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Mord an Bord.
Daisy Dalrymple und ihr frischgebackener Ehemann Alec Fletcher von Scotland Yard reisen an Bord eines Luxusliners nach New York. Alec hat einen Spezialauftrag in den USA, und Daisy begleitet ihn. Eines Abends geht ein Mann über Bord. Eine Zeugin behauptet, er sei gestoßen worden. Der Kapitän will zuerst nicht glauben, dass es Mord war, trotzdem bittet er Alec, sich der Sache anzunehmen. Aber der ist erst mal seekrank, und so muss Daisy für ihn einspringen ...
Ein neuer Fall für Miss Daisy – very British und voller liebenswerter Figuren.
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Seitenzahl: 387
Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.
Folgende Titel liegen vor:
Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Miss Daisy und der Tod im Wintergarten
Miss Daisy und die tote Sopranistin
Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman
Miss Daisy und die Entführung der Millionärin
Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser
Miss Daisy und der tote Professor
Miss Daisy und der Tote auf dem Luxusliner
Verhinderte Hochzeitsreise für Miss Daisy
Miss Daisy Dalrymple und ihr frischgebackener Ehemann Alec Fletcher von Scotland Yard reisen an Bord des Luxusliners »Talavera« nach New York. Doch sie sind nicht etwa auf Hochzeitsreise. Alec hat einen Spezialauftrag in den USA, und Daisy darf ihn begleiten. Eines Abends geht ein Mann über Bord. Der Kapitän mag nicht glauben, daß es ein Mordversuch war, trotzdem bittet er Alec, sich der Sache anzunehmen. Aber der ist erst einmal seekrank, und so muss Daisy für ihn einspringen.
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Carola Dunn
Miss Daisy und der Tote auf dem Luxusliner
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Justine Hubert
Inhaltsübersicht
Über Carola Dunn
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Impressum
Caleb P. Arbuckles Blick war finster. Wenn man in sein langes, knochiges Gesicht geschaut hätte, hätte man höchste Unzufriedenheit bemerken können. Aber sein Begleiter in der Loge des Windmill Theatre in London, England, achtete nicht auf ihn. Jethro Gotobeds ganze Aufmerksamkeit war auf die Bühne gerichtet.
Genauer gesagt, richtete sie sich auf das dritte Girl von links in der vordersten Reihe der Revuetänzerinnen. Gotobed hatte schon auf sie hingewiesen. Zweifellos war es ein hübsches Ding. Alle waren hübsch – langbeinige Mädchen mit puppenhaften Gesichtern, weißgepudert und voller Rouge und mit knallroten Lippen; dauergewellter Bubikopf; der Rocksaum nicht einmal einen Zentimeter unter dem Knie; das Dekolleté nicht eine Idee höher als nötig, um dem Theaterdirektor den Lord Chamberlain, den gestrengen Zensor, vom Halse zu halten.
Arbuckle seufzte. Er war ja kein Puritaner. Ihn brachte der Anblick von zwanzig Paar auf und ab hüpfender Brüste nicht aus der Fassung, auch nicht die zwanzig Paar langer Beine in den neuesten hautfarbenen Strümpfen aus Kunstseide, die zu seinem Vergnügen – und dem vieler anderer Zuschauer – recht weit nach oben schwangen. Nein, nein, mein Lieber, dagegen hatte er nichts einzuwenden.
Es war auch nicht sein Begleiter, der ihn so verstimmte, bei weitem nicht. Für einen Briten war Gotobed ein rechter Mordskerl, ein Geschäftspartner, der ein ziemlich guter Freund geworden war. Arbuckle hatte selbst die traurige Erfahrung gemacht, daß es einem Millionär an guten Freunden mangelte. Aber die wenigen waren nicht zu verachten. Außerdem gehörte Caleb P. Arbuckle nicht zu der Sorte von Leuten, die einen Freund, der in Schwierigkeiten steckte, im Stich ließen, und diese Broadway-Schönheit da auf der Bühne würde sicher für Probleme sorgen, darauf wollte er wetten.
Als die Nummer dem Ende zuging, die Beine durcheinanderwirbelten und man die Strumpfhalter aufblitzen sah, lehnte sich Gotobed näher zu Arbuckle hinüber und stieß ihn an.
»Das Mädchen da – Miss Fairchild – hat danach ihr Solo«, flüsterte er. Zuerst hatten Arbuckle die breitgezogenen Vokale seines Yorkshire-Dialekts mächtig irritiert, doch inzwischen verwunderten sie ihn nicht mehr als ein gedehntes Texanisch. »Sie hat ’ne großartige Stimme«, fuhr Gotobed fort. »Hätte auch Opernsängerin werden können, mit ’nem bißchen Übung. Natürlich würde ich sofort ihre Gesangsstunden übernehmen, aber sie sagt, es sei zu spät. Sie macht kein Geheimnis draus, daß sie dreißig ist, mir gegenüber nicht. Doch leise jetzt, was Sie jetzt hören, lohnt sich.«
Das Licht von der Bühne her verschwand nun von seinem strahlenden Gesicht – es war das große, rötliche Gesicht eines Bauern vom Lande, nicht das eines cleveren Kerls, als den Arbuckle ihn kannte. Gotobed hatte seine Millionen mit Stahl gemacht, und es waren, bei Gott, ganz ehrlich verdiente Pfund Sterling, bei eins zu fünf von Pfund Sterling zu Onkel Sams Dollarscheinen. Doch nun sprang dieses Fairchild-Flittchen mit dem armen Burschen so um, als sei er wirklich der Trottel, der er äußerlich auch schien. Sie war drauf und dran, sich ihn wegen jedes einzelnen seiner Pennys zu greifen.
Jetzt tönte es schmachtend von der Bühne:
»Liebling, ich werde alt, das ist wahr –
Silbersträhnen zwischen dem goldenen Haar …«
Kein einziger verliebter Blick zu Gotobed hinauf. Hatte einfach zu viel Grips, um so etwas Verräterisches zu tun. Nur ein halb verschmitzter, verschwörerischer Blick blitzte zur Loge empor. Noch keine grauen Haare, sagte dieser Blick, aber wir beide wissen ja, daß ich auch nicht mehr die Jüngste bin.
Und wie auf ein verabredetes Zeichen hin glitt Gotobeds Hand über sein angegrautes Haar, und er sagte rechtfertigend: »Ich weiß, ich bin doppelt so alt wie sie, aber sie ist immerhin alt genug, um zu wissen, was sie will.«
Alt genug, um zu wissen, daß ihre Tage bei der Revue gezählt waren, dachte Arbuckle. Wenn sie zugab, dreißig zu sein, ging sie wahrscheinlich schon auf die Vierzig zu. Eine hübsche kleine Stimme, aber nicht genügend Talent für große Soloauftritte, noch dazu, wo das Interesse am Varieté immer mehr nachließ. Schließlich befand man sich im Jahr 1923, und in diesen modernen Zeiten waren die Lichtspielhäuser der letzte Schrei.
Ja, mein Lieber, Wanda Fairchild hatte sich nach dem Hauptgewinn umgesehen, und Jethro Gotobed war der Einfaltspinsel, der für ihre Zukunft sorgen sollte. Verdammt noch mal, es könnte ihm sogar passieren, daß sie ihn in den Hafen der Ehe lotste, wenn er nicht aufpaßte!
Aber es war ja nicht so, daß Caleb P. Arbuckle hierfür keine Ideen hatte. Eine Ablenkung war dringend vonnöten. In Arbuckles Kopf keimte ein Plan.
