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Miss Daisys gefährlichste Reise Miss Daisy will in Schottland für einen Artikel recherchieren. Der legendäre Luxuszug Flying Scotsman soll sie in den kalten Norden bringen. Zufällig trifft sie während der Reise auf eine alte Schulfreundin, die einen reichen Verwandten besuchen will, der im Sterben liegt. Doch plötzlich ist eines ihrer Familienmitglieder tot - war es Mord aus Habgier? Heimlich macht Miss Daisy sich unter den Mitreisenden auf die Suche nach dem Mörder.
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Seitenzahl: 344
Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.
Folgende Titel liegen vor:
Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Miss Daisy und der Tod im Wintergarten
Miss Daisy und die tote Sopranistin
Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman
Miss Daisy und die Entführung der Millionärin
Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser
Miss Daisy und der tote Professor
Miss Daisy und der Tote auf dem Luxusliner
»Ein Krimi der wohltuend sanften Sorte.« Brigitte
Mord im Flying Scotsman! Der legendäre Luxuszug ist gerade auf dem Weg von London in den kalten Norden Schottlands, als eine mysteriöse Leiche einen ganzen Clan in Verdacht bringt … Gut, daß auch Miss Daisy Dalrymple unter den Reisenden ist, jene scharfsinnige Journalistin, deren Beobachtungsgabe Scotland Yard schon in so manchem Fall aus der Bredouille geholfen hat. Zur großen Freude von Miss Daisy kann nun auch Alec Fletcher, der charmante Chief Inspector, nicht weit sein. Das einzigartige Ermittlerteam kreist die Tatverdächtigen mit raffinierten Methoden immer enger ein …
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Carola Dunn
Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman
Roman
Aus dem Englischen von Carmen v. Samson-Himmelstjerna
Inhaltsübersicht
Über Carola Dunn
Informationen zum Buch
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Danksagung
Stammbaum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Impressum
Mein besonderer Dank gilt Peter N. Hall, Steward der London and North Eastern Railroad und Mitglied der Historical Model Railway Society, für seine ausführlichen Recherchen zum Flying Scotsman von 1923. Für Fehler oder Tatsachenveränderungen im Interesse der Geschichte bin ausschließlich ich verantwortlich.
Ebenfalls danke ich den Bibliothekaren von Berwick-on-Tweed. Weil sie mir (mehr als einmal) so geduldig das Mikrofiche-Lesegerät erklärten, konnte ich Superintendent Halliday und seine Beamten im Berwick Journal von 1923 aufspüren.
Und schließlich habe ich Beryl Houghton vom Berwick Walls Hotel zu danken und mich gleichzeitig bei ihr zu entschuldigen. Das Hotel ähnelt dem Raven’s Nest Hotel nur hinsichtlich seiner Lage und seiner äußeren Erscheinung – die geschilderten Unannehmlichkeiten entstammen ausschließlich meiner Phantasie.
»Einen Monat also noch, was, Doktor?«
»Ich geb Ihnen höchstens fünf Wochen, Mr. McGowan, und daß das Ende nicht noch früher kommt, kann ich nicht versprechen.«
»Bah!« Der alte Mann schnaufte energisch auf, was angesichts seines totenkopfartigen Gesichts und der knöcherigen Hand, die an der geflickten Tagesdecke auf seinem Bett herumnestelte, überraschte. »Bin noch nie einem Arzt begegnet, der sich festlegen wollte.«
Der Arzt schürzte die Lippen, nahm seine schwarze Tasche auf und wandte sich der grauhaarigen, verhärmt aussehenden Frau zu, die am Fuß des Himmelbettes stand. »Ich stell zwei Rezepte für Ihren Onkel aus, Miss Gillespie, eins gegen die Schmerzen, und das andere ist ein Schlafmittel. Und nächste Woche komm ich dann wieder …«
»Den Teufel werden Sie tun!« protestierte Alistair McGowan laut. »Wenn nichts mehr zu machen ist, werd ich verdammt noch mal nicht auch noch Geld dafür bezahlen.«
Der Arzt zuckte mit den Achseln. »Bitte sehr. Dann sehe ich Sie also wieder, wenn ich den Totenschein ausfülle. Einen schönen Tag noch, Sir.«
Julia Gillespie führte ihn aus der dunklen, klammen, höhlenartigen Schlafkammer in den genauso dunklen und klammen, wenn auch weniger höhlenartigen Flur mit dem zerschlissenen Läufer. Während sie die prachtvolle Treppe aus dem siebzehnten Jahrhundert hinuntergingen, bemerkte sie zu ihrem Ärger die Staubschicht auf dem geschnitzten Eichenholzgeländer. Es war unmöglich, das Haus in einem ordentlichen Zustand zu halten, wenn Onkel Alistair sich schlicht weigerte, mehr als ein absolutes Minimum an Angestellten zu beschäftigen. Aber die Haupttreppe wenigstens sollte doch geputzt sein.
»Einen Monat?« sagte sie, denn es wurde ihr erst jetzt klar, was der Arzt gesagt hatte.
»Ungefähr. Sie werden die Familie benachrichtigen?«
»Erst wenn Onkel Alistair mir eine entsprechende Anweisung dazu gibt. Ich würde das sonst nie wagen. Einen Monat!« Ein schüchternes Lächeln leuchtete auf ihrem verhärmten Gesicht auf. »Es ist schlimm, so etwas zu sagen, Doktor, aber ich kann es kaum erwarten, Dunston Castle zu entkommen. Ich bleib hier keine Sekunde länger, als ich muß.«
»Haben Sie denn ein Auskommen?« fragte er knurrig.
»Hundert im Jahr. Davon kann ich leben, wenn ich knapp haushalte, und darin hab ich ja nun weiß Gott Übung.«
»Hmpf.«
Julia erkannte den Blick in seinen Augen: Verarmter Adel, stand darin, aber hatte sie nicht schon fast ein Vierteljahrhundert so gelebt, bis zum gegenwärtigen Jahr 1923? Vor fünfundzwanzig Jahren, noch vor der Jahrhundertwende, hatte die Familie beschlossen, sie auf dem Altar der Pflicht zu opfern. Die ältere Tochter von Onkel Alistair, Amelia, war verheiratet. Die jüngere, Geraldine, war davongelaufen und seitdem verschwunden, keiner wußte, wo sie steckte. Irgendwie war Julia nichts anderes übriggeblieben, als sich zu fügen.
