9,99 €
Nach einem Autounfall erwacht Bianca schwer verletzt im Krankenhaus. Doch wo ist Lonnie? Von ihrem besten Freund fehlt jede Spur. Ans Bett gefesselt sucht Bianca Ablenkung in einer brandneuen Virtual-Reality-Version von Minecraft. Jeder ihrer Gedanken wird hier Realität, und endlich ist sie wieder Herrin ihrer Welt. Bis Bianca auf einen stummen, scheinbar beschädigten Avatar trifft … Lonnie! Und plötzlich wird es gefährlich - denn im Spiel materialisieren sich nicht nur Biancas Wünsche, sondern auch ihre größten Ängste! EIN SPANNENDER MINECRAFT-THRILLER!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 341
© 2018 Schneiderbuch.digital
verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
Alte Jakobstraße 83, 10179 Berlin
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
„MINECRAFT – THE CRASH“ bei Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC
This translation is published by arrangement with Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC
Copyright © 2018 Mojang AB and Mojang Synergies AB. MINECRAFT is a trademark or registered trademark of Mojang Synergies AB.
All rights reserved.
Übersetzung aus dem Englischen: Maxi Lange
Coverillustration und -design: Ian Wilding, St. John’s, Kanada
Umschlaggestaltung: Achim Münster, Overath
In Anlehnung an das amerikanische Original
eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co KG, Köln, www.PPP.eu
ISBN 978-3-505-14080-8
www.schneiderbuch.de
Die EGMONT Verlagsgesellschaften gehören als Teil der EGMONT-Gruppe zur EGMONT Foundation – einer gemeinnützigen Stiftung, deren Ziel es ist, die sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Weitere ausführliche Informationen zur EGMONT Foundation unter: www.egmont.com
Für Adam, Elliot, Avery und Lindsay
Kapitel 1
Ich möchte gern denjenigen ausfindig machen, der sich den Satz „Alles geschieht aus einem bestimmten Grund“ ausgedacht hat, und ihm gehörig die Meinung sagen. Wenn die Welt um dich herum in Trümmern liegt, willst du garantiert nicht hören, dass sich irgendwo in dem ganzen Schlamassel etwas Positives verbirgt. Soll das etwa heißen, wenn ich eine Zeitmaschine hätte, mit der ich zurückreisen und meine Fehler ausbügeln könnte, dürfte ich sie nicht einsetzen? Nie im Leben! Jeder würde das tun.
Wenn alles im Chaos versunken ist, gibt es nichts Gutes mehr zu sagen. Es ist besser, einfach weiterzumachen, deine Fehler zu korrigieren und zu hoffen, dass sich am Ende alles irgendwie einrenkt. Wer an dieser Stelle einen weisen Rat erwartet hat, den muss ich enttäuschen. Mehr habe ich nicht zu sagen. Na ja, außer der Sache mit der Zeitmaschine. Diese Möglichkeit besteht natürlich weiterhin.
Doch zurück zum Thema. Der Fehler, von dem ich mir wünschte, ich hätte ihn nie gemacht, geschah vor mehreren Tagen. Vor wie vielen genau, weiß ich nicht. Zeitliche Abläufe kriege ich gerade nicht auf die Reihe. Und zurückgehen und die Dinge ändern kann ich ohnehin nicht mehr. Tja, späte Einsicht ist besser als gar keine, nicht wahr? Jedenfalls geschah es an einem Freitag. Mein bester Freund und ich waren auf dem Weg zur Schule, um uns die Saisoneröffnung anzusehen – ein Sportereignis, das jeder als das Homecoming-Spiel kennt.
Ich hatte Lonnie überredet mitzukommen, obwohl weder er noch ich große Sportfans waren. Wir gehörten eher der Gamer-Fraktion an, und Sport – jedenfalls außerhalb eines Videospiels – stand nicht gerade weit oben auf unserer Prioritätenliste. Aber weil in Filmen immer so viel Aufhebens um Homecoming-Ereignisse gemacht wird, dachte ich mir, warum eigentlich nicht? Als Neuling an dieser Highschool fand ich insgeheim ohnehin alles unheimlich aufregend. Es war, als hätte ich im Videospiel des Lebens ein neues Level freigeschaltet – mit einem Schließfach in Luxusgröße für mehr Inventar und dem ultimativen Boss in Form des Schulabschlusses … solche Dinge eben. Im Gegensatz zu mir war Lonnie leider überhaupt nicht begeistert von dem Homecoming-Trubel. Also versüßte ich ihm die Sache – und zwar buchstäblich. Ich versprach ihm, meine berühmten Brownies und eine Decke mitzubringen, damit wir es uns mit ordentlich Schokolade zwischen den Zähnen gemütlich machen könnten. Im Nachhinein glaube ich, dass es die Brownies und die Decke waren, die ihn überzeugten, aber sicher bin ich mir nicht. Es gibt ja nicht viele Zweitsemester, die sich freiwillig mit einem Neuling sehen lassen, aber wir waren schon beste Freunde, seit er acht und ich sechs war. Deshalb fanden wir es okay, die allgemein anerkannten Grenzen einer Freundschaft unter Highschool-Schülern ein wenig zu dehnen. Worauf ich hinauswill: Es war allein meine Schuld. Alles, was passiert ist, geschah nur meinetwegen.
Gegen fünf stand Lonnie an der Tür. Ich sprang beschwingt mitsamt den Brownies und der Decke aus dem Haus, stieg ins Auto, und er fuhr los. Wie immer redeten wir über Minecraft.
„Hast du die Fallen gebaut?“, wollte er wissen.
Ich rümpfte die Nase. Hatte ich nämlich nicht. Aber nur, weil ich es verschwitzt hatte.
„Hm, ja, weißt du, ich dachte, es wäre besser, erst mal die Basis auszubauen. Ich habe mich entschlossen, den Boden des Gewächshauses aus Glas zu machen, damit man auf alles hinabblicken kann.“
„Du willst also sagen, du hast nicht das gemacht, was du versprochen hattest. Wieder einmal.“ Lonnie klang eher wie ein enttäuschter Vater als wie ein Freund, also ging ich in die Defensive über.
