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Tödliches Weekend auf dem Lande. England 1923: Daisy Dalrymple, jung, charmant und adlig, begibt sich nach Henley-on-Thames, wo die Königliche Ruderregatta stattfindet, von der sie für ein amerikanisches Magazin berichten soll. Außerdem hofft sie, bei der Gelegenheit ein geruhsames Wochenende mit ihrem Verlobten Chief Inspector Alec Fletcher von Scotland Yard verbringen zu können. Als während der Wettkämpfe der Schlagmann eines Teams tot ins Wasser stürzt und es sich offenbar um einen Mord handelt, muß Alec wohl oder übel den Fall übernehmen. Und ob es ihm recht ist oder nicht – Miss Daisy kann es nicht lassen, ihn bei der Aufklärung tatkräftig zu unterstützen... „Der Liebhaber des gepflegten Teatime-Krimis kann die Miss-Daisy-Krimis mit Behagen schlürfen.“ Welt am Sonntag.
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Seitenzahl: 377
Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.
Folgende Titel liegen vor:
Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Miss Daisy und der Tod im Wintergarten
Miss Daisy und die tote Sopranistin
Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman
Miss Daisy und die Entführung der Millionärin
Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser
Miss Daisy und der tote Professor
Miss Daisy und der Tote auf dem Luxusliner
Tödliches Weekend auf dem Lande
England 1923: Daisy Dalrymple, jung, charmant und adlig, begibt sich nach Henley-on-Thames, wo die Königliche Ruderregatta stattfindet, von der sie für ein amerikanisches Magazin berichten soll. Außerdem hofft sie, bei der Gelegenheit ein geruhsames Wochenende mit ihrem Verlobten Chief Inspector Alec Fletcher von Scotland Yard verbringen zu können. Als während der Wettkämpfe der Schlagmann eines Teams tot ins Wasser stürzt und es sich offenbar um einen Mord handelt, muß Alec wohl oder übel den Fall übernehmen. Und ob es ihm recht ist oder nicht – Miss Daisy kann es nicht lassen, ihn bei der Aufklärung tatkräftig zu unterstützen.
»Der Liebhaber des gepflegten Teatime-Krimis kann die Miss-Daisy-Krimis mit Behagen schlürfen.« Welt am Sonntag
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Carola Dunn
Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Carmen v. Samson-Himmelstjerna
Inhaltsübersicht
Über Carola Dunn
Informationen zum Buch
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Danksagungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Impressum
Mein herzlicher Dank geht an Todd Jesdale, Trainer der Rudermannschaft der Cincinnati Juniors und der National Junior Team Boys, und an Phil Holmes, Trainer der Rudermannschaften der University of Oregon. Ihre zahlreichen Auskünfte und technischen Hinweise über das Rudern und Bootsrennen im allgemeinen haben mir sehr weitergeholfen.
Ebenfalls danke ich Richard S. Goddard, Schriftführer der Henley Royal Regatta, für die detaillierten Informationen über die Regatta von 1923, insbesondere über die Rennstrecke, die Namen eines jeden Ruderers in jedem einzelnen Rennen, sowie die verschiedenen Unfälle, die manche Mannschaften erlitten. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß damals niemand ermordet wurde.
Alle Fehler, Auslassungen, Erfindungen oder anders dargestellte Tatsachen gehen ausschließlich auf mich zurück.
Daisy hielt oben auf der gemauerten Treppe inne, die von der Terrasse in den Garten führte. Der afrikanische Butler hatte zwar gesagt, Lady Cheringham sei hinten im Park zu finden, aber von Daisys Tante war nirgends etwas zu sehen.
Zu beiden Seiten der Treppe blühten Rosen, deren Duft die windstille Luft erfüllte. Von der untersten Stufe führte ein Kiespfad durch den Rasen, der sich – zum Teil im Schatten einer riesigen Kastanie – glatt wie ein Bowling Green zum Fluß absenkte. Die graugrüne Themse machte hier einen Bogen, um dann ohne Eile und doch unaufhaltsam nach London und in die See hinauszuströmen.
Etwas weiter den Fluß aufwärts sah Daisy die Bäume von Temple Island, die das Städtchen Henley-on-Thames verdeckten. Stromabwärts markierten die weißen Gebäude von Hambleden Mill und die Holzkonstruktion, die den Bootskanal vom Flutgang der Mühle trennte, die Stelle, an der sich die Schleuse befand. Hinter dem Treidelpfad auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses, in Berkshire, erhob sich Remenham Hill vor einem baumbestandenen Hügel. Am diesseitigen Ufer, am Fuß des Rasens also, befand sich ein langes, niedriges Bootshaus, das halb von Büschen und einer wildwachsenden, lilablühenden Clematis verdeckt wurde. Ein Landesteg aus Holzplanken führte am Ufer entlang. Seite an Seite lagen zwei Skiffs daran festgetäut, deren bunte Kissen in der Sonne leuchteten. Auf dem Steg standen zwei Mädchen in Sommerkleidern, das eine gelb, das andere blau. Keines trug einen Hut.
Erleichtert seufzend nahm auch Daisy ihren Hut ab. Die Brise vom Wasser fuhr ihr kühl durch die kurzgeschnittenen, honigblonden Locken.
Die beiden Mädchen blickten stromaufwärts, wobei sie mit den Händen die Augen vor den Strahlen der langsam sinkenden Sonne abschirmten, die immer noch recht hoch am wolkenlosen Himmel stand. Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt aus folgte Daisy ihrem Blick und sah einen Achter, der aus der Engstelle nördlich der Insel hervorkam. Das schlanke Boot wirkte durch die Entfernung verkürzt, wie ein merkwürdig langsam kriechendes Insekt, dessen Beine aus Rudern sich im Paßgang hoben und senkten. Die Stimme des Steuermanns war schon zu hören.
»Hab ich dich!« Dieser Triumphschrei aber kam aus der Nähe, ausgestoßen von einer weiblichen Stimme.
Daisy schaute hinunter und sah ein Hinterteil, in fleckiges braunes Leinen gekleidet, das sich vorsichtig rückwärts aus einem Rosenbeet bewegte, gefolgt von einem breitkrempigen Strohhut.
»Hallo, Tante Cynthia.«
»Ich sage es ihm mit Menschen- und mit Engelszungen: bei Löwenzahn muß man mehr tun als immer nur die Blüte abschneiden.« Lady Cheringham richtete sich auf und streckte eine Hand im schlammbedeckten Handschuh vor, in der eine fast vierzig Zentimeter lange Löwenzahnwurzel baumelte. Auf ihrem schmalen Gesicht, von den Jahrzehnten unter der tropischen Sonne förmlich gegerbt, lag ein Lächeln. »Hallo, Daisy. Du liebe Zeit, ist es etwa schon nach vier Uhr?«
Daisy ging die Stufen hinunter. »Viertel nach erst. Der Zug kam auf die Minute pünktlich, und der Chauffeur wartete ja schon am Bahnhof.« Sie stolperte fast über einen Gartenschlauch auf der untersten Stufe.
