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Gefährliche Autopanne in Südengland. Frühsommer in Südengland – der Honourable Phillip Petrie ist mit seinem Sportwagen unterwegs, als plötzlich der Motor knatternd seinen Geist aufgibt. Er wirft einen verzweifelten Blick unter die Kühlerhaube, da hält ein knallroter Superschlitten neben ihm – darin die schönste, blonde Frau, die Phillip jemals gesehen hat. Er beschließt, das Herz seiner engelsgleichen Retterin zu erobern, was gar nicht so leicht ist, denn Gloria ist die Tochter eines amerikanischen Millionärs. Als Gloria entführt wird und ihr Leben auf dem Spiel steht, wendet sich Phillip an seine Freundin Miss Daisy Dalrymple, und ein rasanter Wettlauf mit der Zeit beginnt, bei dem selbst Alec Fletcher von Scotland Yard mächtig ins Schwitzen kommt ... "Agatha Christie lebt. Seit ihrer Wiederauferstehung lebt sie unter dem Namen Carola Dunn in Oregon." Die Welt.
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Seitenzahl: 388
Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.
Folgende Titel liegen vor:
Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Miss Daisy und der Tod im Wintergarten
Miss Daisy und die tote Sopranistin
Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman
Miss Daisy und die Entführung der Millionärin
Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser
Miss Daisy und der tote Professor
Miss Daisy und der Tote auf dem Luxusliner
Gefährliche Autopanne in Südengland
Frühsommer in Südengland – der Honourable Phillip Petrie ist mit seinem Sportwagen unterwegs, als plötzlich der Motor knatternd seinen Geist aufgibt. Er wirft einen verzweifelten Blick unter die Kühlerhaube, da hält ein knallroter Superschlitten neben ihm – darin die schönste Blondine, die Phillip jemals gesehen hat. Er beschließt, das Herz seiner engelsgleichen Retterin zu erobern, was gar nicht so leicht ist, denn Gloria ist die Tochter eines amerikanischen Millionärs. Als Gloria entführt wird und ihr Leben auf dem Spiel steht, wendet sich Phillip an seine Freundin Miss Daisy Dalrymple, und ein rasanter Wettlauf mit der Zeit beginnt, bei dem selbst Alec Fletcher von Scotland Yard mächtig ins Schwitzen kommt.
»Agatha Christie lebt. Seit ihrer Wiederauferstehung lebt sie unter dem Namen Carola Dunn in Oregon.« Die Welt
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Carola Dunn
Miss Daisy und die Entführung der Millionärin
Roman
Aus dem Englischen von Carmen v. Samson-Himmelstjerna
Inhaltsübersicht
Über Carola Dunn
Informationen zum Buch
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Impressum
In memoriam Margaret Brauer, 1917 – 1996.
Sie war immer überzeugt,
mein letztes Buch sei das beste,
das ich je geschrieben hätte.
Danke, Mum.
Phillip lauschte angestrengt. Ja, da war es wieder, dieses bedrohlich klopfende Geräusch.
Der altersschwache Motor seines Zweisitzers, ein Swift, machte einen teuflischen Krach, während er den eher steilen Hügel hinauffuhr, und jetzt hatte sich ein merkwürdiges Quietschen und Klappern aus dem Chassis und dem Motor hinzugesellt. Schließlich stellte er das alte Gefährt ja auch auf gewaltige Proben. Für jedes frisch geölte Teil, jede neu angezogene Schraube löste sich anderswo die nächste. Aber dieses Klopfen war neu, anders, und verflixt beunruhigend.
Als er sicher über den Gipfel der Surrey Downs gelangt war, bog er von der Landstraße in eine gerade auftauchende Einfahrt ein. Über das Tor mit den fünf Metallstreben hinweg schaute ihn eine Kuh an und muhte.
»Vor der Melkzeit bin ich schon lange wieder weg«, versicherte er ihr und sprang aus dem Wagen.
Phillip zog sein Jackett aus, warf es auf den Sitz und krempelte die Ärmel hoch, um dann die Motorhaube aufzustellen. Während er in deren ölige Tiefen schaute, hörte er einen gut gepflegten Motor auf der Straße heranschnurren. Er drehte sich um und sah einen scharlachroten Aston Martin an sich vorbeisausen, dann bremsen, rückwärts fahren und neben ihm halten.
»Hallo! Liegengeblieben?« fragte das Mädchen am Steuer und schlug den Staubschleier von ihrem Hut zurück, so daß ein hübsches, von blonden Locken umspieltes Gesicht zum Vorschein kam. »Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«
»Vielen Dank, aber eine richtige Panne ist es eigentlich nicht.«
»Ach so.« Das amerikanische Mädchen – Phillip war überzeugt, daß sie Amerikanerin sein mußte – schaute den Swift fragend an. »Aber die Kapuze ist doch auf!«
»Kapuze?« Er blickte das Verdeck an, das er an diesem milden, trockenen Frühlingstag zurückgelegt hatte. Ach so, sie war ja Amerikanerin und meinte mit »Kapuze« wahrscheinlich seine hochgestellte Motorhaube. »Ach so, Sie meinen die Kühlerhaube? Irgendwas im Motor klopft«, erklärte er, »aber wenn ich es nicht schaffe, die Sache in ein paar Minuten Bosselei mit meinen eigenen Werkzeugen zu beheben, dann fahre ich zur nächsten Werkstatt und leihe mir von denen Werkzeug aus.«
»Sie reparieren Ihr Automobil selbst? Jui, Sie müssen aber schlau sein.«
»Na ja, da ist doch nichts Großes dabei«, sagte Phillip bescheiden. Bei näherer Betrachtung waren die Locken dieses Mädchens aus Gold und nicht nur blond, und sie hatte das hübscheste Gesicht, das er seit Jahren gesehen hatte. Jedenfalls nicht mit Puder und Farbe zugekleistert, wie es die Mädchen sonst dieser Tage hatten. »Es macht mir Spaß, an Autos herumzuschrauben«, fügte er hinzu und war froh, daß er noch nicht unter das Auto gekrochen war und jetzt mit ölverschmiertem Gesicht dastand. »Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit dafür.«
»Ich wollte das auch schon immer mal probieren.« Das war ja ein Mädchen, wie man es sonst in einer Million nicht fand! »Aber Poppa läßt mich nicht. Er meint, das wär nicht damenhaft. Hat sich unheimlich drauf versteift, daß ich mich wie eine Dame benehmen soll, mein Poppa. Es hat Jahre gebraucht, bis ich ihn so weit hatte, daß ich überhaupt mal Auto fahren darf. Aber mittlerweile teste ich die Automobile für ihn. Fahre herum, um zu sehen, wie sie sich für einen normalen Fahrer anfühlen.«
»Und das machen Sie gerade mit diesem Traumschlitten? Von denen sind nicht gerade viele unterwegs.«
»Es fährt sich großartig. Poppa überlegt, ein paar Dollar in die Firma reinzuschießen, damit die noch mehr davon produzieren kann. Deswegen sind wir in England, schauen uns nach vielversprechenden Automobilherstellern um, in die Poppa investieren könnte. Sie haben wohl schon geraten, daß ich keine Engländerin bin?« fragte sie bedauernd.