»Mama wird mir nie verzeihen«, sagte Daisy. Als sich der große grüne Vauxhall in einem Konfettiregen langsam vom Bordstein entfernte, packte sie ihren Strauß Rosen mit einer Hand und strich mit der anderen ihr cremefarbenes Leinenkostüm glatt.
»Daß du mich geheiratet hast?« fragte Alec leise und blickte auf den Rücken des Chauffeurs.
»O nein, Liebling. Seit sie erfahren hat, daß du Detective Chief Inspector bist und kein einfacher Bobby, hat sie sich damit abgefunden, daß ich einen Polizeibeamten zum Mann nehme. Zumal eine unverheiratete Tochter von sechsundzwanzig Jahren eine schreckliche Schande für jemanden ihrer Generation ist.« Daisy hörte ihr eigenes Geplapper, konnte sich aber nicht zügeln. Schließlich war sie das erstemal verheiratet, und das war ein ganz besonderes Gefühl. »Was Mama angeht«, fuhr sie fort, »ist es nicht weiter tragisch, daß deine Mutter mich genausowenig mag wie meine dich.«
»Ich fürchte, das stimmt«, gab er zu, »aber Belinda betet dich an. Fast so sehr wie ich.«
Als er sie so ansah, war es schwer zu glauben, daß diese grauen Augen in der Lage waren, nicht spurenden Untergebenen wieder Haltung beizubringen oder Verbrecher bis ins Mark zu erschüttern. »Alec, mein Hut!« kreischte sie, als er sie stürmisch in die Arme nahm.
Auch wenn sie einige Minuten lang nicht sprechen konnte, so hatte sie doch die Ohren offen. Sie konnte das glucksende Gekicher von Bill Truscott hören, der den Vauxhall an diesem strahlenden Oktobertag mit heruntergelassenem Verdeck zum Dorchester Hotel lenkte – er war ein schreckliches Faktotum.
Das Auto samt Chauffeur hatte Daisys Vetter Edgar, Lord Dalrymple, zur Verfügung gestellt. Lord Dalrymple hatte sich geehrt gefühlt, trotz der kurzfristigen Heiratsankündigung. Er war mit ganz altväterlichen Vorstellungen angetreten, hatte darum gebeten, Brautführer sein zu dürfen und einen großartigen Empfang auszurichten. Daisy hatte nicht den Mut gehabt, ihm das auszuschlagen, wußte sie doch, wie schuldig sich der ehemalige Schulrektor fühlte, nach dem Tod ihres Vaters während der Influenza-Epidemie von 1919 Fairacres und den Viscount-Titel geerbt zu haben.
Eigentlich hätte ihr Vater den Platz einnehmen sollen, um seine Tochter Alec zu übergeben, er oder ihr Bruder Gervaise, der in den Schützengräben von Flandern gefallen war. Ebensogut hätte ihr auch Michael, ihr damaliger Verlobter, den Ring auf den Finger schieben können, wenn nicht jene Landmine den Sanitätswagen in die Luft gejagt hätte. Ihr Hals schnürte sich zu, sie mußte die Tränen zurückdrängen.
Sie liebte Alec sehr, aber ihr Blick war verschleiert, während sie hinter sich einen Blick auf den nachfolgenden Autotroß warf. Im ersten Wagen befanden sich Vetter Edgar, die Witwe Lady Dalrymple und Daisys Brautjungfer, ihre einstige Hausgenossin und Freundin Lucy Fotheringay. Der zweite, der von Alec so gehegte und gepflegte Austin Chummy, wurde von seinem Sergeant Tom Tring gefahren, der sein Trauzeuge gewesen war. Auf dem Rücksitz saß Mrs. Fletcher, steif wie ein Stock, neben ihr Alecs zehnjährige Tochter Belinda, die leicht auf und ab hüpfte.
Es war eine kleine Hochzeitsgesellschaft, genau wie es sich Daisy gewünscht hatte, doch ganz und gar nicht so, wie es ihre Mutter für angebracht gehalten hätte.
»Sie wird mir das Standesamt nie verzeihen«, seufzte Daisy, »sie wollte in die St.-George-Kirche am Hanover Square, wo der Adel heiratet. Liebling, ich bin schrecklich froh, daß dir Superintendent Crane so ohne weiteres und kurzfristig deinen zweiwöchigen Urlaub bewilligt hat.«
»Ich auch, weil du dich so darüber freust, Liebes.« Alecs dunkle, ja beinahe grimmige Augenbrauen zogen sich zusammen. »Und doch habe ich das ungute Gefühl, daß er noch etwas in petto hat.«
»O Alec, er kann dich einfach nicht darum bitten, einen Fall zu übernehmen, während wir in den Flitterwochen sind!«
»Deshalb hatte ich eine Woche Jersey vorgeschlagen. Die Kanalinseln unterliegen ihrem eigenen Rechtssystem, das geht uns nichts an. Und in Scotland Yard habe ich niemandem gegenüber erwähnt, daß wir die zweite Woche zu Hause verbringen werden. Nein, ich nehme an, der Superintendent hat etwas Besonderes für mich auf Lager, wenn ich wieder in London antrete.«
»Dann wollen wir uns jetzt darüber keine Gedanken machen, Liebling. Oh, da sind wir schon. Du hast meine Blumen zerdrückt. Sitzt mein Hut noch richtig?«
Der Empfang verlief in einem ganz anderen Rahmen als die Hochzeit. Trotz der kurzfristigen Einladungen waren nur wenige der eingeladenen Gäste nicht erschienen. Der Ballsaal des Dorchester war randgefüllt mit Verwandten aus Daisys aristokratischer Familie, mit Alecs Kollegen von der Londoner Polizei und einer ausgewählten Schar von Freunden.
Daisy schloß rasch Freundschaften und, wie ihre Mutter meinte, ohne Rücksicht auf die soziale Herkunft. Die Viscountess-Witwe stand in der ersten Empfangsreihe und mußte dort unter anderem einem indischen Arzt, einem amerikanischen Industriellen und einem russich-jüdischen Geiger die Hand schütteln.
»Ich wußte, daß du sicher höchst unschickliche Bekanntschaften machen würdest, als du so darauf bestanden hattest, dir deinen Unterhalt selbst zu verdienen«, stöhnte sie, »aber mußt du dich mit all den Leuten gleich anfreunden?«
»Kopf hoch, Mama«, flüsterte Daisy. »Da kommen Lord und Lady Wentwater. Ich habe einen Artikel über Wentwater Court geschrieben, erinnerst du dich?«
Trotz ihrer eher mißbilligenden Einstellung zu Daisys Tätigkeit durften ein Earl und eine Countess nicht unhöflich sein. Zumindest blieben Daisy vorerst weitere Vorwürfe erspart.
Ein anderer »schicklicher« Gast war der Honourable Phillip Petrie, der auf dem Landsitz neben Fairacres aufgewachsen war. Lady Dalrymples einziger Einwand gegen ihn bestand darin, daß er Daisy nicht geheiratet hatte. Nicht, daß er es nicht versucht hätte. Als engster Freund von Gervaise hatte ihn sein Ehrgefühl schon vor langer Zeit dazu verpflichtet, sich um Gervaises kleinere Schwester zu kümmern; so hatte er in regelmäßigen Abständen um ihre Hand angehalten.
Nachdem ihn Daisy mit gleicher Regelmäßigkeit immer wie-der abgewiesen hatte, war er vor kurzem mit einem amerikanischen Mädchen den Bund der Ehe eingegangen. Er schien ziemlich vernarrt zu sein in seine goldgelockte Gloria, die er meist – wie abstoßend! – Glühwürmchen nannte.
