebub ist mit dem Sarkophag an Bord gekommen«, dachte sich Riesberg und schauderte.

Heinrich Jacob Riesberg waren die Tücken der sich ständig verändernden Sande in der Elbmündung bekannt. Er wusste, dass schon bei starkem Wind die Einfahrt in die Elbe voller Risiken steckte. Zugleich war er sich seiner Entscheidung sicher, zumal er auch englische Segler sah, die wie er selbst statt nach London ostwärts fuhren. Ein Orkan dieser Stärke war für viele Seefahrer im Kanal eine neue Erfahrung, wütete er doch mit über 180 Stundenkilometern bereits vier Tage lang und hatte die Themse unpassierbar gemacht. Die Nordsee drückte ihr Wasser gegen die Deutsche Bucht und elbaufwärts. Von den Sanden erwartete Riesbeck dadurch wiederum eine geringere Gefahr, da sie meterhoch überspült sein mussten.

Es war 2 Uhr in der Früh, stockdunkel, als ein gewaltiger Ruck durch den Schiffsrumpf ging. Einer der beiden Masten brach, die ´Gottfried´ legte sich blitzschnell auf die Seite. Wasserwände brachen über das Deck herein. Im Schiffsrumpf rumpelte es sekundenlang, bevor die linke Schiffswand unter dem Druck der schweren Ladung brach. 76 Kisten und der Sarkophag drückten sich aus dem Schiff. Es waren die letzten Minuten im Leben von 21 Seeleuten.

Als sich der Orkan endlich gelegt hatte, fanden Fischerjungen drei Tage später eine Kiste, in der eine Mumie mit schwarz gewordener Haut lag, die in fleckige Tücher gehüllt war. Aufgeregt und ängstlich rannten sie in das nächste Haus hinter dem Deich, das den Sturm einigermaßen unbeschadet überstanden hatte. Die Bewohner des Dorfs witterten Strandgut, das ihnen zustand. Sie bargen weitere Kisten, mit deren Inhalt sie nichts anfangen konnten.

Ein aus Hamburg angereister Inspektor requirierte die Funde und gab den protestierenden Fischern – um des lieben Friedens und ihres eventuellen Besitzrechts willen – zweihundert Goldmark.

In Hamburg wurde der »Unheilfund« für mehrere tausend Goldmark versteigert, nachdem ein Auktionator erkannt hatte, dass es sich um altägyptische Reliquien handeln musste. Heinrich Menu von Minutoli erfuhr von dieser gesteigerten Form der Strandräuberei erst nach den Auktionen und konnte nichts mehr retten. Die Assekuranz zahlte ihm für den Verlust am Klotzenloch in der Elbmündung 27.000 Goldmark aus, was ihn vor der Insolvenz bewahrte. Für die Familien der 21 toten Seeleute gab es keine Versicherung.

OTHMARSCHEN, 24. FEBRUAR 1823

Das klassizistische Landhaus an der Flottbeker Straße, 1794 vom dänischen Landbaumeister Christian Frederik Hansen geplant, gehörte zum Besitz des Kaufmanns und englischen Courtmasters John Thornton. 1820 war es abgebrannt, aber umgehend auf altem Grundriss wiederaufgebaut worden. Westlich des Landhauses erstreckte sich bis zur Flottbek das leicht hügelige Gelände der Ornamented Farm, die Caspar Voght mit Hilfe des schottischen Gärtners Booth anlegen ließ. Wiesen, Felder und Wäldchen wechselten sich mit gartenähnlichen Flächen ab.

John Thornton nahm unter den englischen Kaufleuten in Hamburg als offizieller Handelsattachée der englischen Krone eine besondere Stellung ein. Die Position war in London käuflich zu erwerben. Thornton pflegte engen Kontakt zu den Afrikafahrern unter den Reedern Hamburgs, die mit dem Transport edler Hölzer, Metalle und Sklaven nach Amerika sehr gutes Geld verdienten. Er war prominenter Kontaktmann zwischen den großen Häfen Hamburg und Liverpool, dem Tor Europas zum Nordatlantik. Fast zwei Meter groß, mit hagerem Gesicht, das ein mächtiger grauer Haarschopf krönte, stach John Thornton schon physisch unter den Teilnehmern der regelmäßigen Kaufmannsversammlungen hervor. Er unterhielt sich gerne in Englisch, weil ihm diese unter gebildeten Hamburgern gepflegte Sitte die Überlegenheit des geschliffenen Arguments verlieh.

Wie in anderen Handelsmetropolen des Kontinents kreisten die Diskussionen oft um die »Maschinenfrage«, der David Ricardo 1821 mit dem Satz gesellschaftliche Bedeutung beigemessen hatte, dass die arbeitenden Klassen den Einsatz von Maschinen regelmäßig als gegen ihre Interessen gerichtet betrachten würden und mussten. Die technische Revolution auf Grundlage der bisher überwiegend im Bergbau eingesetzten, von James Watt modernisierten Dampfmaschine war für manche ein Versprechen, für andere eine Gefahr für die bisherige Ordnung. Einige Reeder Hamburgs hatten die ersten Raddampfer auf den Flüssen und Kanälen Amerikas besichtigt und machten sich Gedanken über den Einsatz im Seeverkehr.

Im Dorf Othmarschen fühlte sich John Thornton wie ein Earl unter Bauern. Die dänische Krone, der Othmarschen unterstand, residierte weit nördlich in Kopenhagen, die Drostei in Pinneberg nahm im wesentlichen Steuern ein.

John Thornton hatte vor wenigen Tagen beim Auktionshaus Wever in der Hamburger Innenstadt drei Kisten erworben, deren Kästchen, Statuetten und Stelen er unschwer als Jahrtausende alte ägyptische Kunstwerke erkannte. In England hatte das Erbe Ägyptens viele Sammler und die Krone bereits begeistert. Die Hamburger schienen dagegen noch wenig Ahnung von der Brücke zwischen Nordostafrika und Europa zu haben. Oder sie waren daran nicht interessiert. Jedenfalls hatten nur Wenige mitgeboten.

Ein Pferdefuhrwerk hatte tags zuvor die drei Kisten vor den Landsitz gefahren. Der Kutscher, sein Junge und einer der Knechte Thorntons hatten die schweren Kisten ins Souterrain geschleppt. Thorntons Ehefrau Heather waren die neuen Besitztümer nicht geheuer. Freundinnen aus London und Liverpool hatten ihr geschrieben, dass englische Forscher in Ägypten unerwartet gestorben seien, nachdem sie Grabkammern geöffnet hatten. Man munkelte, dass die Pharaonen den Eindringlingen einen für Lebende unbemerkbaren Fluch entgegengeschleudert hätten, der sie langsam und qualvoll sterben ließ.

John Thornton schüttelte sich vor Lachen, als seine Frau ihm diese Schauermärchen erzählte. Er hielt ihr entgegen, dass ein Großteil des Personals im British Museum bereits gestorben sein müsste, sollten diese Geschichten auch nur ein Körnchen Wahrheit enthalten. Außerdem frage er sich, wie es die Pharaonen und ihre Beamten geschafft haben sollten, über Jahrtausende ein Gift in ihren Grabkammern zu bewahren.

