Miss Sharp macht Urlaub - Leonie Swann - E-Book
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Miss Sharp macht Urlaub E-Book

Leonie Swann

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Beschreibung

Agnes Sharp und ihre Senioren-WG haben gerade ihren ersten Fall gelöst, da erschüttern weitere Morde das Dörfchen Duck End. Die Stimmung ist gereizt, und alle hätten ein wenig Entspannung und einen Tapetenwechsel dringend nötig! Da kommt es wie gerufen, als Edwina bei einem Preisausschreiben eine Reise in ein exklusives Wellness-Hotel am Meer gewinnt. Kurzerhand packt die ganze Seniorenbande ihre Koffer. Doch in Cornwall angekommen, zeigt sich schnell, dass das Etablissement trotz Romantikpaket, Fünfgängemenü und Meeresrauschen kein Paradies ist. Denn kaum haben sie es sich gemütlich gemacht, beschleicht Agnes der Verdacht, dass sie an den Klippen einen Mord beobachtet hat. Und schon bald ist klar, dass der Täter mitten unter ihnen weilt ...

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Buch

Agnes Sharp und ihre Senioren-WG haben gerade ihren ersten Fall gelöst, da erschüttern weitere Morde das Dörfchen Duck End. Die Stimmung ist gereizt, und alle hätten ein wenig Entspannung und einen Tapetenwechsel dringend nötig! Da kommt es wie gerufen, als Edwina bei einem Preisausschreiben eine Reise in ein exklusives Wellness-Hotel am Meer gewinnt. Kurzerhand packt die ganze Seniorenbande ihre Koffer. Doch in Cornwall angekommen, zeigt sich schnell, dass das Etablissement trotz Romantikpaket, Fünfgängemenü und Meeresrauschen kein Paradies ist. Denn kaum haben sie es sich gemütlich gemacht, beschleicht Agnes der Verdacht, dass sie an den Klippen einen Mord beobachtet hat. Und schon bald ist klar, dass der Täter mitten unter ihnen weilt …

Weitere Informationen zu Leonie Swann finden Sie am Ende des Buches.

Leonie Swann

Miss Sharp macht Urlaub

Kriminalroman

OriginalausgabeDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Leonie Swann

Copyright © dieser Ausgabe Juli 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

CN · Herstellung: ast

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-27136-7V001www.goldmann-verlag.de

Dramatis personae

Die Bewohner von Sunset Hall

Agnes

war früher bei der Polizei und hat auch jetzt noch einen Blick für Recht und Ordnung, in der WG wie im Leben

Edwina

macht Yoga und viel Blödsinn, mag Tiere und war früher beim Geheimdienst

Charlie

ist schick, elegant und immer für einen Gin Tonic zu haben

Winston

sitzt im Rollstuhl und hat so einiges im Kopf; der Ruhepol der WG

Bernadette

blind und direkt, mit einer bewegten Vergangenheit

der Marschall

vergesslich, aber noch immer schneidig; hat eine Schwäche für Agnes

Brexit

Charlies Wolfshund, darf nicht mit

Lillith

ehemalige Mitbewohnerin, tot und in einer Dose, aber immer dabei

Hettie

Schildkröte, überwintert im Kühlschrank

Hettie 2

Gummischildkröte, aufgeblasen

Im Hotel

Mojo, der Flegel

Jungspund mit grünen Fingernägeln und einer Gefolgschaft im Internet

Helen

effiziente Hotelmanagerin

Trudy

hungriges Mitglied der Entschlackungsgruppe

die weiße Witwe

zwielichtige Dame in Weiß, mit mysteriös verblichenem Ehemann

Max

Bartender mit Nebeneinkünften

Lila

Massagetherapeutin

Howard Hope

Schmeichler mit runder roter Brille

Jack

ein Mann aus Bernadettes Vergangenheit

Frank Ashwood

Hotelgast in den Flitterwochen

Eve Ashwood

Franks Ehefrau, potenzielles Mordopfer

Oberon

weiße Würgeschlange im Exil

VORSPIEL Die Schlange im Paradies

Ich bin noch nie in so einem Club gewesen. Clubs wie dieser sind nicht für Leute wie mich gemacht. Trotzdem war es lächerlich einfach, hier hereinzukommen.

Geschlossene Gesellschaft? Nicht, wenn man die Welt der Hotels, Bars, Hinterhöfe und Personaleingänge kennt. Eine stinkende Gasse. Eine Stahltür, ein schmaler Gang, vorbei an Champagnerkisten, dann ein Vorhang aus Samt.

Durch Zwiebelhäute hinein in ein verrottendes Herz.

Wie zu erwarten war, ist dieses Herz dunkel, und ich gleite in die Schatten. Lichtpunkte huschen über den Boden, aber sie finden mich nicht. Ich halte Ausschau nach einem Versteck, doch das ist kaum nötig. Niemand hier sieht mich. Niemand will mich sehen. Ich könnte genauso gut unsichtbar sein.