Später, nachdem die Hochzeitstorte angeschnitten worden war und sich Daisy und Alec mit Phillip und Gloria unterhielten, kam Glorias Vater, Mr. Arbuckle, auf sie zu. Merkwürdigerweise wurde er von Detective Superintendent Crane begleitet, sie schienen auf sehr freundschaftlichem Fuß miteinander zu stehen.
Sie bildeten ein eigenartiges Paar, und ihre äußerlich gleiche Erscheinung in formellem Cut und gestreiften Hosen betonte ihre Unterschiedlichkeit nur noch. Der amerikanische Millionär war untersetzt und hager, sein langes Gesicht wirkte durch den zurückgehenden Haaransatz noch länger. Der englische Polizeibeamte war größer als der gewöhnliche Durchschnitt, sein Körper immer noch muskulös (dreimal die Woche schlug er seine Bälle an die Wand, Alec zufolge), sein sandfarbenes Haar ergraute langsam, war aber immer noch dicht.
Mr. Arbuckle wirkte selbstgefällig, Mr. Crane eher höflich auf eine Weise, wie es alle Kriminalbeamten in der Öffentlichkeit taten, wie Daisy schon seit langem vermutete. Sie betrachtete ihn mißtrauisch.
»Er hat da etwas in petto«, murmelte sie.
Gloria hatte ihre Worte aufgeschnappt und blickte sich um. »Ja, Papa führt etwas im Schilde«, sagte sie. »Ich weiß zwar nicht, was, aber er steckt mit Mr. Crane unter einer Decke, glaube ich. Ich habe sie miteinander tuscheln sehen, du nicht auch, Schatz?«
Phillips hübsches Gesicht blieb ohne jede Regung. Bei jedem, den Daisy weniger gut kannte, hätte sie angenommen, daß er wußte, was da vor sich ging, und daß er das zu verheimlichen suchte. Bei Phillip bedeutete jedoch eine reglose Miene nichts weiter als Ahnungslosigkeit. Stellte man ihn vor einen Automotor, so entwickelte er fast geniale Fähigkeiten, wie sein Schwiegerpapa sich ausdrückte. Doch es gab nur wenig mehr, was seine Hirnzellen in Bewegung versetzen konnte, seine junge Braut ausgenommen.
»Eh, ja«, stimmte er unsicher zu, wobei er mit der Hand über seinen ohnehin schon glatten blonden Schopf fuhr.
Arbuckle und Crane waren nun bei ihnen angelangt. Die üblichen Glückwünsche für den Bräutigam und für das Wohl der Braut wurden wiederholt. Während der kurzen Pause, die sich daran anschloß, bemerkte Daisy auf dem gelassenen Gesicht des Superintendent eine Spur von Verlegenheit. Nun wandte er den Kopf seinem Mitverschwörer zu.
»Nu-u-n, ich habe da eine Überraschung für Sie, meine Herrschaften«, sagte Arbuckle und strahlte. »Ich könnte mich darüber amüsieren, Fletcher, daß ausgerechnet ich in der Lage war, für Sie in Washington ein paar Fäden zu ziehen, und Ihnen nun das Ergebnis mitteilen kann. Sie müssen wissen, unser neuer Präsident, Mr. Coolidge, möchte im Investigation Bureau des Justizministeriums aufräumen – das ist so etwas wie unsere bundesstaatliche Polizei –, und Mann o Mann, das haben sie auch nötig! Die Orgiasställe waren da noch harmlos, glauben Sie mir.«
Er grinste blöd, denn er war zufrieden mit sich selbst, einen Bezug zur klassischen Mythologie hergestellt zu haben. Nachdem Daisy sich kurzzeitig ausgemalt hatte, wie sich berittene Polizei in Orgien erging, übersetzte sie seinen Ausdruck mit Augiasställe. In ihrer Schule hatte man es zwar nicht für angebracht gehalten, dem minderen Verstand junger Mädchen Griechisch und Latein zuzumuten, aber die mythologischen Geschichten, von anstößig erscheinenden Stellen bereinigt, gab es massenhaft.
»Ich habe solche Gerüchte gehört«, gab Alec vorsichtig zu.
»Schmiergelder heißt es, bis in die obersten Etagen. Burns, der Chef, hat Bundesangestellte in seiner eigenen Detektei arbeiten lassen. Nu-u-n, um die Sache abzukürzen, mich hat man mit diesem klugen jungen Kerl bekannt gemacht, der wahrscheinlich mal der Boß sein wird. Ich habe mit ihm ein Überseegespräch geführt und ihn davon überzeugt, daß er sich mit Scotland Yard in Verbindung setzen muß.«
»Und mit der Sûreté«, warf Superintendent Crane trocken ein.
»Unseren galanten Verbündeten gegenüber muß man fair sein, Sir, oder zumindest so tun als ob. Wie dem auch sei, ich wollte sagen, daß es in den Staaten nicht eine Polizeibehörde gibt, die einen Pfifferling wert ist, nicht, wenn es um große Ideen für die Organisation der Dinge auf einer vernünftigen und ehrlichen Grundlage geht. Und nachdem ich mich darüber mit J. Edgar Hoover abgestimmt hatte, war Ihr Commissioner ganz leicht rumzukriegen.«
»Ich hoffe, daß Sie ihn das nicht hören lassen!« rief Crane nicht ein bißchen verstimmt aus.
»Ich will nur sagen, daß er ein vernünftiger Kerl ist«, versicherte ihm Arbuckle rasch.
Daisy, deren Laune nun ihren Tiefpunkt erreicht hatte, beschloß, daß es an der Zeit war, dem drohenden Unheil ins Auge zu sehen. »Aber in welcher Sache hat sich denn der Commissioner so vernünftig erwiesen?« fragte sie.
Daraufhin strahlte Arbuckle sie triumphierend an. »Tja, zuerst stimmte er zu, jemanden rüberzuschicken, um den jungen J. Edgar zu beraten, und dann stimmte er zu, daß Detective Chief Inspector Fletcher der beste Mann für diesen Job sei.«
»Aber wir haben doch soeben erst geheiratet!« jammerte Daisy, wobei sie Alecs Arm packte und sich fest an ihn klammerte. Alec legte seine Hand auf die ihre und öffnete den Mund, doch Gloria kam ihm zuvor.
»Papa, wie konntest du nur!«
»Na, na, Liebes, laß deinen alten Papa mal ausreden. Es tut mir mächtig leid, Mrs. Fletcher – ich hätte andersherum anfangen sollen. Sie fahren auch mit, verstehen Sie, alle Reisespesen werden übernommen.«
»Oh, aber das kann ich unmöglich annehmen …«
»Nicht ich bezahle das, nicht, daß ich mich nicht glücklich schätzen würde, es zu tun. Ich stehe bei Ihnen tief in der Kreide, bei Ihnen und Fletcher, wo Sie beide letztendlich die Entführung meiner Tochter vereitelten. Meinen Sie nicht, daß ich das jemals vergessen werde! Wenn Sie drüben in den Staaten sind, so hoffe ich – hoffen wir, nicht wahr, Liebes? –, Sie werden auf unserem kleinen Landsitz unsere Gäste sein.«
»Donnerwetter, ganz sicher, Papa. Das ist eine tolle Idee.«
»Wir werden alle zusammen auf dem Dampfschiff Talavera rüberfahren. Es gibt andere Leute, denen es auch ein Vergnügen ist, die Kosten dafür zu übernehmen, Mrs. Fletcher. Ja, meine Liebe, ich habe mit Ihren Verlegern gesprochen, hier in London und drüben in Manhattan. Hier ist ein Telegramm aus New York und auch ein Brief von dem Londoner Kollegen. Sehen Sie, beide wollen einen Artikel über die Reise und Ihre Eindrücke von Amerika.«
Daisy war natürlich völlig sprachlos und sehr erregt und auch ein wenig verärgert darüber, wie man alles für sie in die Wege geleitet hatte. Während sie die beiden Nachrichten überflog, wandte sich Alec an Crane.