»Bloody nonsense«, fasste er zusammen.

Über die folgenden Wochen hielt sich John Thornton im Souterrain seines Landsitzes auf, sobald und solange es ihm seine Geschäfte erlaubten. Ab und zu brachte er Stelen herauf, die aus Heathers Sicht seltsam starre Gestalten, teils mit Vogel-, Stier- und Löwenköpfen zeigten. »Wenn das, was über und neben den Bildern steht, wirklich eine Schrift sein soll, zeigt es doch, wie primitiv diese Kultur war«, meinte Heather geringschätzig.

John Thornton war empört: »Die einzige ältere Schrift, die wir kennen, besteht aus keilförmigen Zeichen. Das, was ich hier in der Hand halte, liegt mindestens so weit entfernt von der Geburt unseres Herrn Jesus Christus wie die Zeit, in der wir heute leben. Britannien war selbst noch zu Christi Geburt ein rauer, kalter Außenposten des Römischen Reichs. Ägypten war die reiche Kornkammer desselben Reichs, verfügte schon damals über eine dreitausendjährige Kultur. Verstehst du das nicht?«

Nach der ersten Märzwoche bildeten sich rote Ränder um John Thorntons Augen, seine ohnehin nicht gut gepolsterten Wangen fielen ein, seine Kehle rasselte. Heather Thornton schickte nach dem Landarzt in Altona, der hilflos am Krankenbett stand. Am 12. März 1823 starb John Thornton einen unerklärbaren, fiebrigen Tod.

Vor seinen letzten Atemzügen rang er Heather das Versprechen ab, den Inhalt der Kisten an das British Museum in London zu senden. Heather befahl ihrem Kutscher, ein Tuch um Mund und Nase zu binden, den Inhalt der Kisten wieder einzupacken und dem nächsten Schiff nach England mitzugeben. »Was immer das kostet.«

HAMBURG / REESENDAMM 25. FEBRUAR 1823

Der Reesendamm lag an der Schnittstelle zwischen dem Hamburger Mühlenteich, der bereits im Jahr 1235 durch den Aufstau der Alster entstand, und den Fleeten zur Elbe hin. Neben den ersten Bankhäusern Hamburgs hatte sich an dem baumgesäumten Damm auch das Auktionshaus Antonius Wever angesiedelt, das unter anderem im Auftrag der Assekuranzen arbeitete. Unter den Hamburgern war Wever nicht gut gelitten, weil er auch die Häuser zahlungsunfähiger Eigentümer zu versteigern hatte. Sein Erfolg war seine Adresse.

Der Pferdeknecht des überraschend verstorbenen Courtmasters John Thornton hatte zwar den Auftrag, drei Kisten aus dem Souterrain des Herrenhauses dem nächsten Schiff nach London aufzugeben. Johns Witwe Heather war ihm aber weniger ans Herz gewachsen als sein nun toter Dienstherr.

Warum, so fragte er sich, solle er diese Kisten für eine nicht unbeträchtliche Frachtrate im Hafen abgeben, wenn er sie stattdessen gegen ein Entgelt beim Auktionshaus los werden konnte, bei dem er es für seinen Dienstherren abgeholt hatte?

Antonius Wever gab sich ob der Idee des Pferdeknechts zunächst zugeknöpft. Er solle gefälligst den Auftrag der Witwe erfüllen und nicht bei ihm in betrügerischer Absicht vorfahren, hielt Wever dem Knecht vor.

»Sie will die Ware nur loswerden, mein Herr. Es schadet niemandem, wenn ich diese Kisten an Sie verkaufe. Im Gegenteil, Heather Thornton spart sich die Fracht nach London. Und diese Altertümer bleiben in deutschen Landen.«

Der Auktionator blinzelte den Knecht an, kalkulierte schnell. »Wieviel verlangen Sie dafür?«

»Mein Dienstherr hat sie für 6.000 Goldmark ersteigert. Außerdem brauch´ ich eine Bestätigung, dass die Ware nach England verschiff´ word.«

»Sind Sie wahnsinnig? Das Geschäft – wenn wir es machen sollten – beruht auf Betrug. Nun gut, immateriellem Betrug, sagen wir, einer Lüge. Mehr als 2.000 Goldmark sind nicht drin.«

»Sie werden die Ware wieder für 6.000 Goldmark versteigern – oder mehr. 5.000 Goldmark ist mein letztes Angebot.«

»4.000 Goldmark. In der Stadt flüstert man, dass dem Inhalt der Kisten der Fluch der Pharaonen anhaftet.«

»Da is´ kein Pharao drin, nur die Tochter eines reichen Ägypters. Sachte mir Master Thornton. 4.500 Goldmark.«

Antonius Wever nickte und ließ die Kisten abladen. Der Pferdeknecht kündigte tags darauf seine Stellung, nachdem er Heather Thornton den erwünschten Frachtbrief für London übergeben hatte.

»Hauptsache, das Zeug ist aus der Stadt raus«, quittierte die Witwe und nahm die Kündigung des Knechts erstaunt entgegen.

»Wissen Sie, Madam, ich war Master Thornton sehr verbunden. Ich hab´ seinen Weinberg am Elbhang gepflech´. Un´ nu´ is´ das alles wech. Sie werden wahrscheinlich nach London ziehen, nich´ wahr, Madam?«

Heather Thornton nickte: »Das werde ich wohl. Hier habe ich keine Familie.« Sie übergab dem Pferdeknecht eine Gratifikation über hundert Pfund Sterling.

Das Auktionshaus Wever setzte für den 27. März eine Versteigerung »Alterthümlicher Preziosen aus Afrika« an. Zum Versteigerungstermin erschien ein preußischer Beamter mit drei Polizisten in seiner Begleitung. »Die Ware ist beschlagnahmt«, rief er. »Sie ist Eigentum des Königs von Preußen.«

In den Folgewochen veräußerte Antonius Wever die nicht im Auktionssaal ausgestellte Ware unter der Hand an den Geldadel der Stadt. Neunzig Prozent der vom Pferdeknecht zurück gebrachten Preziosen spülten 12.000 Goldmark in seine Kasse. Denn inzwischen hatten große Teile der hanseatischen Kaufmannschaft das von London und Paris ausgehende Fieber gepackt, Altertümer aus dem Mutterland europäischer Kultur und Zivilisation zu horten. In Hamburg galt die Macht des Königs von Preußen wenig. Die Hansestadt fühlte sich solchem Landadel überlegen, hatte aber auch nicht vor, ihr Geld in ein altägyptisches Museum zu verschwenden.

DIEKSANDER GATT, 11. MÄRZ 2015

Die ´Mogadischu Star´ war mit 6.000 TEU ein in Monrovia/Liberia registriertes mittelgroßes Containerschiff mit zwanzig Mann Besatzung. Kurz vor der Elbmündung übergab der Kapitän das Kommando an den Elblotsen Jacob-Heinrich Hansen. Der Lotse kannte sich mit den ständig wechselnden Sanden und dem Strömungsdruck der Elbe aus und hielt sich an die festgelegte Fahrrinne.