„Ich kümmere mich ja darum. Sobald ich das neue Gewächshaus fertig habe“, erklärte ich. „Ich weiß nicht, warum du deswegen gleich so ausflippst.“
„Bianca.“
„Lonnie.“
„Du musst dich an den Plan halten, sonst geht unsere schöne Welt vor die Hunde. Wenn wir etwas erschaffen wollen, das wirklich funktioniert, dann müssen wir genau das tun, was wir uns vorgenommen haben. Ist das nicht der Sinn einer Testwelt? Alles dort zu perfektionieren, um dann im richtigen Spiel keine Fehler zu machen?“
„Ich finde, der Sinn einer Testwelt ist, ausgefallenes Zeug auszuprobieren, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Verrückte Ideen umzusetzen, Dinge in die Luft zu jagen, Chaos zu veranstalten und am Ende nichts davon wieder in Ordnung bringen zu müssen.“
Lonnie seufzte. Er fuhr sich mit der Hand über den kurzrasierten Kopf und kniff für einen Moment die Augen fest zusammen, als hätte er Schmerzen. Als er sie wieder öffnete, waren sie von einem sturmumwölkten Grau, das eher der aktuellen Wetterlage glich als dem klaren Stahlgrau, in dem sie erstrahlten, wenn er guter Stimmung war.
„Ich dachte, du wolltest dieses Projekt durchziehen“, seufzte er. „Du hast davon geredet, eine ganze Welt zu erschaffen. Neue Landschaften zu erfinden. Dörfer zu bauen … Ein Regelwerk für eine ganze Gesellschaft zu erfinden und erst danach damit herumzuexperimentieren.“
„Ja, aber …“
„Aber zuerst müssen wir sie aufbauen. Und dafür brauchen wir einen Plan, Bianca.“
Ich hatte nicht gewollt, dass wir uns streiten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, damit er aufhört, wie ein zorniger Drache zu schnaufen, der nur darauf wartet, mich mit seinem Feueratem zu grillen.
„Du befolgst nie einen Plan. Erst sagst du, dass du irgendetwas machen willst, und dann sage ich: ‚Okay, so lautet der Plan.‘ Und du sagst: ‚Super Plan!‘ Und dann tust du nicht einmal so, als würdest du ihn befolgen.“
Dieses Gespräch hatte sich zu einem ausgewachsenen Streit entwickelt.
„Und trotz alledem spiele ich für dich auch noch den Chauffeur“, fügte er hinzu.
„Du hast gerade erst deinen Führerschein gemacht und brauchst noch mehr Fahrpraxis“, konterte ich. „Außerdem wird dieses Sportereignis deinen Horizont bestimmt enorm erweitern!“
„Seit wann stehst du auf Sport?“, wollte er wissen.
Ich zuckte die Schultern. „Seit ich zum ersten Mal ein richtig großes Schulereignis besuche. Ich will nur mal sehen, wie es ist, sich unter die Leute zu mischen.“
„Diese Leute sind nichts anderes als Mobs. Glaub mir, die Highschool ist nicht so toll, wie du denkst.“ Er fuhr um eine Kurve und weiter auf der Elm Road. „Wo ist noch mal dieses blöde Spielfeld?“
„Zwei Straßen weiter, dann rechts“, gab ich blasiert zurück.
Er hielt an einer Ampel und ließ den Motor aufheulen. Jede Faser seines Körpers schien wütend zu sein. Ich kaute auf meiner Oberlippe herum und wickelte einen meiner unzähligen schmalen Zöpfe um den Finger.
„Wusstest du schon, dass sie den Spielplatz abreißen?“, warf ich plötzlich ein.
Die Ampel schaltete auf Grün, und er gab Gas.
„Und?“
„Willst du nicht noch mal hinfahren, bevor alles weg ist?“
„Wozu?“
„Na, weil wir dort unsere besten Abenteuer erlebt haben!“, rief ich aufgebracht. „Weil es dort nie wieder so aussehen wird wie früher. Und weil es eben unser Ort war!“
„Okay, meinetwegen.“
„Weißt du noch, wie man hinkommt?“, neckte ich ihn. Er drehte den Kopf und musterte mich aus stahlgrauen Augen. Ich grinste. Ich kannte diesen Blick. Er bedeutete, dass unser kleiner Streit vorüber war.
Anstatt nach rechts auf die Grandview abzubiegen, fuhr er nach links.
Der Spielplatz erinnerte schon jetzt an eine Geisterstadt. Die Schaukeln waren abgebaut worden; nur noch das verwitterte, fleckig blaue Gerüst stand.
Die Hängebrücke lag zur Hälfte im krümeligen schwarzen Gummi, das den Boden bedeckte. Das andere Ende hing immer noch an der einstigen Kletterwand, deren Haltegriffe inzwischen ebenfalls fehlten.
Ich erklomm die äußerst wackelige Leiter und ließ mich die Rutsche hinuntergleiten, an dessen Ende mich Lonnie erwartete.
„Willst du auch mal?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Schon komisch, dass sie hier zum ersten Mal seit unserer Kindheit renovieren“, meinte er. „Sie hätten den Platz schon vor langer Zeit abreißen sollen.“
„Aber das ist unser Ort!“, beschwerte ich mich.
„Es war unser Ort“, korrigierte Lonnie sanft. Auf diesem Spielplatz waren wir einander begegnet, hatten uns angefreundet und in Gedanken unsere ersten Fantasiewelten ausgemalt. Wir waren mit der Hängebrücke als Schiff in die Rollen verwegener Piraten geschlüpft und wie Trapezkünstler von den Schaukeln gesprungen, um unsere imaginäre Festung vor wilden Zombiehorden zu beschützen. Tatsächlich hatte eines unserer ersten Minecraft-Projekte darin bestanden, eine verbesserte Version dieses Spielplatzes nachzubauen, dessen Boden natürlich aus Lava bestand.
Und nach all dieser Zeit gehörten wir beide immer noch zusammen, auch wenn der Spielplatz inzwischen zerfiel.
„Erinnerst du dich, als ich einen Salto vom Klettergerüst versucht habe und du mich aufgefangen hast?“, fragte ich voller Nostalgie.
„Natürlich, schließlich wurde meine Heldentat mit einem gebrochenen Handgelenk belohnt“, bestätigte Lonnie kopfschüttelnd. „Pläne waren schon damals nicht deine Stärke. Du hast immer deine Grenzen gesucht und dich nie um Konsequenzen geschert.“
„Keine Vorträge, bitte, davon gibt’s genug in der Schule.“ Ich verschränkte die Arme.
Lonnie zuckte die Schultern, trat ein abgenutztes vergilbtes Plastikteil aus dem Weg und schlenderte zu einem traurigen Gerippe, das einst ein stattliches Klettergerüst gewesen war. Die meisten Stangen waren abmontiert worden und lagen aufgestapelt am Boden. Stumm starrte Lonnie den Haufen Metall an. Die Sonne verschwand gerade hinter dem Horizont und tauchte den Spielplatz in ein warmes Licht. Die Stille war perfekt.