»Vorsicht, Liebes! Ich habe gerade diesen gräßlichen Blattläusen auf den Rosen einen ordentlichen Giftcocktail verpaßt, und dann habe ich den Löwenzahn entdeckt.«
»Ich hoffe, das war kein tödliches Gift? Dir ist da etwas auf die Bluse getropft.«
»Nur Tabakwasser, aber ich sollte das wohl schnell auswaschen. Gräßliche Flecken.« Lady Cheringham ließ die Löwenzahnleiche neben die am Boden liegende Düse des Gartenschlauches fallen. »Bister will einfach nicht zugeben, daß man mit einer schlichten Gartenhacke gegen dieses Unkraut völlig machtlos ist. Aber so ist das eben, wenn man sich nur einen Chauffeur-Schrägstrich-Gärtner-Schrägstrich-Mädchen-für-alles leisten kann.«
»Ich finde Löwenzahn eigentlich ganz nett«, gestand Daisy.
»Es wird ihn immer geben, keine Sorge. Egal, wie viele davon wir Gärtner abschlachten, es wachsen dauernd welche nach.« Ihre Tante nahm einen Korb mit Unmengen von rosa und gelben Rosen auf. »Eigentlich wollte ich ja nur mal die abgeblühten Rosen abschneiden und für euer Zimmer einen kleinen Strauß holen – ich hoffe, es macht dir wirklich nichts aus, bei deiner Cousine im Zimmer zu übernachten? Das Haus ist dieser Tage bis unter das Dach mit Gästen voll.«
»Aber überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich finde das großartig. Endlich lerne ich sie einmal etwas besser kennen. Patsy ist ja jetzt richtiggehend erwachsen, da wird uns der Altersunterschied von fünf Jahren nicht mehr so riesig vorkommen.«
»Tish, Liebes. Patricia besteht dieser Tage darauf, Tish genannt zu werden. Der Himmel allein weiß, woher sie das hat. Vermutlich muß ich noch dankbar sein, daß sie und ihre Freundin Dottie sich nicht mit Nachnamen rufen.« Lady Cheringham winkte den beiden Mädchen am Fluß zu. »Angeblich ist das jetzt auf den Damen-Colleges Usus, die Männer nachzuäffen. So was Undamenhaftes! Manchmal frage ich mich, ob es wirklich so klug war, Patricia von Ruperts Bruder erziehen zu lassen, als wir im Ausland waren.« Sie seufzte.
»Andererseits hat die Erziehung durch zwei Dons von Oxford Pat… – Tish sicherlich schon früh an das Studentenleben gewöhnt.« Daisy hoffte sehr, daß sie nicht eifersüchtig klang. Weder ihre Familie noch ihre Ausbildung hatten ihr ein Studium ermöglicht. Die Idee wäre ihr auch nie gekommen, hätte sie nicht den Zeitungen entnommen, daß Oxford University schon vor drei Jahren, also 1920, Frauen zum Studienabschluß zugelassen hatte. Mittlerweile war sie fünfundzwanzig und verdiente seit Jahren ihren Lebensunterhalt selbst. Für sie war das zu spät gekommen.
Fröhlich sagte ihre Tante: »Ach, Patricia muß wie wild büffeln. Mehr Grips als ich bringt sie auch nicht mit. Und das ist auch gut so – ich glaube, sie hat sich seit neuestem Rollo Frieth an Land gezogen. Ein sehr charmanter junger Mann, aber wirklich keine große Leuchte. Obwohl er studiert; er ist im letzten Jahr am Ambrose College.«
»Das ist doch auch die Bootsmannschaft, die während der Regatta hier bei euch übernachtet, nicht wahr?«
»Ja, Ruperts Neffe rudert für Ambrose. Der arme Junge wurde Erasmus getauft, aber alle nennen ihn Cherry.«
»Ich glaube, den habe ich vor Ewigkeiten mal kennengelernt. Möglicherweise bin ich ihm sogar mehrmals über den Weg gelaufen. Aber das ist Jahre her.«
»Sehr wahrscheinlich. Er ist ja praktisch ein Bruder für Patricia. Du wirst ihn gleich beim Tee treffen und seine Mannschaftskameraden auch.«
»Sind sie nicht schon auf dem Weg hierher?« Beide wandten sie sich um und schauten zum Fluß. Das Boot war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Gelassen glitt es stromabwärts auf sie zu, und die Ruderer in ihren weißen Hemden und weinroten Käppis warfen sich in die Riemen. Ihre Stimmen schallten über das Wasser, doch konnte Daisy nicht genau erfassen, was gesagt wurde.
»Ich muß mich wirklich beeilen, damit ich noch mit diesen Blumen zu Rande komme«, sagte Lady Cheringham. »Geh doch mal und begrüß Patricia. Sie ist eigens wegen deiner Ankunft zu Hause geblieben. Das Mädchen neben ihr ist Dottie Carrick.«
Daisy ging zum Landesteg hinunter. Als Patricia – Tish – und ihre Freundin hinter sich Schritte auf dem Kies hörten, wandten sie sich um.
Tish war ein hübsches blondes Mädchen von zwanzig Jahren, gerade hatte sie Geburtstag gefeiert. In dem blaßblauen Pikee-Kleid mit dunkelblauer Schärpe an der tief angesetzten Taille kam ihre schlanke Figur bestens zur Geltung und entsprach exakt der Mode dieser Tage: flachbrüstig, ohne eine Spur von Hüften, bemerkte Daisy voller Neid.
Sie kannte ihre Cousine nicht besonders gut. Sir Rupert Cheringham war im Colonial Service beschäftigt gewesen. Sein einziges Kind hatte er von seinem Bruder und seiner Schwägerin erziehen lassen, die beide Dozenten an der Oxford University waren. Zwischen den beiden Dons und Daisys aristokratischer Familie hatte es selten Kontakt gegeben, und wenn, dann nur kurz, obwohl Lady Cheringham die Schwester von Daisys Mutter war.
Für Daisy war Oxford eine Bahnstation auf dem Weg zwischen London und ihrem Elternhaus in Gloucestershire, das jetzt ihrem Vetter Edgar gehörte. Daisys Bruder Gervaise hätte vielleicht in Oxford studiert, wäre der Große Krieg nicht gekommen. Sein Tod hatte die Verbindung dorthin beendet. Und seit ihr Verlobter gestorben war, hatte Daisy kein Interesse mehr an Männern, die sie sonst zu den berühmten Bällen im Mai hätten einladen können. Nach dem Großen Krieg waren die aus der Armee entlassenen Offiziere ja scharenweise auf die Universitäten gezogen.
Aber Gervaise und Michael waren schon seit fünf Jahren nicht mehr auf der Welt. Der neue Mann in Daisys Leben hatte seinen Abschluß an der plebejischen University of Manchester gemacht.
»Hallo, Daisy«, begrüßte sie Patricia. »Mr. Fletcher hast du nicht mitgebracht? Alec Fletcher ist Daisys Verlobter«, klärte sie ihre Freundin auf.
»Vor Freitag abend kommt er nicht weg. Er hat ein Zimmer im White Hart gebucht.«
»Das ist auch gut so. Mutter hätte ihn sonst irgendwo auf dem Dachboden unterbringen müssen. Die Jungs schlafen jetzt schon auf Feldbetten oder teilen sich ein Zimmer. Der Steuermann wohnt im Wäschezimmer, weil er als einziger klein genug ist, um hineinzupassen. Ach, Entschuldigung, du kennst Dottie noch gar nicht, nicht wahr? Dorothy Carrick, eine Freundin vom College – übrigens ist sie mit Cherry verlobt. Dottie, darf ich dir meine Cousine Daisy Dalrymple vorstellen?«
Auf Miss Carricks rundem, eher blassem Gesicht thronte eine Brille. Ihre dünnen, glatten, mausig farblosen Haare waren auf das strengste kurz geschnitten. Vom Scheitel bis zur Sohle die sprichwörtliche blaustrümpfige Studentin, dachte Daisy. Das mit großen gelben Zentifolien bedruckte Kleid wirkte an ihrer stämmigen Figur eher unvorteilhaft. Daisy, die selber ständig mit ihren ganz und gar unmodischen Kurven kämpfte, wurde von Mitleid erfaßt.