»Ich finde Ihren Akzent einfach hinreißend.«
»Ehrlich und ungelogen? Dabei wollte ich doch wie eine feine englische Dame reden lernen. Ich finde England einfach herrlich, diese süßen kleinen Dörfer und die Geschichte und die Blumen und alles, überhaupt.«
Sie zeigte auf die Böschung am Straßenrand. Phillip fielen zum ersten Mal die Frühlingsblumen auf, die in wildem Durcheinander dort standen: Primeln, Veilchen, Scharbockskraut und Sternmieren.
»Aber na ja«, fuhr das Mädchen fort, und in ihrer Stimme schwang Bedauern mit, »ich will Sie nicht länger von Ihrer Schrauberei abhalten. Ehrlich gesagt hab ich mich ziemlich verfahren. Auf den Schildern stehen nur Orte, in die ich gar nicht will. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie ich zur Schnellstraße nach London komme?«
Phillip öffnete gerade den Mund, um zu sagen: »Zweite nach rechts und dann immer geradeaus bis zum Morgengrauen«, oder wie auch immer die Anweisung lauten würde, als ihm plötzlich ein Geistesblitz kam. Jedenfalls schien es ihm so, als könnte dies ein Geistesblitz sein. Der Honourable Phillip Petrie war mit diesen verflixten Dingern nicht ausreichend vertraut, um gleich von Anfang an sicher zu sein, ob es sich wirklich um ein Aha-Erlebnis handelte. Eigentlich war er es eher gewöhnt, gleichermaßen von seiner Familie und seinen Freunden für einen zwar grundanständigen, aber eher etwas beschränkten Kerl gehalten zu werden. Dennoch: was ihn da durchzuckte, fühlte sich deutlich nach Geistesblitz an. »Also, das ist ganz schön kompliziert«, log er, »von hier zur Straße nach London zu finden. Wenn Sie es nicht furchtbar eilig haben und noch ein paar Minuten warten würden, dann könnten Sie mir ja hinterherfahren.«
Das strahlende Lächeln des Mädchens ließ ihn blinzeln. »Was für eine klasse Idee«, rief sie aus.
Das klang ja schon sehr ermutigend. Phillip beschloß also, auch den zweiten Teil seiner Erleuchtung umzusetzen. »Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht«, sagte er todesmutig, »aber ich krieg langsam einen Mordshunger. Es ist ja schon fast Zeit für einen Tee, und in Purley gibt es ein ungemein gutes kleines Café. Würden Sie … Glauben Sie, Sie könnten es sich überlegen, mit mir einen Tee zu nehmen?«
»Au, toll, das würd ich wohl gerne.« Ein wunderbares Mädchen! »Bei uns gibt es so was wie den englischen Afternoon-Tea ja nicht, aber wenn ich wieder zu Hause bin, dann werd ich auf jeden Fall damit weitermachen. Ich heiße übrigens Gloria Arbuckle.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Phillip Petrie.« Noch während er ihr die Hand schüttelte, runzelte er die Stirn. »Eigentlich müßte ich Sie tadeln. Von fremden Männern läßt man sich nicht einfach einladen, Miss Arbuckle. Und wo wir schon dabei sind, Ihr Vater dürfte auch nicht zulassen, daß Sie so alleine durch die Landschaft gondeln. Was wäre denn, wenn Ihr Auto liegenbleibt?«
»Ich soll ja eigentlich immer Poppas Assistenten mitnehmen«, gab sie zu, »aber der war beschäftigt. Und nachdem es heute seit Ewigkeiten das erste Mal schön ist, wollte ich unbedingt aus dieser stinkigen Großstadt raus. Und was Ihre Einladung angeht, ist es ja nicht so, als hätten Sie mich in irgendeine Spelunke zum Trinken oder Tanzen eingeladen. Hier drüben bei euch gibt es ja noch nicht mal Nachtbars.«
»Nein«, sagte Phillip, den schon der nächste Geistesblitz ereilt hatte, »aber wir haben unglaublich hübsche Tanz-Salons, wo es sehr anständig zugeht, und ich fänd es einfach ganz großartig, wenn Sie mal mit mir tanzen gehen würden.«
»Das können wir ja noch sehen«, sagte sie, doch sie lächelte.
»Sei gegrüßt, altes Haus!«
Leicht irritiert schaute Daisy bei dieser sportlichen Begrüßung von ihrer alten, gebraucht gekauften Underwood-Schreibmaschine auf. Sie hatte angenommen, daß die Schritte im Eingang von einem Besuch für ihre Mitbewohnerin Lucy kündeten, mit der sie sich die kleine Wohnung teilte.
»Ach, du bist’s, Phillip. Was willst du denn hier? Ich hab Mrs. Potter doch gesagt, daß ich heute nicht gestört werden will. Ich bin beschäftigt.«
»Sie hat gesagt, du würdest nur schreiben«, führte Phillip zu seiner Verteidigung an und warf seinen grauen Homburg auf den Schreibtisch.
»Nur schreiben! Mit der werd ich wohl noch ein Wörtchen zu reden haben.«
»Na ja, vielleicht hab ich das mit dem ›nur‹ auch selber reingemogelt. Du brauchst Eure arme Hilfe nicht gleich so hart ranzunehmen.«
»Grundgütiger, Phillip, mit dem Schreiben verdiene ich schließlich meinen Lebensunterhalt! Und ich muß noch zwei Artikel abgeben. Ich vergesse immer wieder, wie lange die Post nach New York braucht und daß ich das in meine Kalkulation mit einbeziehen muß. Diese amerikanische Zeitschrift zahlt ein bombiges Honorar, und ich möchte nicht riskieren, meinen neuen Auftraggeber zu verlieren, weil ich irgendwas zu spät einreiche. Wenn du also nichts Dringendes hast …«
»Nicht gerade dringend, aber es wird auch nicht länger als eine Minute dauern.« Verlegen strich sich Phillip über sein glattes, blondes Haar. Sein auf eher konventionelle Art gutaussehendes Gesicht hatte einen so bittenden Ausdruck, daß Daisy nachgab. »In Ordnung«, seufzte sie. »Dann leg mal los.«
Phillip setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtischs und sortierte seine schlaksigen Glieder so, daß er ein langes Bein in Nadelstreifenhose hervorschwingen konnte, um dann seine hervorragend geputzte Schuhspitze zu betrachten. Daisy drehte sich auf ihrem Bürostuhl zu ihm und schaute ihn an. »Also«, sagte Phillip, und eine leise Röte stieg ihm in die Wangen. »Ähm …«
»Phillip, jetzt mach schon endlich.«
»Ja, verflixt, das ist aber auch alles ein bißchen schwierig, altes Haus.«
»Ist es denn notwendig?«
»Das will ich aber meinen. Ich wär ansonsten der letzte Schuft, wenn ich nicht … Verstehst du, es ist also … Ich meine, Daisy, weißt du noch, wie ich dir das eine oder andere Mal einen Heiratsantrag gemacht habe?«
»Mindestens ein halbes Dutzend.«
»So oft?« fragte Phillip eher erschrocken.
»Und ich hab sie genauso oft abgelehnt. Ich weiß doch, daß du nur um meine Hand anhältst, weil du glaubst, Gervaise würde das von dir erwarten. Daß du dich um mich kümmerst, mein ich.« Daisys Bruder war im Großen Krieg gefallen. Von Kindesbeinen an war er engstens mit Phillip, dem Sohn vom Nachbargut, befreundet gewesen. »Was natürlich Unsinn ist. Also jetzt mal raus mit der Sprache. Du hast jemand anderes kennengelernt, nicht wahr? Ein Mädchen, das du wirklich heiraten willst?«
»Liebe Zeit, wie hast du das denn so leicht erraten?« Phillips Erleichterung war so offensichtlich, daß Daisy fast aufgelacht hätte.