»Meine Frau schickt beste Grüße«, sagte der Arzt, »und sie freut sich, Sie übermorgen wieder zum Kaffee zu sehen, wie üblich.«
»Danke sehr. Ich werd versuchen, zu kommen.«
Er stellte die Rezepte aus und verabschiedete sich. Julia eilte wieder hinauf in das Schlafzimmer ihres Onkels.
»Wo zum Teufel steckst du denn?« empfing er sie. »Mir ist kalt. Zieh die Vorhänge am Bett zu und bring mir noch eine Decke.«
»Ich werd ein Feuer anzünden lassen, Onkel.«
»Im April? Hab ich dir immer noch nicht beigebracht, daß ein gesparter Penny genauso viel wert ist wie ein verdienter Penny?«
So leise, daß er es nicht hören konnte, knurrte Julia seine andere Lieblingssentenz als Erwiderung: »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.« Doch war er schließlich der einzige, der unter seinem Entschluß zu leiden hatte, also unternahm sie auch nicht den geringsten Versuch, ihn zu überzeugen.
Sie zog vorsichtig den mürben Stoff der verblaßten Brokatvorhänge zu. Als sie die Hand nach dem Vorhang am Fußende ausstreckte, unterbrach er sie mit einer Geste seiner zur Klaue verkrampften Hand.
»Warte. Schreib heute meinem Rechtsanwalt und sag ihm, ich will ihn sehen. Donald Braeburn von Braeburn, Braeburn, Tiddle and Plunkett. Die Adresse findest du in meinem Sekretär.«
»Du möchtest, daß Mr. Braeburn den ganzen Weg von London hierher auf sich nimmt?«
»Dazu bezahl ich ihn doch, oder nicht?« fauchte der Alte. »Und es kostet ein hübsches Sümmchen, einen schottischen Rechtsanwalt in London zu haben, aber das ist es fast auch wert. Schließlich trickst so einer die blöden Engländer garantiert aus. Und dann schreib der ganzen Familie, sie hätte hier nächsten Montag zu erscheinen, und zwar pünktlich. Jeder einzelne muß angeschrieben werden, vergiß das nicht.«
»Und was ist, wenn sie sich nicht freimachen können?«
»Die kommen schon, wenn du ihnen schreibst, daß Braeburn auch unterwegs ist.« Sein leises Lachen klang hämisch. »Die Hälfte von denen wird hoffen, daß ich mein Testament ändere, und die andere Hälfte, daß ich es nicht tue. Mach dir keine Sorgen, die werden sich schon alle eiligst herbemühen.«
Die riesige Halle der King’s Cross Station war erfüllt vom hallenden Donnern der Preßlufthämmer. Dicke Staubwolken hingen in der Luft. Daisy steckte ihre Fahrkarte, luxuriöserweise erster Klasse, in die Handtasche, zog den Gurt der Kameratasche auf der Schulter höher und schaute sich, die Finger in den Ohren, um.
Das Chaos war auf den Zusammenschluß dreier Eisenbahngesellschaften zur London and North Eastern Railroad zurückzuführen. Warum der Zusammenschluß auch den kompletten Neubau von King’s Cross nach sich ziehen mußte, war Daisy unklar. Jedenfalls war ein Ergebnis, daß der Beamte am Fahrkartenschalter ihr nicht mit Sicherheit hatte sagen können, von welchem Gleis der Flying Scotsman heute abfahren würde.
Ein weiteres Resultat war, daß die sonst hier umherwuselnden Menschenmassen von einer Vielzahl von Bauzäunen und behelfsmäßigen Wänden in disziplinierte Bahnen gelenkt wurden. Nicht nur der Buchladen von W. H. Smythe war völlig ausgegrenzt, sondern auch die Verkaufsautomaten. Und Alec war an diesem Morgen auch nicht da, um sie mit einer Schachtel Pralinen zu verabschieden. Er war im Norden, da die Polizei von Northumberland in irgendeinem komplizierten Fall Scotland Yard hinzugezogen hatte. Daisy würde ihm wahrscheinlich nicht begegnen, da sie noch weiter in den Norden reiste. Sie war auf dem Weg zu einem Landsitz in der Nähe von Edinburg, um dort ihren nächsten Artikel für Town and Country zu recherchieren.
Ihr Kofferträger tauchte aus der Menschenmenge wieder auf und kämpfte sich mit ihren Taschen und der Reiseschreibmaschine zu ihr durch. Sie nahm einen Finger aus dem Ohr, und er brüllte hinein: »Gleis 5, Miss.«
Er führte sie zur Schranke, an der zu ihrer Beruhigung ein Schild angebracht war mit der Aufschrift: Flying Scotsman: London – York – Edinburg, Abf. 10.00 Uhr. Ein nervös wirkender Fahrkartenkontrolleur versuchte, mit einer langen Schlange fertig zu werden und gleichzeitig die Fragen verunsicherter Passagiere zu beantworten, die einen anderen Zug auf Gleis 5 erwartet hatten.
Daisys Kofferträger ging mit ihren Taschen vor, und sie stellte sich in der nur langsam vorrückenden Schlange an. Es sah aus, als würde der Zug ziemlich voll werden, und sie war froh, drei Pfund in den Erster-Klasse-Zuschlag investiert zu haben. Derartiges konnte sie sich erst leisten, seit sie von einer amerikanischen Zeitschrift einen Auftrag für eine Serie über die Londoner Museen erhalten hatte. Für kurze Reisen war auch die dritte Klasse gut genug; aber bei acht Stunden freute man sich über die Bequemlichkeit und die zusätzliche Beinfreiheit.
Trotzdem war es ein Jammer, daß sie sich nichts zu lesen hatte kaufen können, dachte sie, während sie auf dem Gleis an den glänzenden teakholzverkleideten Waggons entlangging. Die Passagiere in der ersten Klasse waren meist weniger gesprächig und etwas distanzierter als ihre Mitreisenden auf den billigen Plätzen. Es konnte also nur eine lange, langweilige Reise werden. Nun denn, sie konnte ja immer noch ausbüxen und sich in der dritten Klasse einen Platz besorgen, wenn es ihr langweilig wurde.
Nur eines wollte sie unbedingt: einen Fensterplatz. Sie stieg ein und ging den Gang entlang. Die ersten Abteile waren Raucher-Abteile, in den anderen waren beide Fensterplätze schon besetzt. Endlich kam sie an ein leeres, das auch ein Nichtraucher-Schild trug.
Fahrtrichtung oder nicht in Fahrtrichtung? überlegte sie. Das ist hier die Frage. Zögerlich stellte sie ihre Handtasche und Lucys Photoapparat auf den Sitz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, denn sie wollte bei ihrer Ankunft einigermaßen professionell wirken, und die schrecklichen Rußflöckchen, die durch das Fenster hereingeweht kamen, landeten einem ohne Fehl immer auf dem Gesicht. Das Fenster müßte garantiert geöffnet werden, da die Wettervorhersage mal wieder einen unverhältnismäßig warmen Tag verheißen hatte.