Er hatte recht. Dieser Ort gehörte nicht mehr uns.
„Lass uns gehen“, sagte ich.
„Richtig, das Homecoming-Spiel, juhu!“, spottete er.
Ich hielt ihm die Hand hin und verspürte einen schwachen elektrischen Schlag, als er meine Finger berührte. Wild mit den Armen rudernd wie zwei kleine Kinder gingen wir zurück zum Auto. Die meisten Leute fanden es seltsam, dass wir so viel Zeit miteinander verbrachten. Ein Abstand von zwei Jahren ist in der Highschool wie ein gähnender Abgrund. Besonders wenn man auf unterschiedliche Schulen geht. Es ist, als würde man mit jemandem eine Unterhaltung führen, der auf der anderen Seite des Grand Canyon steht – mit nichts als den eigenen, zu einem Trichter geformten Händen. Er ließ den Motor an, machte auf der schmalen Straße eine Kehrtwende und brauste los.
Ich holte mein Telefon hervor und startete die Minecraft-App.
„Wenn du mir schon den lieben langen Tag vorhalten wirst, dass ich deine blöden Fallen noch nicht gebaut habe, solltest du wenigstens einen anerkennenden Blick auf den ultracoolen Glasboden werfen, den ich im Gewächshaus verlegt habe.“
Ich fuchtelte mit dem Telefon vor seinem Gesicht herum.
„Da!“
„Bianca, hör auf damit, ich fahre.“ Lonnie hob den Arm, um das Handy aus dem Weg zu schieben.
Dann ging alles furchtbar schnell. Er lenkte so scharf nach links, dass die Reifen quietschten. Für einen Augenblick blendete uns das schimmernde Orange der untergehenden Sonne, und wir rutschten über die Straße, während Lonnie versuchte, den Wagen wieder in die Spur zu bringen. Zu spät bemerkten wir, dass wir soeben eine rote Ampel überfahren hatten und obendrein etwas auf uns zukam. Die Sonne nahm uns immer noch die Sicht, sodass wir nicht erkennen konnten, was es war. Wir wussten nur, dass es nicht gerade klein war. Alles fühlte sich an wie in Zeitlupe – nur einige Sekunden, die sich zu Jahren zogen, bis uns eine weibliche Roboterstimme aus unserer Lethargie riss.
„Annäherungsalarm! Wenn möglich, bitte ausweichen!“
Die Atmosphäre im Auto schlug augenblicklich von knisternder Nervosität zu nackter Angst um, als wir erkannten, dass das auf uns zukommende Auto viel zu schnell unterwegs war. Der Fahrer konnte nichts mehr unternehmen.
Als der Wagen uns nahe genug war und endlich die Sonne verdeckte, erhaschte ich einen verschwommenen Blick auf das Gesicht des Fahrers. Er hatte dunkle Augen und spitz in alle Richtungen abstehendes Haar. Sein Kopf wurde nach hinten geworfen, als sein grünes Auto mit unserem blauen kollidierte. Ich erinnere mich an das Geräusch zerknautschten Metalls, dessen Falten Blau mit Grün und Grün mit Blau vermischten. An umherfliegende Kleinteile. An Glas und Metall. Sogar das Licht schien an irgendeinem Punkt zu zersplittern und sich in viele einzelne Strahlen aufzuspalten, die sich in Augen und Haut einbrannten. Dann roch ich Rauch. Schmeckte Blut. Und spürte etwas an meinem Körper, das sich anfühlte, als hätte es mich in der Mitte zerteilt. Ich fragte mich, ob ich überhaupt noch in einem Stück war. Ich drehte mich um, suchte nach Lonnies Augen, um an ihnen abzulesen, ob alles wirklich so schlimm war, wie es schien. Doch ich konnte ihn nicht finden. Es war, als wäre er verschwunden, und nur ich, das grüne und das blaue Auto wären noch hier, ineinander verschlungen wie ein bizarres Kunstwerk, das Glas auf mich herabrieseln ließ. Schockiert erkannte ich, dass der Fahrer des anderen Wagens über mir war, so als hätten wir und nicht Lonnie und ich im selben Auto gesessen. Er schwebte direkt vor meinen Augen. Ich hätte ihn berühren können und versuchte es auch, aber meine Hände wollten sich nicht bewegen. Nichts bewegte sich mehr; nur die Autos waren immer noch nicht vollständig zum Stehen gekommen. Ich wollte nach Lonnie rufen, aber aus meinem Mund drang nichts als Stille.
Dann wurde alles schwarz.
Kapitel 2
Über mir war Licht. Für einen kurzen Augenblick ergriff mich Panik, bis ich erkannte, dass es sich dabei nur um eine Straßenlaterne handelte. Offenkundig lag ich auf dem Boden. Nur fühlen konnte ich nichts. Weder den Boden noch meinen eigenen Körper. Ich war wie gelähmt. Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund gehorchte mir nicht. Eine Frau mit blondem Pferdeschwanz beugte sich über mich und runzelte die Stirn. Sie blickte hoch und sprach tonlos zu irgendjemandem, den ich nicht sehen konnte. Nein, nicht tonlos. Sie sprach ganz normal … ich hörte sie nur nicht. Ich hörte gar nichts. Nur meine Augen funktionierten, wenn auch nicht wie gewohnt. Alles war trüb und vernebelt, und ich sah nur das, was sich direkt über mir befand.
Ich versuchte, mich zu bewegen. Irgendetwas … einen Finger, meine Zunge. Nichts reagierte. Ich fragte mich, ob ich wohl tot war und nur noch ein wenig hierblieb, bevor ich mich dorthin verabschiedete, wo Seelen wohnen. Vielleicht war ja auch meine Seele gelähmt und unbeweglich. Vielleicht waren wir einfach beide gelähmt.
Die blonde Frau trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Holy Angels Krankenhaus und Rettungssanitäter. Sie schien meinen Körper abzutasten, aber ich weiß nicht, wonach sie suchte, denn ich fühlte immer noch nichts, und mein Sichtfeld war nach wie vor eingeschränkt.
Ich fragte mich, ob wir uns immer noch am Unfallort befanden, ob Lonnie in meiner Nähe war, ob es ihm genauso ging wie mir, ob er irgendetwas fühlte, ob meine Eltern und Schwester ahnten, wo ich war, und schließlich, ob dies der Ort war, an dem ich sterben würde.