Sie konnte sich gerade noch beherrschen. »Wer ist es denn? Kenne ich sie? Eine der neuesten Debütantinnen?«
»Ehrlich gesagt ist sie Amerikanerin. Du magst Amerikaner doch?« fragte er besorgt.
»Ich hab schon sehr charmante Amerikaner kennengelernt. Insbesondere Mr. Thorwald ist sehr nett. Mein Redakteur.« Voller Sehnsucht blickte Daisy das halbbeschriebene Blatt Papier in ihrer Schreibmaschine an. »Erzähl mir doch von ihr«, seufzte sie dann resigniert.
»Sie heißt Gloria – Gloria Arbuckle. Sie ist ein Puppchen.«
Daisy hätte alles erwartet: »Traumfrau«, »Engel«, oder »unglaublich nettes altes Haus«. Aber dieses altmodische Wort, das Phillip zur Beschreibung seiner Angebeteten wählte, beeindruckte sie noch weitaus stärker als das Leuchten in seinen blauen Augen. Anders als so mancher andere Mann in ihrer Bekanntschaft fiel Phillip nicht alle naselang auf ein hübsches Gesicht herein. Also hatte er vielleicht wirklich seine wahre Liebe gefunden. Sie wünschte es ihm.
»Ist Miss Arbuckle mit ihrer Familie hier?« fragte sie.
»Mit ihrem Vater. Ihre Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben, und sie ist Einzelkind. Mr. Arbuckle ist Millionär. Ich ahne schon, was die Leute jetzt reden werden, Daisy«, sagte Phillip ernst. »Aber du glaubst doch nicht, ich wär hinter ihrem Geld her?«
»Natürlich nicht, mein Herz. Nicht, wo ich doch keinen einzigen Penny habe und du mir seit Jahren mindestens einmal im Monat einen Antrag gemacht hast. Ich gehe davon aus, daß Miss Arbuckle von deinen ehrlichen Absichten überzeugt ist, aber sieht ihr Vater das auch so?«
»Er ist sehr anständig und scheint mich durchaus zu mögen. Gloria behauptet, er hätte einen richtigen Narren an mir gefressen. Aber er weiß ja auch noch nicht, daß ich sie heiraten will.«
»Weiß er aber, daß dein Vater ein Lord ist?« fragte Daisy. Die Amerikaner mochten ja Republikaner sein, aber an Adelstiteln waren sie dann oft doch interessiert. Die Mittellosigkeit eines Schwiegersohns aus dem verarmten Adel war zu verkraften, wenn das Töchterchen damit zu einem Titel kam.
»Ja, aber ich glaube nicht, daß er eine besonders hohe Meinung vom englischen Adel hat. Außerdem habe ich ihm das alles schon erklärt: daß ich der jüngere Sohn bin und damit keine Chance auf den Titel hab, daß ich niemals mehr als ein einfacher ›Honourable‹ sein und auch nie mehr als eine kleine Apanage beziehen werde.« Er zog eine Grimasse. »Und meine Familie hat die beiden auch noch nicht kennengelernt.«
»Aha! Davor hast du wohl am meisten … Ja bitte, Mrs. Potter?«
Schwer atmend kam die stämmige Putzfrau herein. Sie setzte ein mit Tassen und einer Kanne beladenes Tablett auf dem Schreibtisch ab und strahlte Daisy an: »Der Kessel hat gerade gekocht, also dachte ich, daß ich für Sie und den Herrn eine schöne Tasse Tee mache. Kekse gibt’s nicht mehr«, fügte sie bedauernd hinzu. »Die haben wir beide heute vormittag aufgegessen, was, Miss?«
»Ja«, sagte Daisy schuldbewußt. Obwohl ihre wohlgerundete Figur niemals auch nur annäherungsweise die derzeit moderne knabenhafte Form erreichen würde, sollte sie doch wenigstens den Versuch einer Diät unternehmen. Jedenfalls sagte das Lucy. Und zwar häufiger. »Vielen Dank, Mrs. Potter.«
»Ich schenk uns mal ein«, bot Phillip an. Er stand auf und rückte den Besuchersessel näher an den Schreibtisch heran. »Sollen wir mal die Schreibmaschine wegstellen?«
»Das wird jetzt keine Einladung zum Tee. Eine Tasse, und dann verschwindest du hier wieder. So sehr ich mich auch freue, diese Nachricht von dir zu hören, ich hab schließlich zu tun.«
»Du hast doch nicht etwa für dieses Wochenende schon was vor?« fragte er voller Hoffnung und reichte ihr eine dampfende Tasse. »Ich möchte dir Gloria und Arbuckle vorstellen, und … na ja, eigentlich hatte ich gehofft, daß du dabei wärst, wenn ich sie zu uns nach Hause einlade. Bißchen Unterstützung und so weiter.«
»Du willst also wirklich in den sauren Apfel beißen? Ich könnte ein paar Stunden erübrigen, wenn du wirklich glaubst, daß dir das hilft. Kommen Lord und Lady Petrie eigens in die Stadt, um sie kennenzulernen?«
»Du liebe Zeit, nein. Die Arbuckles wohnen in Great Malvern, im Abbey Hotel. Gloria wollte einmal aus der Stadt raus. Das englische Landleben findet sie herrlich. Also hab ich Arbuckle überzeugt, Malvern wäre genau der richtige Ort, um seinen Geschäften in Oxford, Coventry und Birmingham nachzugehen.«
»Wohl kaum! Und abgesehen von den Malvern Hills ist die Landschaft ja auch nicht gerade bemerkenswert.«
»Von da aus kann man leicht in die Cotswolds und in die Berge von Wales fahren«, hielt Phillip ihr entgegen. »Und keine der Städte ist mehr als 80 Kilometer entfernt. Ganz zu schweigen von den Konzerten und dem Tennis und Golf und …«
»Das reicht«, unterbrach ihn Daisy lachend. »Die Reklame kenn ich doch selbst. ›Die gesündeste aller Kurmöglichkeiten, die niedrigste Sterblichkeitsrate im Königreich, das sauberste Wasser der Welt‹.«
»Den ganzen Quatsch hab ich ihm auch eingetrichtert. Aber ausschlaggebend war die Tatsache, daß die Morgan Motor Company in der Stadt ist. Arbuckle schaut sich nach britischen Automobilherstellern um, in die er investieren kann, um sich zu diversifizieren. Er hat ein sagenhaftes Vermögen damit verdient, daß er seine Eisenbahnaktien verkauft und in die Automobilindustrie investiert hat, und das im richtigen Moment.«
»Aktien und Anteile, dein Schönstes, nicht wahr?«
Phillip schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Ich halte es in dieser gräßlichen Bankenwelt nicht mehr aus. Ich taug da überhaupt nichts. Wenn Gloria mich heiratet, dann könnte ihr Vater mir vielleicht eine Stelle im technischen Bereich der Automobilindustrie vermitteln. Aber meinem alten Herrn sag ich jetzt schon, daß ich aus der Sache aussteige.«