Hinter der Einmündung der Eider in die Elbe ging ein kräftiger Ruck durch den Containerriesen, das Vorderdeck verschwand in einem riesigen Feuerball. Das Schiff senkte sich soweit zum Bug, dass am Heck die Schiffschrauben über dem Wasser wirbelten. Jacob-Heinrich Hansen gab S.O.S. und über Funk die Empfehlung, den Schiffsverkehr auf der Elbe vorläufig einzustellen. Wenig später explodierte der Aufbau, auf dem die Brücke lag. Über der Elbe erschien ein greller Blitz, dem ein ohrenbetäubender Knall folgte. ´Sea-King´-Hubschrauber kreisten kurz darauf über der Unfallstelle, die ersten Feuerlöschboote und das Mehrzweckschiff ´Neuwerk´ näherten sich dem Inferno. Ihre Besatzungen zogen die Gasmasken vors Gesicht. Eine zweimotorige Dornier DO228 raste ständig über das Flammenmeer hinweg. An ihrem blau-weißen Rumpf stand ´Pollution Control´.

»Was, verdammt, hatten die geladen?«, polterte der Hamburger Hafenkapitän, als ihn seine Kollegen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, die Wasserschutzpolizei und das Havariekommando fast zeitgleich anriefen. Der Betrieb des siebtgrößten Containerhafens der Erde drohte still zu stehen. Unabhängig von der Tide der Elbe kam kein Schiff mehr raus noch rein.

In der Fahrrinne der Elbmündung loderte ein mächtiges Feuer. Der grauschwarzgelbe Rauch legte sich Quadratkilometer um Quadratkilometer über das Wasser und die umliegenden Lande. Es herrschte Inversionswetterlage, so gut wie kein Lüftchen regte sich. Für Cuxhaven wurde die Evakuierung erwogen, da der Rauch womöglich toxischen Inhalts war. »Bitte schließen Sie Türen und Fenster, bleiben Sie in den Gebäuden, in denen Sie sich zurzeit aufhalten«, riefen die Lautsprecher der Einsatzwagen, der Radios und Fernseher. Ein Hubschrauber mit weiteren Messinstrumenten war aufgestiegen.

»Ja und, habt ihr erste Ergebnisse?«, fragte der Hafenkapitän.

»Der Pott hatte wohl jede Menge Ammoniumnitrat an Bord. Ich will ja keine Panik verbreiten, aber auch Calciumcyanid, vielleicht. Die Unabhängige Expertengruppe Folgen von Schadstoffunfällen UEG ist dran. Wir sind noch nicht klar damit.«

»Die Daten des Automatic Identification Systems AIS geben nur ´Frachtschiff mit Gefahrgut´, den Namen ´Mogadischu Star´, Start- und Zielhafen und einen Schiffseigner her. Die kommen aus Kaohsiung und aus Kompong Som. Das liegt in Kambodscha. Ist wohl eine Premiere für Hamburg.«

Kambodscha? Der Hafenkapitän hielt inne. Er erinnerte sich einiger Begegnungen mit einem Kriminalhauptkommissar, der bereits mehrfach in Asien ermittelt hatte. Udo Kronenberg hieß der. War ein etwas schrulliger Typ. Es konnte trotz des momentanen Kuddelmuddels nicht schaden, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er erzählte Kronenberg kurz die entstandene Lage.

»Schon wieder meine ostasiatischen Kontakte?«

»Tut mir leid oder auch nicht. Wir haben Ortungsdaten und der Schiffseigner in Taiwan weiß auch nicht mehr. Das Schiff wurde verchartert an eine Gesellschaft in Liberia. Dieses angebliche Calciumcyanid macht uns Sorgen und der Hafen von Kompong Som. Dort erreichen wir niemanden. Können Sie nicht doch mal?«

»In Ostasien ist jetzt tiefe Nacht. Ihnen zuliebe versuch ich es dennoch.«

Udo Kronenberg tippte sich die Finger lahm, bis er seinen Freund Vichaj Bangramsan erreichte, als Polizeioberst von der dortigen Führung widerstrebend wieder zur Antikorruptionseinheit NACC zurückversetzt. Widerstrebend, weil er seine Arbeit ernstnahm.

»Oooch, Udo, was gibt es denn Dringendes?«

Kronenberg erzählte von der Havarie und der Giftglocke, der mangelhaften Frachtliste und Kompong Som. »An diesem Hafen waren wir fast mal dran, Vichaj, erinnerst du dich noch?«

»Ja, einziger Tiefseehafen unseres geschätzten Nachbarlands, beharrliches Khmer-Rouge-Nest. Ich kann verstehen, dass nicht klar ist, was die dort verladen haben.«

»Kannst du innerhalb weniger Stunden herausbekommen, was es sein könnte?«

»Du kennst doch meine Meinung über Kambodscha. Innerhalb einer Woche nicht! Ich frage aber gern beim Inlandsgeheimdienst von Laos nach. Du weißt, dass unser gemeinsamer Bekannter Savang Vorsitzender der kambodschanisch-laotischen Handelskammer in Savannakhet geworden ist?«

»Ja, weiß ich und ich weiß auch, was alles über persönliche Beziehungen geht. Klingle den bitte aus dem Bett.«

Nach zwei Stunden rief Vichaj zurück: »Calciumcyanid ist eine heiße Nummer, wird in Kompong Som verladen. Das hat etwas mit Blausäure zu tun, kommt übrigens massenweise auch in Asteroiden vor. Nebenbei gibt es etwas Verstörendes: Unser ebenfalls gemeinsamer Bekannter Ta Mok Junior züchtet neuerdings Schimmelpilze in einem Labor. Einige Arten davon sollen ziemlich giftig sein. Wozu er das macht, ist Savang nicht bekannt. Wir wissen, dass er in biologische Waffen investiert, nicht wahr?«

»Bei einer Explosion würden diese Schimmelpilzsporen aber verbrennen, oder?«

»Wohl eher nicht, die sollen zäh sein wie irgendwelche Bakterien, die auch einen Meteoriteneinschlag und die Kälte im All überleben. Breiten sich, einmal eingeatmet, im menschlichen Körper über die Blutbahn aus und führen in vier von fünf Fällen zum Tod. Meistens wird die … warte mal, das wird wieder schwierig … Zygomykose … gar nicht diagnostiziert, sondern als Immunschwäche und Organversagen interpretiert.«

»Das alles hast du von Savang erfahren?«

»Wie du dir denken kannst, nicht von Savang, sondern von seinem alten Onkel im Dinosauriermuseum, der bekennender Kommunist und gelernter Biochemiker ist. Dann habe ich unsere landesoberste Forensikerin angerufen.«