Plötzlich veränderte sich mein Sichtfeld, so als würde mich jemand bewegen. Der Schein der Straßenlaterne war fort, der Himmel über mir dunkel – viel dunkler als zu dem Zeitpunkt, als Lonnie und ich den Spielplatz verlassen hatten. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauerte, bis der Himmel so finster wurde. Wenige Minuten? Stunden? Wie lange hatte ich hier gelegen?
Dann kehrten einer nach dem anderen meine Sinne zurück.
Zuerst vernahm ich die Stimme der Sanitäterin. „Schafft sie in den Wagen!“
Ihr Satz wurde von heulenden Sirenen, geschäftigen Menschen, die einander Unverständliches zuriefen, und dem unverwechselbaren Geräusch sich biegenden Metalls untermalt. Ich hörte knirschenden Kies und ein Klicken unter mir, als würde etwas einrasten. Langsam und vorsichtig wurde ich bewegt. Die Sterne drehten sich.
Dann folgte der Geruchssinn. Ein Schwall aus beißendem Rauch und abgeriebenem Gummi, Schweiß und irgendetwas Erdigem.
Dann schmeckte ich Blut in meinem Mund. Mit der Zunge ertastete ich den angerichteten Schaden. Alles war überempfindlich, und ich erfühlte scharfkantige Ecken und rohes, geschwollenes Zahnfleisch.
Mehr Geräusche. Schreie. Weinen. Stöhnen. Der Autoalarm ging los, während die Roboterstimme unentwegt darauf hinwies, dass Hilfe unterwegs sei.
Rotes Licht wurde flackernd vom strahlend weißen Lack des Rettungswagens reflektiert.
Dann war ich im Rettungswagen, über mir die glatte weiße Decke. Um mich herum metallene Verschlüsse medizinischer Vorratsbehälter. Die Gesichter der Sanitäterin und eines Mannes tauchten über mir auf. Eines lächelte, das andere schaute besorgt. Ich konnte nicht unterscheiden, welches Gesicht welchen Ausdruck trug, weil meine Augen mir nicht gehorchen wollten. Außerdem schaukelte der Wagen, und die Sirene heulte. Offenbar waren wir bereits auf dem Weg zum Krankenhaus.
Endlich bogen wir auf eine gerade, glattere Straße ab, und mein Blickfeld wurde klarer.
Es war der Mann. Er hatte gelächelt.
Im nächsten Moment wurde ich aus dem Auto gehievt, und sofort überschwemmte mich der Geruch nach Desinfektionsmitteln. Die Krankenhauslampen leuchteten grellweiß. Irgendjemand sollte denen mal sagen, dass das nicht gerade beruhigend wirkt. Das Licht der Straßenlaternen hatte mir jedenfalls besser gefallen. Ich schloss die Augen und hörte neben mir das Quietschen der Sanitäterturnschuhe und unter mir die Rollen der Krankentrage über den unebenen Krankenhausboden holpern. Das Licht drang durch meine geschlossenen Lider, und Schatten verrieten mir jedes Mal, wenn sich jemand über mich beugte.
Plötzlich kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück. Es begann wie eine Welle, die sich über meine Arme und Beine ausbreitete. Füße und Hände fühlten sich an, als hätte mir jemand die Haut abgezogen. Ich spürte jeden einzelnen Körperteil, und dieses Spüren bestand nur aus Schmerzen. Ich schrie, und meine Retter legten einen Zahn zu. Der Schmerz wanderte nach innen, zuerst zu meinem Bauch, von wo aus er bis in den Kopf ausstrahlte. Es gab nichts, was mir nicht wehtat. Beine, Arme, Körper, Hals, Kopf, Mund und Augen … ich fühlte mich, als hätte mich ein Mixer ausgespuckt. Ich schrie und schrie, obwohl mein Hals davon noch mehr brannte. Ich konnte einfach nicht aufhören. Ich glaube, sie versuchten, mich zu beruhigen, indem sie mich bewegten und auf mich einredeten. Aber mein Geschrei übertönte alles. Mein gesamtes Fühlen bestand nur aus Schmerzen, und ich fragte mich: Fühlt sich so Sterben an? Ich versuchte, ihnen mitzuteilen, dass ich es nicht aushielt, dass sie machen sollten, dass es aufhört.
Und dann hörte es auf.
Ich erwachte in einem kleinen beigefarbenen Raum, umgeben von Plastikjalousien und piepsenden Geräten. In der Nähe standen zwei Polsterstühle mit Holzlehnen, die einen beigefarbenen Plastiktisch auf Rädern umrahmten. Eine blaue Decke verbarg meinen Körper, sodass ich nicht sehen konnte, in welchem Zustand ich mich befand. Nur meine Beine waren deutlich umfangreicher als früher, also ging ich davon aus, dass sie in Gips steckten. Na wunderbar. Meine Arme konnte ich ebenso wenig sehen. Ich versuchte, sie zu bewegen, aber es gelang mir nicht. Entweder hatte ich keine mehr, oder die Betäubung, die sie mir gegeben hatten, wirkte noch. Ich fühlte mich benebelt, und mein ganzer Körper schmerzte dumpf. Wenigstens konnte ich meine Augen benutzen, um mich umzusehen. Ich war allein. Hier waren nur ich, die piepsenden Bildschirme und eine rosafarbene Plastikkanne, die auf dem Tisch mit den Rädern stand. Keine Becher. Ich steckte prüfend die Zunge aus dem Mund. Meine Lippen waren trocken. Ich hätte gern etwas Wasser getrunken, aber meine Stimme gehorchte mir nicht, sodass ich selbst in Gesellschaft niemanden hätte um Hilfe bitten können. Ich versuchte, mit den Fingern einen Hilfeknopf zu ertasten, um irgendjemanden darüber zu informieren, dass ich aufgewacht war. Damit man sich um mich kümmerte oder wenigstens darüber aufklärte, was passiert war. Doch meine Finger waren immer noch taub … ich wusste nicht einmal, ob ich noch welche besaß.
Ich fragte mich, wie ich aussah.
Ich fragte mich, wo alle waren.
Und ich fragte mich, wie es Lonnie ging.
