Mirage - Die Schattenprinzessin - Somaiya Daud - E-Book
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Mirage - Die Schattenprinzessin E-Book

Somaiya Daud

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Beschreibung

In einer fernen Welt: Amanis Heimatplanet Cadiz ist seit Langem grausam unterdrückt vom Volk der Vath, das aus einer fremden Galaxie gekommen ist. Ausgerechnet am Festtag von Amanis Erwachsenwerden tauchen plötzlich Kampfroboter auf und entführen sie an den Hof des Vath-Königs. Als Amani dessen einzige Tochter sieht, versteht sie schlagartig, warum: Sie ähnelt Prinzessin Maram wie ein eineiiger Zwilling. Der perfide Plan: Die Prinzessin ist allgemein verhasst, also soll Amani in gefährlichen Situationen als ihr Double einspringen. Jeder Versuch, sich der tödlichen Aufgabe zu entziehen, wird im Keim erstickt. Amani ist verzweifelt – bis sie den ebenso gutaussehenden wie klugen Prinzen Idris trifft. Er scheint als einziger zu sehen, dass die Prinzessin verändert ist. Doch Idris ist niemand anderes als Marams Verlobter, und je näher Amani ihm kommt, desto gefährlicher wird ihr Spiel mit dem Feuer.

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Seitenzahl: 366

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DAS BUCH

Amanis Heimatmond Cadiz leidet seit Langem unter den grausamen Vath, die eines Tages wie aus dem Nichts aus einer fremden Galaxie gekommen sind und seither über alle Planeten herrschen. Als ausgerechnet am Festtag ihres Erwachsenwerdens Kampfroboter auftauchen und Amani an den fernen Hof des Vath-Königs entführen, verändert sich das Leben des verträumten Mädchens für immer. Was wollen die Vath von ihr? Soll sie versklavt oder getötet werden wie bereits so viele Menschen vor ihr?

Doch dann steht Amani der einzigen Tochter des Königs gegenüber, und sie beginnt zu verstehen: Sie ähnelt Prinzessin Maram wie ein eineiiger Zwilling. Da die Thronfolgerin verhasst und von Anschlägen bedroht ist, soll Amani von nun an in gefährlichen Situationen als ihre Doppelgängerin einspringen. Eine tödliche Aufgabe, der sie sich nicht entziehen kann. Amani ist verzweifelt – bis sie den geheimnisvollen Prinzen Idris trifft. Er scheint als einziger zu sehen, dass die Prinzessin verändert ist. Doch Idris ist niemand anderes als Marams Verlobter, und je näher er und Amani sich kommen, desto größer wird die Gefahr, in der sie beide schweben …

DIE AUTORIN

Somaiya Daud promoviert gerade an der University of Washington in englischer Literatur. Neben ihrem Studium arbeitete sie als Buchhändlerin für Kinder- und Jugendbuchliteratur. In ihrer Freizeit begeistert sich Somaiya Daud für arabische Poesie und Sternbilder. Mirage, der Auftakt zu einer atemberaubenden Sternensaga, ist ihr international gefeierter Debüt-Roman.

Somaiya

Daud

DIE SCHATTENPRINZESSIN

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Sabine Schilasky

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Mirage bei Flatiron Books, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Sumayyah Daud and Alloy Entertainment

Published by arrangement with Rights People, London,

and Alloy Entertainment, LLC

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung

eines Originalentwurfs von © Erin Fitzsimmons

und einer Illustration von © Bill Elis

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-20642-0

V001

Meiner Mutter,

ohne die dieser Traum nie wahr geworden wäre

Prolog

Er ist der Einzige in seiner Familie ohne die Daan. Sie sagen, das mache ihn perfekt – keine traditionelle Zeichnung in seinem Gesicht, anhand derer man ihn identifizieren könnte, sollte er sterben. Keine Möglichkeit, ihn zu seiner Familie zurückzuverfolgen. Er ist jung, noch keine fünfzehn, zu jung für die Daan-Zeremonie. Das erklärt sie ihm, als sie kommt, um ihn auszuwählen.

Dass er jung ist, dass er fähig ist und dass er verlässlich ist. Dies, sagt sie, ist alles, worauf es ankommt.

Er fühlt sich nicht jung. Er hat Hunger. Ein Hunger, der Tag und Nacht an einem nagt, bis er zu so einem beständigen Gefährten wird, dass man nicht mehr weiß, wie man ohne ihn leben soll. Er fühlt sich abgehärtet, weil er Schläge einzustecken versteht und weiß, wie genau er fallen muss, wenn ein Wächter ihn mit einem Stock schlägt. Er ist wütend, so wütend, erfüllt von einer Wut, die nicht mehr befeuert werden muss.

Er ist unsichtbar inmitten eines Meers aus unsichtbaren Gesichtern.

Die Menge ist stumm, aber das ist sie bei solchen Ereignissen immer. Die Leute sind ernst. Zu ernst. Die Adligen sitzen auf Samtkissen hinter einem goldenen Tau, doch diejenigen, die stehen, die hinauf zum Podium blicken und warten, dass sie erscheint, das sind die Armen. Die Hungrigen. Die Schwachen. Sie sind hier, weil sie es sein müssen.

Die Makhzen kichern miteinander wie schmuckbehangene Vögel. Ihre Gewänder glitzern im Sonnenlicht, Degen blitzen auf, wenn die Männer sich in der drückenden Sommerluft bewegen. Es ist ein Wunder, dass einige von ihnen Andalaan sind, denn nun sehen sie alle aus wie Vathek. Sie haben die Vathek-Herrschaft anerkannt. Trotzdem würden sie sich nicht so kleiden, nicht, wenn sie im Herzen wahrhafte Andalaan wären.

Er denkt an seine kleine Schwester, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnt. Zwei Sommer ist es her, seit sie starb, der Bauch aufgebläht vom Hunger. Sein Vater war längst fort, zu schwach, um sie zu ernähren, und zu schwach, um zu bleiben.

Eine Schwester ist ihm noch geblieben, ein Bruder und seine Mutter. Später wird man sich um sie kümmern. Das hat sie geschworen. Ein Ehemann für Dunya. Ein Cottage weit weg von der Stadt für sie alle, mit Zugang zu Getreide und einem Garten, vielleicht sogar Vieh. Weit weg von allem, was sie kennen, aber immerhin eine Chance auf ein neues Leben.

Seine Hände schwitzen. Er hat hierfür trainiert, ist bereit, doch noch nie hat er ein Leben genommen.

Das Blut stirbt nie, erinnert er sich. Das Blut vergisst nie.

Dies geschieht für ein höheres Ziel – wichtiger als sein Leben, als irgendein Leben. Diese Dinge müssen getan werden, denkt er. Im Namen von Andala. Im Namen der Freiheit.