»Man hat mir zwei Wochen Urlaub versprochen, Sir«, sagte er leise.
Das Gesicht des Superintendent blieb verbindlich, aber seine Augen funkelten. »Nun mal mit der Ruhe«, sagte er. »Sie bekommen eine schöne Woche Schiffsreise, hin und zurück, mit Genehmigung der Regierung Seiner Majestät, und das Beste daran, es ist ein zusätzlicher Urlaub. Die Talavera legt erst an dem Mittwoch, nachdem man Sie im Dienst zurückerwartet, von Liverpool ab.«
»Ah.« Alec blieb weiterhin vorsichtig. »Was ist mit dieser Einladung zu Arbuckle?«
»Ihre Rückfahrt ist schon gebucht. Wenn Sie in Washington eher fertig werden, können Sie tun und lassen, was Ihnen beliebt.« Crane zog Alec ein wenig zur Seite und sprach etwas leiser: »Folgendes ganz im Vertrauen: Arbuckle verfügt hier bei uns über einen gewissen Einfluß, und wir können eine Anfrage der amerikanischen Regierung nicht einfach ignorieren. Doch ausschlaggebend, Sie so lange fortzulassen, war für den Assistant Commissioner die Aussicht, daß Mrs. Fletcher sechs Wochen lang nicht in einen neuen Kriminalfall verwickelt werden kann.«
»Meine Mutter …? Ach so, Daisy meinen Sie!«
Crane lachte vergnügt. »Alles, was sie in Amerika anstellt, unterliegt nicht unserer Rechtsprechung, und was immer dort passieren mag, so werden Sie zumindest auf dem Schiff Ihre Ruhe haben.«
»Ja«, sagte Alec voller Hoffnung, »an Bord kann sie unmöglich Ärger bekommen.«
Daisy stand mit dem Rücken zur Reling und beobachtete, wie die Sonne hinter den unzähligen Masten und den grüngestrichenen Schornsteinen mit dem weißen W der Wellington-Schifffahrtsgesellschaft unterging. Über ihr kreisten rosafarbene Möwen und kreischten.
»Abendglut, morgen wird das Wetter gut«, sagte Belinda mit kläglicher Stimme. »Ich f-freue mich, daß ihr schönes Wetter haben werdet.«
»Also siehst du, Liebes, wir werden nicht untergehen.« Daisy drückte die kleine Hand, die die ihre fest umklammert hielt. »Wir sind in sechs Wochen zurück, wohlbehalten und gesund.«
»Sechs Wochen sind eine schrecklich lange Zeit. Dann ist fast Weihnachten.«
»Das stimmt. Wir werden unsere Weihnachtseinkäufe in Amerika machen. Stell dir nur mal vor, was wir für ungewöhnliche Geschenke mitbringen werden, Bel!«
»Das wäre schön«, sagte Belinda höflich, aber ganz ohne Begeisterung. »Nur, was ist, wenn Großmutter will, daß ich Nana los werde, während du und Daddy drüben seid?«
Daisy blickte zu der Bank hinüber, auf der Alec und Mrs. Fletcher senior saßen und sich recht ernst unterhielten. »Liebes, ich bin sicher, daß der Welpe zu den Dingen gehört, die dein Daddy gerade mit deiner Großmutter bespricht.«
Alec hatte zwar vor seiner Abfahrt aus London verschiedene Geldangelegenheiten mit seiner Mutter geklärt, aber andere kitzlige Themen hatte er sich bis zum letzten Moment aufgespart. Nana war ein munterer, Pantoffel kauender Hundemischling, und Mrs. Fletcher machte für dessen Einzug in ihren peniblen Haushalt Daisy zu Recht verantwortlich.
Nach einer glücklichen Woche auf den Kanalinseln hatte sich die zweite Hälfte der Flitterwochen in St. John’s Wood recht schwierig gestaltet. Auch wenn Daisy jeglichem Wunsch abgeschworen hatte, etwas zu ändern (zumindest vorerst), geschweige denn die Haushaltsführung an sich zu reißen, so war Mrs. Fletcher dennoch ärgerlich und mißtrauisch geblieben. Daisy konnte nur hoffen, daß ihre Schwiegermutter während der sechswöchigen Abwesenheit Zeit hatte, sich an Alecs neuerliche Heirat zu gewöhnen.
Tatsächlich schien die Reise nach Amerika ein Geschenk des Himmels zu sein – außer für die arme Belinda.
Daisy fand keine Möglichkeit mehr, das Kind weiter zu trösten, denn Mr. Arbuckle kam auf sie zu. Er war bereits in seiner Schiffskluft, einem grünlichen Tweedanzug mit Knickerbockern von Harris. Er lüftete seine dazu passende flache Mütze und griff dann Belinda liebevoll unters Kinn, wobei er ihr eine Zehn-Shilling-Note zusteckte.
»Du liebe Güte, vielen herzlichen Dank …, ich meine, sehr vielen Dank!«
»Dieses Geld kann ich zu Hause schlecht gebrauchen, Kleines«, sagte er vergnügt, blickte dabei aber besorgt zur Achtergangway hinüber, über die immer noch Passagiere an Bord gingen. »Ich erwarte noch einen Freund, Mrs. Fletcher«, fuhr er fort. »Ich hoffe nur, daß er nicht im letzten Moment abgesprungen ist.«
»Abgesprungen ist – oh, aufgegeben hat? Warum sollte er?«
»Nu-u-n, es ist so, sehen Sie. Jethro Gotobed ist ein cleverer Kerl, Sohn eines Landarbeiters. Hat mit vierzig seine erste Million gemacht, doch jetzt ist er sechzig und immer noch Junggeselle, da kann es einem mulmig werden. Was Frauen betrifft, so ist er wie ein Kind. Er hat sich eingelassen mit einer …« Arbuckle blickte auf Belinda, die ihn mit unschuldigem Interesse ansah.
»Heißt er wirklich Go-to-bed?« fragte sie.
»Aber sicher, Kleines. Genau die gleiche Frage habe ich gestellt, als wir miteinander bekannt gemacht wurden.«
»Ich glaube, es ist ein altehrwürdiger Name«, sagte Daisy. »Weiß der Himmel, was der erste Gotobed tat, um diesen Namen zu verdienen.«
Während Belinda laut vor sich hin kicherte, flüsterte Arbuckle Daisy hinter vorgehaltener Hand etwas zu und nickte dabei bedeutsam: »Ein Revuegirl. Mir schien, daß er ohne sie verdammt besser dran wäre, wenn Sie verstehen, was ich meine, also habe ich ihn vorsorglich eingeladen. Klar, Sie und Fletcher sind zwar immer noch in den Flitterwochen, aber ich dachte, daß es Ihnen vielleicht nichts ausmacht, mich darin zu unterstützen, ihn auf andere Gedanken zu bringen und ihm eine vergnügliche Zeit zu verschaffen. Aber er ist nicht da. Ich schätze, sie hat ihre Krallen noch tiefer in ihn reingehauen, als … Nein, da ist er ja!«
»Wo denn?« Daisy drehte sich um, um auf den vollen Kai zu blicken. Die Ladebäume hievten immer noch Fracht an Bord, denn die Talavera war sowohl Frachter als auch Passagierschiff für zweihundert Personen – ohne Zwischendeck, nur Kabinenklasse. Im hinteren Bereich liefen einige jener Passagiere umher und doppelt so viele Bekannte und Verwandte, die sich von ihnen verabschieden wollten. »Wer ist Mr. Gotobed?«
»Betritt gerade die Gangway. Der Bursche in dem … Ach, ich will verdammt sein …!« Arbuckle stöhnte. »Der alte Gauner, der, wenn das an seiner Seite man nicht diese Harpie ist!«
Eine hochgewachsene Frau mit karminroten Handschuhen hing an dem Arm eines zu kurz geratenen stämmigen Mannes. Er trug einen Ulster mit grauem Schultercape und eine altmodische Mütze, die vorn und hinten spitz zulief und Ohrenklappen besaß, die mit einer kleinen Schleife oben auf dem Kopf zusammengebunden waren. Die üppigen Kurven, die von einem figurbetonten rosaroten Kostüm unterstrichen wurden, widersprachen ganz der gängigen Mode, in der Busen und Po so gut wie nicht vorhanden sein durften. Daisy, deren immerwährender Kampf mit ihren eigenen Rundungen recht aussichtslos war, bewunderte es, daß diese Frau so offenkundig das Modediktat ignorierte.