»Du hast es wirklich immer verabscheut.« Daisy konnte mit ihrem Jugendfreund mitfühlen. »Da geht es dir genauso wie mir mit der Stenographie.«
»Ich wäre viel lieber ein ganz bürgerlicher, einfacher Automechaniker, mit schmuddeligem Blaumann und dem Ganzen. Und mehr Geld würd ich damit auch verdienen. Oder Gebrauchtwaren könnte ich verkaufen. Und wenn mein alter Herr das für nicht standesgemäß hält, dann kann er mir vielleicht ein bißchen Geld rüberschieben, damit ich mich selbständig machen kann. Ich kenne einen Typen, der sich unbedingt mit mir zusammentun will, und …«
»Jetzt nicht, Phillip. Dieses Wochenende schaffe ich es nicht nach Malvern, aber wenn du es bis zum nächsten Wochenende noch aushältst, dann bin ich gern dabei und halte dir das Händchen.«
»Wirklich? Du bist einfach schwer in Ordnung, Daisy!«
»Ich muß ohnehin Mutter besuchen. Sie fühlt sich mal wieder vernachlässigt und hält damit nicht hinterm Berg.«
»Ich schau mal bei ihr vorbei. Ich fahre ja am Samstag wieder hin – ich bin jedes Wochenende zu Hause, seit Gloria aus der Stadt weg ist. Da ist ein Kerl im Hotel«, fügte Phillip mit düsterer Miene hinzu, »der ihr schöne Augen macht. Da sehe ich zu, daß ich so oft wie möglich unten bin.«
»Deine Eltern dürften ja einigermaßen erstaunt sein, daß ihr Filius ihnen plötzlich soviel Zuwendung entgegenbringt. Und die Arbuckles werden sich wundern, daß du sie ihnen noch nicht vorgestellt hast. Hast du erst in den letzten Tagen deinen Mut zusammenkratzen können?«
Phillip war empört. »Erst seit letzter Woche habe ich das Gefühl, ich hätte vielleicht eine ernstzunehmende Chance bei Gloria. Außerdem mußte ich auch erst mal mit dir reden. Und das Mütterlein … Ist ja schon gut«, sagte er hastig und stand auf, als Daisy ihm den Hut entgegenstreckte, »jetzt hab ich es dir gesagt und gehe. Sie wird dir gefallen, Daisy. Sie hat goldene Locken und die blauesten Augen, die du je gesehen hast. Und …«
»Toodle-oo, Phillip«, sagte Daisy und unterbrach den Liebes-Lobgesang.
»Ja, schon gut, Pip-pip. Und es macht dir wirklich und ehrlich nichts aus?«
»Es macht mir wirklich und ehrlich nichts aus.«
Phillip ging endlich. Das Gespräch schien ihn enorm erleichtert zu haben.
Daisy legte die Finger auf die Tasten ihrer Schreibmaschine. Doch grübelte sie etwas, bevor sie wieder in ihre Arbeit hineinfand. Also hatte Gloria goldene Locken und blaue Augen. Und ohne Zweifel auch eine Garderobe, die eine Million Dollar wert war. Daisys Augen waren auch blau, aber ihre kurzgeschnittenen Haare waren eher ein Mittelding zwischen blond und braun, und ihre Kleider, allesamt von Selfridge’s Bargain Basement, stammten größtenteils aus dem letzten Jahr, wenn sie nicht noch älter waren.
Sie war nicht unbedingt eifersüchtig. Phillip war wie ein Bruder für sie. Er hatte wohl eher so getan, als sei er in sie verliebt. Sie hatte nur Sorge, daß der liebe alte Trottel vielleicht auf ein hübsches Gesicht hereingefallen sein könnte, ohne zu überlegen, was dahinter steckte.
Aber er hatte Gloria als Puppchen beschrieben, nicht als flotten Käfer. Daisy konnte nur hoffen, daß ihr das amerikanische Mädchen gefallen würde.
Durch die vorüberhuschenden Toreinfahrten in den Hecken war rechter Hand am Horizont Bredon Hill zu sehen. Vor ihm erstreckten sich die Malvern Hills. Vom wolkenlosen Himmel schien die Sonne auf die unter der Trockenheit leidenden Felder und Obstgärten herab. Pech für die Bauern, aber perfekt für einen verliebten Mann.
»›Ich hab getanzt heut’ nacht‹«, knödelte Phillip fröhlich, wenn auch etwas schief und durch den hohlen Zahn, während sein Swift die schmale, kurvige Straße über die Ebene von Severn entlangschrubbte, »bis morgens um halb drei-hei-hei.«
Er war jetzt fast zu Hause angelangt. Er würde sich dort rasch waschen und umziehen, und dann nichts wie nach Great Malvern hinein, um bei Violet’s noch eine Schachtel Pralinen zu besorgen. Nach dem Tee mit den Arbuckles im Abbey Hotel würde er mit Gloria einen kleinen Spaziergang zum Schwanenteich im Priory Park machen. Danach würden sie ins Kino gehen, wenn da irgend etwas Vernünftiges lief, oder im Winter Garden zur Musik der Billy Gammon’s All-Star Players tanzen gehen.
Tanzen, hoffte er. Wenn es ein größeres Glück gab, als Charleston, Tango oder Foxtrott mit Gloria zu tanzen, dann war es ein Walzer mit Gloria.
Traumverloren sauste er um eine Kurve – und trat plötzlich heftig auf die Bremse. Ein riesiges Automobil blockierte die halbe Straße, obwohl es bis zur Hälfte in einer Toreinfahrt steckte.
»Liebe Zeit!« murmelte Phillip. »Hab ich noch mal Glück gehabt, daß ich neulich die Bremsen überholt habe. Was zum Teufel … Oh!« Sein Ärger über den Idioten, der an einer so ungünstigen Stelle gehalten hatte, verschwand sofort, als er den riesenhaften, blauen Studebaker-Tourenwagen von Arbuckle erkannte.
Letzterer saß auf dem Rücksitz und winkte ihm schon zu. Und da war auch Gloria. Sie saß auf dem obersten Querbalken des Tores, schlank, die seidenbestrumpften Knöchel bestens zu sehen, das goldene Haar so leuchtend, daß die Stoppeln des Weizenfeldes daneben verblaßten.
»Phil… Mr. Petrie«, rief sie aus, »Sie sind einfach ein Engel. Ein richtiggehender Ritter, der zur Rettung geeilt kommt.« Sie kletterte vom Tor herunter.
Phillip sprang aus dem Swift, den er zwischen den Studebaker und die Hecke gequetscht hatte und kam gerade rechtzeitig an, um sie aufzufangen, als sie von den letzten beiden Balken heruntersprang.
»Vorsicht«, sagte er atemlos, seine Arme um ihre Taille geschlungen. Sie blickte zu ihm auf, die Augen so blau wie der Himmel, die rosigen Lippen halb offen. Eine Lerche über ihnen hüllte sie in eine plötzliche Melodie, und die Luft war voll vom Duft wilder Rosen.
Mr. Arbuckle räusperte sich. Phillip und Gloria sprangen auseinander.