Aller Augen blicken auf die kleine Bühne am anderen Ende des Raums.

Da tanzen sie.

Eve.

Und die Schlange.

Lange Beine, oben ohne, ein Glitzerding um die Hüften, das Reptil um die Schultern geschlungen.

Es soll wohl obszön aussehen, doch an ihr wirkt es seltsam unschuldig. Kindlich sogar. Eine Szene aus dem Paradies.

Natürlich kaufe ich ihr die ganze Unschuld nicht ab. Sie müsste es besser wissen. Ich bin mir nicht sicher, was eine Braut vor der Hochzeit so alles zu tun hat, aber bestimmt nicht das. Nicht dieses schamlose Sich-zur-Schau-Stellen. Sie fühlt sich so sicher. Das ist ein Fehler. Oh, sie wird bald merken, was das für ein Fehler ist!

Ein Champagnerkorken knallt, und Eve jauchzt. Sie hüpft von der Bühne und pflanzt sich auf den Schoß des Herrn, der den Champagner geöffnet hat. Er reicht ihr ein Glas, und sie lacht, Kopf in den Nacken, Locken wie ein Wasserfall.

Alle lachen.

Wenn man es recht betrachtet, lachen sie über mich.

Eve schüttelt ihr Haar, und es ist wie Schnee. Sie ist so blond. Bleich wie ein Stück Holz, das in der Sonne vergessen worden ist. Plötzlich wünschte ich, sie wäre nicht so blond. Denkt sie, dass sie schön ist? Denken andere, dass sie schön ist? Ich kann es nicht mehr beurteilen. Zu Hause trägt sie wallende Seidenkleider in Nebelfarben, und ihre Bewegungen sind anmutig, aber in ihrer Stimme ist jetzt etwas wie geborstenes Glas.

Auf einmal kämpfe auch ich gegen ein Lachen an.

Jetzt habe ich sie, auf ewig gefangen wie in einer glitzernden Schneekugel. Sie wird mir nicht entkommen, egal, wie laut sie lacht, egal, wie viel Champagner sie trinkt. Ich hebe mein Handy und mache schnell zwei, drei Fotos, fast überrascht, wie einfach plötzlich alles ist.

Wie klar.

Wie kalt.

Noch während ich fotografiere, löst sich die bleiche Schlange von Eves Schulter, streckt sich mit pendelnden Bewegungen in meine Richtung und züngelt mich mit ihrer rosigen Zunge an.

Ein Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht.

Ich muss zugeben, dass ich mich auf die Flitterwochen freue.

1 Hellhörig

Agnes Sharp öffnete die Tür des örtlichen Quacksalbers und steckte die Nase hinaus ins Freie. Ein kalter Wind fuhr ihr ins Gesicht, zerrte an ihrem Schal und kroch ihr sofort in die Glieder. Pfui Teufel!

Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich ein Taxi rufen zu lassen. Dann warf sie einen Blick zurück ins Wartezimmer, wo eine Menge Leute verdammt froh schienen, sie endlich loszuwerden. Mindestens ebenso froh, wie sie ihrerseits war, diesen kleingeistigen Spießern nun den Rücken zudrehen zu können. Es hatte einige unschöne Szenen und sogar etwas Gerangel um eine abgegriffene Illustrierte gegeben, und als die Sprechstundenhilfe Agnes’ Blick bemerkte, runzelte sie besorgt die Stirn.

Zurück ins Wartezimmer? Bloß nicht!

Nun denn!

Agnes fischte ihren Gehstock aus dem Schirmständer und trat beherzt auf den Gehsteig. Wenigstens war die Luft hier frisch, nicht so abgestanden wie in der Praxis, und ein wenig Bewegung hatte noch niemandem geschadet.

Außer ihrer Hüfte vielleicht.

Schwer auf den Gehstock gestützt, stakste sie los.

Klack-klack-klack.

Wie ein seltsames Tier mit drei Beinen.

Erst zwei Häuser weiter fiel Agnes auf, wie dunkel es schon war.

Noch nicht einmal fünf und schon dunkel. Rabenschwarz, genau genommen.

Zustände waren das …

Ihr Dorf hatte erst vor zehn oder zwanzig Jahren den Sprung in die Gegenwart gewagt und die eine oder andere Straßenlaterne angeschafft, Lichtinseln in der Nacht. Viele waren es nicht. Am anderen Ende der Straße erspähte Agnes die Bushaltestelle, hell erleuchtet. Verheißungsvoll.

Dort musste sie hin.

Aber erst einmal galt es, sich an der Kirche vorbeizukämpfen, und die lag, ummantelt vom Friedhof, in dicker, suppenartiger Schwärze.