Die sinnliche Harpie drehte ihren Kopf und blickte auf, wobei sie in Gotobeds rötliches Gesicht lachte. Die untergehende Sonne fiel auf eine rot aufleuchtende Brosche, mit der ein paar lange rosafarbene Federn an ihrem feuerroten Glockenhut angebracht waren.
Belinda war auf die unterste Geländerstange geklettert und beobachtete mit großem Interesse die an Bord gehenden Passagiere. »Ist diese Dame wirklich eine Harpie, kann sie wirklich Harfe spielen? Einmal kam in unsere Schule eine Dame mit ihrer Harfe, das hat mir gefallen. Meinst du, ich könnte es auch irgendwann lernen statt Klavier, wenn ich groß genug bin, M-Mummy?«
Immer noch stolperte sie ein wenig über diese ungewohnte Anrede – ihre richtige Mutter war an Grippe gestorben, als sie erst vier Jahre alt gewesen war. Daisy war inzwischen mehr und mehr daran gewöhnt, Mrs. Fletcher genannt zu werden, oder manchmal auch Mrs. Alec, aber bei dem Wort »Mummy« verspürte sie innerlich ein seltsames, warmes Gefühl.
»Das denke ich schon, Liebes.«
»Belinda, komm da sofort herunter.« Die erregte Stimme von Mrs. Fletcher senior ertönte hinter ihnen. »Nur ungezogene Jungen klettern da hoch. Du wirst noch runterfallen.«
Belinda warf Daisy seitlich einen verschwörerischen Blick zu und setzte ein dünnes Bein in schwarzem Strumpf hinunter. Daisy legte einen Arm um ihre Taille.
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich halte sie.«
Ihre Schwiegermutter runzelte die Stirn. »Nun komm schon, Kind. Wir müssen den Zug nach London noch schaffen.«
Belinda sprang hinunter und schlang ihre Arme um Daisy, um sie rasch noch einmal zu drücken, dann rannte sie hinüber zu Alec. Er beugte sich nach vorn, und sie klammerte sich fest an ihn.
Mrs. Fletcher senior warf ihrer Enkelin einen ungeduldigen Blick zu. Von ihrem viktorianischen Standpunkt aus mußten sich Mädchen nicht nur wie kleine Damen verhalten, obwohl man den Jungen erlaubte, sich wie Jungen zu verhalten, sondern offene Gefühlsbekundungen wurden regelrecht mißbilligt. (Daisy hatte in beiderlei Hinsicht umstürzlerische Ansichten.)
Sie drehte sich zu Daisy um und sagte nicht gerade überzeugend: »Ich hoffe sehr, daß die Reise angenehm verläuft.«
Alec begleitete die beiden, wobei er Belindas Hand festhielt, zur Treppe zum unteren Deck, und dann brachte er seine Mutter die Stufen hinunter. Als sie verschwanden, blieb Daisy taktvoll bei Mr. Arbuckle zurück.
»Kinder dürfen nicht alles hören«, sagte er. »Wenn Wanda Fairchild doch nur wirklich Harfenistin wäre und nicht so eine billige kleine Goldgräberin! Das wird alles ziemlich gräßlich werden.«
»Vielleicht ist sie nur gekommen, um sich von ihm zu verabschieden. Oder …« Daisy verstummte, als Phillip, dessen sonst stets fröhliches Gesicht ganz finster wirkte, zu ihnen hocheilte, wobei ihm Gloria resigniert in einem scharlachroten, mit Zobel besetzten Gewand folgte.
»Papa, ist das die Frau, von der du uns erzählt hast, die da mit Mr. Gotobed an Bord gekommen ist?«
»Ja, Liebes.«
»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Phillip, »ich weiß zwar, Gotobed ist ein Freund von Ihnen, aber ich kann Gloria unmöglich mit seiner … seiner … zusammenkommen lassen.«
»Mit seinem Flittchen.« Arbuckle schüttelte den Kopf. »Das würde ich auch nicht, mein Sohn, und wir können nicht erwarten, daß Miss Dalrymple – Mrs. Fletcher – mit so einer Person Bekanntschaft macht. Es wird ganz schön heikel, falls der arme alte Einfaltspinsel versucht, sie überall einzuführen.«
»Angenommen, sie haben hier auf dem Luxusliner separate Kabinen«, sagte Daisy, denn sie empfand ein wenig Mitleid mit der verunglimpften Miss Fairchild, »und vielleicht stellt er sie als eine Bekannte vor, dann kann man sie nicht schneiden. Und außerdem gibt es immer noch die Möglichkeit, daß Ihre Einladung, Mr. Arbuckle, die Dinge einfach beschleunigt hat …«
Wieder wurde sie unterbrochen. Ein Junge in Schiffsuniform lief herum und rief: »Bitte, alle Besucher von Bord! Alle Besucher von Bord!«
Arbuckle drehte sich wieder zur Reling um. »Okay, wollen mal sehen, ob sie von Bord geht.«
Wie die meisten Passagiere lehnten sie sich nun an die Reling und beobachteten die Gangway. Ein paar verspätete Fahrgäste gingen immer noch an Bord, der Strom der nun abziehenden Besucher kam ihnen entgegen. Unter den letzteren entdeckte Daisy Mrs. Fletchers altmodischen flachen Hut mit der aufgerollten Krempe und Belindas marineblauen Schulhut. Bel blickte nach oben und winkte ganz wild mit einem Taschentuch. Daisy winkte wild zurück.
Nirgendwo aber tauchte Miss Fairchilds eleganter feuerroter Glockenhut auf. Arbuckle lehnte sich immer weiter nach vorn über das oberste Geländer, bis Gloria ihn am Ärmel packte und zurückzog.
»Nichts zu sehen«, sagte er untröstlich.
»Nun, Papa, du weißt, wenn sie ›Alle Besucher von Bord‹ mindestend ein dutzendmal gerufen haben, dann erklingt erst das Pfeifsignal.«
»Das stimmt schon, Liebes. Aber selbst wenn sie an Bord bleibt, haben wir vielleicht die Möglichkeit, ihn aus ihren Fängen zu retten. Als erstes werde ich mal mit dem Zahlmeister reden und versuchen, daß man sie an einem anderen Tisch plaziert und sie an Deck keinen Liegestuhl in unserer Nähe bekommt. Ansonsten habe ich es schon geregelt, daß wir alle zusammen sind.«
Er wollte schnell los, hatte seine Hand bereits an der Geldbörse, als ihn Daisy am Arm griff.