»Guten Tag, Miss Carrick«, sagte sie. »Mr. Cheringham rudert beim Rennen mit, nicht wahr?«
Dottie lächelte. Ihr eher jungenhaftes Grinsen enthüllte glatte und sehr weiße Zähne. »Genau. Im Thames Cup, und auch beim Visitors’ Race – also im Achter und im Vierer ohne Steuermann.« Sie hatte eine wunderschöne, melodische Altstimme. »Der Vierer hat heute morgen einen Durchlauf gewonnen. Jetzt warten wir noch, wie es dem Achter ergangen ist. Sie werden über die Regatta schreiben, hat Tish erzählt?«
»Ja, für eine amerikanische Zeitschrift. Harvard und ein paar andere Universitäten schicken oft Mannschaften her. Damit sind die hiesigen Rennen drüben schon ein Begriff. Und wenn ein amerikanisches Boot gewinnt, sowieso. Aber mein Redakteur wollte eher einen Artikel über die gesellschaftlichen Ereignisse von mir.«
»Sekt und Erdbeeren in der Stewards’ Enclosure?« fragte Tish.
»Ja, genau so was. Ascot-Hüte, das Feuerwerk vom Phyllis Court. Ein alter Freund von meinem Vater ist da Mitglied, und der Mann einer Freundin ist Mitglied in der Stewards’ Enclosure. Beide waren so freundlich, mich einzuladen. Aber über die Kirmes gibt’s natürlich auch einen Absatz oder zwei.«
»Krethi und Plethi sollen sich auch amüsieren dürfen, auf ihre Weise«, bemerkte Dottie. »Na, primstens. Da würde ich Ihnen gerne bei der Recherche helfen. Ich wollte schon längst mal auf das Riesenrad.«
Tish schauderte. »Aber ohne mich! Zugegeben, ich bin ein richtiger Angsthase. Wir können ja Cherry und Rollo fragen, ob sie uns nach dem Tee dahin begleiten.«
»Rollo?« fragte Daisy unschuldig.
»Roland Frieth.« Über Tishs helle Haut glitt eine zarte rosa Wolke. Was ihre Mutter Daisy angedeutet hatte, war damit wohl bestätigt. »Ein Sportsfreund von Cherry.«
»Und der Mannschaftskapitän von Ambrose«, warf Dottie ein. »Ach, da sind sie ja schon.«
»Gehen wir ihnen mal lieber aus dem Weg, wenn sie das Boot aus dem Wasser holen«, riet Tish. »Das ist schließlich eine ernste Angelegenheit.«
Auf der Flußmitte brachte sich ein einsames Moorhuhn mit pickenden Kopfbewegungen in Sicherheit, während das Boot sanft hinter den Skiffs an den Landungssteg herankam. Der Steuermann, ein kurzer und drahtiger junger Mann, dessen sonnengebräunte Knie knubbelig unter den weinroten Ruder-Shorts hervorlugten, sprang heraus. Er hielt das Heck fest, während seine Mannschaft durchzählte.
»Bug.« Daisy erkannte Tishs Vetter Erasmus »Cherry« Cheringham sofort. Damals, erinnerte sie sich, war der blonde, ernst dreinblickende junge Mann nicht ganz so breit und muskulös gewesen.
»Zwei.« Noch ein breiter, muskulöser junger Mann, dieser mit dunklem Haar. Er winkte kurz fröhlich zu ihnen herüber. Daisy nahm an, daß die Mannschaft dieses Rennen wohl gewonnen hatte.
»Drei.«
»Vier.«
»Fünf.«
»Sechs.«
»Sieben.«
»Schlagmann.« Im Gegensatz zu den anderen wirkte der Schlagmann unzufrieden. Das war aber auch alles. Ansonsten hätten sie Siebenlinge sein können, so sehr ähnelten sich diese jungen Männer, dachte Daisy. Sah man von der unterschiedlichen Haarfarbe ab.
Auf das Kommando des Steuermanns traten acht breite, muskulöse, schwitzende junge Männer auf die Bohlen des Landestegs. Unter Daisys Füßen wippten sie, und sie machte rasch einen Schritt auf den festen Grund des Rasens.
Bugmann und Schlagmann hielten das Boot fest, während die anderen sechs ihre Ruder auf dem Gras auslegten. Dann beugten sich alle acht Ruderer zum Boot hinab.
»Angepackt«, befahl der Steuermann. »Achtung. Und hoch!«
Mit elegantem Schwung kam das Boot aus dem Wasser und wurde kieloben über die Köpfe gehoben.
»Fertig. Abgang!«
Die längliche Schildkröte mit den vielen Beinen wanderte zum Bootshaus. »Den hätten wir in der Tasche, die Damen«, rief sie fröhlich im Gehen. »In einer Minute sind wir bei euch!«
Tish und Dottie hoben jeweils einen Riemen mit dem weinrot-grün-weiß gestreiften Band auf und folgten der Mannschaft. Daisy beäugte die verbleibenden vier Meter langen, tropfenden Ruder und beschloß, sich diesmal mit dem Helfen zurückzuhalten.
Auch der Steuermann blieb stehen und starrte seinen Kameraden stirnrunzelnd hinterher.
»Ich dachte, Sie hätten gewonnen?« fragte Daisy mitleidig, aber auch verwirrt.
»Was? Ach so, ja, gewonnen haben wir schon.« Der vornehme Oxford-Akzent lag etwas unsicher über dem leicht jammerigen Näseln aus den Midlands. »Wir sind ja ein kleines College, das im Grand, also im Großen Rennen, keine Chance hat. Aber den Thames Cup könnten wir schaffen.«
»Doch es scheint nicht so, als würde Sie das besonders glücklich machen. Ach so, ich bin übrigens Daisy Dalrymple, die Cousine von Patricia.«
»Horace Bott. Sehr angenehm. Natürlich freue ich mich, daß wir diesen Durchlauf gewonnen haben«, fuhr er düster fort, »aber selbst wenn wir bis zum Schluß durchhalten und sogar gewinnen, bin ich immer noch ein Außenseiter.«
»Weil Sie nicht rudern?«
»Weil ich nicht der richtigen Familie entstamme, nicht den richtigen Akzent habe, nicht die richtigen Kleider trage und nicht die richtigen gesellschaftlichen Instinkte besitze. Als mir das Stipendium bewilligt wurde, dachte ich, jetzt müßte ich nur noch beweisen, daß ich es auch verdient habe. Aber ich könnte hundertmal als Erster meines Jahrgangs abschließen, könnte mit Ehren überhäuft werden – mein Vater wäre immer noch ein kleiner Koofmich.«
»Da ist doch nichts Schlimmes dran, Ladenbesitzer zu sein«, versuchte Daisy ihn aufzumuntern. »Napoleon hat zwar behauptet, wir Engländer seien eine Nation von Ladenbesitzern, aber besiegt haben wir ihn trotzdem.«
»Ist auch nichts Schlimmes dran, solange wir wissen, was unserem Stand ziemt«, erwiderte Bott mürrisch. »Und das ist jedenfalls nicht ein Studium in Oxford, wo wir auch noch mit den Bessergestellten konkurrieren. ›Bessergestellte‹ – daß ich nicht lache! Die Hälfte der arroganten Snobs, die mich hier wie ein Stück Dreck behandeln, ist nur über familiäre Beziehungen nach Ambrose gekommen. Und wenn die alle noch so viele Nachhilfestunden nehmen: die haben Glück, wenn sie gerade mal bestehen.«
Daisy gefiel sein neidischer Tonfall nicht besonders, aber vermutlich hatte er für seine Verbitterung gute Gründe. Außerdem stimmte es: Gervaise hätte ein Studium in Oxford keineswegs seinen schulischen Leistungen zu verdanken gehabt. Und genausowenig hätte er vorgehabt, dort eine brillante akademische Karriere anzutreten. Wahrscheinlich hätte er diejenigen Kommilitonen, die nach höheren Weihen strebten, eher verachtet. Schließlich hatte er Daisys Bereitschaft, mit den Angehörigen niederer Schichten zu verkehren, keineswegs geteilt.