Als sie die Stufen zum Podium hinaufsteigt, erstaunt ihn, dass jemand, der so sehr wie seinesgleichen aussieht, fähig ist, solchen Schrecken zu verbreiten. Er hat die Geschichten gehört und weiß, dass manches durch das Weitererzählen verfälscht wird. Doch sein Leben wie das seiner Geschwister und Nachbarn bezeugt, was daran wahr ist. Die Besatzungsmacht ist grausam. Deren Erben sind noch grausamer.

Die Sonne bringt das Silber seiner Waffe zum Funkeln. Er hebt sie an, zielt und feuert.

Zweimal.

Mizaal-Galaxie

Ouamalich-System

CADIZ,

EIN MOND VON ANDALA

1

Auf einem kleinen Mond, der einen großen Planeten umkreiste, gab es ein kleines Bauernhaus in einem kleinen Dorf, in dem sich eine Schatulle befand. Und in dieser Schatulle war eine Feder.

Die Schatulle war alt, jedes Muster, alle Farbe schon seit Langem abgerieben. Sie roch nach Safran und Zimt, scharf und süß. Bei der Feder lagen ein alter Siegelring, eine rote, in Harz gegossene Blüte und ein Streifen grüner Samt, an den Rändern ausgefranst.

Als ich klein war, schlich ich mich oft ins Zimmer meiner Eltern, um in die Schatulle zu spähen. Und sie wurde für mich umso geheimnisvoller, als meine Mutter begann, sie vor mir zu verstecken. Die Feder faszinierte mich. Eine Fünfjährige hat keine Verwendung für einen Ring, eine Blume oder Stoff. Doch die Feder eines magischen, ausgestorbenen Vogels? Wie alles aus der alten Welt rief sie nach mir.

Die Feder war schwarz, und hielt ich sie ins Licht, schimmerte sie in lauter Blau-, Grün- und Rottönen, als wirke ein Zauber von unsichtbarer Hand, der die Farben oszillieren ließ. Sie stammte von einem Tesleet-Vogel, sagte meine Mutter, einem jener Vögel, die man einst für Boten von Dihya hielt.

Wollte Dihya jemandem ein Zeichen geben, reichte er ihm die Feder. Wollte er jemanden berufen, ihn zum Handeln auffordern, schickte er den Vogel selbst. Es war eine heilige und ehrenvolle Mission, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Krieg, Pilgerschaft, das Schicksal der Nation: Darum ging es, wenn der Tesleet jemanden rief.

Mein Großvater empfing einen Tesleet, doch meine Mutter sprach nie über ihn oder seine Mission.

»Ein törichter Mann, der vor Kummer über alles starb, was er nicht erreichte«, sagte sie einmal zu mir.

Ich starrte in die alte Schatulle, da verschwamm meine Sicht und richtete sich nach innen. Bald ging die Sonne unter, und ich durfte keine Zeit mehr mit dem Betrachten der Feder vergeuden. Doch sie rief nach mir, wie sie es schon getan hatte, als ich ein kleines Mädchen war, und gedankenverloren strich ich mit dem Daumen über ihren gewölbten Kiel.

Auf Cadiz oder unserem Mutterplaneten Andala gab es keine Tesleet-Vögel mehr. Wie vieles andere aus der Kindheit meiner Mutter waren auch sie fortgezogen, ausgestorben oder ausgerottet. Uns blieben nur Relikte, Spuren von dem, was einst war und wahrscheinlich nie wieder sein würde.

Als sich meine Mutter in der offenen Tür räusperte, zuckte ich zusammen.

»Amani«, war alles, was sie sagte, wobei sie eine Augenbraue hochzog.

Es war zu spät, die Schatulle zu verstecken, und ich konnte nichts gegen das schlechte Gewissen tun, weil ich mich wieder mal ins Zimmer meiner Eltern geschlichen hatte, nur um den Inhalt der Schatulle zu betrachten.

Doch meine Mutter sagte nichts, lächelte nur und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu.

»Hat … hat dein Vater dir die Feder gegeben?«, fragte ich schließlich und reichte ihr die Schatulle.

Ihre Augen wurden ein wenig größer. Einen Moment lang dachte ich, dass sie nicht antworten würde.

»Nein«, sagte sie leise, während sie den Deckel schloss. »Ich fand sie einige Zeit nachdem der Vogel fort war. In einem Moment der Schwäche in einem Gebüsch.«

Selten sah ich meine Mutter so wie jetzt, weich und wehmütig, als erinnerte sie sich an freundlichere Zeiten. Sie hatte zwei Kriege überlebt: den Bürgerkrieg und danach die Vathek-Invasion und die anschließende Besatzung. Sie war hart, hatte ein Rückgrat aus Stahl, unbeugsam, unbezwingbar und nicht zu brechen.

»Was war dein Moment der Schwäche?«, fragte ich. Ich würde keine Antwort bekommen. Bekam ich nie.

Doch meine Mutter überraschte mich, indem sie lächelnd sagte: »Ich lief vor der Liebe davon, vor deinem Vater, um genau zu sein. In meinem Herzen erkannte ich die Fähigkeit deines Vaters, sich in einen anderen Menschen zu verlieren, und es machte mir Angst.«

Mir stand der Mund offen, was sie offenbar amüsierte. Ich wusste, dass meine Eltern einander liebten; das war für jeden offensichtlich, der die beiden beobachtete, trotz ihrer Streitereien. Aber nie hatte ich es meine Mutter sagen hören, es freiwillig zugeben …

»Was tust du überhaupt hier? Du musst dich für heute Abend vorbereiten.«

Ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte, deshalb schüttelte ich nur achselzuckend den Kopf.

»Weiß ich nicht. Ich – ich liebe sie einfach. Ich schätze, ich wollte sie mir wieder ansehen.«

Sie trat einen Schritt vor und hob mein Kinn an. Ich war vollständig ausgewachsen, und meine Mutter überragte mich immer noch um einen Kopf. Ihre Handrücken streichelten meine Wange, malten die Linien nach, wo ich meine Daan erhalten würde – die strengen geometrischen Tattoos, die meinen ersten Schritt ins Erwachsensein markierten. Ich hoffte, dass sie aussehen würden wie ihre: klar und kraftvoll. Sie zeigten der ganzen Welt auf den ersten Blick, wer sie war und woher sie kam.

»Mir ist klar, dass diese Woche schwierig ist«, sagte sie schließlich. »Schwieriger als die meisten anderen. Aber sie geht wie alle anderen vorüber.«

Ich biss mir auf die Zunge, statt auszusprechen, was ich dachte. Wir sollten nicht warten müssen, dass sie vorbeigehe. Sie dürfte gar nicht erst sein. In dieser Woche mussten wir nicht nur unsere Felder brennen sehen, sondern auch, wie die Vath immer mehr wurden.