Tatsächlich war es im Zug schon unglaublich heiß. Warum die Heizung an warmen Tagen auf vollen Touren lief und einen an kalten Tagen vor Kälte bibbern ließ, war ein weiteres der kleinen unlösbaren Rätsel des Lebens.
Da Daisy nach dem Motto »Vor Ende Mai ist der Winter nicht vorbei« erzogen worden war, trug sie noch ihren grünen Wintermantel aus Tweed. Während sie ihn aufknöpfte, hörte sie aus dem Gang eine immer verzweifelter und immer lauter werdende Stimme.
»O Gott, o Gott, o Gott, ich halt es nicht mehr aus! Für so manchen ist der Matsch das Schlimmste, aber für mich ist das Grauenhafteste ein heißer Tag. Da will man nur noch eines: Cricket spielen oder in einem Boot herumlungern. Ich sag dir, ich halt …«
»Ganz ruhig, Raymond«, erwiderte eine junge Frau, und das Gelangweilte, Zerdehnte ihrer Stimme schien Daisy mit Zärtlichkeit, einer Mischung aus Liebe und Mitleid unterlegt zu sein. »Komm und setz dich, Liebling. Wir machen Fenster und Tür zu, und dann kannst du die Hände auf die Ohren tun.«
»Verzeih, Judith«, sagte er mit brechender Stimme. »Das sind diese verdammten Preßlufthämmer, die klingen genau wie … Mein Gott, wieso fährt dieser verdammte Zug nicht endlich los?«
Ein Granatentrauma. Daisy wußte, daß solche Erinnerungs-schübe, die zu heftig waren, als daß man sie ignorieren konnte, oft von lauten Geräuschen ausgelöst wurden. Die Verse Wilfred Owens gingen ihr durch den Kopf:
Welch Glocke läutet denen, die wie Vieh dahingerafft?
Nur der bellenden Kanonen schauerliche Wut.
Nur das rasche Knattern stotternder Gewehre schafft,
auszulöschen ihrer hastigen Gebete Mut.
Owen war ein Freund von Michael gewesen. Er war tot, wie Michael und Gervaise und zahllose andere auch. Wenigstens hatten die jetzt ihre Ruhe, dachte sie mit einem Kloß im Hals, anders als diese armen Teufel, die noch fünf Jahre nach Friedensschluß an Spätfolgen litten.
»Ein Granatentrauma, armer Kerl.« Der Kofferträger war wieder erschienen, wie der Geist aus Aladins Lampe. »Dem Sohn meiner Schwester geht’s genauso. Nimmt ihn immer unheimlich mit, kann ich Ihnen sagen. Ich hab Ihre großen Koffer in das Gepäckabteil geschafft, Miss, und hab den Wachmann dort angewiesen, daß er auf Ihre Tasche mit der Photo-Ausrüstung aufpaßt, wie Sie gesagt haben.«
»Danke sehr. Ja, die Schreibmaschine und die kleine Tasche hoch ins Netz. Und würden Sie die Kamera bitte auch da oben deponieren?« Sie gab ihm ein Trinkgeld, und er ging.
Es war wirklich unerträglich heiß im Abteil, aber bei geöffnetem Fenster würden der Lärm und der Schmutz der Umbauarbeiten eindringen. Daisy nahm ihre Baumwollhandschuhe ab, stopfte sie in die Tasche und zog dann den Mantel aus.
Dem Himmel sei Dank, daß sie der Wettervorhersage heute Glauben geschenkt und ein Sommerkleid angezogen hatte. Es war ein hübsches neues kurzärmeliges Kleid aus leichtem blauem Stoff mit weißen und gelben Margeriten. Eine blaue Schärpe ging um die niedrig angesetzte Taille. Daisy sah sehr hübsch darin aus, auch wenn sie ein bißchen molliger war, als die Mode es eigentlich erlaubte. Ein Jammer, daß Alec nicht da war. Bestimmt würde ihm auffallen, daß das Blau genau denselben Ton hatte wie ihre Augen – obwohl er ja nicht unbedingt zu Komplimenten neigte. Alles, was er je zum Thema ihrer Augen gesagt hatte, war ein Fluchen über jenen unschuldig tiefen Blick, der ihn dazu verleitete, indiskrete Äußerungen über seine Untersuchungen zu machen.
Sie legte den Mantel zusammengefaltet in das Netz. Sie mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, obwohl sie eigentlich nicht besonders klein war. Die Welt war eben auf die Männer zugeschnitten, dachte sie düster. Vielleicht würde sich das ja jetzt ändern, nachdem endlich auch Frauen das Wahlrecht bekommen hatten.
Als nächstes kam der Hut herunter, der heißgeliebte smaragdgrüne Cloche vom Selfridge’s Bargain Basement. Daisys Mutter wäre schlicht entsetzt, sähe sie sie ohne Handschuhe und Hut reisen, aber Mutter war ja weit weg. Es wäre doch einfach lächerlich, an Hitzschlag zu sterben, nur um den Konventionen Genüge zu tun. Außerdem hatte sie das ganze Abteil für sich allein, und der Zug sollte in Kürze abfahren, so daß sie wohl kaum jemand sehen würde.
Sie kniete sich auf den Sitz und schaute in den Spiegel, um ihre Haare zu richten. Die Kürze ihrer honigblonden Locken überraschte sie noch immer. Auch ihrer Mutter hatte sie noch nicht erzählt, daß sie sich praktisch hatte kahlscheren lassen. Das würde ein Gezeter, wenn Mutter das herausfand!
Alec hatte gesagt, mit den kurzen Haaren sähe sie aus wie Lady Caroline Lamb. Er hatte außerdem bemerkt, daß der kleine Leberfleck an ihrem Mund, den kein Gesichtspuder verdecken konnte, wie eins jener Schönheitspflaster aus dem achtzehnten Jahrhundert aussah, die man damals »The Kissing« genannt hatte – aber geküßt hatte er sie deswegen immer noch nicht.
Vielleicht wird er das auch nie, dachte Daisy mürrisch. Als sie bei ihm zu Hause zum Tee eingeladen gewesen war, hatte seine Mutter, ohne es direkt in Worte zu fassen, sehr deutlich gemacht, daß sie es mißbilligte, wenn die Mittelschicht sich mit der Aristokratie mischte. Natürlich dachte Daisys Mutter, die verwitwete Lady Dalrymple, ganz genau dasselbe, oder vielmehr, sie würde dasselbe denken, wüßte sie von der Freundschaft ihrer Tochter mit Detective Chief Inspector Alec Fletcher. Als würde ein Titel wie dieses »Honourable« vor dem Namen einen über den Rest der Menschheit erheben!