Als ich das nächste Mal erwachte, sah ich zuerst nur die viereckigen Platten der Zimmerdecke in der zweifellos langweiligsten Variante – einer Farbmischung aus Beige und Grau, aus der mein vernebelter Verstand „Greige“ machte – und verlegt in einem gleichmäßigen Muster, sodass man sie einfach zählen musste … vor allem, wenn man ansonsten nichts sah. Das Licht war gedimmt, und ich konnte nicht erkennen, ob das hier derselbe Raum wie vorher war oder ob man mich verlegt hatte. Soweit ich mich an meine letzte Wachphase erinnerte, erschien er mir diesmal kleiner, und ich war von weniger piepsenden Geräten umstellt. Immerhin ein Fortschritt. Ich versuchte erfolglos, mich zu bewegen. Diesmal konnte ich meinen Körper nicht sehen, denn ich lag flach auf dem Rücken. Meine Beine hätten genauso gut verschwunden sein können. Oder mein ganzer Körper. Ich fragte mich, ob ein Mensch theoretisch nur als Kopf überleben konnte.
Dann kam mir in den Sinn, dass mich die Betäubungsmittel möglicherweise überschnappen ließen. Das erschien mir eine stimmige Einschätzung meiner geistigen Situation.
Die Tür öffnete und schloss sich, und ich hörte die flüsternde Stimme meiner Mutter: „Was glauben Sie, wie lange noch?“
„Der Genesungsprozess ist langwierig, Mrs. Marshall. Sie hat erhebliche Verletzungen davongetragen. Wir müssen uns gedulden und in kleinen Schritten denken.“
Ich vernahm einen unterdrückten Schluchzer, gefolgt von der Stimme meines Vaters: „Carrie würde sie gern sehen. Ich bringe sie nach der Schule vorbei.“
Am Samstag ging niemand zur Schule. Ich wollte fragen, wovon sie sprachen, doch dann sickerte die Erkenntnis in meinen Schädel, dass es vermutlich nicht mehr Freitag war. Wahrscheinlich war das Wochenende längst vorüber. Ich versuchte mich an einem Hallo, aber brachte nur ein wenig elegantes „Ungchch“ zustande. Mein Vokabular war auf das Niveau eines Minecraft-Dorfbewohners gesunken.
Im Handumdrehen waren meine Eltern an meiner Seite, offenbar hocherfreut, dass ich mich überhaupt äußern konnte.
Hey, versuchte ich es erneut. „Ahh“ kam heraus.
„Bianca!“, seufzte meine Mutter sanft. Tränen rannen über ihre Wangen und hinterließen Spuren in ihrem Make-up.
„Wie fühlst du dich?“, wollte mein Vater wissen.
Ich versuchte ein Nicken. Es tat weh.
Im nächsten Moment trat eine Frau im weißen Kittel zu mir, und meine Eltern machten ihr Platz. Sie hatte große braune Augen und einen schwarzen Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Als sie sich über mich beugte, gab ihr Haar ein Namensschild frei, auf dem Dr. Nay stand.
„Hallo, Bianca“, sagte sie. „Schön, dass du wach bist.“
„Wie lange war ich weg?“, versuchte ich zu fragen, aber heraus kam nichts als ein Stöhnen. Und leider auch etwas Sabber. Meine Mutter wischte ihn mit einem Küchentuch fort und machte ein besorgtes Gesicht.
„Dein Unfall ist jetzt fast eine Woche her“, erklärte Dr. Nay, als hätte sie mein Gebrabbel problemlos verstanden. „Seit heute bist du stabil genug, sodass wir dich aufwecken konnten.“
„Wie steht es um mich, Doktor?“
Dr. Nay tippte auf ihrem Tablet herum, woraufhin ein Hologramm erschien, das offenbar von einer Kamera projiziert wurde, die an der Seite des Mini-PCs befestigt war. Ein Miniatur-Ich erschien vor meinen Augen. Es war gruselig – wie ein Bauplan meiner Selbst.
„Du hattest viel Glück, Bianca. Wenn dir dieser Unfall vor einigen Jahren zugestoßen wäre, hätten wir vielleicht noch nicht die Technologie gehabt, dich zu heilen.“
Ich fand, Glück fühlte sich anders an, als von oben bis unten eingegipst in einem Krankenhausbett zu liegen, aber ich verstand, was sie meinte. Dr. Nay betätigte noch ein paar Tasten, woraufhin das Hologramm meines Körpers plötzlich an etwa zehn verschiedenen Punkten rot aufglomm. Die Diagnose war niederschmetternd: zwei gebrochene Arme, ein gebrochener Oberschenkel, drei gebrochene Knochen im rechten Fuß, zwei gebrochene Rippen, ein kollabierter Lungenflügel und eine Gehirnerschütterung. Mein Mini-Ich sah aus wie ein fehlgeschlagenes Experiment von Dr. Frankenstein.
„Zum Glück bist du eine echte Kämpferin“, lobte Dr. Nay.
Ich erinnerte mich weder daran, gekämpft zu haben, noch an die Leute, die sich um mich gekümmert hatten, geschweige denn daran, wie ich in diesem fürchterlichen kleinen Raum gelandet war. Er roch nach Putzmittel, Medizin und Urin, von dem ich hoffte, dass er nicht von mir stammte, obgleich ich ahnte, dass diese Hoffnung vergebens war.
Dr. Nay beugte sich über mich und passte den Zufluss eines Beutels an, dessen Inhalt über eine Kanüle in meinen Arm floss. Plötzlich wurde es auf der rechten Seite kalt, und einen Moment später kehrte das Gefühl zurück. Ich lächelte. Die Kälte breitete sich in mir aus, dann wurde alles trüb. Dr. Nay sprach mit meinen Eltern. Es schien eine Menge zu bereden zu geben. Ich versuchte, den Worten zu folgen, aber konnte kaum etwas hören. Jegliches Gefühl sickerte aus meinem Körper, und es kam mir vor, als müsste ich gegen die Strömung durch einen reißenden Fluss schwimmen. Dann wurde es wieder finster.
Aller guten Dinge sind drei, dachte ich bei mir, als ich das nächste Mal aufwachte. Diesmal war das Licht greller, und mein Körper war aufgerichtet, sodass ich mich im beigefarbenen Raum mit den Polsterstühlen, dem Plastiktisch auf Rädern und der pinkfarbenen Kanne umsehen konnte. Déjà vu. Nur mein Vater war neu in diesem Bild. Er las gerade in einer Technikzeitschrift. Für sein Alter hielt er sich bemerkenswert gut auf dem Laufenden, was die neueste Technik anging. Andererseits gehörte das natürlich auch zu seiner Arbeit.
„Hey“, versuchte ich mein Glück. Diesmal brachte ich tatsächlich ein erkennbares Wort zustande, was mich derart überraschte, dass ich gleich ein unwillkürliches Geräusch zwischen einem Schluckauf und einem Seufzen hinterherschob. Und ja, das klang genauso komisch, wie es sich anhört.