Doch meine Mutter versetzte mich wieder in stummes Staunen, denn sie gab mir die Schatulle zurück.

»Ich denke, die sollte an dich weitergereicht werden«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Die Hoffnung ist die Sache jüngerer Frauen, und dir wird sie mehr Trost spenden als mir.«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder, denn vor Schreck fehlten mir die Worte.

»Wirklich?«, brachte ich mühsam heraus.

Sie lächelte wieder. »Wirklich«, wiederholte sie und küsste mich auf die Stirn. »Vielleicht sendet Dihya dir eine zweite Feder, dann hast in diesen schweren Zeiten du dein eigenes Zeichen.«

Meine Mutter ließ mich allein in ihrem Zimmer zurück, wo ich noch kurz die Schatulle an meine Brust drückte. Nach einem Moment ging ich, um sie in meinem Zimmer zu verstecken, falls meine Mutter wieder nach oben kam und es sich anders überlegte.

Nun ging die Sonne ganz unter, und ich beeilte mich, die Schatulle wegzupacken und meine Sachen zusammenzusuchen. Khadija würde schon warten, und ich hasste es, wenn sie schimpfte, weil ich zu spät kam. Draußen im Dorf war es still. Normalerweise konnte ich um diese Zeit das leise Singen der Feldarbeiter hören, wenn sie auf dem Rückweg ins Dorf waren, und das Läuten der Abendglocke, das Trampeln von Stiefeln, die Rufe der Händler, die ihre Waren auf unserem kleinen Dorfplatz anpriesen, kläffende Hunde und meckernde Ziegen. All diese Geräusche fehlten.

Es gab keine Felder mehr, nicht nach dem Feuer, das die Imperial Garda letzte Woche gelegt hatte. Rebellen – oder eher verhungernde Diebe – hatten in einem der Torhäuser Zuflucht gesucht. Statt alle zu durchsuchen, hatten die Garda die Felder angezündet. Die Schreie der Rebellen waren bis auf den Marktplatz zu hören gewesen. Nachdem die Felder vernichtet waren, zählte man im Dorf die Wochen bis zum Winter und der Hungersnot, die sicher käme.

Wofür sollte ich mir meine eigene Feder, mein eigenes Zeichen wünschen? Nach dem hier – diesem Leben – brauchte ich kein Zeichen. Ich wollte etwas anderes, Greifbareres, und das sofort. Ich wollte die Welt.

Die Vath waren keine Siedler aus unserem Sternennebel. Sie hatten auf ihrem Planeten gelebt, Vaxor, und das meist friedlich und die galaktischen Gesetze befolgend. Doch sie hatten ihre eigene Atmosphäre vergiftet und waren gezwungen, auf einen anderen Mond umzusiedeln. Eine Notlösung für eine explodierende Bevölkerung und mangelnde Ressourcen. Manche sagten, es sei unvermeidlich, dass sie in andere Systeme expandierten.

Es gab Momente, in denen ich kurz die Welt sah, wie sie vor der Besatzung durch die Vath gewesen war. Wenn meine Eltern etwas sagten, ohne nachzudenken, wenn eine Tante aus dem Dorf einen Satz mit den Worten begann »Als ich jung war« oder wenn ein Mann ein altes Lied sang, das ich noch nie gehört hatte. Die Überreste unserer alten Lebensweise waren noch da, wenn auch kaum zu erkennen, und ich wollte sie zurück. Ich wollte, dass wir alle uns erinnerten, wer wir waren, wie stark wir waren. Und Ausdauer war Stärke, keine Frage, aber selbst ein Fels zerrinnt zu nichts, wenn man ihn zwingt, zu viel Regen auszuhalten.

Ich könnte mir all das bis zum Ende meines Lebens zurückwünschen, und nichts würde passieren. Wünschen löst nichts.

Seufzend nahm ich meinen Umhang und meine Schuhe und ging nach unten.

In der Küche steckte ich das letzte Essen ein, das wir mitnahmen. Wir feierten den Abend meiner Mündigkeit. Ich und zwölf andere Mädchen waren endlich volljährig, und wie es bei uns Sitte war, würde das ganze Dorf zu einer der verlassenen Kasbahs wandern. Dort sollten wir unsere Daan erhalten und in den Augen des Dorfs zu Erwachsenen werden, gefolgt von einem Abendessen und einer Feier mit Tanz.

»Amani.«

Ich drehte mich um und sah meinen Bruder Husnain an der Tür. Meine Eltern hatten drei Kinder: Aziz, den Erstgeborenen, der über zehn Jahre älter war als ich, mich, die Jüngste, und Husnain, der fünfzehn Monate älter als ich war. Ich hätte mich ratsuchend an Aziz wenden können, aber Husnain war eine Hälfte von mir, mein Zwilling, trotz der Monate zwischen uns. Er besaß all die Tollkühnheit und das Feuer eines Zweitgeborenen, die er, außer für mich, selten zügelte.

»Ich bringe dir etwas«, sagte er, als ich mich setzte.

Grinsend streckte ich die Hände aus. »Gib es mir.«

»Schließ die Augen.«

Ich tat es und ließ meine Hände ausgestreckt. Einen Moment später wurde etwas Breites, Dünnes in meine Hände gelegt. Ich linste hin, ehe es mir erlaubt wurde, und ließ die Papiere beinahe fallen, als stünden sie in Flammen.

»Amani!«

»Ist das …?«

Fast einen Monat war es her, dass wir nach Cadiza Prime gereist waren, in die Hauptstadt unseres Monds, um einige Sachen für die kleine Landwirtschaft zu besorgen, die meine Brüder und mein Vater auf unserem winzigen Streifen Land betrieben. Ich war über den offenen Markt geschlendert, und auf der Rückseite eines Bücherstands hatte ich einen vergilbten Papierstapel entdeckt – Massinische Dichtung. Sie war viel zu teuer, um auch nur daran zu denken, sie zu kaufen, und außerdem war die meiste religiöse Poesie gesetzlich verboten. Zu oft war sie während der Besatzung von Rebellen als Parole benutzt worden.

Massinia war die Prophetin unserer Religion, und obwohl wir alle sie liebten, liebte ich sie mehr als alles andere an unserem Glauben. So wie wir Lieder in ihrem Namen hatten, war auch eine ganze Tradition von Dichtung zu Ehren ihres Lebens und ihrer Taten entstanden. Diese Poesie war mir die liebste, und ich gierte nach ihr, egal, wie gefährlich es war, damit erwischt zu werden. Meine Hände zitterten, als ich nach der Sammlung griff.

»Du bist ein enormes Risiko eingegangen …«

»Ach, das ist egal«, sagte er. »Jetzt gehört es dir, und nur darauf kommt es an.«

Ich hatte Angst zu grinsen oder die Blätter zu berühren. Fast konnte ich es nicht glauben. Ich hatte noch nie eine Gedichtsammlung besessen.