Agnes umklammerte den Gehstock. Ihre größte Angst war es, in der Dunkelheit irgendein Hindernis nicht zu bemerken, zu fallen, nicht mehr auf die Beine zu kommen und dann von den Wartezimmerkaspern gefunden und gerettet zu werden oder gar von der schnippischen Sprechstundenhilfe, die ihr vorhin die Illustrierte abgenommen hatte.

Die Schmach. Die Schande. Die blöden Bemerkungen.

Nicht auszudenken!

Also ging sie noch langsamer und benutzte ihren Stock dazu, vor sich im Dunkeln nach Stolperfallen zu tasten. Nichts. Zu allem Überfluss legten plötzlich die Kirchenglocken los, alle auf einmal, wie um sich über sie lustig zu machen. Agnes zuckte zusammen. Bis vor Kurzem wäre ihr das Läuten gar nicht groß aufgefallen, ein dumpfes Hintergrundgeräusch wie viele andere auch, aber jetzt, mit dem Hörgerät, fuhr ihr jeder Glockenschlag in die Glieder wie ein kleiner Schock. Ganz schön stressig, so ein Hörgerät!

Agnes hinkte stur weiter.

Doch als sie es schon fast in den Lichtkegel der Bushaltestelle geschafft hatte, ließ etwas sie innehalten. Es dauerte einen Moment, bis sie herausgefunden hatte, was genau es war.

Die Glocken.

Genauer gesagt: die Glocke.

Alle anderen Kirchenglocken waren verstummt, doch eine läutete weiter, schneller und schneller und nochmals schneller. Agnes hatte in ihrem langen Leben viel Zeit in der Nähe dieser Glocken zugebracht, aber so ein Läuten hatte es noch nie gegeben. So fahrig, beinahe panisch. Hier stimmte etwas nicht!

Sie blickte zurück zur Kirche, die noch immer in tiefer Dunkelheit lag, dann hinüber zur Haltestelle, wo jede Minute ein Bus auftauchen konnte.

Schließlich siegte die Neugier.

Während die Glocke zu einem hektischen Finale ansetzte, machte Agnes mit einem Seufzer kehrt und tappte, in bewährter Dreibeinmethode, zurück Richtung Kirche.

Als sie den Friedhof erreicht hatte und dem bleich schimmernden Band des Kieswegs folgte, war die Glocke längst verstummt.

Sie erreichte die Kirchentür, tastete mit der freien Hand nach dem Knauf, drehte und drückte. Die Tür öffnete sich mit einem markerschütternden Knarzen, fast einem Schrei.

Drinnen war es, falls das möglich war, noch kälter als draußen. Sie sah sich um. Auf dem Altar flackerte ein Licht, aber das interessierte sie nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt dem zweiten Licht, einem schmalen Streifen, der sich unter der Tür zum Glockenturm hervorzwängte.

Dorthin also.

Bevor Agnes sich wieder in Bewegung setzte, ließ sie sich einen Augenblick Zeit, um zu lauschen.

Draußen heulte der Wind in den höchsten Tönen. Es war lange her, dass sie den Wind das letzte Mal wirklich gehört hatte.

Doch hier drinnen: nichts.

Oder fast nichts.

Dank des Hörgerätes vernahm sie so etwas wie ein sanftes Schleifen, wie von etwas Weichem auf Stein oder Holz. Agnes war sich nicht sicher. Sie traute dem neuen Gerät noch nicht so recht über den Weg, und ihren Ohren traute sie natürlich erst recht nicht.

Es gab nur einen Weg, sich Klarheit zu verschaffen: Agnes schleppte sich auf den leuchtenden Türspalt zu. Sie versuchte es mit der Tür, fand sie offen und war auf einmal in gelbes Licht getaucht. Da wartete ein mittelgroßer Raum mit einfallslosem Teppichboden und einer Reihe schmaler Bänke und Schemel entlang der Wände. Einer der Schemel war umgefallen. Ein Plakat an der Wand verwies auf die Wichtigkeit des Händewaschens, genau wie vorhin beim Arzt.

Das Ungewöhnliche aber waren die Seile.

Der Raum am Fuße des Glockenturms wurde von sechs dicken Seilen dominiert, die in der Decke verschwanden und vermutlich bis hinauf zu den Glocken führten, Tonnen über Tonnen singender Bronze, jahrhundertealt.

Fünf dieser dicken Seile waren jeweils am Ende säuberlich zu einer losen Schlinge geknotet und schwangen sacht hin und her.

Im sechsten Seil hing der Küster.

Er war noch gar nicht richtig tot. Seine Fingerspitzen zuckten noch. Aber der seltsame Winkel zwischen Kopf und Hals sagte Agnes, dass jede Hilfe zu spät kam.

Genickbruch.

Nichts zu machen.