Wie von einer Wespe gestochen, sprang mein Vater aus dem Stuhl. „Hey“, antwortete er. „Wie geht es dir?“
Ich zuckte mit den Schultern oder versuchte es zumindest. Im Nachhinein glaube ich nicht, dass sich irgendetwas an mir bewegte.
„Was ist passiert?“, fragte ich, obwohl ich es genau wusste. Mir fiel einfach keine bessere Frage ein.
„Dich hat es ganz schön erwischt“, raunte er, als ob es die Dinge verschlimmern würde, wenn er die Stimme hob. Er griff nach einer piepsenden Maschine und berührte den Bildschirm. „Du wirst wohl ein Weilchen hierbleiben müssen.“ Er seufzte. „Du hast mehrere Operationen hinter dir und bist an vielen Stellen eingegipst.“ Er legte seine warme Hand auf meine Stirn. „Wir haben dir auch einen plastischen Chirurgen besorgt, damit die Narben nicht so schlimm werden.“
An dieser Stelle muss ich zusammengezuckt sein, denn sein Gesicht wurde plötzlich fahl.
„Ist nicht so wild, du wirst schon wieder. Auf jeden Fall bist du über den Berg.“ Er lachte leise, klopfte nervös mit der Zeitschrift auf die Plastikstange meines Bettes und trat einen Schritt nach hinten. Offensichtlich wollte er nichts mehr dazu sagen.
„Lonnie?“, hakte ich nach.
„Hm?“, machte er, das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse verzogen. Er blinzelte einige Male und sah plötzlich krank aus. „Bianca …“
Die Tür öffnete sich, und Dr. Nay wieselte herein. „Guten Morgen, Bianca! Wie fühlst du dich?“
Wie vom Auto überrollt, wollte ich witzeln, aber besann mich im letzten Moment.
Mein Vater machte der Ärztin Platz, damit sie mich begutachten konnte. Sie nahm das Stethoskop, das ihr um den Hals hing, und hörte meine Brust ab. „Die Atmung funktioniert wieder, wie sie soll.“
Ich habe nicht geatmet? Was soll das heißen, „wie sie soll“?, fragte ich mich.
Ermutigend nickte sie meinem Vater zu. „Sie ist eine echte Kämpferin.“ Dann wandte sie sich einem Tablet zu, das sie zuvor auf dem Tisch abgelegt hatte, und tippte einige Male auf den Bildschirm. Das altbekannte blaue Schlumpf-Ich schwebte über dem Gerät, und Dr. Nay erläuterte mir sämtliche OPs, die seit dem Unfall an mir durchgeführt worden waren.
„Deine Testergebnisse verbessern sich täglich“, versicherte sie mir. „Jetzt musst du dich nur noch erholen. Du wirst wohl noch eine Weile hier im Krankenhaus verbringen müssen.“
Mein Vater sah mich mit traurigen Augen an, und meine Brust zog sich zusammen. Was für Kosten würden auf unsere Familie zukommen? Und wie viel Unterricht würde ich verpassen?
„Wir haben ihr die stärksten Schmerzmittel verabreicht, die unter diesen Umständen vertretbar sind“, fuhr die Ärztin fort, den Blick immer noch auf meinen Vater gerichtet. „Aber die Schwestern sagen, sie wacht immer noch alle paar Stunden auf und versucht, sich zu bewegen. Sie bekommt im Moment die höchstmögliche Dosis. Deshalb ist sie jetzt wahrscheinlich auch wach und spürt nicht viel. Aber wir müssen unbedingt sicherstellen, dass sie sich nicht bewegt.“
Ich erinnerte mich weder daran, aufgewacht zu sein, noch an die Schmerzen, doch der angstvolle Gesichtsausdruck meines Vaters sprach Bände. Er hatte das letzte Erwachen offenbar mit eigenen Augen gesehen.
„Damit will ich sagen, dass wir ihr für eine Weile nichts mehr geben können, und da sie jetzt schon wach ist, könnte es ein … schwieriger Abend werden.“
Mein Vater nickte, die Kiefernmuskeln angespannt und die Plastikstange an meinem Bett so fest umklammert, dass ich dachte, sie müsse gleich in zwei Hälften brechen.
„Ich werde die ganze Nacht bei ihr bleiben“, versicherte er. „Ihre Mutter löst mich morgen früh ab. Wir schaffen das schon.“
Dr. Nay nickte und verließ das Zimmer, während mein Vater die Decke zurechtzupfte. Nach und nach kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück, und ich fing an zu verstehen, wovon Dr. Nay gesprochen hatte und warum mein Vater so besorgt aussah. Es war, als würde mich jemand langsam in flüssiges Magma tauchen. Man mag denken, einen verbrannten Zeh oder Fuß kann man ohne Weiteres verschmerzen, aber das Feuer hörte nicht am Knöchel auf. Mehr und mehr von meinem Körper schien es aufzufressen, und ich fühlte mich schwach vor Schmerzen. Hilfe suchend sah ich zu meinem Vater, aber selbst das tat weh, denn er war völlig machtlos. Wut kochte in mir hoch … Wut auf ihn, weil er nichts für mich tun konnte, und auf mich, weil ich hilflos war und wusste, dass dieser ganze Schlamassel auch für ihn die reinste Folter war.
Und außerdem? Wut auf mich, weil ich genau wusste, dass alles meine Schuld war.
Spät nachts wachte ich auf. Mein Vater schlief auf einem Stuhl, die Zeitschrift quer über der Brust. Er hatte die Schuhe ausgezogen und schnarchte leise. Die Tür zu meinem Zimmer stand offen, und ein Lichtkegel traf mein Gesicht, der womöglich aus dem Schwesternzimmer drang. Ich konnte immer noch keinen Notfallknopf finden, aber ich nahm an, die Zeit für mehr Schmerzmittel war inzwischen verstrichen, denn ich fühlte mich wieder seltsam taub. Der sengende Schmerz war nur noch als fernes Echo wahrnehmbar. Ich hätte gern etwas Wasser getrunken, wollte aber meinen Vater nicht wecken. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er wach gewesen war. Seine Kleidung war völlig verknittert und sein sonst immer tadellos sitzendes Haar zerzaust. Er sah aus, als hätte er viele Stunden, wenn nicht sogar Tage ohne Pause in diesem Zimmer verbracht. Irgendjemand musste zu Hause bei Carrie bleiben. Ich erinnerte mich daran, dass er davon geredet hatte, sich mit meiner Mutter abzuwechseln … vielleicht war sie ja bald an der Reihe, und er hätte endlich Pause.