»Die mit der farbenfrohen Haartracht?«

»Exakt die, Dr. Pornthip Rojanasunand, bei uns genannt Doktor Tod. Sie war die einzige, die sich nicht über nächtliche Ruhestörung beklagte. Das war aber auch keine Kunst, denn sie hält sich auf einer Fachkonferenz in London auf. Auf Calciumcyanid hatte die keinen Bock, aber auf Schimmelpilze schon. Sie sprach vom Fluch der Pharaonen, das hat sie elektrisiert. Die würde sich deshalb sofort in den Flieger setzen und schon vorhandene und zukünftige Leichen analysieren.«

»Fluch der Pharaonen?«

»Ja, der Schimmelpilz, von dem ich eben sprach.«

»Dann soll sie umgehend herkommen. Wir brauchen jeden Mann … äh … jede Frau, natürlich.«

»Sie ist nach allem, was ich weiß und selber erfahren habe, gut aber mediengeil. Ich sag mal, daraus würde die eine ganze Fernsehserie machen, Abteilung realer Horror.«

»Mediengeil sind hier viele. Bitte sie herzukommen, auf Kosten der Staatskasse Hamburg.«

»Ach – plötzlich geht das? Wenn du es sagst, dann sage ich es ihr. Darf ich noch erfahren, ob die Havarie ein Unglücksfall oder ein Terroranschlag war?«

Udo Kronenberg schluckte: »Darüber denken wir zur Zeit gar nicht nach.«

HAMBURG FUHLSBÜTTEL AIRPORT, 15. MÄRZ 2015

Kaum war der Airbus A 320 aus London-Heathrow angedockt, spazierte eine zierliche Fünfzigjährige auf Plateausohlen zur Passkontrolle. Ihr mit Stil zerzauster Haarschopf changierte zwischen blau und hennafarbig, ihr Kostüm glitzerte ausnehmend schrill. Der Grenzbeamte schaute irritiert und bat sie an die Seite hinter seiner Kabine. Dort forderte sie ein dickbäuchiger, schnauzbärtiger Beamter auf, ihr Handgepäck zu öffnen. Er begann, darin zu kramen. »Volltreffer« dachte er sich angesichts der vielen Fläschchen und Schächtelchen in dem kleinen Hartschalenkoffer. Er bekam nicht mit, dass sich die Passagierin fortwährend und immer spöttischer sein Tun ansah. Schließlich verlor Dr. Pornthip Rujanasunand die Geduld.

»Junger Mann, ich bin hier auf Einladung Ihrer Stadtregierung. Auf Ihre Stadt bewegt sich momentan eine Giftwolke zu. Aus freien Stücken komme ich sicher nicht in dieses Schlechtwetterloch.«

»Kann ja jeder sagen. Sie kommen bitte mit, damit wir Ihre Apotheke hier genauer analysieren können. Machen Sie bitte keine Schwierigkeiten.«

Dr. Pornthip war zäh, aber nicht geduldig: »Sie packen das jetzt wieder ordentlich ein und lassen mich meinen Job machen. Sonst kehre ich sofort um und überlasse Ihre Stadt ihrem Schicksal. Verstehen Sie mich?«

»Donnerwetter, welch ein Verlust für uns«, ätzte der Beamte, winkte einige Kollegen zu sich und hielt Dr. Pornthip an einem Arm fest. »Wir haben hier eine Doktorin der besonderen Art«, rief er den herbei eilenden Beamten zu.

Polizeihauptkommissar Udo Kronenberg und Polizeikommissarin Katharina Esbjerg preschten durch das Gate für Nicht-Schengen-Länder, sahen vier Uniformierte, die sich um eine Asiatin mit exzentrischer Frisur scharten, die einen Kopf kleiner war als die Beamten.

»Weg mit euch, sofort loslassen!«, rief Kronenberg, auf die Grenzer zurasend. Die schauten verdutzt und besahen Kronenbergs Ausweis sehr genau.

»Mordkommission. So, so, Herr Hauptkommissar. Und die da seziert wohl die Opfer?«

»Sie ist eine der weltbesten Pathologinnen, du Döösbaddel«, gab Kronenberg unwirsch zurück. »Sie wird sich die Opfer der Schiffsexplosion in der Elbe ansehen und vielleicht solche, die in der Giftwalze sterben werden, die sich auf Hamburg zubewegen kann. Vielleicht auch einen von euch. Wohnt einer in Wedel, Rissen, Blankenese, Lurup, Stellingen oder gar im Alten Land?«

»Blankenese ist nicht unsere Gehaltsklasse. In Lurup wohne ich«, meldete sich der dicke Grenzer.

»Dann ab mit Ihnen. Türen und Fenster hinter Ihnen und Ihren Lieben zu. Die Anderen besorgen sich umgehend Gasmasken. Sie haben wohl nicht gehört, was auf Hamburg zukommen kann?«

»Sie machen auf Panik, Hauptkommissar. Darf ich noch mal Ihren Ausweis sehen?«

Kriminalhauptkommissar Udo Kronenberg knallte den Dienstausweis auf den Tisch und entschuldigte sich mehrmals bei Dr. Pornthip. Endlich erschien auch der uniformierte Fahrer des Peterwagens, mit dem Kronenberg und Esbjerg zum Flughafen gefahren worden waren. Die Uniformierten glaubten nur Uniformierten.

»Mai pen lai«, lächelte Dr. Pornthip. »Dafür fahren Sie mich jetzt bitte zur freundlichsten Unterkunft der Stadt.«

Im Gästehaus des Senats am Feensee hatte selbst der Staatsrat der Innenbehörde kein freies Zimmer gefunden. Also ging es zum Hotel Atlantik. Den livrierten Hoteldiener im Blick, blieb Dr. Pornthip im Wagen sitzen und sagte: »Ich meinte die freundlichste, nicht die teuerste.«

Udo Kronenberg blickte Katharina Esbjerg hilflos an. »Nun gut«, sagte die auf Deutsch, »ich versteh schon, was du meinst. Der Lackmustest wird meine Tochter sein. Sollten die beiden sich mögen, mache ich nur noch in Touristen-Service, so lange sie hier ist. Sollte meine Tochter widersprechen, dann nimmst du die Dame und ich arbeite wie gewohnt. Abgemacht?«

*

Beim Anblick der kleinen Tochter war Dr. Pornthip wie ausgewechselt. Sie hatte keine eigenen Kinder, mochte Kinder jedoch schon als Ausgleich für den täglichen Horror, dem sie begegnete.

»Shall we sleep together in one room?«, schlug sie vor.

«You in my bed, I on the floor”, radebrechte das von ihrer Frisur faszinierte Kind und ließ sich davon auch nicht wieder abbringen. Dr. Pornthip Rojanasunand stellte ihr Gepäck im Wohnzimmer ab.

Während sich die Kleine mit der Pathologin anfreundete, hatte sich Katharina Esbjerg über die Berufsfeuerwehr bis zur Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Eppendorf durchtelefoniert und fasste die Ergebnisse zusammen: »Noch haben wir eine so gut wie windstille Inversionswetterlage. Die Rauchwolke über der Elbmündung hat sich inzwischen auf über dreihundert Quadratkilometer ausgedehnt, fängt langsam an, sich nach Westen zu bewegen, also auf die Nordsee hinaus. Hamburg scheint Glück zu haben. Pech für Cuxhaven.