»Warten Sie bitte, Mr. Arbuckle. Es wäre doch schrecklich, wenn Sie sie trennen würden und sie …«
»Mr. Arbuckle? Davis, Sir, Zweiter Maschinist. Sie hatten darum gebeten …«
»Ah, ja!« Arbuckles Gesicht heiterte sich auf, nun wandte er sich an Phillip. »Mein Sohn, ich habe für dich eine Führung durch den Maschinenraum arrangiert. Man hat erst vor kurzem von Kohle auf Ölverbrennungsmotoren umgestellt, wie man mir sagte. Ich dachte, daß du gern dabei sein würdest, wenn sie alles zur Abfahrt in Gang setzen.«
»Ich kann nur sagen, Sir, eine prächtige Idee! Gehen Sie voran, Davis.«
»Ich komme auch mit«, sagte Gloria.
»Aber, Liebes, der Maschinenraum ist doch kein Ort für eine Dame.«
»Ist schon gut, Sir«, sagte Phillip entschlossen, wobei er Glorias Arm umschlang. »Ich werde auf sie aufpassen.«
»Gut, sagt er!« Daisy blickte ihnen hinterher. Nachdem Phillip so häufig darauf beharrt hatte, daß Schriftstellerei um des Geldverdienens willen nichts für eine Dame sei, ermutigte er gerade seine Frau dazu, sich für technische Dinge zu interessieren!
»Ich vergesse öfter, daß sie nun verheiratet und nicht mehr mein kleines Mädchen ist«, sagte Arbuckle kleinlaut. »Ah, da kommt ja Fletcher. Er hat bestimmt eine Idee, wie man mit der Situation umgehen soll.«
Während Arbuckle Alec die Angelegenheit erläuterte, blickten er und Daisy weiter auf die Gangway. Plötzlich wurde eine fröhliche Stimme in reinstem Yorkshire-Dialekt hinter ihnen hörbar.
»Arbuckle!«
»Gotobed!« Arbuckle drehte sich rasch um. »Ich habe bemerkt, wie Sie die Gangway heraufgekommen sind. Dieses Monstrum auf Ihrem Kopf würde ich schon auf eine Meile Entfernung erkennen.«
Daisy wandte sich nun auch um und sah den Gentleman in dem grauen Überzieher mit dem altmodischen Schultercape und der rotgrünkarierten länglichen Mütze. Wie ein Millionär kleidete er sich sicher nicht.
Neben ihm stand, ihren Arm besitzergreifend um den seinen geschlungen, die Dame in dem rosafarbenen Kostüm.
So aus der Nähe betrachtet und mit der untergehenden Sonne voll im Gesicht, konnte ihre starke Schminke nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sie gute zehn Jahre älter war, als Daisy angenommen hatte. Das Schönste an ihr waren die großen dunklen Augen. Daisy vermochte Kleidung nur schlecht einzuschätzen, aber das Kostüm schien teuer und maßgeschneidert zu sein. War es möglich, daß die riesige, eher protzige Rosettenbrosche, mit der die Federn am Hut festgehalten wurden, aus echten Rubinen bestand?
»Alle Besucher von Bord!«
»Sollten Sie nicht besser …«, fing Arbuckle an.
Gotobed lachte, sein breites, rötliches Gesicht leuchtete. »Oh, sie geht nicht von Bord. Meine Liebe, das ist mein Yankee-Freund Caleb P. Arbuckle. Arbuckle, das ist Mrs. Gotobed!«
Während Arbuckle bestürzt nach Luft rang, lächelte Mrs. Gotobed affektiert. »Ich bin entzückt«, sagte sie in heiserer Alttonlage mit bedachter Vornehmheit, was einem kritischen Ohr noch schmerzlicher klang als ein unverstellter Provinzdialekt. Mit einem unverblümt neugierigen, leicht kurzsichtigen Blick auf Daisy fügte sie hinzu: »Das muß Ihre bezaubernde Tochter sein, Mr. Arbuckle, über die ich schon so viel von Mr. Gotobed gehört habe.«
Da Arbuckle offensichtlich immer noch sprachlos war, sprang Daisy nun in die Bresche. »Nein, ich bin eine Freundin von Mr. Arbuckle und den Petries – Daisy Dal… Daisy Fletcher, und das hier ist mein Gatte, Alec. Guten Tag.«
»Guten Tag«, wiederholte Alec höflich, wobei er den Hut zog.
»Guten Tag, und wir sind sehr erfreut, Freunde von Mr. Arbuckle kennenzulernen, nicht wahr, Dickie? So nenne ich Mr. Gotobed«, sagte Mrs. Gotobed vertraulich. »Richard ist sein zweiter Name, wissen Sie. Jethro sein erster, aber was für ein Zungenbrecher. Ich meine, was kann man daraus schon machen? ›Jethie‹ klingt, als würde man lispeln.«
»Das stimmt allerdings«, pflichtete ihr Daisy bei, wobei sie Alecs Augen mied, da sie nicht loslachen wollte. »Guten Tag, Mr. Gotobed.« Sie streckte ihre Hand vor.
Er schüttelte sie herzlich. Mit einem vernarrten Blick auf seine Frau erklärte er in einem Ton, aus dem jeglicher Anklang an den Yorkshire-Dialekt verschwunden war: »Wir haben erst vor ein paar Tagen geheiratet, Mrs. Fletcher. War eine ziemliche Hetze, mußten Wanda in meinen Paß eintragen lassen und so weiter.«
»Mr. Gotobed hat mich förmlich überrumpelt, hätte ein Nein als Antwort nicht akzeptiert. Sage ich noch, warten wir, bis du aus Amerika zurück bist, aber das kam für ihn nicht in Frage, nicht wahr, Dickie-Schatz?«
»Ich wollte es nicht riskieren, dich an einen anderen Glücklichen zu verlieren«, sagte Gotobed schlicht.
Nun wurden die erforderlichen Glückwünsche ausgesprochen. Arbuckle spuckte seine Worte aus, als zögen sie seinen Mund wie Essig zusammen. Daisy dachte, daß er enorm bestürzt sein mußte.
Sie nahm nicht an, daß Mrs. Gotobed ihren älteren Gatten abgöttisch liebte, doch sie schien ihn immerhin zu mögen. Scheinbar gab es keinen Grund, warum sie nicht den Herbst seiner Tage aufhellen sollte – wobei er nicht aussah, als würde er sich in nächster Zeit davonstehlen. Arbuckle hatte erwähnt, daß der Gentleman aus Yorkshire nie zuvor verheiratet gewesen war, also gab es keine Kinder, die um seine Millionen betrogen werden konnten.
»Doch wo sind Mr. und Mrs. Petrie?« fragte Gotobed. »Wanda möchte sie gern kennenlernen.«
»O ja, mächtig gern. Mr. Gotobed hat mir alles über sie erzählt. Mr. Petrie ist der Sohn eines Lords, nicht wahr? Ein Honourable?«
Arbuckle schaute zu Daisy und öffnete die Lippen. Daisy warf ihm einen finsteren Blick zu. Sie wollte nicht, daß Wanda Gotobed oder irgend jemand anderes an Bord kriecherisch um sie herumwuselten, nur weil sie einen Adelstitel vor ihrem Namen hatte. Alec war ebenso inkognito auf dem Schiff. Ganz normale, gesetzestreue Leute schienen immer irritiert wegzuschauen, wenn sie entdeckten, daß ein Detective von Scotland Yard unter ihnen weilte.