»Nuuun denn«, sagte ihr Vater, ein kleiner, schmaler Mann mit einem langen Gesicht, das durch seinen zurückweichenden Haaransatz noch länger wirkte, »was für ein Zufall aber auch.«
»Sind Sie liegengeblieben, Sir?« fragte Phillip, dem endlich die auf beiden Seiten aufgestellte Motorhaube des Studebaker auffiel. »Soll ich da mal einen Blick hineinwerfen?«
»Das ist wirklich schrecklich nett von Ihnen, junger Mann, aber ich glaube nicht, daß diese Sache hier sofort repariert werden kann. Ich bin ja eher der Mann fürs Finanzielle. Würde nie behaupten, daß ich dieses ganze mechanische Zeug auch nur annähernd verstehe. Crawford, mein Techniker, hat mich gefahren. Den kennen Sie ja auch.«
»Ja, Sie hatten uns einander vorgestellt.«
Phillip hatte diese Bekanntschaft nicht weiter verfolgt, da ihm der amerikanische Ingenieur nicht sympathisch gewesen war, trotz seiner beneidenswert genauen Kenntnisse über Aufbau und Herstellung von Automobilen.
»Crawford kennt sich mit Autos aus, besser als alle anderen. Er ist mit irgendeinem kaputten Teil oder so was losgezogen, um sich bei der nächsten Reparaturwerkstatt zu erkundigen.«
»Ich kann ja mal hineinschauen.« Phillip hatte schon seine uralte Tweed-Jacke ausgezogen. Er warf sie in den Studebaker und krempelte die Ärmel hoch. Eine so schöne Gelegenheit, einen unbekannten Motor zu inspizieren, wollte er sich nicht entgehen lassen.
Gloria stellte sich neben ihn. »Mr. Crawford hat irgend etwas von wegen Radiator gesagt«, sagte sie unsicher. »Oder, Poppa?«
»Keine Ahnung, Schätzchen.«
»Da ist es.« Phillip zeigte in den Motor hinein. »Sehen Sie, der Schlauch ist weg. Der muß geplatzt sein. Ich glaub, ich hab einen Ersatzschlauch in meinem Werkzeugkasten. Vielleicht paßt er ja. Wollen wir es doch mal versuchen.«
»Großartig, der Junge!« sagte Mr. Arbuckle mit einem wohlwollenden Nicken. »So was hör ich doch gerne. Jeden Tag eine gute Tat. Das’n wunnerbares Motto, jawollja, und nicht nur für die Pfadfinder.«
»Jawoll, Sir.« Phillip grinste ihn an. Der alte Vogel wuchs ihm immer mehr ans Herz.
Er holte ein paar Schläuche unterschiedlichen Durchmessers, ein Messer, einen Schraubenschlüssel und einen Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten, der am Trittbrett seines Swift angebracht war. Als er sich über den Studebaker beugte, kam ein brauner Ford-Laster mit dem Schriftzug der Metzgerei Farris die Straße entlang und hielt an.
Ein bulliger, schlampig angezogener Mann stieg aus. Er zog gegenüber Arbuckle und Gloria sein Käppi und wandte sich dann an Phillip: »Was’n los, Kollege? Brauchense Hilfe?«
»Nein danke. Wir müssen nur einen neuen Radiatorschlauch einsetzen.«
Der Mann stützte sich mit seinen Pranken auf dem Studebaker ab. »Sie werd’n noch Wasser zum Auffüllen brauchen, mein Freund«, machte er Phillip aufmerksam.
»Stimmt«, gab ihm Phillip Recht. »Ich werd gleich mal zum nächsten Bauernhof rübersausen.«
Er machte mit dem Schraubenzieher eine Geste zu seinem Swift hin und wandte dabei leicht den Kopf. Dabei bemerkte er aus dem Augenwinkel eine plötzliche Bewegung.
Arbuckle schrie auf. Phillip wirbelte herum. Schwere Stiefel donnerten auf der trockenen, steinharten Erde des kleinen Wegs, als vier mit Tüchern maskierte Männer um den Laster herumbogen.
Zwei sprangen über den Rand des Studebaker und griffen sich Arbuckle. Einer nahm sich Gloria. Der vierte schwang ein Brecheisen in Phillips Richtung.
Der duckte sich.
»Gloria!« rief er aus und ging mit seinem Schraubenzieher auf deren Angreifer los.
Der Fahrer des Lasters packte ihn von hinten und riß ihm den Schraubenzieher aus der Hand. Ein zweites Mal sauste das Brecheisen herab und traf Phillip an der Schläfe.
Explodierende Sterne vor schwarzer Nacht. In seinen Ohren sang es. Entfernt nahm er einen schweren, süßlichen Geruch wahr, und dann versank er in der Dunkelheit.
»Chloroform«, dieses Wort kam Phillip in den Sinn, kaum daß er wach wurde. Doch dann beanspruchte das Dröhnen der explodierenden Geschütze in seinem Kopf seine ganze Aufmerksamkeit.
Nach einer Weile hatte er sich an dieses innere Bombardement schon fast gewöhnt. Er spürte, daß er auf einer Seite zusammengerollt dalag. Seine Handgelenke waren hinter dem Rücken gefesselt, und in seinen Schultern verspürte er einen dumpfen Schmerz. Das Dunkelrot hinter seinen Augenlidern legte nahe, daß irgendwo ein schwaches Licht brannte. Vorsichtig öffnete er die Augen.
Ein dünner Sonnenstrahl zuckte flackernd über staubige, unebene Dielen und ging dann im Zickzack weiter aufwärts, kletterte glänzend über beige Seidenstrümpfe … Gloria! Um Himmels Willen, wie hatte er sie nur vergessen können? Die Kerle hatten sie also auch erwischt!
»Miss Arbuckle?« flüsterte er. »Gloria?«
Sie bewegte sich nicht. Er betete, daß ihre Bewegungslosigkeit nur vom Chloroform herrührte, das er gerochen hatte, und daß man ihr nicht wehgetan hatte. Phillip hob den Kopf. Der Schmerz schlug zu, und er versank erneut in der Dunkelheit.
Als er wieder aufwachte – war das fünf Minuten, eine halbe Stunde, oder einen halben Tag später? Er hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren – fühlte er, wie Tropfen auf seiner Wange landeten. Die Explosionen in seinem Schädel waren mittlerweile nur noch Hammerschläge. Manche schienen aus der Ferne zu kommen. Tock-tock-tock, wie ein Specht. Und dieses schnelle Quackeln klang wie ein schimpfendes Eichhörnchen. Befand er sich in einem Wald?
Die Luft fühlte sich feucht an, und in ihr lag ein modriger Geruch von nassem Holz. Aber der Boden, auf dem er lag, war zu hart, um faulendes Laub zu sein, und außerdem war da ein leichter Duft von Paraffin. Er erinnerte sich an die Dielen, gewellt und gespalten, mit großen Rissen darin. Und an Gloria!
Er öffnete die Augen, als ein weiterer Tropfen auf seine Wange klatschte, wandte den Kopf und sah in Glorias Gesicht. Es gab gerade noch genug Licht, um zu sehen, daß ihre himmlischen blauen Augen rot und von langem Weinen geschwollen waren.
»Nicht weinen, mein Glühwürmchen. Wir kommen hier schon irgendwie wieder heraus.«
»Ach, Ph-Phillip, ich hatte Angst, du wärst schon t-tot«, schluchzte sie und beregnete ihn förmlich mit ihren Tränen.
»Na ja, bin ich aber nicht. Sei also ein liebes Mädchen, trockne dir die Augen, putz dir die Nase und laß uns mal überlegen, was jetzt zu tun ist.«
»Ich komme an mein Ta-Taschentuch nicht ran. Ich konnte noch nicht einmal das Blut von deinem armen Kopf wischen.«
Man hatte ihr die Hände vorne zusammengebunden. Phillip kochte förmlich, als er sah, wie der Strick in ihre schmalen Handgelenke schnitt. Er biß die Zähne zusammen – wenn er jetzt explodierte, würde das keinem von ihnen beiden helfen.