Wenigstens mochte Alecs Tochter Belinda sie gut leiden.
Die Sommersprossen auf Daisys Nase waren zu sehen. Sie bedeckte sie mit Puder und frischte ihren Lippenstift auf. Dann setzte sie sich und lehnte den kurzgeschorenen Kopf an die gepolsterte, mit einem Deckchen geschützte Kopfstütze. Der hellbraun und rot gemusterte Sitz war tatsächlich bequemer und weicher als in der dritten Klasse. Vielleicht könnte sie sogar auf der Reise etwas schlafen.
Draußen pfiff es, und die Türen wurden knallend geschlossen. Der Flying Scotsman glitt langsam das Gleis entlang, rumpelte mit zunehmender Geschwindigkeit über die Schwellen und richtete sich dann in einem regelmäßigen Rhythmus ein. Signalleuchten und Schaltanlagen, Echos werfende Tunnel und entgegenkommende Rangierzüge wurden durch die vom Rauch geschwärzten Rückseiten von Reihenhäusern abgelöst, in deren winzigen Gärten bunt die Montagmorgen-Wäsche flatterte. Daisy stand auf, um das Fenster zu öffnen und die kühle Morgenluft hereinzulassen.
»M-Miss Dalrymple?«
Sie wirbelte herum. In der offenen Tür zum Gang stand ein kleines, dünnes Mädchen mit rötlich blonden Zöpfen. Sie trug einen dunkelblauen Schuluniform-Mantel, dazu Hut und schwarze Strümpfe. Sie sah erhitzt und unglücklich aus, so als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Belinda! Was machst du denn hier?«
»Ich dachte, ich würd Sie nie finden. Ich dachte, ich wär in den falschen Zug gestiegen oder daß Sie nicht …« Sie brach in Schluchzen aus.
»Mein Schätzchen!« Daisy streckte die Arme aus. Belinda stürzte auf sie zu und umklammerte verzweifelt ihren Hals.
Nach einer festen Umarmung, als das Kind sich mit Daisys Taschentuch die Tränen getrocknet hatte und soweit beruhigt war, daß es seinen Mantel aufknöpfen konnte, veränderte sich Daisys Ton allerdings.
»Ist ja schon prima, daß du mich gefunden hast«, sagte sie streng, »aber was in aller Welt machst du eigentlich hier?«
»Ich bin weggelaufen«, sagte Belinda leise, den Blick fest auf den Knopf gerichtet, an dem sie gerade herumfummelte.
»Von der Schule?«
»Nein, wir haben doch Osterferien. Ich wollte nur meinen besten Mantel und Hut anziehen.«
»Also bist du fortgelaufen von …?«
»Von Gran. Meiner Großmutter.«
Daisy drückte sich selbst die Daumen und betete, daß es die Großmutter mütterlicherseits sein möge, von der sie nichts wußte. Ahnungsvoll fragte sie: »Mrs. Fletcher?« Sie stöhnte leise auf, als Belinda nickte.
»Granny hat mich nicht zu Deva gehen lassen«, sagte sie, immer noch voll Zorn, »und ich durfte sie auch nicht einladen oder sie im Park treffen, um mit ihr zu spielen. Nur weil sie aus Indien kommt. Also hab ich gedacht, ich fahr los und frag Daddy, ob ich darf. Daddy sagt immer, man darf niemanden danach beurteilen, wo er herkommt oder wie er aussieht oder wie er redet, weil vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind. Außerdem spiel ich in der Schule mit Deva, also warum soll ich das nicht auch zu Hause tun?«
»Weiß ich auch nicht«, log Daisy. »Aber es war sehr böse von dir fortzulaufen. Deine Großmutter wird sich schreckliche Sorgen machen. Und wie kommst du darauf, daß du mit diesem Zug zu deinem Vater findest?«
»Ich hab’s im Atlas nachgeschlagen, den meine andere Gran und Granddad mir zu Weihnachten geschenkt haben. Daddy ist in Northumberland, und Sie haben doch neulich eine Nachricht für ihn hinterlassen, daß Sie heute mit dem Flying Scotsman nach Schottland fahren. Und Northumberland liegt doch direkt daneben.«
»Northumberland ist aber eine große Grafschaft, und Schottland ist ein ganzes Land. Ich weiß noch nicht einmal, wo genau dein Vater ist, und wir haben auch überhaupt nicht ausgemacht, uns zu treffen.«
»Oh.« Belindas Augen, die noch grüner leuchteten als Alecs, wurden in ihrem sommersprossigen Gesicht (mehr Sommersprossen, als Daisy je gehabt hatte) riesig weit. »Ach du liebes, liebes bißchen.«
»Was soll ich denn nur mit dir anstellen, um Himmels willen?« Daisys Augen richteten sich auf die Notbremse über dem Fenster. Sie hatte sich schon immer eine Ausrede gewünscht, an dieser roten Kette zu ziehen. Strafe für mißbräuchliche Nutzung 40 Shilling, las sie, und das brachte sie jäh wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Geld – Fahrkarte – »Wie bist du überhaupt in den Zug gekommen?«
»Ich hab mir eine Bahnsteigkarte an einem Automaten gekauft. Kostet ja nur einen Penny. Ich hab aber nur noch zwei Pennies von meinem Taschengeld übrig, weil der Bus nämlich drei Pennies gekostet hat. Für einen Kinderfahrschein.«
»Kinderfahrschein? Ach, natürlich, Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, ich hätte nicht genug Geld dabei, um deine Bahnfahrkarte zu bezahlen, wenn der Schaffner gleich vorbeikommt.«
»Ich kann ja im nächsten Bahnhof aussteigen und zurück nach Hause fahren«, sagte Belinda unglücklich.