»Oh, um Dihyas willen«, rief er lachend und wand das Band auf, bevor er mir die Blätter gab.

Ich würde sie auf Holoblätter übertragen oder in einer Datenbank sichern müssen. Man konnte unmöglich sagen, wie sie das Wetter hier verkrafteten, ob ich sie verlor oder sonst etwas geschah. Und ich musste sie verstecken, weil ich sonst Gefahr lief, dass die Magistrate sie konfiszierten.

Unsere Seelen kehren heim, wir kehren heim, lautete das erste Gedicht. Wir werden die Rosenzitadelle betreten.

Ich schloss die Augen, malte mir die imaginäre Zitadelle aus, die gewiss inzwischen zu Staub zerfallen war. Ich konnte mir den Schmerz der Dichterin vorstellen, konnte ihn wie eine Wunde in meinem Herzen spüren, als meine Seele sich umsah und etwas Wertvolles zurückließ. Ich wusste, wie es war, nach schnell verblassenden Erinnerungen zu suchen, zuzusehen, wie sie mit jedem Erinnern weniger wurden, bis nur noch ein Gefühl da war, eine ausgetretene Spur, auf der man gehen, die man sich aber nicht mehr ins Gedächtnis rufen konnte. Der Schmerz auf dem Blatt war greifbar – jeder hatte eine Zitadelle. Eine Geburtsstadt, die zu Schutt wurde, tote, in anonymen Gräbern verscharrte Angehörige, unerreichbar, es sei denn durch den Tod.

Und dies, solche Dichtung, war alles, was uns blieb, um unsere Erzählungen, unsere Musik, unsere Geschichte zu erhalten.

»Danke«, sagte ich schließlich und schlang die Arme um ihn. »Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freue!«

»Doch, ich ahne es«, sagte er lachend. Er küsste mich auf die Stirn. »Du bist mir der liebste Mensch auf der Welt, Amani. Ich bin froh, dir das zu geben. Dihya, weinst du?«

»Nein!« Aber ich fühlte den Kloß in meinem Hals, der sich jeden Augenblick in Tränen auflösen könnte. Ich hatte solche Angst gehabt vor dem heutigen Abend, war so nervös gewesen. Und am Ende war es ein Abend der Freude. Ich würde nicht bloß mit meiner Familie und meinen Freunden ins Erwachsenenalter eintreten, sondern mit einem Schatz, der mich in Nächten trösten könnte, die zu schwierig waren, um sie zu verstehen.

»Vielleicht schreibst du jetzt selbst etwas«, sagte er ein wenig sanfter.

Ich lachte schnaubend. Ich war eine erbärmliche Dichterin, das stand fest, und in einer Welt, in der sich Poesie nicht bezahlt machte, hatte ich keine Chance, besser zu werden.

»Du bist gut«, beharrte er. »Du solltest mehr schreiben.«

Ich wurde rot, lechzte nach Lob. Husnain war der Einzige, der jemals meine Gedichte gelesen hatte, aber ich wusste, dass er aus Zuneigung zu mir sprach, nicht, weil er irgendeine Ahnung hatte, wie ich im Vergleich zu wahren Dichtern abschnitt.

»In einer anderen Welt«, sagte ich und presste die Gedichte an meine Brust.

Unsere Seelen kehren heim, wir kehren heim.

Ich blickte auf und lächelte meinem Bruder zu, der anderen Hälfte meines Herzens. »Aber nicht in dieser. In dieser genügen die Gedichte hier.«

2

Die meisten aus dem Dorf hatten sich vor Sonnenuntergang auf den Weg gemacht, aber Aziz, Husnain und ich brachen mit wenigen anderen Familien später auf. Husnains Geschenk hatte ich in meiner Tasche, weil ich mich nicht so schnell von solch einem Schatz trennen wollte.

»Amani, verdirb das Pergament nicht, bevor du Gelegenheit hattest, alles zu lesen«, murmelte Husnain leise genug, dass Aziz es nicht hörte.

Ich blickte mich zu unserem großen Bruder um. Aziz war vor der Besetzung geboren. Von uns dreien war er der Einzige, der sich an das Leben vorher erinnerte und unsere Eltern außerhalb des Schattens kannte. Die Jahre unter der Besatzung hatten unseren Bruder hart gemacht. Er war weise, vielleicht zu weise für sein Alter, und verlässlich. Während Husnain stets blind losstürzte, beobachtete Aziz unentwegt, als würde ihm die Welt am Ende all ihre Geheimnisse verraten. Einschließlich seiner unbändigen jüngeren Geschwister.

»Werde ich nicht«, versprach ich Husnain und unterdrückte ein Grinsen.

»Ich hätte es dir erst hinterher geben sollen«, sagte er, wobei sein Grinsen mit meinem mithielt.

Draußen war die Luft unheimlich still bis auf das Geräusch der Vathek-Sonden, die über uns hinwegschwirrten und deren weiße Strahler den Boden absuchten. Links von uns war der Obstgarten verbrannte Erde, und die Luft darüber war rot gefärbt vom Dampf der Löschkanister, die von den Vath abgeworfen worden waren, als das Feuer seinen Höhepunkt erreichte.

Vor wenigen Wochen noch waren dort drei Felder nebeneinander gewesen – Granatäpfel und Oliven im Westen sowie ein Feld mit Rosen im Osten, die wir anbauten, um sie zu verkaufen. Aus ihnen wurde Parfüm gemacht. Nun sahen die westlichen Obstgärten aus wie Friedhöfe, wo sich Hunderte spindeldürre, aschfahle Arme zum roten Himmel reckten. Die Rosenbüsche und Rankgitter waren fort, vernichtet in der Feuersbrunst. Immer noch stiegen Rauch und roter Qualm aus den Löschkanistern auf. Dort würde jetzt über Jahre nichts mehr wachsen. Ich zwang mich wegzusehen. Es nützte nichts, an der Wunde zu rühren, sich zu fragen, wovon wir uns im kommenden Winter ernähren wollten oder was im nächsten Frühling arbeiten.

Sie behaupteten, dass die Brände wegen der »Rebellen« in der Gegend gelegt wurden. Doch der einzige Beweis, den die Garda dafür hatte, war ein Ausspruch, der angeblich in eines der Torhäuser geritzt worden war.

Das Blut stirbt nie. Das Blut vergisst nie.

Es war ein Spruch aus dem Buch Dihya; die meisten Leute glaubten, es wäre ein Zeugnis unserer Standfestigkeit und unseres Überlebens. Aber für manche bedeutete er, dass Massinia wiederkommen könnte – dass ihr Blut sie in der einen oder anderen Gestalt zurück in die Welt rief. Was es auch sein mochte, Rebellen benutzten ihn als Parole, jetzt erst recht.