»Machen Sie denn bei irgend etwas außerhalb der Kurse mit?« fragte sie und fügte ahnungslos hinzu: »Schauspielgruppe, Rhetorik-Club, irgendwelche Streiche oder Sport, so was – ach so, Sport treiben Sie ja.«
»Genauso hatte ich mir das gedacht. Daß ich mit dem Sport weiterkäme. Also wurde ich Steuermann, und ich spiele auch Tennis – letztes Jahr hab ich die Blaue Uniform bekommen.«
»Sie spielen Tennis in der Mannschaft der ganzen Universität, nicht nur im College-Team? Ich gratuliere.«
»Alles schön und gut, aber deswegen heben die Aristos nach einem Spiel noch lange kein Bier mit mir«, sagte Bott wütend.
Seine Unbeliebtheit hatte vielleicht weniger mit seiner niederen Geburt zu tun als mit der Art, wie er sich im Gekränktsein suhlte, schien es Daisy. Fast hätte sie das auch gesagt, besann sich dann aber eines Besseren. Einen solchen Hinweis würde er ganz bestimmt in den falschen Hals bekommen, so gut sie es auch meinte. Obwohl Horace Bott ihr leid tat, fand sie ihn deswegen nicht unbedingt sympathisch.
Er nahm ein Päckchen Woodbines aus der Hemdtasche. »Rauchen Sie?« fragte er und hielt ihr die Schachtel hin.
»Nein, vielen Dank.«
Er zündete sich eine der billigen Zigaretten an und warf das Streichholz in den Fluß. »Vermutlich rühren Sie außer türkischen Zigaretten nichts an.«
»Ich rauche überhaupt nicht. Zigarettenrauch mag ich nicht so gern.« Pfeifenduft – das war etwas anderes, besonders der von Alecs Pfeife.
Bott trat einen Schritt beiseite und wedelte mit der Hand den Rauch von ihr fort. »Verzeihung. Meinem Mädchen gefällt das auch nicht. Sie kommt heute abend hierher – hat sich ein Zimmer in der Stadt genommen. Wenn ich diese Packung zu Ende geraucht habe, werde ich mir in den nächsten paar Tagen keine mehr kaufen.« Seine flüchtige Freude über das baldige Wiedersehen mit seiner Freundin verblaßte gleich wieder, und die Düsternis kehrte zurück. »Ich kann mir das Zeug sowieso nicht leisten.«
Daisy fühlte sich versucht, all die Dinge aufzulisten, die sie sich nicht leisten konnte, doch glücklicherweise kehrte die Mannschaft vorher vom Bootshaus zurück. Das Rennboot war zu lang, um hineinzupassen, und lag jetzt kieloben auf einem Gerüst.
Drei der jungen Männer gingen den Rasen hinauf zum Haus, einer georgianischen Villa aus gealterten roten Backsteinen mit weiß umfaßten Fenstern. Jemand aus der Gruppe rief ihnen hinterher: »Und daß ihr mir nicht alles heiße Wasser aufbraucht!«
Tish, Dottie, Cherry und vier andere kamen auf Daisy und Bott zu.
»Daisy, erinnerst du dich noch an Cherry?« fragte Tish.
»Aber natürlich!«
»Guten Tag, Miss Dalrymple«, begrüßte sie der blonde Bugruderer.
»Daisy bitte. Wir sind ja schließlich so gut wie Vetter und Cousine.«
Ein Grinsen ging über sein Gesicht. »In Ordnung, Daisy, aber nur unter der Voraussetzung, daß Sie mich nie Erasmus nennen.«
»Versprochen!«
Während dieses freundlichen Geplänkels nahmen zwei der Männer jeweils ein Paar Ruder auf, um sie zum Bootshaus zu tragen. Daisy hörte, wie der dunkle Ruderer Nummer zwei dem Steuermann zurief: »Wirklich gut gemacht heute, Bott.«
»Was für ein Glück, daß das Boot von St. Theresa’s College obendrein an die Ausleger geraten ist«, sagte der fünfte Ruderer und schwächte das Lob damit ab. Er hatte wie Ruderer Nummer Zwei dunkles Haar, das er offensichtlich mit Pomade glättete. Daisy hielt ihn für den Schlagmann, der vorhin schon so mürrisch dreingeschaut hatte.
»Diese Rennstrecke ist so verflixt eng, daß eine Menge Boote an die Ausleger stoßen. Bott hat uns bestens da hindurchgelenkt. Morgen werden wir die Mannschaft von Richmond so richtig vor und zurück schlagen.«
»Nicht, wenn er uns weiter mit seinen Stinkadores vergiftet.«
Bott warf dem Schlagmann einen bösen Blick zu, drehte sich um und marschierte zum Haus.
»Ach, komm schon, DeLancey, laß ihn doch in Ruhe«, sagte Ruderer Nummer Zwei. »Von diesen schrecklichen Zigarren, die du immer rauchst, ist auch nicht jeder begeistert.«
»Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, daß dieser widerliche kleine Depp mir Kommandos erteilen darf«, ärgerte sich DeLancey.
»Steuermänner müssen nun mal klein sein …«
»Bott ist kein Depp«, unterbrach Dottie wütend die Unterhaltung. »Der hat mehr Grips im Hirn als ihr alle zusammen.«
»Also hör mal«, protestierte Cherry.
»Meinetwegen fast mehr«, gab seine Verlobte halbherzig nach. »Du besitzt schon eine gewisse Intelligenz, mein Liebster, aber der hat wirklich was auf dem Kasten.«
Cherry schaute nach dieser Schelte nicht gerade glücklich drein.
»Vorsicht, Vorsicht, Miss Carrick«, spöttelte DeLancey, »sonst enden Sie doch noch als alte Jungfer.«
»Also hör mal!« Cherry trat einen Schritt vor. »Jetzt halt aber mal deine Zunge im Zaum, DeLancey!«
Tish legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nur nicht die Fasson verlieren, mein Lieber. Die beste Art, wie du ihm das heimzahlen kannst, besteht einfach darin, weiterhin mit Dottie verlobt zu sein.«
»Keine Frage«, zischte ihr Vetter, »aber mir gehen ganz andere Heimzahl-Methoden durch den Sinn.«
»Jetzt ist wirklich nicht die Zeit für solche Auseinandersetzungen. Morgen habt ihr schließlich gemeinsam ein Rennen zu bestehen«, erinnerte ihn Tish.