»Wir sitzen in einem Expreßzug«, teilte ihr Daisy einigermaßen streng mit. »Der nächste Halt ist in York. Da kommen wir erst nach dem Mittagessen an, und dein Vater – ganz zu schweigen von deiner Großmutter – würde mich umbringen, wenn ich dich allein nach Hause zurückschickte. Möglicherweise bringen sie mich trotzdem um, denn es scheint mein Anruf gewesen zu sein, der dich auf die idiotische Idee gebracht hat wegzulaufen.«
»Es tut mir ja so schrecklich, schrecklich, schrecklich leid.«
»Na, na, nicht wieder weinen, das hat keinen Sinn. Beruhige dich, mein Schätzchen, und zieh mal deinen Mantel und den Hut aus, ehe dich in dieser schrecklichen Hitze noch der Schlag trifft. Erzähl mir von deiner Freundin Deva.«
»Sie hat einen Sari! Das ist so eine Art indisches Kleid, in das man sich einwickelt. Tagsüber, in der Schule, trägt sie eine ganz normale Uniform, aber für unsere Weihnachtsaufführung hat sie das angezogen. Es ist aus blauer Seide, mit goldenen Sternen drauf und einem goldenen Saum. Sie hat gesagt, ich darf es auch einmal anziehen, wenn ich sie besuchen komme. Ich versteh einfach nicht, warum Granny mir das nicht erlaubt. Devas Vater arbeitet für das India Office, also ist sie doch anständig. Sie würden mir das doch erlauben, oder nicht, Miss Dalrymple?«
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Deine Großmutter muß das entscheiden, und sie will nur dein Bestes.«
Belinda seufzte. »Ich wünschte, Sie würden Daddy heiraten.«
»Mr. Fletcher und ich sind gute Freunde«, sagte Daisy mit fester Stimme und hoffte, daß das frisch aufgelegte Puder ihr Erröten verdeckte. Sie war sehr erleichtert, als eine elegante junge Dame mit einem schlafenden Kleinkind auf dem Arm und einem kleinen Mädchen an der Hand in der Tür erschien und das Gespräch unterbrach.
»Daisy, das bist ja wirklich du! Ich dachte mir schon, ich hätte dich im Bahnhof gesehen, aber da war ja eine so gräßliche Menschenmenge, daß ich mir nicht sicher war.«
»Anne Smythe-Pike – nein, jetzt bist du natürlich verheiratet. Es ist ja ewig her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Damals warst du noch verlobt.«
»Bretton. Mrs. Harold Bretton«, sagte ihre ehemalige Schulkameradin selbstzufrieden. Anne Bretton war sechsundzwanzig Jahre alt, also ein Jahr älter als Daisy, doch lagen auf ihrem an sich hübschen Gesicht bereits die ersten Anzeichen von Ernüchterung. So überraschte es nicht, als sie in quengelndem Tonfall hinzufügte: »Harold ist mal wieder anstrengend.«
»Wie unangenehm«, sagte Daisy mit einem mitleidigen Lächeln.
»Er findet, Kinder sollte man sehen, aber nicht hören, und eigentlich sollte man sie auch gar nicht sehen. Aber ich möchte doch meine kleinen Lieblinge bei mir haben. Ich setz mich zu dir. Dir machen Kinder doch nichts aus.« Es war eine Feststellung und keine Frage.
»Nein, natürlich nicht. Wie ich sehe, hast auch du vor der Hitze kapituliert. Daß die Sonne hier hereinscheint, macht es auch nicht gerade angenehmer. Man kann doch froh sein, ein Sommerkleid angezogen zu haben!«
»Und wie! Nur wird es dafür wahrscheinlich in Schottland eiskalt sein.« Sie setzte sich, nahm den Säugling auf den Schoß und warf Daisys bloßem Kopf einen neidischen Blick zu. »Mutter würde in Ohnmacht fallen, wenn ich den Hut abnähme.«
»Mrs. Smythe-Pike reist mit euch?«
»Sie und Vater haben ein Abteil für sich allein genommen, wegen Vaters Gicht. Die ganze Familie sitzt im Zug, ob du es glaubst oder nicht. Wir … Ach, ist das deine Tochter? Nein, das kann nicht sein. Dazu ist sie doch viel zu alt.«
Annes kleines Mädchen, das Belinda unverwandt angestarrt hatte, tat jetzt kund: »Ich bin fünf Jahre alt. Und wie alt bist du?«
»Neun dreiviertel. Fast zehn.«
»Das ist Belinda Fletcher, Anne. Sie ist die Tochter eines Freundes.«
»Guten Tag, Mrs. Bretton«, sagte Belinda höflich. »Wie heißt denn Ihr kleines Mädchen?«
»Tabitha, Liebes. Wie nett, da könnt Ihr beiden ja miteinander spielen.« Sie lächelte liebevoll, als das Kind, seine Puppe fest im Griff, auf den Sitz neben Belinda kletterte. Anne blickte Daisys linke Hand wie beiläufig an. »Du bist also nicht verheiratet, Daisy? Als wir einander damals begegnet sind – war das nicht im Savoy? –, warst du doch auch verlobt. Ach so! Du liebe Zeit, ich vermute …?«
»Ja, Michael ist im Großen Krieg gefallen.« Daisy führte das nicht weiter aus. Anne war nie eine enge Freundin gewesen, und eigentlich hatte Daisys Clique sie ziemlich dämlich gefunden. Sie wechselte das Thema. »Sagtest du eben, deine ganze Familie sitzt im Zug?«
»Das’s mein Bruuuda«, krähte Tabitha und zeigte auf das Baby. »Der ist auch in meiner Familie. Heißt Astair.«
»Nach Fred Astaire?« hakte Daisy überrascht nach.
»Nein, nein«, sagte Anne. »Er heißt Alistair. Alistair McGowan Bretton, meinem Großvater zu Ehren. Er ist der erste direkte männliche Nachfahre von Großvater. Was meinst du, da muß er doch einfach sein Testament zugunsten von Baby ändern?«
»Du liebe Zeit, Anne, woher soll ich das denn wissen? Das wird doch sicherlich davon abhängen, wer sonst noch Ansprüche anzumelden hat.«
»Hör mir bloß auf«, sagte Anne entnervt. »Ich bin mir sicher, daß wir mehr Anspruch auf das Erbe haben als alle anderen. Der Ärger ist nur, daß Großvater schrecklich viele Vorurteile hat. An erster Stelle verabscheut er die Engländer, und natürlich ist Vater so englisch, wie man sich das nur vorstellen kann, genauso wie Harold.«
»Das bist du doch auch, nicht wahr? Und deine Kinder auch?«
»Na ja, stimmt, aber Mutter ist schottisch, nachdem sie ja seine Tochter ist.«
»Wenn er – Mr. McGowan, so heißt er doch? – seinen Besitz deiner Mutter vermacht hat, wird dann nicht alles sowieso früher oder später auf dich übergehen?« fragte Daisy.