Nun war das kleine Dorf aus Hütten und Häusern an seinem Rand, zusammen mit den Torhäusern, nur noch Schutt und Asche. Die Menschen, die dort gelebt hatten, jene, die überlebten, drängten sich um ein Feuer. Ich bekam ein schlechtes Gewissen: Meine Familie besaß nicht viel, aber unser Haus stand noch, und wir würden nicht hungern wie sie.

Ich griff nach dem Brot in meiner Tasche, das ich morgens für die Feier gebacken hatte. Meine Mutter und ich hatten Stunden am Dorfofen verbracht, zusammen mit all den anderen Mädchen, die ihre Reifenacht feierten, und genug Brot für das ganze Dorf gebacken. Wir hatten so viel, da konnte ich mir erlauben, einige Laibe herzugeben.

Aziz legte eine Hand auf meine Schulter und schüttelte den Kopf, als wisse er, was ich vorhatte.

»Sie werden beobachtet«, sagte er leise. »Die Garda glaubt, dass sich die Rebellen unter ihnen verstecken.«

Ich schluckte meine Wut hinunter und sah weg.

»Es ist schwer«, sagte er und drückte meine Schulter. »Aber denk an unsere Eltern, Amani. Was würden sie tun, wenn man dich fortschleppte, weil du einem Rebellen Brot gegeben hast?«

Ich blickte zu Boden. Er hatte ja recht. Aziz wusste besser als ich, was es kostete, wenn man für einen Rebellen gehalten wurde. Also nahm ich meine Hand aus der Tasche, ließ mich von ihm weiterziehen und die Felder und die Flüchtlinge hinter mir.

Schließlich erreichten wir die Kasbah weit jenseits der Dorfgrenze. Es handelte sich um ein altes Gebäude, ein heruntergekommenes Herrenhaus inmitten anderer verfallener Häuser, überwuchert von Palmen und Feigenbäumen. Einst könnte sie einer wohlhabenden Familie gehört haben, doch heute war sie an solchen Abenden die Zuflucht von Bauern und Dorfbewohnern. Lichter schienen hinter kaputten Fenstern, und Musik stieg in die Luft auf, vermischte sich mit den Geräuschen des Winds und der Wildnis. Am Himmel über der Kasbah schien unser Mutterplanet Andala wie eine überreife Orange. Bei solch einem Anblick war es leicht, alles zu vergessen: unsere Armut, die Herrschaft der Vath, den drohenden Verlust, der täglich über unseren Eltern schwebte.

Es blieb noch genug Zeit, den Hof herzurichten und uns anzuziehen. Alle Mädchen, die heute Nacht mündig wurden, hatten Privatzimmer in der Kasbah, die sie vor den Feierlichkeiten nutzen konnten. Das Geplapper der Freundinnen hob und senkte sich, während meine Mutter mir half, Kaftan und Schmuck anzulegen.

Als ich in den Spiegel sah, überkam mich ein Angstschauer. Meine Mutter und ich sahen uns unheimlich ähnlich. Sie war größer, aber wir hatten den gleichen braunen Teint, die gleichen ausgeprägten Wangenknochen und das gleiche spitze Kinn. Ihr Haar war dick und lockig wie meines und schien genauso zu hoch an der Stirn zu sprießen.

Doch damit hörten die Ähnlichkeiten auf. Meine Mutter hatte mehr Schrecken durchlebt, als man zählen könnte, und sprach nie von ihnen. Trotzdem war ihre Stärke für jeden zu erkennen, der hinsah. Sie war unerschütterlich, und ich – ich war nicht wie meine Mutter. Ich glaubte gern, dass ich mutig war und feste Überzeugungen hatte, nur war ich nie auf die Probe gestellt worden. Ich hatte nichts von dem durchlitten, was sie erlebt hatte, und allein der Gedanke ließ mich innerlich erschaudern. Wie konnte ich mich dem Erwachsensein stellen, erwarten, eine Frau zu sein, wenn ich mir die Prüfungen meiner Mutter nicht einmal vorstellen wollte? Wie würde ich mich meinen eigenen stellen?

»Erwachsen zu werden ist beängstigend«, sagte meine Mutter, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Es ist klug von dir, skeptisch zu sein, denn es bedeutet, dass du es langsam und hoffentlich weise angehst.«

Sie drückte mich auf einen Stuhl vor dem Spiegel und machte sich an die Arbeit. Es musste nicht übermäßig viel Schmuck in mein Haar geflochten werden, weil wir dafür gar nicht das Geld besaßen. Aber die Eltern meiner Eltern waren vor der Besatzung Botaniker gewesen, und meine Mutter hatte einiges von ihrem Schmuck retten können. Von dem ihrer Schwester war ebenfalls etwas an sie weitergegeben worden, nachdem sie alle getötet worden waren.

Dies war alles, was mir von unserer Vergangenheit geblieben war – der Schmuck meiner Mutter und Rituale wie dies heute Abend. Bald hätte ich meine Daan – ein kleines, aber bedeutsames Erbe.

Es gab einen Reif, den ich schon seit Kindertagen liebte, alt und aus Eisengliedern, die wie Türen geformt und mit dunkelroten Steinen behangen waren. Der Kaftan war der von meiner Mutter, weiß mit roter Stickerei am Ausschnitt und in der Mitte vorn.

Als meine Mutter mir die Ohrringe mit den roten Steinen ansteckte, lächelte sie mir wieder im Spiegel zu. »So«, sagte sie, legte eine Hand an mein Kinn und hob es ein wenig an. »Du könntest eine Königin sein.«

Der Innenhof, in dem die Feierlichkeiten abgehalten wurden, war mit Lichterketten bespannt. Das alte Gebäude stand ganz am Rand der Mond-Hauptstadt. Mit dem Klang der Musik hellte sich meine Stimmung auf. In die Dattelpalmen waren helle goldene Lichter gewunden, die sich im Goldschmuck und den Stickereien der Kaftane spiegelten und von metallenen Teekannen und Teegläsern reflektiert wurden. Über die gesamte Länge des Innenhofs waren niedrige Tische mit Kissen zu beiden Seiten aufgestellt, und das ganze Dorf hatte es zur Feier geschafft. Am Nordende war eine kleine Bühne, auf der eine Band einen alten Kushaila-Song spielte, zu dem die Leadsängerin schmachtend sang.

Die Bäume waren voller Lichter, und Laternen wippten munter im Springbrunnen in der Hofmitte. Dessen Plätschern untermalte die Gespräche der auf engem Raum feiernden Familien. Elf andere Mädchen und ihre Mütter drängten sich wartend neben mir in den Eingang. Leute drehten sich zu uns um, und bald starrten alle hin. Husnains Blick begegnete meinem, und er zwinkerte mir zu, was mich ein wenig beruhigte. Neben mir drückte meine Mutter meine Hand.