»Vielleicht kommst du ja an meines ran«, sagte er ruhig. »Wenn du meinst, daß es überhaupt noch zu benutzen ist. Es ist in meiner Hemdtasche.«
Seine Jacke, so dachte er, mußte wohl noch im Studebaker sein, wo er sie hineingeworfen hatte … Wann war das noch gewesen?
Während Gloria neben ihm kniete und nach dem Taschentuch suchte, begutachtete Philipp den Raum, in dem sie sich befanden – oder besser das, was er davon sehen konnte. Die niedrige Decke, die an zwei Seiten eine Schräge bildete, war mit rauhem, verfärbtem Putz bedeckt, auf dem schon der Schimmel wuchs. Hier und da waren uralte, durchhängende Balken zu sehen. An einer Ecke kündete ein brauner Fleck von einem Dachschaden.
Dieser Fleck verlief über die ganze Wand. Unten am Boden lagen ein paar größere Stücke heruntergefallener Putz und ein Haufen Krümel.
Etwa ein Loch zum Dachboden? Im Stillen verfluchte Phillip die verdammten Fesseln um seine Handgelenke. Nicht, daß ihm ein Fluchtweg über den Dachboden so unglaublich sinnvoll erschien, wenn er überhaupt so weit käme, aber es ärgerte ihn maßlos, daß er der Sache noch nicht einmal ordentlich nachgehen konnte.
»Ich hab’s!« Triumphierend fischte Gloria das Taschentuch mit zwei Fingern heraus und schüttelte es auf.
»Gut gemacht.«
Prompt ließ sie es auf den Boden fallen. »Zu dumm. Jetzt ist es zu schmutzig, als daß ich damit deine Wunde säubern könnte.« Sie tastete auf dem Boden herum und nahm es mit spitzen Fingern auf. Als sie es diesmal ausschüttelte, flog eine Staubwolke auf.
Phillip hielt den Atem an, bis sich der Staub wieder gelegt hatte. So, wie es im Moment um seinen Kopf bestellt war, würde ihm ein Niesen die Schädeldecke sprengen. »Du würdest sowieso Spucke benutzen müssen, Glühwürmchen. Vermutlich sehe ich entsetzlich aus, aber es wäre mir ehrlich gesagt lieber, du faßt die Wunde nicht an.«
»Armes Schätzchen, das muß ja richtig wehtun. Schmerzt dir der Kopf sehr?«
Trotz der mißlichen Lage genoß Phillip ihre Fürsorglichkeit. »Geht mir schon viel besser«, versicherte er ihr, rollte sich ungeschickt herum und setzte sich auf. Die explodierenden Granaten kehrten augenblicklich mit voller Kraft zurück, und vor seinen Augen verschwamm alles. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte er, daß ihm übel werden würde. Dann ebbte der Schmerz wieder ab und wurde zu einem dumpfen Pochen. »Aber es tut immer noch einigermaßen weh, und ich möchte gar nicht so genau wissen, wie sich die Stelle anfühlt, wo sie mir eins über die Rübe gegeben haben. Wie geht es dir denn?«
»Mir war ganz flau, als ich aufgewacht bin, aber jetzt bin ich okay. Weißt du, was die benutzt haben?«
»Dem Geruch nach zu urteilen Chloroform. Man hat mich einmal damit in Narkose versetzt, als ich mir den Arm gebrochen hatte und einen Gips brauchte. Mir wäre lieber gewesen, die hätten mich damit außer Gefecht gesetzt anstatt mit einem Kreuzschlüssel.«
»Ach, Phillip, warum haben die dich k.o. geschlagen und mich betäubt und uns hergebracht? Was wollen die nur mit uns anstellen? Was wollen die überhaupt?« Sie biß sich auf die Lippe, aber ein Schluchzen brach doch aus ihr heraus. »Und was haben sie mit Poppa gemacht?«
Sie setzte sich neben ihn und kuschelte sich an seine Seite. Hätte Phillip ein Vermögen besessen, dann hätte er jeden Penny dafür gegeben, jetzt seine Arme um sie legen zu können. Doch Arbuckle war derjenige mit dem vielen Geld.
»Lösegeld!« sagte er. »Die werden deinem Vater nichts tun, weil er schließlich frei sein muß, um die Dollars auszuspucken.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Jede Wette ist es das, worum es hier geht. Die machen das doch dauernd in Amerika, oder etwa nicht? Illegale Bars und Gangster und Kindesentführungen, davon liest man doch die ganze Zeit.«
»Das klingt so schrecklich bei dir. Dabei ist es gar nicht so schlimm. Die meisten Bars sind gar nicht so, und die Menschen sind ganz normal und haben nicht das geringste bißchen mit Gangstern zu tun.«
»Aber du bist ja kein ganz normaler Mensch, Glühwürmchen!« wies sie Phillip sanft zurecht. »Abgesehen davon, daß du die süßeste, hübscheste … na ja, also, darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Aber abgesehen davon ist es doch kein Geheimnis, daß dein Poppa im Geld schwimmt. Er ist ja praktisch eine herumspazierende Zielscheibe für Verbrecher.«
»Aber wir sind schließlich nicht in den Staaten. Und der Mann, der den Fleischerlastwagen gefahren hat, klang wie ein Engländer. Er war doch einer von denen, nicht wahr? Wahrscheinlich hatte sich der Rest hinten im Laster versteckt.«
»Wahrscheinlich. Ja, er war eindeutig ein Engländer, hatte einen Cockney-Akzent, obwohl das Nummernschild aus der Gegend hier ist. Entweder haben sie das Schild geklaut oder den Laster.«
»Cockneys kommen aus London? Für mich klingt ihr einfach alle britisch.«
»Und in meinen Ohren klingen alle Amerikaner amerikanisch. Ich hab die anderen Männer nicht reden hören, du? Das hätten doch Yanks sein können.«
Dieses eine Mal hielt ihm Gloria keine Strafpredigt, weil er diesen umgangssprachlichen Begriff für ihre Landsleute benutzte, drohte auch nicht, ihn dafür in Zukunft Limey zu nennen. Als Versuch, sie von ihrem Schicksal abzulenken, hatte diese Idee also erbärmlich versagt.
»Ich hoffe, sie sind es nicht«, sagte sie mit einem Schaudern. »Manche von diesen Verbrechern denken keine Sekunde darüber nach, ehe sie blindwütig um sich ballern.«
»Das werden die schon nicht tun. Dein Vater wird einen Beweis wollen, daß du in Sicherheit bist, bevor er auch nur einen Farthing ausspuckt. Also zehn Pennies, meine ich. Für dich: einen Dime.«
»Ach, Phillip, was bin ich froh, daß du da bist. Ich fürchte mich, aber ohne dich hätte ich noch mehr Angst.«
Sie brauchte ihn. Sie war anders als Daisy, die seine Versuche, sie zu beschützen, in der Regel als ärgerliche Einmischung betrachtete. Aber was sollte ein Mann machen, wenn er seine Angebetete vor der Welt beschützen wollte und noch nicht einmal ihre kleine Hand fassen konnte, um sie zu trösten?