»Welch kluge Worte, und das aus so hübschem Munde«, applaudierte DeLancey spöttisch. »Ein Mädchen mit Ihrem Aussehen verschwendet doch seine Zeit mit Büchern und Vorlesungen. Ihnen würde ich wirklich gerne mal zeigen, wie man sich besser amüsiert.«
Tish wandte ihm den Rücken zu.
Ruderer Nummer Zwei, dessen Gesicht vor unterdrückter Wut ganz rot geworden war, preßte zwischen den Zähnen hervor: »Hatte ich nicht gesagt, daß du die Ruder wegtragen helfen sollst, DeLancey?«
»Tatsächlich, Herr Kapitän, das hast du wohl.« Mit geradezu aufsässiger Langsamkeit schlenderte DeLancey zu den letzten zwei Rudern auf dem Rasen.
Kapitän – damit war Ruderer Nummer Zwei also Tishs berühmter Rollo gemeint, wie Daisy schon vermutet hatte. Er starrte DeLancey mit geballten Fäusten nach, zuckte dann mit den Achseln und wandte sich wieder den anderen zu.
»Tut mir wirklich leid, Daisy«, entschuldigte sich Tish mit unglücklicher Miene. »Was für eine Begrüßung!«
Daisy murmelte irgend etwas Beruhigendes.
»Ach so, ich hab dir Rollo ja noch gar nicht vorgestellt, nicht wahr?« Wieder schoß Daisys Cousine das Blut in die Wangen. »Roland Frieth, der Mannschaftskapitän.«
»Sie müssen mich ja für ein ziemlich lasches Exemplar der Spezies Kapitän halten, Miss Dalrymple«, sagte Rollo selbstironisch. »Kaum imstande, Aufruhr in der Mannschaft zu bändigen.«
»Ich finde, Sie haben ihn sehr gut gebändigt«, sagte Daisy lächelnd. »Letztlich sind die Ruder doch jetzt auf dem Weg ins Bootshaus, nicht wahr?«
Alles blickte auf DeLanceys dorthin entschwindende Gestalt.
»Den hätte ich dir auch noch vorstellen müssen«, meinte Tish bekümmert.
Dottie schnaufte. »Dazu hat er dir wohl kaum Gelegenheit gelassen.«
»Eines Tages erlebt der von mir sein blaues Wunder«, murmelte Cherry wütend.
Rollo schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Er ist schließlich als Boxing Blue in der Boxmannschaft der Universität. Vergiß das nicht. Ich hab nur Sorge, daß er eines Tages Bott zusammenschlägt.«
»Ach, Bott! Meinetwegen kann er Rührei aus Botts Hirn machen. Hauptsache, er wartet damit, bis die Regatta vorbei ist.«
»Aber Cherry, der ist doppelt so groß wie Bott«, protestierte Dottie.
»Das wird ihn wohl kaum bremsen«, sagte Rollo. »Da kann sein alter Herr ein Earl sein, solange er will: so wie der Filius Damen links und rechts beleidigt, dürfte doch wohl offensichtlich sein, daß er kein Gentleman ist. Und auf Bott hat er es ja richtiggehend abgesehen.«
»Bott ist auch kein Gentleman«, murmelte Cherry, »selbst wenn er ein vermaledeites Genie ist.«
»Ach, Liebling!« Dottie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange. »Botts Intelligenz ist doch das einzige, was ich an ihm bewundere. Den würde ich nicht für eine Million Pfund in bar heiraten. Man stelle sich doch nur vor: ich als Mrs. Dottie Bott!«
Alles lachte, und man ging ins Haus.
Als der Tee auf der Terrasse serviert wurde, war die ganze Mannschaft versammelt. In Flanellhosen und Blazern wirkten die jungen Männer auf Daisy wesentlich handlicher, als hätten sich ihre Proportionen verschoben. Dennoch war sie sich auch nach der Vorstellungsrunde nicht sicher, ob sie alle voneinander würde unterscheiden können, wenn sie ihnen andernorts begegnete.
Cherry und Rollo nahm sie nicht nur wegen der besonderen Beziehung zu ihrer Cousine deutlicher als die anderen wahr, wurde ihr bewußt. Sie waren älter, ungefähr so alt wie sie selbst, und hatten im Großen Krieg gedient, bevor sie zum Studium nach Oxford gingen. Jetzt studierten sie im dritten Jahr, genau wie Horace Bott und Basil DeLancey. Alle anderen waren Erstsemester oder im zweiten Studienjahr.
Man machte es sich allgemein auf der Terrasse gemütlich, manche saßen auf Gartenstühlen und Bänken, andere hatten sich auf die Kissen gelagert, die auf die bunten Fliesen der Terrasse gelegt worden waren. Tish hatte die Rolle der Gastgeberin an der Teekanne übernommen, da ihre Mutter nicht erschienen war.
»Soll ich mal Tante Cynthia suchen?« bot Daisy an. Sie machte sich plötzlich Sorgen beim Gedanken an die Flecken auf Lady Cheringhams Bluse.
Tabakwasser klang nicht sehr gefährlich, so giftig der Gestank billiger Zigaretten auch sein mochte. Aber das Mittel mußte Nikotin enthalten, und das wiederum war unter bestimmten Umständen ein tödliches Gift. Seit der Geschichte in der Albert Hall war ihr das nur zu deutlich bewußt, und nach dem Mord dort hatte sie ein Buch über Gifte gelesen. Obwohl sie sich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern konnte, war ihr das immerhin noch im Gedächtnis geblieben. »Ich hab vorhin Lady Cheringham vorne im Garten gesehen, als ich herunterkam«, sagte Rollo. »Sie attackierte gerade einen der Buchsbaum-Schwäne mit der Gartenschere.«
»Mutter ist unendlich begeistert, jetzt einen richtigen englischen Garten zu haben. Man kann sie nur mit Mühe davon loseisen«, erklärte Tish.
Cherry grinste. »Und Onkel Rupert kriegt man von seinem Manuskript nicht weg. Wußten Sie schon, daß er seine Memoiren schreibt, Daisy? Das scheint geradezu Pflicht für pensionierte Verwaltungsbeamte aus den Kolonien zu sein. Ist wohl so ein Tick wie die Angewohnheit, ihren Häusern gräßliche Namen wie ›Bulawayo‹ zu geben. Ich bring ihm mal eine Tasse. Bei dieser Invasion wäre ja alles Personal der Welt überfordert.« Er machte eine nachlässige Handbewegung zu seinen Mannschaftskameraden hin, die Tee, Kuchen und Sandwiches eifrig zusprachen.
»Ich geh mal«, sagte Daisy. »Onkel Rupert habe ich noch gar nicht guten Tag gesagt. Gurkensandwiches schmecken ihm doch besonders, erinnere ich mich richtig?«
Sie fing gerade an, auf einem Teller die dünn geschnittenen, krustenlosen Weißbrot-Dreiecke anzuhäufen, als Tish, die Teekanne noch in der Hand, sie bremste.
»Ich fürchte, Daddy ist geflüchtet«, sagte sie mit einem solchen Schuldbewußtsein in der Stimme, als sei sie persönlich verantwortlich dafür, daß ihr Vater seinen Pflichten als Gastgeber nicht nachkam. »Er meinte, wenn Dutzende von Sportlern in seinem Haus herumtrampeln, käme er nicht zum Schreiben. Also hat er sein Opus magnum gepackt und ist zu seinem Club aufgebrochen. Bister hat ihn zum Bahnhof gebracht, als er dich abgeholt hat. Du hast ihn wahrscheinlich knapp verpaßt.«
Cherry lachte, nur Rollo wirkte betrübt.