Von der Mannschaft des brennenden Schiffs wurden bisher sieben Seeleute tot geborgen. Die liegen jetzt in der Pathologie des Universitätskrankenhauses Eppendorf.«

Dr. Pornthip nickte: »Ja, UKE, einige Kollegen dieses Hospitals kenne ich. Eigentlich bin ich dort überflüssig. Da ich nun aber einmal hier bin …«

Kronenberg wartete im Peterwagen vor dem Mietshaus in der Oelkers Allee, wo Katharina Esbjerg und ihre Tochter wohnten. Ihren Bericht quittierte er mit »Nochmal Schwein gehabt.«

»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, antwortete Katharina.

Sie fuhren durch fast menschenleere Straßen bis zum Haus N 81 des riesigen Klinikgeländes: Zweigeschossiger Klinkerbau mit Fensterbändern aus den 1960-iger Jahren, schräg aufgesetzt ein mit Holzlamellen verkleideter Neubau.

Die grün bekittelten Pathologen, die um vier belegte Edelstahlliegen standen, blickten erstaunt und zurückhaltend auf die exzentrische Person, die Kronenberg und Esbjerg begleitete. Nur einer unter ihnen ging sofort lächelnd auf das Dreigespann zu: »Dr. Pornthip, welche Überraschung. Sie kommen so schnell aus Thailand? Oder aus Kambodscha, wo diese menschlichen Überreste vermutlich zuletzt an Land gingen?«

»Ausflug aus London«, antwortete Dr. Pornthip. »Haben Sie die dort schon durch die Gaskromatographie gehen lassen?«

»Der siebte ist momentan als erster drin. Sind ja nun mindestens teilweise verkohlt und haben etwas lange im Salzwasser gelegen. Darf ich Ihnen bis zum Ergebnis der Analyse unser Institut zeigen?«

Dr. Pornthip Rojanasunand willigte ein. Kronenberg und Esbjerg hatten das meiste bereits gesehen, wenn auch nur teilweise verstanden. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin war ihnen allerdings nur wenige Male in Gerichtssälen begegnet. Er unterhielt sich mit ihr nicht nur auf Englisch, sondern in einer ihnen nicht zugänglichen Fachsprache. Dr. Pornthip blieb dies nicht verborgen.

»Unser Gespräch könnte Sie langweilen. Katharina. Darf ich Sie anrufen, wenn wir hier durch sind?«

»Klar. Sie werden mir die Ergebnisse schon erklären können.«

»Im Austausch gegen saftigen Schweinebraten mit Knödeln. Sie wissen doch, ich habe ein paar Tage unausstehliche englische Küche hinter mir – was sich dort Küche nennt«, antwortete die exzentrische Pathologin schelmisch.

ALTONA / OELKERS ALLEE, 22. MÄRZ 2015

Dr. Pornthip meldete sich erst nach zwanzig Stunden bei Katharina: »Wir mussten drei der sieben Überreste durchanalysieren, um sicher zu sein. Darf ich jetzt bei Ihnen vorbeischauen?«

»Sie müssen völlig übermüdet sein.«

»Ja, so in der Art. Schweinebraten mit Knödeln wäre als Frühstück gut.«

Nach zwanzig Minuten hielt der Volkswagen Passat eines Pathologen vom UKE vor Katharinas Haus in der Oelkers Allee. Katharina Esbjerg öffnete die hohe Wohnungstür: »Meine Tochter ist im Kindergarten. Sie können in aller Ruhe schlafen.«

Dr. Pornthip setzte sich an den Küchentisch. »Calciumcyanid wurde in allen drei Überresten gefunden. Chemisch nennt es sich CaCN2. Ein weißer, nicht brennbarer Feststoff. Wegen seiner schlechten Stabilität in feuchter Luft wird er meistens zersetzt. Das nennt sich ´Black Cyanide´. Die Mischung wird zum Beispiel bei der Gewinnung von Gold und Silber verwendet, um die Edelmetalle aus dem Gestein zu lösen. Sie wird aber auch von der Pharma- und der Nahrungsmittelindustrie eingesetzt – und für die Herstellung feuerhemmender Stoffe. Man dachte bisher, dass die jährlich etwa eine Million Tonnen produzierten Calciumcyanids allein aus Südafrika kommen.«

»Kann man an diesem Calciumcyanid sterben?«

»Oh ja, kann man, wenn es konzentriert genug einwirkt. Es hat schließlich mit Blausäure zu tun. Das ist letal. Was wir noch gefunden haben sind Spuren von Ammoniumnitrat und Pikrinsäure. Ammoniumnitrat ist ein Klassiker bei Schiffsexplosionen.«

»Haben Sie auch Schimmelpilz gefunden?«

»´Aspergillus flavus´, deshalb bin ich eigentlich hier. Sporen dieses Pilzes fanden wir bisher an einer Leiche. Warum nur an einer von sieben ist uns nicht klar. Vielleicht hat dieser Seemann seine Nase in ein Ding gesteckt, das ihn gar nichts anging.«

»Wirken die Sporen tatsächlich tödlich?«

»Bei vielen Menschen bewirken die ´Aflatoxine B´ eine Aspergillose: Nasenbluten, Herzversagen, kleinzelliges Leberkarzinom. In Afrika kommt das häufig vor. Ihr mieses, kaltes Wetter hier dämpft die Wirkung, schließt sie aber nicht aus.«

»Wollen Sie sagen, dass die Menschen, die um die Elbmündung herum wohnen, langsam krepieren?«

»Krepieren? Das verstehe ich nicht. Sollten die Sporen vor der Explosion vorhanden gewesen und mit der Explosion verwirbelt worden sein, dann kann sich mittel- und langfristig die Wahrscheinlichkeit einer Lebererkrankung durchaus erhöhen. Diejenigen, die Grabkammern in Ägypten geöffnet haben, sind auch nicht sofort tot umgefallen.«

Während Dr. Pornthip im Kinderzimmer tief schlief, gab Katharina Esbjerg die Erkenntnisse vom Küchentisch an Udo Kronenberg weiter, der damit wenig anfangen konnte. Ammoniumnitrat war ihm theoretisch als Sprengstoff bekannt. Ansonsten war Chemie nie sein Lieblingsfach gewesen.

SENATSKANZLEI HAMBURG, 21. MÄRZ 2015

Der Leiter der Senatskanzlei hatte die leitenden Beamten an seinem Tisch im fünften Obergeschoß eines schmucklosen Bürobaus geladen, der unmittelbar an eine Einkaufspassage grenzte, die den Straßenzug zwischen Rathaus und Binnenalster unterbrach. In der Planungsphase hatte das Bauwerk den Zorn unabhängiger Denkmalschützer und Städtebauer erregt. Wie üblich, konnte sich ein großer Steuerzahler der Stadt durchsetzen.