Er beugte den Kopf vor und küßte sie auf die Stirn. Nicht ganz die Umstände, die er sich für den ersten Kuß vorgestellt hatte.
Die Stimmung wurde auch dadurch nicht besser, daß das Licht rasch nachließ. Das kleine, rechteckige Fenster, das sich in der Mitte einer Wand des kleinen, rechteckigen Zimmers befand, war mit schweren Brettern zugenagelt. Der Sonnenstrahl, der sich vorhin durch die Planken gezwängt hatte, war schon lange fort. Draußen würde der lange Sommerabend vielleicht noch ein wenig andauern. In ihrer Kammer jedoch würde es sehr bald schon dunkel sein.
Er glaubte nicht, daß mehr als ein paar Minuten vergangen waren, seit er aufgewacht war, aber was war er doch für ein absoluter Esel, daß er hier saß und Süßholz raspelte.
»Mein Glühwürmchen, hast du schon versucht, die Tür aufzumachen?«
»Ja. Sie hat keine Klinke, aber sie läßt sich nicht bewegen. Vermutlich ist sie auf der anderen Seite verbarrikadiert.«
»Na ja, die Chance, daß die Männer vergessen hätten, sie zuzuschließen, war ja auch eher gering. Ehe das Licht ganz weg ist, solltest du mal sehen, ob du mir die Hände losbinden kannst.«
»Das hab ich vorhin schon versucht, als du noch ohnmächtig warst. Die Knoten sind aber zu fest. Aber ich könnte ja versuchen, den Strick mit einer Glasscherbe durchzuschneiden. Da drüben unter dem Fenster liegt eine Scherbe.«
Sie kam ungeschickt auf die Füße, ging hinüber zum Fenster und bückte sich dort. »Ich hab mich nicht getraut, das vorhin zu versuchen, weil du vielleicht aufgewacht wärst und dich bewegt hättest. Das hätte ja jeden Moment sein können. Ich hatte Angst, eine Ader zu treffen und dich umzubringen.«
Phillip ging zu ihr hinüber. Unter den kleinen Splittern und Bruchteilen der zerbrochenen Fensterscheibe gab es auch drei oder vier größere Scherben. »Kannst du ein Stück aufheben, ohne dich zu schneiden?«
»Ja, aber richtig fest kann ich es nicht halten. Außerdem kann ich nicht sehr gut sehen. Na ja, jetzt wünschte ich mir, ich wäre wirklich ein Glühwürmchen.«
»Ich dreh mich besser um, damit alles Licht auf meine Hände fällt. Nun säg mal drauflos. Und keine Sorge, ich stöhne nur, wenn du mich triffst.«
Sie traf ihn, und sie schnitt ihn, und sie stieß ihm die Scherbe ins Fleisch. Nach einem »Ach, Phillip, das tut mir aber leid« beim ersten Anblick von Blut sägte sie schweigend weiter, und er schaffte es, weder zu stöhnen noch zusammenzuzucken. Es hätte wahrscheinlich schlimmer sein können, denn seine Hände waren durch den unterbrochenen Blutkreislauf einigermaßen taub.
In der Stille hörte Phillip Stimmen. Sie schienen von unten zu kommen, denn er hörte sie durch die Lücken zwischen den verzogenen Dielen.
»Hörst du das?« flüsterte Phillip. »Warte einen Moment, ich will mal versuchen zu hören, was sie sagen.« Er legte sich hin und preßte das Ohr auf eine der breiteren Ritzen. Der Geruch von Paraffin wurde noch stärker.
»… immer noch weg?« fragte jemand.
»Völlig hin und weg, als wir’s letzte Mal geschaut ham.« Das war eindeutig Cockney. Kein Yankee, auch keiner hier aus der Gegend, sondern ein Londoner.
»Dieses Chloroform ist eben ein mächtiges Zeug.«
»Du bist dir also wirklich sicher, daß du den Kerl nicht zu hart rangenommen hast, Jimmy?« Die dritte Stimme, auch mit einem Cockney-Akzent, hatte den ängstlichen Ton einer oft wiederholten Frage in sich.
»Klar doch, verdammt. Denkste, ich will hängen? Schade, daß ich meinen üblichen Totschläger nicht dabei hatte. Aber wir sollten ja nichts anderes mitnehmen, nur das Chloroform. Jedenfalls bin ich ein Künstler, was das K.O.-Schlagen angeht. Also mach dir keine Sorgen, Herzchen.«
»Vielleicht sollten wir uns gerade Sorgen machen.« Das war wieder die erste Stimme, die des Lasterfahrers, dessen war Phillip sich fast sicher. »Der Yank ist stocksauer, daß wir den Kleinen auch mitgenommen haben.«
»Wir? Wer hat denn gesagt, er würde wie ein Adliger reden, und wer hat denn seine Visitenkarten aus’m Cabriolet gefischt? Er ist ein Honourable, haste doch gesagt, und was das bedeutet, weiß jeder: Sein Pa is’n Lord.«
»Hab ich dir etwa gesagt, du sollst ihn zusammen mit dem Mädchen mitnehmen, für das wir Lösegeld woll’n?« fragte der Fahrer beleidigt. »Hab ich das etwa? Teufel auch, hab ich eben nicht! Der Yank hat Recht, das Geld von den meisten Adligen ist in Immobilien angelegt, in großen Häusern und in Kunst und so’m Kram. Die haben kein Bargeld, jedenfalls nicht auf die Schnelle, wie unser Geldsack aus Amerika. Willste etwa ein paar Wochen warten, bis seine Lordschaft ein paar von seinen schönen Bildern vertickt hat?«
»Wochen? Kommt gar nicht in die Tüte.«
»Na also.«
»Also was mach’n wir dann?« fragte die etwas ängstliche Stimme. »Wir können ihn doch nicht einfach laufen lassen. Der läuft sofort zu den Bullen.«
»Wir müssen ihn solange dabehalten, bis das Lösegeld bezahlt ist und wir das Mädchen wieder an den Pappi ausliefern.«
»Der bringt doch nichts«, sagte der Fahrer beiläufig. »Der ist doch nur ein Klotz am Bein. Der Yank sagt, ihr sollt ihn beseitigen – für immer. Ausradieren, und zwar bald.«
Ein langes Schweigen folgte auf diese Botschaft.
Phillip schauderte. Nichts in den vier Jahren des entsetzlichen Stellungskrieges war ihm so nahe gegangen wie dieser so kaltblütig vorgebrachte Befehl, ihn einfach zu ermorden. Bomben und Granaten, Giftgas, Maschinengewehrsalven, selbst das Feuer eines Scharfschützen waren unpersönlich. Man kannte den Namen desjenigen, den man gerade mit einem Bajonett traktierte, nicht. Und schließlich war es eine Frage von »töten oder getötet werden«. Aber Phillip stellte für diese Männer keine Bedrohung dar, jedenfalls keine tödliche, obwohl er natürlich mit Freuden sehen würde, daß sie den Rest ihres Lebens im Gefängnis verrotteten für das, was sie gerade Gloria antaten.
»Ich weiß ja nich…«, sagte einer zögernd.