»Auf mich und Judith. Nur hat er das eben nicht. Er hat Mutter nicht als Erbin eingesetzt. Die Sache ist viel komplizierter. Großvater hat alles meinem Großonkel Albert vermacht, obwohl die beiden seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander gesprochen haben; er hängt eben der männlichen Erbfolge an.«
»Ist nicht wahr! Wie entsetzlich viktorianisch.«
»Findest du nicht auch?« stimmte ihr Anne zu. »Und was die Sache noch verschlimmert, die beiden sind Zwillinge. Also ist Onkel Albert genauso uralt wie Großvater, weswegen wir uns eigentlich alle sicher waren, daß er als erster sterben würde.«
»Warum?«
»Er hat den größten Teil seines Lebens in Indien verbracht und seine Gesundheit ruiniert in dem Klima, mit all den scharfen Gewürzen und zu vielen Chota Pegs – so nennen die doch da drüben Whiskey? Aber jetzt liegt Großvater Alistair auf dem Sterbebett, und Onkel Albert sitzt mit uns in genau diesem Zug, folgt dem Ruf wie wir alle, auch der Rechtsanwalt. Der einzig mögliche Grund, warum Onkel Albert hinfährt, ist wohl seine Freude, der Überlebende zu sein. Das Geld braucht er jedenfalls nicht.«
Langsam interessierte sich Daisy für diese komplizierte Angelegenheit. »Wer beerbt denn Onkel Albert?« fragte sie nach. »Vermutlich seine Kinder?«
»Er hat keine. Er hat nie geheiratet. Es gibt eine Familienlegende, nach der Großvater ihm damals die Verlobte ausgespannt haben soll, wobei ich nicht weiß, ob das wirklich stimmt. Sein eigenes Vermögen, das er sich in Indien erworben hat, stirbt mit ihm. Kannst du dir vorstellen, daß er jeden Penny in eine Leibrente gesteckt hat, nur um die Familie zu ärgern?«
»Das heißt, er hinterläßt praktisch nichts?«
»So sah es jedenfalls bislang aus. Keiner hätte erwartet, daß er Großvater überlebt und damit Dunston Castle und das Familienvermögen erbt. Ganz ruhig, Baby«, unterbrach sich Anne, als der kleine Alistair zu wimmern begann. »Nicht schon wieder weinen, mein süßer kleiner Schnuckelfratz. Sei lieb, dann wird dir dein Urgroßvater jede Menge Geld vererben.«
»Nachdem er seinen Rechtsanwalt nach Schottland zitiert hat, kann ich mir das durchaus vorstellen«, sagte Daisy, »denn schließlich würde das Geld vermutlich erst einmal an dich fallen, oder wenigstens an deine Mutter, wenn Albert McGowan vor Alistair gestorben wäre, wie allseits erwartet.«
»Ganz und gar nicht. Es ist einfach schrecklich unfair. Der nächste Erbe ist Onkel Peter, der Sohn ihrer jüngeren Schwester. Sie hat einen Schotten geheiratet. Und Onkel Peter ist in Schottland geboren, wie auch seine Frau und alle seine Kinder, obwohl die Gillespies mittlerweile in London wohnen. Nach all dem und weil es auf unserer Seite der Familie nur eine weibliche Erbfolge gibt, werden die eigenen Nachfahren Großvaters vorgezog … Ach, Schschsch!«
Das Baby heulte auf. Es verkrampfte sein kleines rotes Gesicht, hickste einmal auf und jaulte dann in einem wahren Kreischkonzert los. Daisy versuchte, nicht allzu offensichtlich zusammenzuzucken.
»Verdammt, jetzt sei doch endlich still, du blöder kleiner Affe«, herrschte Anne ihren süßen kleinen Schnuckelfratz an. »Wenn du ungezogen bist, dann bring ich dich wieder zur Kinderfrau. Dich auch, Tabitha. Komm jetzt.«
»Nein!« kreischte Tabitha. »Ich bin doch brav. Ich möchte bei B’linda bleiben.«
»Sie ist wirklich sehr brav«, sagte Belinda altklug. »Ich passe schon auf sie auf, Mrs. Bretton. Wenn Miss Dalrymple nichts dagegen hat.«
»Aber gar nicht.« Daisy unterdrückte ein Seufzen. Was war nur aus ihrer langen, langweiligen, aber friedlichen Reise geworden?
»Wo ist meine Frau?«
Der Mann, der in der offenen Tür des Abteils erschienen war, trug einen perlgrauen Anzug, der eindeutig auf der Savile Row geschneidert war, und dazu eine Club-Krawatte mit einer etwas zu auffälligen goldenen Nadel. Sein dünnes, helles Haar war am schon sehr hohen Haaransatz zurückgekämmt und mit Pomade festgekleistert. In der Hitze schien ihm der Dampf förmlich aus den Ohren zu kommen. Er tat Daisy leid, denn er war zu wohlerzogen, sein Jackett auszuziehen oder die Krawatte zu lockern, und so verzieh sie ihm den wütenden Blick, den er auf sie richtete.
»Wo ist also meine Frau?« wollte er ungeduldig wissen. »Das ist meine Tochter. Wo ist meine Frau?«
»Ich bin doch brav, Daddy«, jammerte Tabitha, was der Gentleman jedoch ignorierte.
»Sie sind wohl Mr. Bretton«, sagte Daisy mit eiskaltem Tonfall. »Ich bin Daisy Dalrymple. Ich bin mit Anne zur Schule gegangen. Guten Tag.«
Er erwiderte mit einem knappen, unhöflichen Nicken. »Wo …?« fing er schon wieder an, doch dann besann er sich eines Besseren. »Herrje, ich bitte um Entschuldigung«, sagte er und warf ihr ein schwaches Lächeln zu. »Die Honourable Miss Dalrymple? Anne sagte schon, sie hätte Sie in King’s Cross gesehen. Bitte entschuldigen Sie meinen rüden Ton, aber wirklich, wenn es nicht das eine ist, dann ist es das andere, und irgendwann wäre auch ein Heiliger mit seiner Geduld am Ende.«
»Kommen Sie doch herein und setzen Sie sich«, sagte Daisy jetzt etwas freundlicher, obwohl ihr Harold Bretton alles andere als symphatisch war. »Anne dürfte gleich wieder hiersein. Sie hat das Baby zu seiner Kinderfrau gebracht, die wohl dritter Klasse reist, wie ich annehme. Meine kleine Freundin Belinda Fletcher hat angeboten, auf Tabitha aufzupassen.«
»Guten Tag, Sir«, sagte Belinda. Daisy war stolz auf ihre guten Manieren, insbesondere, da Tabitha ihr wie ein Mühlstein um den Hals hing aus lauter Angst, schon wieder fortgeschickt zu werden, fest entschlossen, dies nicht geschehen zu lassen.