Der Staatsrat der Gesundheitsbehörde referierte selbstbewusst die Ergebnisse des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf. An inzwischen sieben geborgenen, zum großen Teil angebrannten Menschenfetzen seien Spuren giftiger Stoffe gefunden worden. »Phosphorwasserstoff und irgendetwas mit Blausäure und winzige Sporen eines Schimmelpilzes. Calciumcyanid, so heißt die giftige Chemikalie, hat sich auch in dem Rauchteppich über der Elbmündung gefunden, der aufgrund der fast windstillen Inversionswetterlage so gut wie stationär geblieben ist.«

»Der Wetterdienst sagt ein Tief aus Südwest voraus«, wandte der Kanzleileiter schmallippig ein. Er war bekannt dafür, dass er nicht viel sagte, aber wenn, dann recht präzise war.

»Im Moment haben wir noch leichten Ostwind. Was kommt, ist ein Sturmtief mit kräftigem Regen, jahreszeitüblich. Der Regen wird das glühende Schiffswrack abkühlen und den Rauchteppich auflösen.«

»Wie lange wird das Wrack die Fahrrinne blockieren?«

Der Amtsleiter der Wirtschaftsbehörde hob einen Arm: »Das Havariekommando schätzt, dass es eine Woche dauern könnte. Sie wissen aber noch nicht wohin damit.«

»Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven«, krähte die Vertreterin der Stadtentwicklungsbehörde. Die Runde lachte.

»Da gibt es nichts zu lachen«, blieb der Kanzleileiter ernst. »Die Havarie hat sich auf niedersächsischem Gebiet ereignet. Also übernimmt Niedersachsen die Verantwortung für Bergung und Entsorgung.«

Die Vertreterin der Stadtentwicklungsbehörde wuchs sichtbar um mehrere Zentimeter. Im Raum war es mucksmäuschenstill.

»Wenn das Sturmtief aus Südwesten einsetzt, gibt es irgendein Restrisiko für die Hamburger Bevölkerung?«, fragte der Kanzleileiter in die schweigende Runde.

Die Teilnehmer zuckten mit den Achseln. »Höchst unwahrscheinlich«, meinte schließlich der Staatsrat der Gesundheitsbehörde. »Jedenfalls dann, wenn der Sturm erst mit dem Regen einsetzt.«

»Ich berichte also dem Ersten Bürgermeister Entwarnung. Sind Sie derselben Meinung?«

Die Runde schwieg. Der Staatsrat der Gesundheitsbehörde blieb bewegungslos.

»Ich sehe, dass es meine Verantwortung sein wird. Zuvor will ich den Bericht der Rechtsmedizin und jenen der Feuerwehr auf meinem Tisch haben. Heute noch. Und dann komme ich zur entscheidenden Frage: War es ein Unfall oder ein Terrorakt?«

»Terrorakt?«, echote der Staatsrat der Innenbehörde. Keine weitere Wortmeldung.

Beim Verlassen des profanen Bürobaus wählte der Staatsrat der Gesundheitsbehörde eine Nummer des Universitätskrankenhauses. »Herr Professor ist momentan nicht erreichbar«, flötete eine Vorzimmerdame.

»Rückruf in einer Stunde bitte, sonst mache ich ihm die Hammelbeine lang.«

Am anderen Ende der Funkstrecke trat Schweigen ein. »Hören Sie noch?«, fragte der Staatsrat. »Ich höre Sie. Herr Professor ist in die Vereinigten Staaten geflogen, wo er in wenigen Wochen eine Professur an der Yale-Universität übernehmen wird. Eigentlich ist er gar nicht mehr hier, Herr Staatsrat.«

»Dann sein Stellvertreter.«

»Tut mir leid, Herr Staatsrat. Sein Stellvertreter weilt in Katar, wo er ein Institut für Toxikologie leiten wird. Aber wir haben die berühmteste Pathologin Ostasiens im Haus. Sprechen Sie Englisch?«

Der Staatsrat war ungehalten, klickte die Verbindung weg und ließ sich zum UKE, Haus 81 N fahren.

Er betrat mit großer Bugwelle das bescheidene Gebäude der Rechtsmedizin. Die Dame am Eingang blickte verschüchtert, wählte krampfhaft mehrere Telefonnummern. »Tut mir leid, Herr Staatsrat, momentan ist kein leitender Mediziner erreichbar.«

»Was ist mit dieser ostasiatischen Koryphäe, die hier hereingeschneit kam?«

»Oh ja, eine exzentrisch aussehende Person. Die ist weggefahren. Warten Sie mal … Oelkers Allee in Altona, habe ich aufgeschrieben. Die Dame spricht aber nur Englisch.«

Der Staatsrat ließ sich die genaue Adresse geben. Er klingelte an Katharina Esbjergs Wohnungstür. Schlaftrunken öffnete Katharina die Tür einen Spalt: »Wer sind Sie, was wollen Sie?«

Der Staatsrat stellte sich vor und wollte Dr. Pornthip Rojanasunand sprechen.

Katharina blieb misstrauisch. »Dr. Pornthip schläft nach einer Zwanzigstundenschicht im UKE. Ich werde sie jetzt nicht aufwecken. Kommen Sie bitte später wieder.«

Der Staatsrat wurde wütend. Katharina knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Er wählte die Telefonnummer seines Kollegen von der Behörde für Inneres und bat ihn, umgehend einen Streifenwagen in die Oelkers Allee zu schicken.

Katharina Esbjerg öffnete sichtlich verärgert nochmals ihre Tür und knurrte die beiden Beamten an: »Auch für Sie werde ich meinen Gast nicht aus dem Schlaf reißen. Außerdem liegt nichts gegen sie vor, oder doch?«

Die beiden Uniformierten reagierten hilflos. Der jüngere der Beiden fing zu kichern an: »Ist eine Thai, nicht wahr? Sie verkriecht sich vor unserem schlechten Wetter.«

Sein älterer Kollege reagierte unwirsch: »Hast du den Verstand verloren?«

»Hab´ ich nicht. Für die Gesundheitsbehörde halte ich aber nicht den Arsch hin. Sollen die doch selber sehen, wie sie an die Pathologin herankommen.«

Katharina begann zu lächeln: »Da haben Sie vollkommen recht, Herr Kollege. Sobald Dr. Pornthip wach geworden ist, wird sie sich melden. Haben Sie eine Kontaktnummer?«

Die beiden Polizisten schüttelten mit dem Kopf.

»Ok, hier ist meine Handy-Nummer. Senden Sie mir bitte eine SMS, mit welcher Telefonnummer auch immer. Good day and good night.«

HAMBURG / JOHANNISWALL, 22. MÄRZ 2015

Die Leitung der Innenbehörde residiert hinter den vornehm dunklen Backsteinfassaden des Sprinkenhofs. Ihr Staatsrat erhielt vom Leiter des Polizeikommissariats an der Holstenstraße den Bericht über die nicht erfolgte Einvernahme der thailändischen Forensikerin. »Eine Kollegin vom Morddezernat, bei der sie wohnt, hat darum gebeten, ihr per SMS Telefonnummern zu übermitteln, welche die thailändische Person anrufen wird, sobald sie aufgestanden ist. Angeblich schläft die eine Zwanzigstundenschicht am UKE aus.«

»Selbstverständlich nur meine Nummer.«

»Was ist mit dem Staatsrat der Gesundheitsbehörde, der uns anrief?«

»Vergessen Sie ihn. Er ist mir etwas zu selbstverliebt.«

»Selbstverliebt. Wie Sie meinen, Herr Staatsrat«, gab der Revierleiter zurück.