Plötzlich verstummten die Trommeln, verklangen die Unterhaltungen. Für eine lange Minute war nichts außer dem Wassergurgeln aus dem Brunnen zu hören. Dann blies jemand eine tiefe Note auf einem Horn, und die Trommeln setzten wieder ein.

Wir traten eine nach der anderen vor, als unsere Väter unsere Namen aufriefen.

»Amani, Tochter von Moulouda und Tariq.«

Der Sinn dieser Reifenacht war nicht allein die Feier. Unser eigentlicher Schritt ins Erwachsenenleben bestand darin, unsere Daan zu bekommen. Wir Mädchen setzten uns auf Kissen in der Mitte des Hofs und warteten.

Die Tattoo-Künstlerin war eine alte Frau, deren Daan mit den Jahren grün geworden waren und sich in die Falten ihres Gesichts gegraben hatten. Doch ihre Hände waren ruhig, und ich hielt trotz der Nadelstiche still. In früheren Zeiten hätte ich geblutet, und es hätte Wochen gedauert, bis die Wunden heilten – heute bräuchte ich nur wenige Stunden, bevor sie sich für immer gesetzt hätten.

Eine Krone für Dihya und Massinia nahm Form an, sich überlappende Diamanten, die sich über meine Stirn schlängelten. Scharfe Linien auf meiner linken Wange für meine Herkunft – mein Großvater beanspruchte für sich, ein direkter Nachfahre von Massinia selbst zu sein, und obwohl weder ich noch meine Mutter ihm glaubten, kamen ihre Zeichen auf meine linke Wange. Auf meine rechte kamen die Hoffnungen meiner Eltern für mich – Glück, Gesundheit, eine gute Seele, ein langes Leben. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß, während die alte Frau arbeitete, doch irgendwann wich sie lächelnd zurück.

»Baraka«, murmelte sie. Es war ein Segen.

Und einfach so war ich von der Kindheit ins Erwachsenenalter übergegangen.

Meine Mutter kam, stellte sich neben mich, ihre Miene so stoisch wie immer, und drückte meine Schulter. Unsere Daans waren gleich, beinahe Spiegelbilder des jeweils anderen, und in diesem Moment hoffte ich, dass ich ihnen gerecht würde, dass ich ihr gerecht würde. Ich legte meine Hand auf ihre und drückte sie. Mit diesen Zeichen könnte ich mich künftig allem stellen. Ich hoffte, sie würden mich zu Freude und Liebe führen anstatt zu Kummer.

Ich folgte der Reihe von anderen Mädchen und deren Müttern durch den Hof, zwischen den Familien hindurch, die uns anschauten, lachten und Glückwünsche heulten, zu einem Bankett-Tisch am Nordende. Diejenigen von uns, die heute Abend gefeiert wurden, sollten vorn an dem Tisch sitzen, zusammen mit den alten Frauen aus dem Dorf und unseren Müttern. Als ich sie plaudern hörte, wurde mir das Herz leichter. Auf unserem kleinen Mond gab es sonst keinen Ort für solche Zusammenkünfte. Die meisten von uns waren Kushaila, Angehörige der ältesten Stammesgruppe auf Andala. Meine Familie war nicht die einzige, deren Linie sich bis zum Terraforming unseres Monds zurückverfolgen ließ. Überall hörte man unsere Muttersprache anstelle von Vathekaar, unsere Musik und unser Lachen. Für einen Moment könnte ich mir einreden, in eine andere Zeit zurückversetzt zu sein, Jahrzehnte bevor der Schatten der Vath auf unseren Mond fiel und unseren Planeten und sein System eroberte.

Es war schwer, sich nicht von der Fröhlichkeit mitreißen zu lassen, und als die Sängerin von der Bühne kam und die Band ihren Platz einnahm, wurde die Musik schneller. Ich mochte die Mädchen zu meinen Seiten sehr; Khadija und Farah waren meine besten Freundinnen auf der Welt. Mit Khadija war ich aufgewachsen. Das Land ihrer Eltern grenzte an das meiner, und unsere Mütter waren schon gemeinsam zum Pflücken in die Obstgärten gegangen, ehe wir geboren wurden und ehe die Vath unseren Himmel für immer verdunkelten. Wir hatten zusammen unsere ersten Schritte gemacht, Lesen gelernt und waren gemeinsam zur Schule gegangen. Als es Zeit wurde, uns im Vath-Register eintragen zu lassen, waren wir gemeinsam zur Hauptstadt von Cadiz gezogen.

Bald schon packten sie beide meine Hände und zogen mich nach oben, um mit mir zur Musik zu tanzen, zu lachen und mitzusingen.

Ich konnte nicht sagen, wie lange wir tanzten; Freundinnen gesellten sich zu uns, und wir lachten und plauderten. In der Luft waberten Weihrauch und der scharf-süßliche Geruch von gekochten Pflaumen und Lamm. Die Welt schien zu glitzern und zu schwirren, als sich Fackelschein in Pailletten und falschen Edelsteinen fing. Ich wusste, wie wir alle aussehen mussten, denn ich war im letzten Jahre bei der Feier gewesen, auch wenn ich da noch zu jung gewesen war, um teilzunehmen. Wie hatte ich mich danach gesehnt, Teil der Gruppe zu sein, und nun war ich eine von ihnen: glücklich, rufend und kichernd, während wir einander in die Arme fielen.

Für eine Weile vergaß ich meine Sorgen. Rebellen, Hungersnot, Armut – nichts von allem spielte heute Abend eine Rolle.

Und dann krachten die Türen der Kasbah auf, und die Musik verstummte.

3

Es könnten Minuten oder nur wenige Sekunden gewesen sein, bis mein Körper begriff. Bis er bemerkte, dass die Musik verklungen war, das Lachen versiegt und die Freude blanker Furcht gewichen war.

Wuchs man in einer Zeit wie der unseren an einem Ort wie Cadiz auf, lernte man die Zeichen zu deuten. Die vollkommene Stille, gefolgt vom leisen, beinahe unhörbaren Klicken von Metall auf Stein. Das sanfte Sirren von Zahnrädern, gerade so laut, dass man es wahrnahm. Die Vath schickten selten Männer zu unseren Häusern. Und taten sie es – nun ja. Die Grausamkeit der Männer kannte kaum Grenzen. Daher war es eine gewisse Erleichterung, als die erste Gestalt, die durch die Tür kam, ein Imperial-Android aus Chrom und Silber war, der Körper von schaurigen Mustern übersät.