Ich musste mir eingestehen, dass ich froh war, dass er schlief und ich niemanden rufen konnte. Ich wusste ganz genau: In dem Moment, da sie merkten, dass es mir gut genug ging, um ein richtiges Gespräch zu führen, würde es Fragen hageln. Viele Fragen. Und dann würden sie erfahren, was ich getan hatte, und dass ich die Schuld an allem trug.
Ein Schatten huschte an meiner Tür vorbei, und eine leise Stimme flüsterte: „Hey.“
„Hey“, echote ich.
Ein Junge von etwa elf Jahren betrat mein Zimmer. Er trug einen Pyjama mit der Aufschrift Gamer 4 Life und einen Bademantel voller Planeten, die im Dunkeln glommen.
„Wer …?“, krächzte ich. Mehr brachte ich nicht zustande. Mein Hals brannte zu sehr, um weiterzusprechen.
„Ich bin A.J. aus dem Nachbarzimmer“, antwortete er. Dann trat er näher und hielt erschrocken inne, als mein Vater laut aufschnarchte. Er schien überrascht zu sein, dass noch jemand im Zimmer war. A.J. schlich zum Infusionsgerät und tippte auf den Bildschirm. Das schien hier der gängige Weg zu sein, mit Patienten zu interagieren. Ich speicherte diese Information im Hinterkopf ab, falls ich einmal das Zimmer eines anderen Patienten betrat. Wenn ich überhaupt jemals wieder gehen konnte.
„Ich bin …“
„Bianca Marshall. Ich weiß. Ich hab deine Akte gesehen, als Dr. Nay zu mir kam.“
„Oh“, machte ich.
Er grinste.
„Lonnie“, brachte ich hervor. „Lawrence“, fügte ich unter größter Anstrengung hinzu.
A.J. blinzelte verwirrt. Dann schüttelte er den Kopf, und seine dunklen Locken wippten mit. „Nein, du bist Bianca“, wiederholte er und betonte jede Silbe meines Namens.
„Mein Freund“, erklärte ich. „Wir saßen im Auto. Ihm geht’s vielleicht noch schlechter.“
A.J.s Augenbrauen hoben sich. „Schlechter als dir?“, hakte er nach. „Aber dir geht’s richtig schlecht. Jeder, dem es noch schlechter geht, wäre ziemlich sicher tot.“
Ich wartete, dass er lachte oder wenigstens grinste oder irgendwie signalisierte, dass er nur einen Scherz gemacht hatte. Aber er hatte offenbar ausgesprochen, was er für die reine Wahrheit hielt. Wie zur Bestätigung fuhr ein stechender Schmerz durch meine Stirn, der mir verriet, dass der Junge vermutlich recht hatte. Jemand, der noch schlechter dran war als ich, konnte nicht überlebt haben. Und wenn mir irgendwer etwas Gutes über Lonnie zu sagen gehabt hätte, wäre das bereits geschehen.
„Wenn du willst, schleiche ich mich ins Schwesternzimmer und suche seine Akte“, bot A.J. an.
Seine Worte ließen die pochende Angst in meiner Brust verstummen. Vielleicht waren es auch die Medikamente. Die Geräte um mich herum piepsten und ratterten ein wenig, und Sekunden später ging es mir besser. „Danke, A.J.“, sagte ich. Als er sich zum Gehen umwandte, bemerkte ich etwas in seiner Hand. „Was ist das?“
Er drehte sich um. „Das hier?“ Er hielt etwas hoch, das aussah wie ein großes, weißes Stirnband aus Plastik. „Das ist eine VR-Brille“, erklärte er. Dann trat er näher, damit ich einen besseren Blick erhaschen konnte. „Damit kannst du Filme gucken und solche Dinge. Aber ich spiele lieber Minecraft.“
„Ich mag Minecraft.“
„Echt?“ A.J.s Augen leuchteten.
„Mein Freund und ich bauen gerade an einer Welt“, erläuterte ich und war selbst überrascht, wie gut ich plötzlich reden konnte. Ich warf einen Blick auf eins der Geräte. Aha. Zeit für Schmerzmittel.
Der Junge blinzelte und nickte, offenbar neugierig auf weitere Details.
„Dort gibt es viele Dörfer mit unterschiedlichen Konfigurationen und Regeln und so.“
A.J. grinste breit. „Klingt cool. Ich spiele am liebsten im Überlebensmodus. Mit Mods. Davon habe ich sogar welche selbst programmiert!“
„Wow, nicht schlecht“, lobte ich.
„Du solltest die Brille unbedingt mal ausprobieren“, stellte er fest. „Die wird dich vom Hocker reißen.“
Ehe ich irgendetwas erwidern konnte, hatte mir A.J. die Brille aufgesetzt. Die Bügel zwickten an den Schläfen, aber das war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ich inzwischen nur zu gut kannte. Ein Kribbeln breitete sich von dort bis in meine Stirn aus. Plötzlich durchfuhr mich der Schmerz wie eine Flutwelle, doch ich hielt still, denn ich wollte diesen Jungen, der mir doch nur einen Gefallen tun wollte, nicht verunsichern.
Ich öffnete die Augen und stellte überrascht fest, dass mein Krankenzimmer verschwunden war. Es war bereits ein Spiel im Gange, das A.J. offenbar pausiert hatte.
„Anfangs ist es etwas komisch“, warnte er. „Aber man gewöhnt sich daran.“
Er hatte recht. Mitten in einer fertigen Welt zu landen nahm mir die Orientierung. Hier war es viel heller als in meinem Zimmer, und der unwirkliche pixelige Mix aus Grün, Braun und Blau wirkte auf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich sah mich in dem Waldbiom um, in dem ich gelandet war, und fand schnell heraus, dass ich mich automatisch in eine Richtung bewegte, wenn ich lange genug dorthin blickte. Meine Bewegungen waren abrupt, und ich hätte mich am liebsten sofort übergeben. Ich schloss die Augen und versuchte, tief durchzuatmen. Noch wollte ich nicht weg von hier. Außerdem wollte ich den Jungen beeindrucken, und es hatte etwas für sich, ein schwebender Kopf ohne Körper zu sein. Wieder versuchte ich, mich zu bewegen, und fühlte, wie sich mein Magen verdrehte.
„Musst du dich übergeben?“, wollte A.J. wissen.