Dr. Pornthip Rojanasunand ging in Asien ebenfalls der Ruf voraus, selbstverliebt zu sein, jedenfalls aber sehr selbstbewusst. Sie kündigte sich per SMS für 9 Uhr abends an. Der Staatsrat bat mehrere hohe Mitarbeiter der Hansestadt, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins zu dieser Besprechung, versehen mit der Anmerkung, dass zum Teil Englisch gesprochen werde. Dr. Pornthip holte er persönlich an der Kontrolle im Erdgeschoß ab.

»Sie haben zwei Nackte an Ihrer Fassade hängen«, grinste Dr. Pornthip im Fahrstuhl. »Immerhin beiden Geschlechts«, grinste der Staatsrat zurück. Das war besser als eine formelle Begrüßung.

Der Besprechungsraum war nur spärlich besetzt. Die Teilnehmerrunde blickte verhalten erstaunt auf die seltsame Person, die mit dem Staatsrat durch die Tür trat. Dr. Pornthip setzte sich neben den Staatsrat, der das Gespräch kurz einläutete: »Wie Sie alle wissen, kam das in der Elbmündung explodierte Schiff aus Ostasien. Dr. Rojanasunand ist Forensikerin. Sie ist wegen des Unfalls aus London gekommen und wird Ihnen einen Teil der uns vorliegenden Befunde erläutern. Leider nur auf Englisch.«

Pornthip ließ sich die Worte übersetzen und begann: »Dieses Schiff hatte tonnenweise Ammoniumnitrat geladen, wofür auch immer. Mit den Kolleginnen und Kollegen vom UKE habe ich die sterblichen Überreste von sieben Seeleuten des explodierten Schiffs untersucht, soweit da noch etwas zu untersuchen war. Die Bilder von den Überresten will ich Ihnen ersparen, Sie können sie aber am Ende der Besprechung am Bildschirm meiner Kamera ansehen, wenn Sie wollen.

Ich spreche jetzt nicht von Todesursachen, sondern davon, was wir sonst noch fanden. Calciumcyanid, zum Beispiel. Das ist potentiell tödlich. Dazu gleich noch. Für mich noch interessanter ist, dass wir an einem der Überreste Sporen eines Schimmelpilzes gefunden haben, der ´Aspergillus Flavus´ heißt, vulgär auch ´Fluch der Pharaonen´ genannt wird. Die unverwüstlichen Sporen können Herzversagen und Leberkrebs verursachen, allerdings nur in hoher Konzentration und bei menschenfreundlicheren Temperaturen als hier momentan herrschen. In Ihrer Schlechtwetterzone überleben maximal neun Prozent dieser Sporen, bei zwanzig Grad Celsius und mehr überleben die meisten davon. In Afrika südlich der Sahara ist dieser Schimmelpilz die häufigste Ursache für Leberkrebs. In Nordeuropa – und leider auch in Thailand – ist es wohl der Alkohol. Die Sporen finden sich in Afrika auf stärkehaltigen Samen – Baumwolle, Mais, Getreide etwa. Sie können Aspergillose auslösen, die sich in Form von Nierenbluten, Herzversagen oder Krebs äußert. Manche Stämme des Schimmelpilzes bilden Aspergillsäure – das ist ein Antibiotikum. Wie oft in der Natur: Heilmittel und Gift zugleich, je nach Art und Dosis.«

»Das Schiff kam aber nicht aus Afrika«, unterbrach ein Sitzungsteilnehmer.

»Sofern ich richtig informiert bin, kam es aus Kompong Som in Kambodscha. Ihr Hafenkapitän hat dem UKE gegenüber erklärt, dass es wohl die erste Ankunft aus Kompong Som in Hamburg sein sollte.

Jetzt aber zum Calciumcyanid, von dem ich bisher dachte, dass es nur in Südafrika produziert wird. Damit werden Silber und Gold aus dem einschließenden Gestein herausgewaschen. Es wird auch in der Pharmazie und in geringen Dosen in der Nahrungsmittelindustrie eingesetzt. In höherer Konzentration wirkt es schnell tödlich. Es zersetzt sich bei mehr als 300 Grad Celsius zu Cyanwasserstoff und Stickoxid. Cyanwasserstoff ist wasserlöslich. Chemische Formel des Calciumcyanids ist CaCN2. Weltweit werden jährlich etwa 1,1 Millionen Tonnen davon produziert. Das CaCN2 haben wir an allen sieben Überresten gefunden. «

»Sie meinen, dass das Schiff Calciumcyanid in Kompong Som an Bord nahm?«, fragte der Sitzungsteilnehmer.

»Ich meine, dass Calciumcyanid an Bord war, woher auch immer. Um Kompong Som kümmert sich meines Wissens ein Beamter in Thailand mit Amtshilfe seiner Kollegen in Laos.«

»Haben wir Kontakt mit diesem Beamten?«

Dr. Pornthip grinste. »Das müssen Sie selbst wissen. Es handelt sich um Oberst Vichaj Bangramsam. Er hat schon in Hamburg gearbeitet, spricht sogar Deutsch. Ihre Beamtin vom Morddezernat, bei der ich momentan nächtige, kennt ihn jedenfalls recht gut.«

»Wie lange werden Sie in Hamburg bleiben?«

»Eigentlich bin ich wegen des ´Aspergillus Flavus´ gekommen – und auch nur deshalb, weil dieses Schiff – jedenfalls nach Ihrer Datenlage – keinen afrikanischen Hafen angelaufen hat. Denn wäre das so, dann könnte der Schimmelpilz in einer Fracht Weizen oder Mais gehangen haben. In Ostasien ist er jedoch noch nie aufgetaucht. Ein insofern interessanter Fall.

Wie lange ich noch bleibe? Wenn ich Ihr Wetter hier betrachte, keine Stunde länger. Aber in London ist es auch nicht besser. Also: So lange, bis Gewissheit besteht, ob es tatsächlich der Flavus ist und woher er wirklich kommt.«

»Von diesem Flavus mal abgesehen: Gibt es Hinweise darauf, ob die Explosion ein Unfall oder vielleicht etwas Anderes war?«

Dr. Pornthip überlegte kurz, lachte nicht viel länger, sah den Fragenden schräg an: »Etwas Anderes? Was in den Tagen, Stunden und Minuten vor der Explosion geschah, werde ich Ihnen nie sagen können. Zeugen dafür gibt es auch keine mehr. Alles, was wir haben, sind ein paar Fetzen Mensch. Vielleicht werden Sie im Wrack des Schiffs fündig, soweit es geborgen werden kann. Oder Sie fragen sich, was solch eine Ladung in Ihren Gewässern zu suchen hatte.«

HAMBURG PORT AUTHORITY, 23. MÄRZ 2015

Der Hafenkapitän wurde aus einer Besprechung herausgebeten. Es sei dringend, aus Wilhelmshaven. Alle Gesprächsteilnehmer grinsten, weil es nach ihrer Ansicht aus dem Weser-Jade-Port kaum Interessantes zu berichten gab.