Belinda hätte genausogut auch ein Stück Holz sein können, so wenig beachtete Bretton sie. »Sie reisen nach Schottland?« fragte er im Tonfall eines Mannes, der durchaus höflichen Small Talk machen konnte, obwohl er sich mit viel wichtigeren Dingen zu befassen hatte.
»Ja, ich habe einen Auftrag in der Nähe von Roslin.«
»Einen Auftrag?« Er starrte sie an, und aus seinen hervorstehenden blauen Augen sprach blankes Entsetzen. »Sie arbeiten?«
»Ich schreibe«, sagte Daisy knapp. »Und was machen Sie beruflich?«
»Ich? Ach, ich, ähm, ich helfe meinem Schwiegervater, die Latifundien in Kent zu verwalten. Jedenfalls hätte er gerne, daß ich das tue«, korrigierte sich Bretton in einem Anfall von Ehrlichkeit, »aber wenn Sie mich fragen, ist das ein verlorenes Spiel. Seit dem Großen Krieg ist mit Landwirtschaft kein Geld mehr zu verdienen. So habe ich mir das wirklich nicht vorgestellt, als ich Anne geheiratet habe. Wir schwimmen demnächst alle mit dem Bauch nach oben im Fluß, wenn sich die Dinge nicht bald ändern.«
Es war doch wirklich sehr merkwürdig, dachte Daisy, wie viele und vor allem: welche Art von Menschen sich ihr unbedingt anvertrauen wollten. »Mein Vetter, der gegenwärtige Lord Dalrymple, scheint auf Fairacres einigermaßen gut auszukommen«, sagte sie.
»Ehrlich gesagt sieht es so aus, daß Smythe-Pike das Gut einfach hat den Bach runtergehen lassen«, sagte dessen enttäuschter Schwiegersohn ungehalten. »Dem war doch außer Pferden, der Jagd und seiner Angelei alles egal. Jetzt hat seine Gicht dem Ganzen ein Ende bereitet, was ihn nicht unbedingt in bessere Laune versetzt, das kann ich Ihnen flüstern. Das einzige, was den Laden jetzt noch retten kann, ist Bargeld. Ein Gewinn bei den Hoppepferdchen, oder daß Annes Großvater Vernunft annimmt.«
»Anne hat mir erzählt, daß Mr. McGowan möglicherweise sein Testament zugunsten Ihres Sohnes ändern wird.«
»Der alte Geizkragen! Hat noch nie einen ganzen Penny ausgegeben, wo auch ein halber Penny genügt. Es wäre also jede Menge zu haben, aber was macht der Alte? Vermacht den ganzen Haufen Großonkel Albert, der ohnehin schon in Geld schwimmt. Eins muß man ihm lassen: Albert weiß wirklich zu leben«, sagte Bretton neidvoll und mit widerwilliger Bewunderung. »Der leiht niemandem auch nur fünf Pennies, ganz zu schweigen von einer anständigen Summe Geldes, aber für ihn selbst ist das Beste gerade gut genug. Da wird an nichts gespart. Obwohl es noch die Frage ist, wieviel Freude ihm das bei seinem kranken Magen noch macht.«
»Ich hab schon gehört, daß Albert McGowan in einem etwas labilen Gesundheitszustand ist.«
»Ha! Schon bevor Anne und ich geheiratet haben, saß er dem Tod auf der Schippe. Aber selbst wenn er schon über den Jordan gegangen wäre, hätte uns das auch nichts mehr gebracht. Der erste in der Erbfolge nach dem alten Alistair ist Annes Onkel, dieser Betrüger Peter Gillespie.«
»Betrüger?« Daisy spitzte die Ohren.
»Hat eine bestens laufende Stiefelfabrik geerbt – natürlich paßt das nicht ganz zur Kiste, aus der er kommt, aber Geld ließ sich wirklich damit verdienen –, aber er zieht los und schlachtet die Gans, die die goldenen Eier legt. Im Krieg hat er schlampig gemachte Stiefel an die Armee verkauft. Man konnte ihm nur nicht beweisen, daß es vorsätzlicher Betrug war. Er wurde nicht verurteilt, aber die Firma mußte eine horrende Summe als Schadensersatz leisten und ist deswegen pleite gegangen.«
»Weiß Alistair McGowan das?«
»O ja, dafür hat Smythe-Pike – also Annes Vater – schon gesorgt! Ob Sie es glauben oder nicht, der alte Geizkragen fand es anscheinend durchaus lobenswert, Geld zu sparen, indem man das billigste Leder auf dem Markt kauft. Wenn ihn die Geschichte nicht überzeugt hat, sein Testament zu ändern, dann weiß ich auch nicht, was man noch ins Feld führen kann. Ich vermute, wenn wir Alistair nicht dazu überreden können, für seinen Urenkel zu sorgen, werden wir eben als nächstes Albert angehen.«
Daisy hätte nur zu gerne gewußt, wer der aktuelle Erbe von Onkel Albert war. Ehe sie jedoch fragen konnte, erschien ein junger Mann mit aschblonden Haaren in einem Sommer-Tweed in der offenen Tür.
»Onkel Albert angehen?« fragte er. »Da lasse ich dir doch gerne den Vortritt, mein Lieber. Sein Leibdiener hat einigermaßen deutlich gemacht, daß der alte Familiendrache von keinem von uns auch nur das geringste bißchen sehen will. Ich bin gerade an seinem Abteil vorbeigegangen, da sind die Jalousien heruntergezogen. Es wird uns überhaupt nicht weiterbringen, wenn wir dem Alten auf den Leib rücken. Ach, hallo Tabby.«
»Hallo, Onkel Jemmy. Ich heiß nicht Tabby, sonnern Tabiffa.«
»In Ordnung.« Er blickte Daisy mit gerunzelter Stirn an, eher verwundert als verärgert. »Verzeihung, daß ich hier so hereingeplatzt bin. Ich dachte, Bretton plaudert hier mit jemandem aus der Familie.«
»Darf ich vorstellen: Jeremy Gillespie, Annes Vetter«, machte Bretton die Honneurs. »Miss Dalrymple ist eine Freundin von Anne. Purer Zufall, daß sie mit uns im selben Zug sitzt.«
»Ach so, verstehe. Ich wußte doch, daß ich alle Verwandten kenne, außer natürlich die weggelaufene Tante Geraldine, aber Sie sind viel zu jung und hübsch, als daß man Sie mit ihr verwechseln könnte.« Er musterte Daisy eingehend und warf ihr dann ein wohlwollendes Lächeln zu. »Guten Tag, Miss Dalrymple. Ich versteh einfach nicht, wie das kommt, aber meine Cousine Anne – Cousine zweiten Grades, übrigens – hat immer nur die hübschesten Mädchen als Freundinnen.«
Daisy lächelte zurück. Er sah auf eine unerschütterliche, erdverbundene schottische Art durchaus gut aus und war älter, als sie auf den ersten Blick gedacht hätte. Anfang Dreißig mußte er sein, ungefähr so alt wie Harold Bretton, der wegen seiner schwindenden Haare älter wirkte.