Imperial-Androiden waren bewusst anders gebaut als Menschen. Sie waren stets mindestens einen Kopf größer, die Skelette steinhart und silbern glühend, egal, wo sie waren. Ihre Gesichter waren leer, bis auf die weiße Lichtleiste, die als Augen diente, und ihre Köpfe waren von einem Fächer aus hartem Metall umrahmt. Der ursprüngliche Designer wählte eine brustkorbähnliche Torsoform, allerdings ohne irgendwelche Außenhülle oder Innenfutter, wodurch die Androiden nicht nur monstermäßig gruselig aussahen, sondern wie echte Monster. Sie waren nicht gebaut, um in den Krieg geschickt zu werden, aber mehr als zweihundert Pfund Metall brauchte man auch nicht, um Zivilisten einzuschüchtern und zu misshandeln.

Was die Androiden sehr wirkungsvoll konnten.

Die Brutalität der Vathek-Männer konnte es leicht mit der eiskalten Abwägung der Androiden von Leben gegen Tod aufnehmen. Und für sie war ein andalaisches Leben grundsätzlich ein verkraftbarer Verlust.

Die Androiden – es waren insgesamt acht – hatten immer noch nicht gesprochen. Sie standen im Pulk an der Tür, totenstill und starr.

Als sich eine Hand um meinen Arm schlang, zuckte ich zusammen, aber es war nur mein Bruder, der sehr ernst wirkte.

»Aziz und unsere Eltern?«, flüsterte ich.

»Hinten«, sagte er.

»Alle Mädchen im Alter von vierzehn bis zwanzig Jahren reihen sich an der westlichen Mauer auf«, verkündete einer der Androiden. Seine Stimme hallte blechern, als würde ein Mensch durch ein Metallrohr sprechen.

Ein eiskalter Schauer kroch mir über den Rücken, aber ich trat vor.

»Nicht«, sagte Husnain und umklammerte meinen Arm fester.

»Sei nicht blöd«, zischte ich. »Was ist, wenn sie die Gruppe prüfen und herausfinden, dass ich gelogen habe? Lieber gehe ich jetzt und bringe es hinter mich.«

Ich verstand Husnains Angst. Wir alle hatten die Geschichten gehört – von den Vath, die ohne Vorwarnung auftauchten, wenn sich zu viele von uns an einem Ort versammelt hatten. Sie fürchteten einen Aufstand, und wo sich Gruppen trafen, so hieß es zumindest, folgte bald eine Rebellion. Mein Vater humpelte, weil er in seiner Jugend bei solch einer Zusammenkunft gewesen war, und es gab Leute aus unserem Dorf – unter ihnen der ältere Bruder meines Vaters –, die von solchen Versammlungen verschwanden und nie wiedergesehen wurden. Ich war zu jung, um mich an viel zu erinnern, aber ich kannte diese beklemmende Furcht, die wir alle fühlten, wenn die Androiden ein Gebäude stürmten. Wir kannten das Heulen einer Frau, die ahnte, dass sie Witwe wurde.

Husnain sah aus, als wollte er widersprechen, das Gesicht wutverzerrt. »Das können die nicht machen!«

Die Vath hatten sich nie in die Feier einer Reifenacht eingemischt, weil sie eindeutig den jungen Menschen in unseren Dörfern galt, von denen es so wenige gab.

Oder wenigstens noch nie zuvor.

»Sie tun es«, sagte ich und tippte auf seine Hand. »Lass mich los, und es wird bald vorbei sein. Versprochen.«

Für einen Moment schien Husnain mit sich zu kämpfen, dann ließ er mich los. Wir waren einander nahe, weil wir uns in so vielem glichen. In diesem Punkt aber nicht. Ich verstand die Welt, in der wir lebten, die Konsequenzen, die jede Gegenwehr hatte. Husnain … hasste es, sich irgendwem zu beugen, ganz besonders der Ungerechtigkeit. Lieber würde er sein Leben im Namen einer Idee riskieren, statt einen weiteren Tag ums Überleben zu kämpfen.

Stumm teilte sich der Innenhof. Die Mädchen in dem angegebenen Alter gingen nach links, alle anderen nach rechts. Der Rauch von den Fackeln und Räucherstäbchen war kein traumähnlicher Nebel mehr, sondern hatte etwas Erdrückendes bekommen; er legte sich einem Leichentuch gleich über uns.

Zwei der Androiden kamen und teilten uns auf, einer trat vor die Reihe, einer hinter sie. Khadija stand neben mir, und wir hielten uns so fest bei der Hand, dass wir einander fast die Finger zerquetschten.

Im Feuerschein glitzerten ihre frisch gestochenen Daan auf Wangen und Stirn. Ich fand, dass sie schöner denn je aussah. Nachdem wir so viel im Leben geteilt hatten, was es richtig, dass wir auch unser Reiferitual gemeinsam erlebten. Wieder drückte sie meine Hand, während ihr Gesichtsausdruck genauso neutral blieb wie meiner. Es gab kein Training dafür, wie man eine Vathek-Begegnung überstand, doch wir alle wussten es. Keine Angst, keine Emotion, nichts zeigen, was ihren Blick auf einen ziehen konnte.

Alle paar Sekunden ertönte ein lauteres Sirren von den beiden Androiden, dann ein schrilleres Piepen, bevor sie zum nächsten Mädchen weitergingen. Erst als sie wenige Mädchen von uns entfernt waren, wurde mir klar, was sie taten: Ein breiter grüner Lichtstrahl wanderte das Gesicht eines Mädchens ab, dann kam ein Piepen, das es entließ. Sie versuchten, jemanden zu identifizieren.

Ich hörte Aziz’ Stimme im Kopf, die mich vor der Suche nach Rebellen warnte, vor dem Anschein, dass ich Verdächtigen helfen wollte. Hier gab es aber keine Rebellen – nur ein Bauerndorf, dessen Bewohner in den kommenden Monaten verhungern würden, weil ihr Lebensunterhalt zu qualmender Asche geworden war. Ich blickte mich um. Dort war Adil, der Parfümeur mit dem lahmen Fuß. Ibn Hazm, das letzte Mitglied einer Familie, die vor dem Krieg vermögend gewesen war. Khadijas Eltern, Bauern und Obstpflücker. Jeder hier kannte den Preis der Auflehnung. Keiner würde etwas riskieren.

Ich blieb still, den Blick auf eine flackernde Fackel fixiert, als ein Android vor mich trat, sich zu mir beugte und mein Gesicht scannte.

Das Geräusch, das dann kam, war kein scharfes Piepen, sondern ein deutliches Läuten, wie von einer Glocke. Es hielt an, während sich das Ding vor mich beugte und erstarrte, als sei es verwirrt.

Mein Herz raste – jede Abweichung war ungut. Anders bedeutete, dass die Vath einem mitten in der Nacht die Tür eintraten.

Ich beäugte die Tür, durch die sie jetzt gekommen waren, und sah zum Hinterausgang. Selbst wenn ich rannte, würde ich es nicht schaffen und wahrscheinlich die Leben aller meiner Freundinnen aufs Spiel setzen, wenn sie mir nachjagten.