»Gloria und Phillip machen gerade einen Rundgang durch den Maschinenraum des Schiffs«, erklärte Arbuckle den Gotobeds. »Und ich schätze, daß Sie nun Ihre Kajüte – Ihre Kabine, wie die Briten sagen – in Augenschein nehmen wollen.«
»Mr. Gotobed hat für uns eine Luxussuite reserviert, nicht nur eine Kabine. Mein Dienstmädchen packt gerade unten aus. Er hat darauf bestanden, daß ich ein Dienstmädchen mitnehme, wissen Sie. Er sagt, daß man sich auf die Stewardessen hier nicht verlassen kann.«
»Ich nehme an, die armen Dinger haben heute alle Hände voll zu tun«, sagte Daisy, die schon selbst ihre und Alecs Sachen ausgepackt und fortgeräumt hatte. In all den Jahren seit dem Tod ihres Vaters hatte sie sich daran gewöhnt, das allein zu tun. Sie wollte nicht, daß ein Fremder an ihre Sachen ging.
Mrs. Gotobed warf ihr einen unerwartet durchdringenden Blick zu. »Ja, ich vermute, daß sie recht beschäftigt sind«, stimmte sie rasch zu, »die armen Dinger. Dickie-Schatz, komm schon, wir wollen uns unsere Suite anschauen.«
»Du hast recht, Liebes. Arbuckle, Mr. und Mrs. Fletcher, ich hoffe, daß Sie und die Petries uns dort vor dem Dinner aufsuchen und mit mir auf meine reizende Gattin anstoßen.«
Alle nahmen die Einladung an. Daisy versuchte, ganz begeistert zu klingen, um so Arbuckles fehlende Begeisterung wieder wettzumachen. Die Frischvermählten gingen davon.
In diesem Moment setzte die Dampfsirene der Talavera mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen ein. Daisy sprang vorwärts.
»Letzter Aufruf für alle Besucher«, sagte Arbuckle düster, während er ihnen nachblickte. »Sie ist ja nun kein Besucher. Wanda Gotobed. Was für ein Name! Man könnte meinen, das allein hätte ausreichen können, um ihn vergessen zu lassen, sie zu heiraten. Ans Bett müssen wohl all die alten Böcke denken, denn warum sonst …«
Alec hüstelte.
Arbuckle lief rot an. »Verzeihen Sie mir, Mrs. Fletcher. Diese Angelegenheit hat mich in solche Aufregung versetzt, daß ich meine guten Manieren völlig vergesse. Hoffe, daß Sie sich nicht beleidigt fühlen!«
»Nein, ganz und gar nicht«, versicherte ihm Daisy. »Aber gehen Sie doch nicht davon aus, daß die Verbindung so schlecht sein muß, wie Sie befürchten. Sie mag zwar … nun, gewöhnlich sein, aber wenn er der Sohn eines Landarbeiters ist, dann paßt sie wahrscheinlich besser zu ihm als eine Frau, die nur auf ihn hinabgeblickt hätte. Und Sie sagen, er hat eine Menge Geld. Das Schlimmste, was sie tun kann, ist, ihm zu helfen, es auszugeben. Ich nehme an, daß er sich darüber sogar freut.«
Der Aufenthaltsraum – oder besser der Salon – der Gotobeds war dreimal so groß wie Daisys und Alecs Kabine in der Touristenklasse. An den Wänden des Salons hingen riesige Gemälde von den Schwesterschiffen der Talavera – Victoria und Waterloo. Das Mobiliar war im Sheraton- oder Hepplewhite-Stil gehalten (Daisy war sich nicht sicher, was wem zugeordnet werden konnte), alles glänzte durch Politur und Seidenbrokat. Passende Vorhänge waren über den Bullaugen angebracht, die durch entsprechenden Anstrich wie Flügelfenster wirkten, vermutlich damit sich die Bewohner einbilden konnten, sie befänden sich nicht auf See.
Unter einem dieser Fenster stand ein Tisch, der groß genug war, um vier Personen bequem Platz zu bieten. Ein Tablett mit Sektgläsern und ein silberner Eiskübel, aus dem der verdrahtete Hals einer Magnumflasche herausragte, versprach, die Gemüter zu beruhigen und alle sozialen Unterschiede zu glätten.
Alec und Daisy trafen als erste ein.
»Willkommen in unserem Heim fern der Heimat«, wurden sie von Gotobed überschwenglich begrüßt. »Fletcher, vielleicht kümmern Sie sich um die Champagnerflasche? Ich habe noch nie zuvor eine geöffnet. Bin mit Bier aufgewachsen, und Bier ist mein Getränk, auch wenn ich mich zu einem gelegentlichen Whisky mit Soda bekenne.«
»Ein Mann ganz nach meinem Geschmack«, sagte Alec und grinste. »Ich habe auch noch keiner Champagnerflasche den Hals gebrochen, aber du meine Güte, das dürfte wohl nicht schwierig sein! Die größten Schwachköpfe machen das doch jederzeit. Zeigen Sie mal her!«
Die beiden Herren begaben sich nun zum Tisch hinüber. Alec zog die Metallfolie ab, untersuchte den Draht darunter. Dann erörterten sie die beste Variante, die Flasche zu entkorken. »Setzen Sie sich doch bitte«, forderte Mrs. Gotobed Daisy auf. Mit einer unbestimmten Geste zeigte sie auf den Raum. »Nicht schlecht, eh?«
Daisy entdeckte unter der vorgespielten Nonchalance eine gewisse Anspannung. Die arme Frau mußte sich wie ein armer Löwenzahn mitten in einem Beet voller Dahlien fühlen. Nun, vielleicht nicht ganz, nicht mit dem gebleichten, dauergewellten Haar, diesem mit Fransen und Perlen versehenen rosafarbenen seidenen Abendkleid – wahrscheinlich direkt aus Paris, so wie ihr Parfüm – und mit der langen Perlenkette, die Daisy sogar für echt hielt.
Dennoch war Mrs. Gotobed nicht ganz unbeschwert. Daisy hatte Mitleid mit ihr, erinnerte sie sich doch daran, wie merkwürdig sie sich nach ihrer Hochzeit vorgekommen war, obwohl von Freunden und Verwandten umgeben.
»Sehr hübsch«, sagte sie und blickte sich noch einmal um und musterte das Interieur.
Die weißen Wände, die mit Gold abgesetzt waren, und der blaugoldene Teppich wirkten höchst geschmackvoll und machten dem Luxusliner alle Ehre. Doch Daisy zog die bequeme zusammengewürfelte Einrichtung von Fairacres vor, dem Landsitz ihrer Kindheit, wo jeder Stil von der Zeit König Jakobs an durch alle Jahrhunderte seinen eigenen, besonderen Charme versprühte. Glücklicherweise war daran von Edgar und Geraldine nichts verändert worden. Schon möglich, daß Mrs. Gotobed etwas Protzigeres bevorzugte.