„Nein, ich … äh …“
„Vielleich solltest du lieber aufhören“, entschied er. Ohne Vorwarnung nahm er mir die Brille vom Kopf. Um ehrlich zu sein, linderte das meine Übelkeit nicht im Geringsten. Die Rückkehr in die triste echte Welt verschlimmerte die Situation eher. Ich drehte meinen Kopf auf die andere Seite des Bettes und übergab mich.
Noch während ich mir den Mund am Laken abwischte, lief A.J. in Richtung Tür. Mein Vater rührte sich, aber wachte nicht auf. Eine Schwester kam angelaufen, sah den Jungen an, dann mich, dann wieder ihn und trat schließlich zu mir, um die Sauerei wegzuwischen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es auch meine Zöpfe erwischt hatte. Tja, zum Zielen war eben keine Zeit gewesen.
„Eeeeeekliiiig“, kommentierte A.J.
„Ab in dein Zimmer“, wies ihn die Schwester zurecht. „Ich komme nachher zu dir und prüfe deine Werte. Du weißt ganz genau, dass du hier nicht herumlaufen sollst. Und in den Zimmern anderer Patienten hast du auch nichts zu suchen.“
Mein Vater erwachte, setzte sich auf und versuchte zu verstehen, was hier geschehen war.
A.J. zog eine Grimasse, ging aber zur Tür. „Rein und raus zu kommen ist nicht einfach“, dozierte er. „Das schafft nicht jeder. Aber es gibt einen anderen Weg hinaus, den ich dir zeigen kann.“ Er zuckte mit den Schultern. „Für Noobs.“
„Wo herauskommen?“, wollte mein Vater wissen.
„Aus dem Spiel“, antwortete A.J. und hielt die Brille hoch.
Ich war immer noch damit beschäftigt, den „Noob“ zu verarbeiten, und hätte ihm schon gezeigt, dass ich keiner war. Aber leider ging es mir immer noch schlecht, und ich lag immer noch mit tausend Knochenbrüchen in einem Krankenhausbett, während die Schwester an mir herumwischte. Also hielt ich den Mund und ließ A.J. ziehen.
Ich würde ihm schon noch zeigen, was ich draufhatte. Ich war kein Noob.
Was für ein Gamer war ich denn, wenn ich nicht einmal in der Lage war, Minecraft zu spielen?
Kapitel 3
Meine Mutter stand im Zimmer und sprach mit jemandem, als ich die Augen öffnete. Um mich herum war es hell, und einen Moment lang schien es so, als wäre ich wieder im Spiel. Alles fühlte sich so unecht an, und die Bilder kamen mir für wenige Sekunden kantig und undefiniert vor, bis sich der Schlaf aus meinen Augen verzogen hatte. Vielleicht war ich immer noch traumatisiert von A.J.s VR-Brille und der rüden Spielunterbrechung. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, mich an alles zu gewöhnen.
„Hey“, sagte meine Mutter. Sie trat zum Bett und griff nach meinen Zöpfen, um sie über meinem Kopf zu drapieren. „Ich habe gehört, du hattest eine anstrengende Nacht.“
Ich zuckte die Achseln oder versuchte es zumindest. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob sie sich überhaupt bewegten.
Dr. Nay trat zu uns. Heute trug sie ihr Haar in einem Knoten. „Du bist also A.J. begegnet.“ Sie seufzte dramatisch. „Er weiß, dass er die Zimmer anderer Patienten nicht betreten darf. Er ist ein wenig übereifrig und nutzt stressige Zeiten wie Schichtwechsel immer wieder schamlos aus.“
Ich blickte an Dr. Nay vorbei und sah einen uniformierten Polizisten, der sich an der Tür herumdrückte. Mein Körper versteifte sich. Eins der Geräte piepste seltsam, und Dr. Nay runzelte die Stirn. Dann warf sie dem Polizisten einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Er nickte kurz und verließ das Zimmer.
„Seien Sie A.J. nicht böse“, beschwichtigte ich. „Ich bin sicher, er wollte nur nett sein.“
„Das verstehe ich, Bianca. Aber deine Genesung ist jetzt das Wichtigste“, erklärte Dr. Nay. Sie zauberte ein neues Hologramm auf ihr Tablet und hielt es zwischen uns. Diesmal handelte es sich um ein Diagramm mit hohen Kurven und tiefen Tälern. „Als A.J. gegen zwei Uhr in dein Zimmer kam, bewirkte das einen Anstieg deines Adrenalinspiegels und eine erhöhte Herzfrequenz.“
Dr. Nay machte eine kurze Pause und deutete auf die Kurve mit dem höchsten Ausschlag. Dann warf sie einen prüfenden Blick auf eins der Geräte in der Nähe meines Kopfes.
„Erinnerst du dich, was passiert ist?“
„Ich habe mich übergeben“, gab ich zu. „Wegen des Spiels.“
Dr. Nay blinzelte verwirrt. „Welches Spiel?“
„Minecraft“, gab ich zurück. „A.J. hat mir seine VR-Brille vorgeführt, und davon ist mir ein wenig schwindelig geworden.“
„Was bedeutet das?“, warf meine Mutter ein.
„Wir haben auf der Kinderstation mehrere VR-Geräte. Zur Unterhaltung von Kindern, die hier lange Zeit verbringen müssen. Ich war mir nicht sicher, ob Bianca schon stabil genug ist, um eines auszuprobieren.“
Ich dachte an meine Reaktion, nachdem mir A.J. seine Brille aufgesetzt hatte, und musste der Ärztin zustimmen. Ich war wohl wirklich noch nicht stabil genug. Andererseits hatte ich die Nase gestrichen voll davon, diese Decke anstarren zu müssen. Und von Hologrammen ebenfalls.
„Darf ich auch eine haben? Bitte?“
Dr. Nay schüttelte den Kopf, und ihr Haarknoten wippte energisch.
„Nicht, ehe wir noch ein paar Tests durchgeführt und sichergestellt haben, dass es eine gute Idee ist. Du hattest immerhin eine Gehirnerschütterung, und ich weiß nicht, welche Auswirkungen VR-Brillen darauf haben.“
„Okay, aber was ist mit Lonnie? Niemand sagt mir, was mit Lonnie passiert ist.“
Dr. Nay sah meine Mutter an, die beim Klang seines Namens sofort blass wurde. „Du musst dich auf deine eigene Genesung konzentrieren“, meinte die Ärztin.
Ich musterte das Gesicht meiner Mutter. Dort stand nicht