»Verflixt, das tut mir aber wirklich leid, Tish«, sagte er. »Du hättest nur etwas zu sagen brauchen. Ich hätte die Jungs schon diszipliniert.«
»Ist schon in Ordnung, mein Großer«, sagte Tish liebevoll. »Mutter sagt, er sei doch selber schuld, wenn er die Mannschaft einlädt. Sie ist das natürlich von Afrika gewöhnt. Da brachte man jeden Europäer auf der Durchreise bei sich unter. Vater hat mir wahrscheinlich gar nicht zugehört, als ich ihm das vorschlug. Soll es ihm eine Lehre sein, in Zukunft auf die Worte seiner Tochter zu achten.«
»Typisch Mann!« sagte Dottie und fügte noch etwas hinzu, was Daisy nicht verstand.
Cherry erwiderte etwas, das so klang, als sei es in derselben Sprache gesagt.
»Griechisch«, sagte Tish, als sie Daisys verwirrten Gesichtsausdruck sah. Dottie und Cherry entfernten sich von den anderen und stellten sich ans Terrassengeländer, tief in eine schnell begonnene Debatte versenkt. »Altgriechisch allerdings, nicht die moderne Sprache. Ich verstehe es auch nicht, kann es nur erkennen.«
»Mir kommt das sehr spanisch vor«, warf Rollo ein und schien mit seinem kleinen Scherz durchaus zufrieden. »Ich hab ein Jahr Griechisch in der Schule gehabt, aber so recht begriffen hab ich es nie. Latein war ja schon schlimm genug.«
»Also werden Sie wohl im Hauptfach keine der alten Sprachen studieren«, sagte Daisy lachend.
»Ich doch nicht! Alles schön neusprachlich. Französisch habe ich mühelos gelernt, als wir in Frankreich waren, und Deutsch in der Besatzungszeit. Ich war Verbindungsoffizier – damals.«
»Das muß ungeheuer interessant gewesen sein.«
»Sehr sogar. Die Aufgabe hat mich begeistert. Der einzige Ärger ist nur, daß eine Sprache zu sprechen was ganz anderes ist, als sie zu schreiben, ganz abgesehen vom Lesen und Literatur-Diskutieren und dem ganzen Kram. Die Aufnahmeprüfung vom Ambrose College hätte ich nie geschafft, wenn es da keine Sonderkonditionen für die Veteranen des Großen Krieges gäbe. Und natürlich, wenn mein Vater nicht auch am Ambrose studiert hätte. Zu dumm, daß ich jetzt durch die Prüfungen für die Universitätszulassung gefallen bin«, endete er kummervoll.
»So ein Pech aber auch«, sagte Daisy.
»Pech kann man das nicht nennen. Ich hätte mal lieber mit dem Rudern aufhören und mich auf meine Prüfungen konzentrieren sollen. Ich weiß, ich bin nicht so schlau wie Cherry, der gleichzeitig gerudert und genug gebüffelt hat, um mit einer ordentlichen Note durchzukommen.« Rollo blickte sich um und senkte die Stimme. »Ganz abgesehen von diesem gräßlichen Giftzwerg Bott, der ohne die geringste Mühe Bestnoten erreicht.«
Daisy sah den armen Bott allein auf einer Bank am gegenüberliegenden Ende der Terrasse sitzen und übelgelaunt seinen Tee schlürfen. Er tat ihr leid, wieder mal, und dennoch hatte sie keine Lust, sich zu ihm zu setzen. Sie wandte sich wieder Rollo zu.
»Werden Sie die Prüfungen wiederholen?« fragte sie.
»Nein.«
»Ja!« sagte Tish zur selben Zeit. Die beiden warfen sich einen Blick zu.
Bevor Daisy eine Erklärung erbitten konnte, kam DeLancey heran und präsentierte Tish seine Tasse mit der Bitte um mehr Tee. »Wenn Sie mir diesen Liebesdienst erweisen würden, Verehrteste«, sagte er. Sein schmieriger Ton machte klar, daß seine Worte alles andere als unverfänglich sein sollten. Mit versteinertem Gesicht kam Tish seiner Bitte nach.
Spöttisch lachend wandte sich DeLancey von ihr ab, nahm einen fast schon leeren Teller mit Makronen auf und hielt ihn Daisy hin. »Nehmen Sie sich lieber eine davon, bevor die Jungs auch diesen Rest noch vernichten. Der Süßen Süßes«, sagte er wenig originell.
Daisy mochte keine gute Schulbildung genossen haben, aber ihren Hamlet kannte sie. »Haben Sie vor, mein Grab damit zu bestreuen, Mr. DeLancey?« erkundigte sie sich ironisch. »Ich kann Ihnen versichern, daß ich mich nicht aus unerwiderter Liebe ertränken werde.«
Mit der linken Hand nahm sie eine Makrone – schließlich waren sie ihr Lieblingsgebäck –, wobei sie darauf achtete, daß ihr Verlobungsring mit dem Saphir schön in der Sonne funkelte. Der Stein war nicht groß, aber er hatte genau die Farbe ihrer Augen. Und von denen sagte Alec immer, ihr unschuldiger Blick brächte die Leute dazu, sich ihr anzuvertrauen. Wie auch er ihr ja vertraute. Schon mehr als einmal hatte er sich ihr gegenüber mehr zufällig als willentlich über seine Fälle geäußert.
Vor einer Stunde hatte ihr auch Bott sein Herz ausgeschüttet, obwohl er sie gerade mal zwei Minuten kannte. Daisy hoffte inständig, DeLancey würde ihr nicht auch noch seine Seele offenbaren. Sie hatte keine Lust, sein Innenleben zu beschauen. Der war mindestens genauso unangenehm wie Bott, ohne die verzeihlichen Gründe des unglücklichen kleinen Mannes dafür zu haben.
DeLancey wirkte nach ihrer Erwiderung eher ratlos. Was auch immer er studieren mochte, Shakespeare gehörte vermutlich nicht dazu. Allerdings begriff er die Bedeutung des Saphirs. Er warf einen höhnischen Blick auf Dottie, die noch immer in ihre Unterhaltung mit Cherry vertieft war, und sagte: »Sie sind auch verlobt, Miss Dalrymple?« Immerhin klang er nicht auf beleidigende Weise überrascht.
»Mit einem Polizisten«, informierte ihn Daisy.
»Mit einem …! Aber ich hätte doch gedacht … Ich meine, ist Lord Dalrymple nicht Ihr Bruder?«
»Nein!« sagte sie nur knapp. Jetzt wurde es spannend, und sie wartete interessiert, wie er darauf reagieren würde.
»Erzählen Sie mir doch nicht, daß Sie eine von diesen gräßlichen Möchtegern-intellektuellen Frauen sind!«
»Ich schreibe.«
»Um Himmels willen! Wie komme ich eigentlich darauf, daß Sie die Schwester vom Honourable Gervaise sein könnten?«
»Ich war es.«
»Wie bitte? Sie waren es? Ich meine, der hat doch nicht etwa ins Gras gebissen?«
»Doch.« Daisy hielt inne, um ihm Zeit für irgendeine Äußerung des Bedauerns zu geben – aber nichts dergleichen geschah. »Sie können ihn doch gar nicht gekannt haben. Zu dieser Zeit waren Sie ja noch ein kleiner Junge.« Und ein sehr verwöhnter, vermutete sie.