»Ich tu’s nich«, bestätigte der mit dem Brecheisen. »Ich laß mich für niemand anderes aufknüpfen.«
»Ihr seid sowieso dran, weil ihr mitgemacht habt«, teilte ihnen der Fahrer mit. »Ist dem Yank doch egal, wer es tut, aber irgendeiner muß es, sonst ist das Geschäft geplatzt. Er denkt, daß ihn für’s erste keiner vermissen wird, wo er doch immer überall herumhüpft, heute hier und morgen da. Wenn Ihr Euren Anteil haben wollt, dann seht zu, daß Ihr Euch nicht mit dem Yank anlegt. Zieht meinetwegen Streichhölzer oder sowas.«
»Wir? Was ist denn mit dir?«
»Ich bin jetzt wieder weg, muß zurück in die Stadt. Der Alte hat mein Gesicht gesehen, damit ist es hierzulande für mich nicht mehr sicher. Hab schließlich meinen Teil beigesteuert und alles getan, wofür man mich gerufen hat. Und bin auch dafür bezahlt worden. Diejenigen, die richtig absahnen wollen, müssen eben noch ’n bißchen mehr dafür tun. Viel Spaß noch auf ’m Land, Freunde. Ich geh mich jetzt amüsieren.«
Die fröhliche Stimme wurde im Sprechen leiser, und einen Augenblick später hörte Phillip eine Tür zuschlagen. Er setzte sich auf.
»Sind sie weg?« fragte Gloria leise. »Was haben sie gesagt?«
Er dankte dem Himmel, daß sie nicht zugehört hatte. »Einer ist weggegangen. Der Rest ist noch da, oder vielleicht sind sie für einen Augenblick rausgegangen. Die sind hinter Lösegeld her, wie wir schon vermutet hatten. Sie meinten, sie würden dich laufen lassen, sobald es bezahlt ist.«
»Poppa zahlt, sobald er es irgend kann.«
»Natürlich.« Allerdings wäre das nicht bald genug für Phillip. Kampflos würde er allerdings nicht untergehen. »Gloria, hast du den Strick bald durch?« drängte er.
»Es ist wirklich schwer, Liebling«, entschuldigte sie sich. »Ein Faden könnte demnächst reißen, aber ich kann nicht mehr richtig sehen … und ich kann das Glas nicht richtig sicher halten, das ist jetzt so glitschig.«
»Glitschig? Von meinem Blut? Versuch doch mal, eine andere Scherbe zu nehmen.«
»Ich … das wird nicht länger als eine Minute gutgehen. Ich … ich blute jetzt auch.« Sie streckte die Hände aus. Im letzten Licht des Tages konnte man gerade noch sehen, wie das Blut langsam von ihren Fingerspitzen tropfte.
»Ach, mein Glühwürmchen!«
Sie kam zu ihm, legte ihre zusammengebundenen Arme über seinen Kopf und drückte sich an ihn, als ihre weichen Lippen über seine streiften.
»Mir geht es gut, solange du bei mir bist. Ach, da kommen sie ja schon.« Als sie die Stiefel die Treppe hinauftrampeln hörte, löste sie die Arme wieder von ihm, doch blieb sie dicht an ihn gedrängt stehen. »Wir werden sie bitten, uns loszubinden. Warum sollten sie das auch nicht tun? Wir können hier ja doch nicht entkommen.«
»Fragen schadet ja nichts.« Phillip versuchte verzweifelt, einen Plan zu entwickeln. Vier Männer, dachte er, wenn alle jetzt hochkamen. Aber die Tür war zu schmal, als daß mehr als einer auf einmal eintreten könnte. Dennoch war es der einzige Ausgang, und mochte er auch an dem ersten vorbeikommen, warteten immer noch die anderen drei auf ihn.
Es sah hoffnungslos aus, aber er konnte doch nicht zulassen, daß sie ihn einfach wegführten wie ein Lamm zur Schlachtbank, oder, noch schlimmer, sich vor Glorias Augen seiner entledigten. Jetzt war es wohl an der Zeit festzustellen, ob Tennis und Squash ihn so durchtrainiert hatten, wie er hoffte. Und es war keinesfalls der Augenblick, in dem man sich daran erinnerte, daß Gentlemen sich in Gegenwart von Damen nicht prügeln.
Auch wenn er seine Hände nicht benutzen konnte, so könnte er diesen Kerlen doch wenigstens etwas hinterlassen, was sie an ihn erinnern würde.
Mit einem Quietschen und Knarren wurde die Barrikade entfernt. Die Tür öffnete sich. Auf der Schwelle erschien eine stämmige Silhouette, die vom flackernden Licht einer Paraffinlampe beleuchtet wurde. Phillips Kopf traf den Kerl direkt in den Magen. Er fiel nach hinten und donnerte geradewegs in den Mann hinter ihm. Beide fielen sie die Treppe hinunter.
Während er versuchte, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, entdeckte Phillip aus dem Augenwinkel die schattenhaften Gestalten, die auf dem winzigen Treppenabsatz von beiden Seiten auf ihn eindrangen. Er trat verzweifelt um sich, als sie seine Arme griffen und der süße, üble Geruch des Chloroform ihm wieder in die Nase stieg.
Ein feuchtes Tuch wurde ihm auf das Gesicht gepreßt. Er konnte nicht atmen. Sein Kopf schmerzte wahnsinnig. Es war ihm egal.
Schwindelnd versank er im Nichts.
Wie hieß dieser Ort noch, an den die Katholiken nach dem Tod kamen, wenn sie nicht böse genug für die Hölle gewesen waren, aber auch nicht gut genug, um geradewegs in den Himmel zu gelangen? Fege-irgendwas, dachte Phillip angestrengt. Liebe Zeit, an der Geschichte war was dran. Ihm war kalt, und es war feucht. Sein Kopf und seine Schultern schmerzten, seine Hände taten weh und waren doch gleichzeitig taub, und die Lage war insgesamt verflixt ungemütlich. Auf keinen Fall war er im Himmel, aber auch noch nicht im brennenden Feuerofen.
Von irgendwoher rief ein Kuckuck. Ein Duft von wilden Rosen lag in der Luft, versprach ein zukünftiges Paradies.
Irgend etwas Warmes und Nasses glitschte über sein Gesicht. Erschrocken öffnete Phillip die Augen und schaute in die grinsende Schnauze eines gefleckten Cockerspaniels.
»Pepper, bei Fuß!«
Der Hund gab ein kurzes, selbstgefälliges Bellen von sich und streckte den Kopf vor, um noch einmal Phillips Wange abzuschlabbern.
Um Himmels Willen, war er etwa noch am Leben?
Er lag in hohem, taubenetzten Gras unter einer Weißdornhecke, in der rosa Rosen rankten. Über seinem Kopf glitzerten Tautropfen in einer Spinnwebe unter den schrägen Sonnenstrahlen des frühen Morgens. Unsichtbar kroch ihm ein Insekt am Hals hoch, ein abscheuliches Kitzeln. Aber er konnte nichts dagegen tun. Seine Hände waren immer noch gefesselt.
Er lebte!
»Pepper? Was hast du denn bloß gefunden?« rief die nervöse, schulmeisterhafte Stimme.
»Hilfe!« krächzte Phillip.
Der Hund wedelte wohlwollend mit seinem kupierten Schwanzstummel und ließ ein weiteres Bellen verlauten.
Stiefel raschelten und schlurften durch das feuchte Gras. Ein stämmiger Mann Mitte vierzig in Tweed-Knickerbockers, mit einer Jagdmütze auf dem Kopf und einem Kneifer auf der Nase stand vor Phillip. Irgendwie kam er ihm bekannt vor.