»Es ist Ihnen also ein Anliegen, Annes Freundinnen kennenzulernen, Mr. Gillespie?« neckte sie ihn.
»So viele wie nur möglich«, sagte er mit einem übertriebenen Grinsen. »Aber ich bitte Sie, nennen Sie mich doch Jeremy.«
»Wo hast du eigentlich Mattie gelassen?« fragte Bretton hinterhältig.
Jeremy Gillespie schoß die Röte in die Wangen. »Sie ist bei Ray, Judith und Kitty. Meine Frau Matilda, Miss Dalrymple«, sagte er mit etwas ironischem Tonfall, »trägt gerade ein Kind unter dem Herzen, wie es in der Bibel so schön heißt, und bleibt in der Regel da, wo man sie einmal hinsetzt.«
»Wie praktisch für Sie«, sagte Daisy zuckersüß. Ihre Meinung von Gillespie war gerade in den Keller gesunken.
Nachdem er seinen kleinen Hieb losgeworden war, fuhr Bretton fort: »Wie geht es Raymond jetzt?«
»Judith hat ihn beruhigt. Deine Schwägerin kann wirklich mit dem armen Kerl umgehen, aber wenn sich nicht einer der Großonkel besinnt, haben die beiden nicht die geringste Chance zu heiraten.«
Raymond und Judith – diese Namen hatte Daisy doch kürzlich gehört. Ach ja, der mit dem Schützengrabentrauma. Und »Judith Smythe-Pike, natürlich, Annes Schwester. In der Schule war sie ein paar Klassen unter mir.«
»Wenn Sie sich an Judith als ein schmuddeliges Schulmädchen in Turnklamotten erinnern, werden Sie sie jetzt nicht wiedererkennen. Sie ist ein typischer Backfisch, ein flottes junges Ding, wie es im Buche steht. Spricht nur mit langgedehnter Stimme und würzt jeden Satz mit dem Wort ›Liebling‹.«
»Und mit ›entsetzlich langweilig‹«, fügte eine spöttische junge Stimme hinzu, »und wenn Onkel Desmond nirgends zu sehen ist, raucht sie irgendein widerliches Kraut.«
Der Neuankömmling war ein pummeliges, eher schlicht aussehendes Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren, das Jeremy Gillespies sandige Haare hatte. Sie trug ein dotterblumengelbes Sommerkleid, das ihr überhaupt nicht stand, und einen flaschengrünen Hut, der wohl zu ihrer Schuluniform gehörte. Ihre nußbraunen Augen richteten sich mit einem klaren, fast herausfordernden Blick geradewegs auf Daisy. »Hallo, sind Sie eine Freundin von Jeremy?«
»Nein!« sagte Daisy etwas forscher als eigentlich beabsichtigt. »Ich bin eine Freundin von Anne Bretton.«
»Meine kleine Schwester Kitty«, sagte Gillespie herablassend. »Mit ein bißchen Glück wird sie noch ein bißchen Manieren lernen, ehe sie die Schule verläßt. Darf ich vorstellen: Miss Dalrymple, Kitty-Kitze-Kätzchen.«
»Nenn mich nicht Kitze-Kätzchen!«
»Dann zieh mal die Klauen wieder ein.«
Kitty Gillespie schnitt eine Grimasse und drehte ihrem Bruder den Rücken zu. »Gun’tach, Miss Dalrymple«, murmelte sie schließlich und wandte sich an Bretton. »Vetter Harold, Daddy hat gesagt, ich soll dich suchen. Er möchte mit dir über Großonkel Alberts Testament reden.«
»Das wird ihm auch nicht viel weiter helfen. Ich hab nicht die leiseste Ahnung, wer sein Erbe ist. Keiner von uns hat eine Ahnung.« Dennoch verließ Bretton das Abteil.
Kitty setzte sich augenblicklich auf seinen Platz. »Hallo, kleine Tabiffa. Wer ist denn deine neue Freundin?«
»Das ist B’linda.« Tabitha entspannte sich sichtlich, nachdem ihr Vater verschwunden war; sie rückte näher an Kitty heran und ergriff ihren Arm. »Hast du Süßigkeiten mitgebracht?«
»Hab ich gerade nicht dabei. Die sind in meiner Manteltasche.« Sie und Belinda betrachteten einander interessiert. »Reist du mit Miss Dalrymple?« wollte Kitty wissen.
»Ja«, sagte Belinda vorsichtig. »Irgendwie schon.«
»Wie meinst du das?«
»Jetzt sei mal nicht so neugierig«, ermahnte sie Jeremy Gillespie.
»Ist doch nur eine gute Übung. Wenn ich erst mal Reporterin bin, muß ich schließlich von Berufs wegen neugierig sein.«
»Ha! Du weißt ganz genau, daß die Eltern nie zulassen, daß du dir eine Stelle suchst.«
»Wahrscheinlich werde ich das aber müssen, schließlich sieht es so aus, als würde Großonkel Alistair vor Großonkel Albert sterben«, erinnerte Kitty ihn. »Außerdem bin ich ganz anders als du. Ich möchte nämlich arbeiten.«
»Sehr vernünftig«, warf Daisy ein, die amüsiert zugehört hatte, wie der Möchtegern-Casanova sich mit seiner kleinen Schwester kabbelte.
Er bemerkte ihr Amüsement und wurde rot. Es mußte ja ziemlich schwierig für ihn sein, diskret mit anderen Frauen zu flirten, wenn sich seine helle Haut so leicht verfärbte. »Ich sollte wohl mal lieber los und sehen, was dieser Depp Bretton und mein alter Herr einander zu sagen haben«, äußerte er würdevoll und zog von dannen.
Kitty wandte sich voller Eifer an Daisy. »Sie finden es doch nicht schlimm, wenn eine Dame arbeitet, oder, Miss Dalrymple?«
»Ich arbeite selbst. Ich schreibe, wie du das auch einmal tun willst, aber für Zeitschriften, nicht für Zeitungen. Ich bin Journalistin und nicht unbedingt Reporterin.«