»Sehr elegant«, versicherte ihr Daisy. »Ich hoffe, daß Ihre Schlafkabine auch bequem ist.«
»O ja«, sagte Mrs. Gotobed schelmisch. »Mr. Gotobed bestand darauf, daß ich nach einem so anstrengenden Tag ein Nickerchen mache, bevor Sie alle kämen. Ich mußte ihn rausschicken, damit ich mich noch rechtzeitig fertigmachen konnte. Er hat ja keine Ahnung, wie lange eine junge Frau braucht, um sich herzurichten, selbst mit Baines’ Hilfe – so heißt mein Mädchen.«
Nun legte sie eine Pause ein, offensichtlich erwartete sie ein Kompliment über ihr Äußeres, aber so weit gingen Daisys Sympathien dann doch nicht. In ihrer vollgestopften kleinen Kabine, wo die Rohre an der Decke entlangliefen, hatte sie nur fünfzehn Minuten benötigt, um sich frisch zu machen, anzukleiden und sich die Nase zu pudern. In ihrem neuen schwarzen Georgettekleid, das sie mit einem kirschroten Chiffonschal aufpeppte, der von einer Diamantbrosche zusammengehalten wurde, war sie sich recht flott vorgekommen, bis sie Wanda Gotobed in ihrem Pariser Modell gesehen hatte. »Es ist so ein wunderschöner Abend, daß Alec und ich an Deck geblieben sind, um zuzusehen, wie die Schleppboote das Schiff auf den Kanal hinaus schoben und stießen. Dann begegnete uns das Schwesterschiff der Talavera, die Salamanca, die gerade anlegen wollte. Sie haben vermutlich gehört, wie die Sirene wieder losging? Sie begrüßen einander mit einem W aus dem Morsealphabet für die Wellington-Reederei, langkurzlang. Alle Passagiere der Salamanca standen an der Reling und winkten uns zu.«
Höchst uninteressiert beklagte sich daraufhin Mrs. Gotobed: »Ich verstehe nicht, warum britische Schiffe solche ausländischen Namen tragen. Wo bleiben da die guten englischen Namen?«
»Da es sich hier um die Wellington-Reederei handelt, hielt man es vermutlich für eine gute Idee, die Schiffe nach den Siegen des Herzogs von Wellington in den Napoleonischen Kriegen zu benennen.« In der Schule hatte der Geschichtsunterricht aus langen Listen englischer Könige und Schlachten bestanden, an die sich Daisy erinnern konnte, und aus Daten, die sie vergessen hatte. »Ich frage mich, ob es eine Ciudad Rodrigo, nach der Grenzfestung in Spanien, gibt.«
»Aber selbst die großen Dampfschiffe der anderen Linien, wie die Mauretania, haben alle lustig klingende Namen. Ich wäre lieber auf der … Dickie, da klopft jemand.«
»Herein, herein!« rief Gotobed und machte lange Schritte, um die breite Tür zu öffnen. »Ah, Mrs. Petrie, kommen Sie und lernen Sie meine Frau kennen. Die Fletchers kennen Sie schon, nicht wahr? Arbuckle, Sie oder Petrie können uns vielleicht helfen. Fletcher und ich haben Bedenken, den Champagner zu öffnen, da der Korken womöglich durch den ganzen Salon saust, zum Schaden der Damen.« Er lachte herzlich.
»Dann ist Phillip Ihr Mann«, sagte Arbuckle.
»Eh, natürlich, die technische Kanone. Genau der, den wir brauchen.«
Daisy ging zu Alec hinüber, während die anderen miteinander bekannt gemacht wurden, und beobachtete dabei alle aufmerksam. Phillip war wie immer der höfliche englische Gentleman. Gloria hingegen, die sonst auf amerikanische Weise offen war, wirkte recht reserviert. Arbuckle blickte mit der Teilnahmslosigkeit eines guten Butlers um sich.
Phillip gesellte sich zu Alec und Daisy am Tisch. »Man muß das Beste daraus machen«, sagte er mit leiser Stimme, wobei er sich am Draht des Flaschenkopfes zu schaffen machte. »Hat keinen Sinn, über verschüttete Milch zu jammern.«
»Nein«, stimmte ihm Daisy zu, »auch nicht, den Brunnen abzudecken, wenn das Kind schon hineingefallen ist.«
Er warf ihr einen leicht verwirrten Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder auf das Öffnen der Flasche.
Pop!
»U-uh, ich liebe Schampus!« rief Mrs. Gotobed. »Ich hatte schon Angst, wir würden auf diesem Schiff keinen kriegen. Wie ich schon zu Mrs. Fletcher sagte, hätte ich gern einen großen schnellen Liniendampfer benutzt, aber Mr. Gotobed wollte davon einfach nichts wissen. ›Unter keinen Umständen‹, sagte er, ›nicht, wenn mein Freund Arbuckle auf der Talavera gebucht hat.‹«
Auch wenn sie dies in einem Ton äußerte, der sowohl neckend als auch anklagend klang, faßte es Arbuckle nicht von der freundlichen Seite her auf.
»Ich ziehe kleinere Schiffe vor«, brummte er. »Denn wenn man schon Teil einer Menschenmasse sein muß, dann wenigstens nur einer kleinen. Und darüber hinaus habe ich in New York die Ankunft und die Abfahrt der Vaterland auf ihrer Jungfernfahrt erlebt.«
Phillip blickte auf, während er den Champagner einschenkte. »Das muß ein großartiges Schauspiel gewesen sein!«
»Es war das größte Schiff der Welt, als es gebaut wurde, nicht wahr, Sir?« erkundigte sich Alec, wobei er die Gläser herumreichte. »Ich erinnere mich daran, daß es beim Ablegen in New York Schwierigkeiten hatte.«
»Schwierigkeiten! Es war beinah ein Desaster. Die Deutschen haben einfach die Gesamtkonstruktion vergrößert, um so Cunards Aquitania zu übertrumpfen. Völlig außer acht gelassen haben sie dabei gesunden Menschenverstand und technische Prinzipien. In den Zeitungen stand schon viel über ihre zu erwartende Ankunft, die New York World bezeichnete das Schiff in riesigen Schlagzeilen als ›Meeresmonster‹. Tausende versammelten sich in Hoboken, um dabei zu sein. Nu-u-n, es dampfte den Hudson hinauf und kam auf Höhe des Piers. Dann hat eine Reihe von Schleppern dem Schiff vor dem Bug den Weg versperrt.« Arbuckles Pause war ein Meisterstück der Erzählkunst.
Daisy nippte an ihrem Champagner und beobachtete Mrs. Gotobeds Gesicht. War sie zuerst gelangweilt gewesen, so schenkte sie nun der Geschichte volle Aufmerksamkeit.
Arbuckle fuhr fort. »Der Kapitän ordnete an, die Maschinen zu stoppen. Der Wind und die Flut und die Strömung waren aber gegen das Schiff, und es begann mit der Breitseite flußabwärts zu schlingern. Da es so lang war, hatte es keinen Platz zu manövrieren. Man traute sich nicht, die Maschinen wieder in Gang zu setzen. Immer mehr Schleppkähne kamen dazu – fünfundzwanzig waren es schließlich, wie ich hörte –, und schließlich gelang es, das Schiff zum Stoppen zu bringen, ehe es auf einer Sandbank auflief.«
»Donnerwetter!« rief Mrs. Gotobed aus. »Und es war noch schlimmer, als es in New York ablegte?«
»Noch viel schlimmer.« Jetzt lächelte Arbuckle sie an. »Es ist viel zu schnell aus seinem Liegeplatz ausgebrochen, ist wie wild über den Fluß geschossen und im Schlamm zwischen zwei Piers auf der anderen Seite auf Grund gelaufen. Die Maschinen hatten einen schnellen Rückwärtsgang eingelegt, damit der Dampfer wieder loskommen konnte. Ein paar kleinere Schiffe, die in der Nähe vor Anker lagen, wurden aus ihrer Vertäuung fortgerissen, die Trosse zerbarsten, dann wurden sie gegen die Piers zurückgeworfen und stark beschädigt.«
»Donnerwetter!«
»Zur gleichen Zeit brachte das gewaltige Kielwasser einen Kohlenschlepper zum Sinken. Dem Kapitän gelang es gerade noch, auf den nächsten Pier zu springen, aber der Maschinist eines sich in der Nähe befindlichen Schleppkahns ertrank.«
»Um Himmels willen!« sagte Daisy.
»Ist die Vaterland