Am Apparat war sein Pendant aus Niedersachsens bedeutsamstem Seehafen. »Bevor es Sie aus Polizeikreisen erreicht: Aus dem Wrack der ´Mogadischu Star´ wurde ein Safe geborgen. Das Wirtschaftsdezernat des Landeskriminalamts interessiert sich auffallend intensiv für den Inhalt, auch der Staatsschutz ist angerückt. Ein Bekannter sagte mir, dass die ´Mogadischu Star´ zwei oder drei Load Ports hatte: Kompong Som und Mogadischu, mindestens. Der Port Manager von Mogadischu, Abdullahi Ali Nur, war schwer zu verstehen. Aber er bestätigte, dass das Schiff den Hafen angelaufen hat. Ansonsten verwies er auf den Hafenbetreiber, eine Al-Bayrak-Gruppe aus Istanbul. In Istanbul weiß keiner was, obwohl sich im Safe der ´Mogadischu Star´ Unterlagen über die Liegegebühr für Mogadischu finden. Außerdem war in Mogadischu einer der Geheimdienste an Bord, der dort Bay´ada Sirdoonka iyo Nabadsugida heißt. Im Safe lag ein Dienstausweis, der vielleicht an Bord vergessen oder verloren wurde.

Jetzt kommt´s aber noch doller: die ´Mogadischu Star´ passierte nicht nur den Suez-Kanal, sondern zahlte auch in Port Said Liegegebühren. Was heißt, dass sie nicht nur den Kanal durchfuhr, sondern am nördlichen Ende den westlichen Seitenkanal benutzte.«

»Ich kenne Port Said.«, antwortete der Hafenkapitän.

»Frage ist also, ob Port Said ein Load Port oder ein Discharge Port war. Darüber findet sich im Safe nichts. Vielleicht war es auch beides.«

»Die Ladeliste, die mir vorliegt, gilt nur für Hamburg und stammt von einem mir unbekannten Charterer. Klingt nach einer heißen Passage.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr. In Mogadischu oder Port Said haben sie möglicherweise das Entladen einiger Container vergessen. Zum Beispiel solcher mit Ammoniumnitrat. Das wird zur Herstellung von Bomben verwendet.«

»Wie viele Container habt ihr davon gefunden?«, fragte der Hafenkapitän.

»Bisher überhaupt keine. Die sind alle im Feuerball draufgegangen. Was auch immer der Trigger dafür war.«

»Noch eine Besonderheit?«

»Mit der Ladeliste sind wir noch nicht völlig durch. Was auf dem Grund der Elbe liegt oder an deren Deichen hängt, wissen wir natürlich auch nicht. Ihr etwa?«

»Keine Übersicht. Schlecht organisiert.«, ärgerte sich der Hafenkapitän.

Der Hamburger Hafenkapitän loggte sich in das AIS Marine Traffic Tracking ein und ließ sich den Fahrtverlauf der ´Mogadischu Star´ darstellen. Der Transponder war offensichtlich nur zwischen Kaohsiung und Kambodscha angeschaltet, danach noch kurz vor dem Suezkanal und in der Nordsee. Es war nicht unüblich, Transponder in der Straße von Malacca und rund um Afrika auszuschalten, um Piraten so wenig wie möglich Information zu geben. Intuitiv rief er Satellitenbilder des Hafens Mogadischu auf. Er identifizierte ein Schiff, das nach Länge und Breite die ´Mogadischu Star´ sein könnte. Am Liegeplatz standen zehn Sattelzüge mit 40-Fuß-Containern.

Ein Satellitenbild des im Vergleich kleinen Hafens Kompong Som ergab, dass ein Schiff der Größe der ´Mogadischu Star´ dort einige Tage zuvor auf Reede gelegen hatte. Die Hafentiefe Kompong Soms ließ nicht zu, dass ein Schiff dieses Tiefgangs am Kai anlegte. Auf dem Satellitenbild entdeckte er drei Leichter, die im Pendelverkehr zum Seeschiff unterwegs waren.

Der Hafenkapitän dachte nach: Unvollständige Angaben über die Route des Charterschiffs, Calciumcyanid und Ammoniumnitrat an Bord, ein obskurer Geheimdienst zu eiligem Besuch in Mogadischu, ein dubioser Charterer. Allein die Summe dieser Umstände hätte genügt, das Schiff in Hamburg an die Leine zu legen. Er rief seinen Bekannten Udo Kronenberg an.

»Also, mein Kollege Bangramsan ist immer noch an der Ladung von Kompong Som dran. Entweder sind die dort chaotisch – was ich vermute – oder jemand will nicht, dass wir die dortige Ladung genau kennen. Aus Kaohsiung ist der Dampfer jedenfalls leer ausgelaufen. Zum Horn von Afrika habe ich natürlich keine Kontakte. Wenn die Papiere aus dem Safe auf Arabisch – oder welcher Schrift auch immer – formuliert sein sollten, können Sie die mir zwar zufaxen. Aber ich müsste einen Araber finden, der es übersetzen kann.«

Der Hafenkapitän zog einen kleinen Stapel Fax-Papier vom rechten Schreibtischrand heran: »Was ich sehe, sind lateinische Buchstaben. Aber verstehen tut man das nicht. Sie benötigen keinen Araber, sondern einen Übersetzer aus Somalia.«

Udo Kronenberg telefonierte mit dem Einwohnerzentralamt, das auch für Flüchtlinge zuständig ist, und forderte einen Somali an, »Mit behauptetem Hochschulabschluss, bitte, möglichst Jurist. Wir haben hier etwas Kompliziertes zu übersetzen.«

ALTONA / MÖRKENSTRASSE, 24. MÄRZ 2015

Zwölf Stunden später stand ein jüngerer Mann mit dunkler Hautfarbe und ebenmäßigem Gesicht in Kronenbergs Dienstzimmer, begleitet von zwei Uniformierten. Er stellte sich als Saïd vor. Kronenberg schickte die Uniformierten vor seine Bürotür.

»Said, wie dieser Vizekönig von Ägypten, nach dem Port Said benannt ist?«

Der Somali nickte. Kronenberg übergab ihm fünf Fax-Seiten aus Wilhelmshaven, die zwar lateinische Buchstaben zeigten, ansonsten aber unverständlich waren. »So,Said, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir diese Seiten auf Deutsch oder Englisch übersetzen würden.«

»150 Euro«, antwortete Said.

»Sie kennen sich mit unseren Übersetzerhonoraren ja aus. Also 150 Euro.«

»Pro Seite«, antwortete Said.

»Nun werden Sie mal nicht unverschämt. 50 Euro je penibel übersetzte Seite, einschließlich des zwischen den Zeilen Stehenden, also 250 Euro. Sie können im Nebenraum Platz nehmen.«