Bei ihrem nachsichtigen Tonfall errötete DeLancey. »Cedric – also mein Bruder – kannte ihn aus Frankreich. Er hat mir oft von ihm erzählt, wenn er Heimaturlaub hatte. Aber Ceddie war vor Kriegsende schon Invalide und ausgemustert, so daß ich nichts weiter gehört … Er wohnt während der Regatta in Crowswood Place.«
»Auch ein begeisterter Ruderer?«
»Eigentlich nicht so sehr, höchstens fährt er mal in einem Punt – so einem flachgehenden viereckigen Flußboot, das man staken muß – oder in einem Skiff auf der Isis herum. Aber die Regatta ist schließlich ein gesellschaftlicher Glanzpunkt. Ach, übrigens, er und ich und noch ein paar andere wollen heute abend im Phyllis Court Club tanzen gehen. Hätten Sie nicht Lust mitzukommen?«
»Nein, danke«, sagte Daisy. Schade eigentlich, denn obwohl sie keine begeisterte Tänzerin war, war das doch genau die Art Veranstaltung, über die sie an sich schreiben sollte. Aber keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, den Abend mit DeLancey zu verbringen.
Rollo unterbrach die beiden. »Du wirst da auch nicht hingehen, DeLancey. Wir haben gleich morgen das erste Rennen für den Thames Cup. Heute nacht geht keiner auf die Walze. Und ich will die Vierer-Ruderer in einer Viertelstunde im Boot sehen, damit wir den Start noch mal trainieren. Würdest du das bitte den anderen sagen?«
»Ach, ein so charmantes Tête-à-tête möchte ich aber gar nicht gerne unterbrechen«, sagte der Schlagmann sarkastisch.
»Ich sag es Cherry«, bot Daisy an und stand auf, »und Tante Cynthia bringe ich eine Tasse Tee. Es sieht ja nicht so aus, als würde sie noch zu uns stoßen.«
Als sie dem Paar an der Balustrade näher kam, hörte sie Dottie heftig sagen: »Und neuntens …«
»Bitte entschuldigen Sie, daß ich Ihren neunten Punkt so im Entstehen unterbreche«, mischte sich Daisy schmunzelnd ein, »aber Ihr Kapitän ruft Sie, Cherry. Die Vierergruppe soll in fünfzehn Minuten noch einmal im Boot trainieren.«
»Bin schon auf dem Weg.« Er küßte Dottie auf die Wange. »Vergiß Nummer neun nicht, Liebes. Irgendwann wirst du mich überzeugen.«
Während sie ihm nachschaute, sagte Dottie voller Wärme: »Dieses Riesenbaby hätte doch schon längst zugegeben, daß ich recht habe, wenn ich nicht ein Jahr unter ihm studieren würde. Eines muß ich ihm aber zugute halten: Daß ich eine Frau bin, hindert ihn nicht, meine Argumente ernst zu nehmen.«
»Das würde er wohl nicht wagen, oder?« bemerkte Daisy. »Wo doch seine Mutter ein Don ist.«
Dottie lachte. »Stimmt. Er ist gut erzogen worden. Ach, wie ärgerlich, jetzt ist mein Tee eiskalt, und ich habe gerade mal einen Schluck getrunken. Hoffentlich ist noch welcher für mich da.«
Gemeinsam kehrten sie an den Teetisch zurück. Daisy suchte vergeblich nach einem Keks, einem Stück Kuchen, einem Sandwich, das sie ihrer Tante mitbringen könnte. Aber selbst der letzte Krümel war verschwunden.
»Erstaunlich, daß so ein Teegelage ihnen den Appetit aufs Abendessen nicht verderben kann«, sagte Tish, die über den abgeräumten Platten präsidierte. »Hier ist eine Tasse Tee für Mutter, Daisy. Mehr gibt’s nicht. Ach so, übrigens, auf die Kirmes können wir heute doch nicht gehen, denn die Ruderer vom Vierer müssen ja noch einmal trainieren.«
»Um so schöner, dann kann ich mit Alec hin, wenn er hier ist. Denn mit diesem gräßlichen DeLancey tanzen gehen – nie im Leben! Kennst du seinen Bruder?«
»Lord DeLancey? Nein, den habe ich nie kennengelernt, aber er ist der älteste Sohn vom Earl of Bicester und um einiges älter als der liebe Basil. Außerdem hat Cherry mir erzählt …« Tish hielt mitten im Satz inne und lächelte kühl Bott an, der mit seiner Tasse auf den Tisch zusteuerte.
»Noch einen Tee, Mr. Bott?« fragte sie. »Sie trinken gern indischen Tee, nicht wahr?«
»Was ist dabei?« knurrte der Steuermann kampfeslustig.
Daisy flüchtete. Sie fand Lady Cheringham vor dem Haus, wo sie Rittersporn an einem Stab festband. In der Nähe mähte Bister – vorhin noch der elegant uniformierte Chauffeur, jetzt in Hemdsärmeln, sichtlich abgetragenen Hosen und einem äußerst mitgenommenem Strohhut – das kreisrunde Stück Rasen in der Mitte der Auffahrt. Der Geruch von frischgemähtem Gras wetteiferte mit den verschiedenen Blumendüften.
»Ach du liebes bißchen, hab ich schon wieder den Tee verpaßt?« Vorsichtig trat Lady Cheringham aus dem Gewirr von Blumen und Kräutern heraus. »Vielen Dank, Daisy, Liebes.« Sie trank den Tee mit einem Schluck aus.
Immer noch trug sie die Bluse mit den Tabakwasserflecken, die mittlerweile wahrscheinlich unrettbar von der Bräune befallen war. Auf die Trägerin schienen die Flecken indes keine widrigen Wirkungen gehabt zu haben. Die nassen Stellen trocknen schnell an einem so warmen Tag, dachte Daisy. Sie sollte mal Informationen über die schädlichen Wirkungen von Nikotin zusammentragen, um ihre Tante zu größerer Vorsicht anhalten zu können.
Nachdem sie ein paar Minuten miteinander geplaudert hatten, ging Daisy zurück ins Haus und setzte sich in Sir Ruperts Bibliothek. Sie lag dem Salon gegenüber, hinten im Haus. In ihr stand ein langer Bibliothekstisch parallel zur Wand, vor dem sich wiederum mehrere Stühle mit gerader Lehne befanden. Bequeme lederbezogene Sessel gruppierten sich, der Jahreszeit angemessen, vor den Fenstern, daneben kleine Tische. Ein großer Schreibtisch aus Walnußbaum mit Schubladen links und rechts war in die Mitte zwischen die Fenster gestellt, durch die Licht auf ihn fiel. Unter Aussparung des Kamins waren die beiden Wände gegenüber von Tür und Fenstern vollständig mit Bücherregalen bedeckt.
Obwohl die Bücher übersichtlich nach Themen geordnet waren, hatte Daisy nicht die geringste Ahnung, wo sie mit ihrer Suche anfangen sollte. So forstete sie die Regale einige Zeit erfolglos durch. Gerade als sie aufgeben wollte, fiel ihr Blick auf die Bände auf dem Tisch. Unmittelbar vor ihrer Nase lag Henslows Nachschlagewerk Poisonous Plants. Das Kapitel über tropische Giftpflanzen stak voller Lesezeichen.