»Nimm sie«, sagte der eine Android.

»Nein!« Husnain drängelte sich durch die Menge und kam neben mich. »Sie dürft ihr nicht haben.«

Ohne Vorwarnung zückte einer der Androiden einen Phaser aus der Hüfte und zielte damit auf seine Stirn. Androiden stellten ihre Phaser nie auf »Stoppen« ein. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zum Erstarren, zum Schreien, zum Aufgeben zu bringen. Doch obwohl Husnain älter war als ich, hatte ich immer auf ihn aufgepasst.

»Stopp!«, rief ich mit fester Stimme und stellte mich vor Husnain. »Kein Grund zur Gewalt.«

»Du kommst mit uns«, sagte der Android, der nun seinen Phaser herunternahm.

Ich verbarg meine zitternden Hände in den Rockfalten und schüttelte den Kopf. »Sagt mir, was ihr von mir wollt. Ich habe Rechte.« Noch während ich sie aussprach, klangen die Worte leer. Selbstverständlich hatte ich keine Rechte. Ich war ein armes Mädchen von einem gern vergessenen Mond. Und ich war jung, ohne irgendwelche Vermerke, die mich als loyal gegenüber den Vath ausgewiesen hätten.

»Du wirst willentlich mit uns kommen, oder müssen wir dich zwingen?«, fragte das Ding.

»Nein, werde ich nicht«, sagte ich. Zu spät wurde mir klar, wie dumm ich gewesen war. Man bäumte sich nicht gegen die Vath auf, und erst recht nicht gegen ihre Androiden, die sich weder von Flehen noch durch Gefühlsbekundungen beeindrucken ließen. Ich spürte, wie das Blut in meinen Fingerspitzen pulsierte, konnte beinahe hören, wie die Zahnräder in dem Androiden schwirrten, als er seine Aufmerksamkeit von mir auf Khadija lenkte.

Es gab kein Geräusch, als der Phaser feuerte, nur das plötzliche Lösen von Khadijas Griff an meiner Hand. Ihre Finger glitten aus meinen, und sie kippte nach vorn. Ihre Knie schlugen am Boden auf, dann fiel sie seitlich, die Augen aufgerissen vor Schreck.

Sie hatte ein weißes Gewand getragen, grün bestickt für die Zeremonie. Nun blühte Rot an ihrer Schulter auf wie eine Blüte, befleckte die grünen Garnlinien, die sich über ihren Ärmeln kreuzten. Ihre Arme fielen zur Seite, gekrümmt und puppengleich, in einer Pose, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ihr schwarzes Haar war heute Abend offen gewesen und fächerte sich um ihren Kopf, schwarz wie die Nacht. Es verbarg sie vollständig vor mir.

Jetzt bekam ich keine Luft mehr. Mein Herz hämmerte zu schnell, meine Lunge wurde zu klein, mein Körper taub.

Das Blut aus Khadijas Arm sammelte sich unter ihr zu einer Lache.

Ihre Mutter schrie als Erste, und dann brach Chaos aus. Ich konnte nicht denken und bewegte mich nur, weil Husnain mich zurückzog, mich zwang wegzulaufen. Er war nicht schnell genug. Niemand war jemals den Vath davongelaufen.

Eine metallene Hand umschlang meinen linken Arm, und ich wurde abrupt zurückgehalten.

»Nein!«, schrie ich, doch es war zu spät. Der Android packte die Schulter meines Bruders und schleuderte ihn beinahe halb durch den Innenhof. Husnain landete mit einem scheußlichen Knall an dem Springbrunnen, sackte zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Ich schrie wieder, aber die Androiden schleiften mich weiter, während ich mich wehrte, um mich trat und schrie, den Namen meines Bruders rief.

»Husnain!«, brüllte ich, wobei sich meine Kehle ganz wund anfühlte, aber er stand nicht auf, und niemand half ihm.

Ich wurde auf eine Rampe zu einem Vathek-Cruiser gezerrt, und das Letzte, was ich von zu Hause sah, war die Kasbah, beleuchtet von einem Feuer, das die Androiden gelegt hatten, bevor sich die Tür schloss.

Die Ziyaana

ANDALA

4

Ich hatte immerzu davon geträumt, Cadiz zu verlassen, andere Sternensysteme in unserer Galaxie zu besuchen. Aber niemals hätte ich mir erträumt, dass ich es gegen meinen Willen tun würde. Stumm und benommen ließ ich mich durch das Gebäude und auf ein Schiff zerren, wo man mich in eine Zelle sperrte.

Mir tat alles weh, und meine Sicht war verschwommen von ungeweinten Tränen. Unter mir war ein milchiger Glasboden, der sich grau färbte. Aber ich konnte immer noch sehen, wo ich war – und wohin ich gebracht wurde.

Cadiz war fort, und Andala, unser Mutterplanet, wurde minütlich größer. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und bemühte mich, die Panik in mir zu bändigen. Fieberhaft betete ich, dass meine Familie das Feuer der Kasbah überlebt hatte. Ich verstand es nicht, begriff nicht, warum sie mich mitgenommen hatten.

Das Bild von Husnain, der regungslos mitten in dem Getümmel lag, wollte mir nicht aus dem Kopf, oder das Geräusch, mit dem sein Körper gegen den steinernen Brunnen geprallt war. War er noch am Leben? Waren meine Eltern es? Hatte Aziz sie dort rausbringen können? Und was war mit Khadija? Der Phaserstrahl hatte ihren Arm getroffen, nicht ihre Brust, sollte eine Drohung sein, nicht töten. Aber sie hatte eine Menge Blut verloren … Meine Gedanken bewegten sich im Kreis, versuchten, dem Ganzen einen Sinn abzuringen, hofften auf das Beste.

Die Vath hatten mich geholt, aus welchem Grund auch immer. Meine Familie und das Dorf waren sicher.

Sie waren in Sicherheit.

Zumindest redete ich mir das ein. Ob ich es mir glaubte, wusste ich nicht.

Stunden vergingen, während ich zu dem beständig näher rückenden Planeten blickte. Schließlich wurde das Schiff langsamer, und Streifen von Wolken und Nebel verdeckten mir die Sicht. Als die Tür fauchend aufging, nahm der Boden wieder seine stahlgraue Farbe an. Ich verkrampfte mich, rechnete mit einem Imperial-Androiden. Stattdessen stand ein andalaisches Mädchen in der Tür. Sie war genauso angezogen wie ich, trug einen langen Kaftan, dessen Ärmel an den Handgelenken eingenommen waren, und eine kurze, ärmellose Jacke. Sie zog einen Schleier von ihrem roten Haar und dem braunen Sommersprossengesicht.

»Amani?«

Ich schwieg.

»Ich bin Tala«, sagte sie. »Du solltest mir folgen.«