Im Register fand Daisy das Stichwort Tabak, schlug die genannte Seite auf und las rasch die Beschreibung durch. Nicotiana sei ein Nachtschattengewächs, erfuhr sie. In der langen Liste der entsetzlichen Folgen einer Nikotinvergiftung fanden sich Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, verwaschene Sprache und Krämpfe, die schließlich zum Tode führen. Was sie am meisten beunruhigte: Das Zeug war höchst gefährlich, wenn es durch die Haut absorbiert wurde.
Sofort lief sie los, um ihre Tante zu suchen.
»Ja, Liebes«, sagte Lady Cheringham abwesend, aber mit klarer und ganz und gar nicht verwaschener Stimme, während sie sich ohne stärkere Anzeichen von Schwindel hinunterbeugte, um ein freches kleines Kreuzkraut unter den Nelken hervorzupulen, »ich zieh mich gleich um. Und ich werd Bister bitten, sich zu vergewissern, ob der Gartenschuppen abgeschlossen ist – obwohl ich sicher bin, daß er das schon getan hat. Wir benutzen Arsen, weißt du, gegen Ratten, und Zyankali gegen Wespennester, glaube ich jedenfalls. Schreckliches Zeug.«
Daisy hatte das Gefühl, alles getan zu haben, um ihre Tante Cynthia vor einem gräßlichen Tod zu bewahren.
In noch stärkerem Maß als eben der Tee diente das Abendessen der Energieversorgung der Mannschaft. Beeindruckt verfolgte Daisy, welche Mengen verschlungen wurden. Unter diesen Umständen gestaltete sich das Gespräch eher wortkarg.
Mittlerweile hatte Daisy anhand besonderer Merkmale wie leichtes Stottern, dünner blonder Schnurrbart und ein Paar beneidenswert langer, dunkler, aufgebogener Wimpern weiteren Gesichtern Namen geben können: Die vier Männer im zweiten Studienjahr waren Poindexter (der Stotterer), Wells (bewimpert), Meredith (Schnurrbart) und Leigh (ohne was).
Daisy saß neben Fosdyke, dem einzigen Erstsemester in der Mannschaft – beziehungsweise in beiden Mannschaften. Nach Meinung von Rollo war er ein erstklassiger Ruderer; bevor er nach Oxford ging, hatte Fosdyke schon für die St.Paul’s School gerudert. Daher war er Mitglied sowohl des Vierers als auch des Achters von Ambrose. Diese doppelte Belastung, dazu die Gegenwart der älteren Studenten – das waren ohne Zweifel die Gründe dafür, daß er der Schweigsamste in dieser ohnehin schweigsamen Runde war. »Dürfte ich bitte das Salz haben«, war die längste Äußerung, die Daisy während der ganzen Mahlzeit von ihm zu hören bekam.
Als sie schließlich vom Tisch aufstanden, unterdrückte Fosdyke ein riesiges Gähnen, entschuldigte sich und fuhr fort: »Ich geh zu Bett. Diese Jungs hier kann man ja nicht dazu bringen, halbwegs ernsthaft zu trainieren, ich jedenfalls laufe vor dem Frühstück gerne noch ein paar Kilometer.«
»Wie schön für Sie«, sagte Daisy lächelnd und verbarg ein Schaudern. Zwar bewunderte sie diejenigen, die solch hervorragende Leistungen erbrachten, rückhaltlos. Doch sie selbst hielt Sport für eine Qual, die unter allen Umständen zu vermeiden war.
Dieselbe Meinung hatte sie von Bridge, wenngleich die Leidenschaft ihrer Mutter für das Spiel sie gezwungen hatte, es zu lernen. Als Leigh, Meredith und Wells sie auf dem Weg in den Salon baten, ihnen die Vierte bei einem Rubber zu sein, schüttelte sie mit bestens gespieltem Bedauern den Kopf. »Das ist sehr nett, daß Sie mich dazubitten, aber ich kann gar kein Bridge spielen.«
»Wir bringen es Ihnen gerne bei.« Meredith gab nicht auf.
»Im Kartenspielen bin ich eine hoffnungslose Niete. Ich fürchte, mein Partner würde mich umbringen.«
Die Jungen protestierten matt, aber sie blieb standhaft. Und so wurde Poindexter, der eigentlich einen Brief hatte schreiben wollen, mit dem Versprechen gewonnen, er dürfe als erster Strohmann sein.
Lady Cheringham hatte sich bereits mit einem Buch über die Gartenkunst niedergelassen. Daisy spazierte durch die hohen Glastüren des Salons auf die Terrasse. Die Sonne war bereits untergegangen, doch der Himmel bot im Westen eine ganze Palette von Rot-Tönen, die vom schimmernden, rosafarbenen Fluß reflektiert wurden. Das Licht würde wohl noch eine Stunde oder sogar länger anhalten.
Tish und Rollo, Dottie und Cherry standen auf der Terrasse – zwei Paare also. Daisy wollte nicht stören und ging langsam weiter hinunter zum Flußufer. Alec fehlte ihr jetzt.
Morgen abend hätte sie ihn ganz für sich allein, das ganze Wochenende über. So gern sie seine Tochter Belinda mochte, diese Aussicht auf ungestörte zwei Tage war einfach herrlich. Er hatte versprochen, für Scotland Yard unter keiner Telephonnummer erreichbar zu sein.
Nur eines könnte ihr Wochenende verderben: ein schrecklich wichtiger Fall morgen vor seiner Abreise. Daisy wußte, daß die Ehe mit einem Detective nicht einfach würde, und das akzeptierte sie auch. Diese Seite der Dinge lohnte das Nachgrübeln nicht, und so schmiedete sie lieber Pläne für ihre gemeinsame Zeit.
Ein Skullboot glitt flußaufwärts. Die langsamen, fast träge wirkenden Ruderbewegungen setzten eine Familie von Haubentauchern in Bewegung, die von den dunklen Wellenkämmen im rosigen Wasser auf und ab gehoben und gesenkt wurden. Eine Barkasse bog mit leisem Knattern um die Kurve von Hambleden Lock, offenbar um in der Stadt anzulegen. Warnend kreischte sie auf, als sie das Skullboot überholte. Während das Motorengeräusch verebbte, war von der Kirmes die laute Musik einer Dampfpfeifenorgel zu hören, ihr Ton etwas gemildert von der Entfernung. Daisy war froh, daß sie an diesem Abend nicht dorthin gegangen waren. Sie würde mit Alec hingehen und mit ihm zusammen auf dem Riesenrad fahren, wo ein Kuß ganz oben bestimmt Pflicht war.
»Verflixt!« Sie klatschte sich auf den nackten Arm und zerdrückte eine Mücke. Zu spät, zeigte ihr der Blutfleck auf der Haut. Über ihrem Kopf sirrten noch mehr Insekten. Sie spuckte aufs Taschentuch, wischte sich den Arm ab und eilte zurück zum Haus.
Zwei Gestalten an der Terrassen-Balustrade hoben sich beidseits der Treppe dunkel vor den hell erleuchteten Salonfenstern ab. Zwei rote Lichtpunkte glühten in der Dämmerung.
Die Gestalt zu Daisys Rechten war kleiner als die andere. Horace Bott, dachte sie, und seine Woodbines. Ein Wölkchen Zigarettenrauchs, eindeutig billigster Herkunft, erkämpfte sich den Weg in ihre Nase, durch das schwere Parfum der Rosen hindurch.
Sie seufzte. Sie konnte nicht gut an den beiden vorbeispazieren, ohne das eine oder andere Wort mit ihnen zu wechseln. Immerhin vertrieb der Rauch auch die Stechmücken.