Der Tote hing in einer ungewöhnlichen, halb knienden Position, den Kopf in einer Schlinge am Ende des Seils. Nicht einfach erhängt also, dazu hing die Schlinge nicht hoch genug. Der Küster hätte einfach nur die Beine ausstrecken müssen, um sich von dem Seil zu befreien. Kurios.

Agnes trat näher und stupste den Toten vorsichtig mit dem Stock an. Der Küster pendelte sanft hin und her, in den starren Augen einen Ausdruck grenzenloser Überraschung.

»Du hast dir deinen Freitagabend vermutlich anders vorgestellt, nicht wahr?«, murmelte sie. »Ich mir meinen auch!«

Agnes hatte schon immer ein eher entspanntes Verhältnis zu den Toten gehabt – schließlich machten die keine blöden Bemerkungen, waren diskret und höflich, wenn auch nicht immer hygienisch. Schnaufend ließ sie sich auf einem der Schemel nieder – um nachzudenken, aber auch, weil die Hüfte nun wirklich keine Lust mehr hatte.

Sie wusste, dass Glockenläuten keine ganz ungefährliche Angelegenheit war. Wenn die riesigen Bronzeglocken dort oben erst einmal in Bewegung waren, konnte nichts und niemand sie mehr aufhalten. Sie hatte von Fällen gehört, in denen ein unaufmerksamer Glöckner mit dem Fuß in eine der Schlingen geraten und dann von der dazugehörigen Glocke meterhoch in die Luft gerissen worden war, um schließlich mit Brüchen und Rückenverletzungen wieder auf dem Erdboden zu landen.

Sollte statt eines Fußes ein Hals in so eine Schlinge geraten …

Agnes betrachtete den toten Küster, dessen Fingerspitzen nun aufgehört hatten zu zucken, und bemerkte, dass auch ein Bein in einem ungesunden Winkel abstand.

Ja! So musste es passiert sein! Aber wie geriet man mit dem Kopf in eine Schlinge, vor allem nach dem Läuten, wenn alle anderen Seile schon säuberlich aufgerollt waren? Ein Unfall kam da wohl kaum in Betracht, es sei denn, der Küster war sturzbetrunken auf allen vieren durch den Raum gekrochen.

Sie schnupperte, konnte aber keinen Alkohol riechen.

Selbstmord?

Sie hatte den Küster nicht persönlich gekannt, doch von Weitem hatte er immer einen eher zurückhaltenden Eindruck gemacht. Nicht der Typ, der sich von mehreren Tonnen Bronze dramatisch das Genick brechen ließ. Außerdem sah der Mann dafür viel zu überrascht aus.

Blieb also Mord.

Mord in Duck End.

Schon wieder!

Agnes seufzte und rappelte sich mühsam hoch. Der Mörder musste die Glocke in Bewegung gesetzt und dann dem Küster schnell die Schlinge um den Hals gelegt haben. Der Küster war in die Höhe gerissen worden, und die Glocke hatte ihm sofort das Genick gebrochen. Daher der überraschte Gesichtsausdruck.

Anschließend hatte sich die Glocke ausgebimmelt, schneller und schneller, während der Mörder – ja, wo war der nun eigentlich hin?

Agnes war nicht die Schnellste. Es war durchaus möglich, dass der Täter vor ihrer Ankunft ins Freie geschlüpft war. Vielleicht hockte er draußen hinter einem der pechschwarzen Grabsteine und wartete darauf, dass sie wieder abzog. Oder er hatte sich in der Kirche versteckt.

Oder …

Plötzlich fühlte Agnes sich von der Situation überfordert. Jahrelang hatte sie sich gegen ein Hörgerät gewehrt, und jetzt saß doch eines in ihrem Ohr, und alles kam ihr laut vor.

Sogar die Stille.

Und dazu noch dieser Tote … Es war zu viel Ärger für einen einzigen Tag. Sie war eine alte Frau mit einem Plastikding im Ohr. Wen interessierte schon, was sie so dachte? Was suchte sie hier? Und was würde sie schon ausrichten können?

Sie merkte, dass sie keine Lust hatte, ihre Bürgerpflicht zu tun und die Polizei zu rufen. Man würde sie mit auf die Wache nehmen und ihr in die Ohren schreien – und den Rest des Tages würde sie getrost vergessen können. Außerdem waren die örtlichen Polizisten zu rein gar nichts zu gebrauchen. Die pure Zeitverschwendung. Sie beschloss, sich wieder auf den Weg zur Bushaltestelle zu machen. Das Leben war auch so schwer genug, da hatte es keinen Sinn, sich von dem toten Küster den Abend verderben zu lassen. Von zu Hause aus konnte sie ja vielleicht die Polizei anrufen, anonym natürlich, dann durften die sich mit dem Toten und dem dazugehörigen Verbrecher herumärgern. Sie selbst hatte mit der Sache nichts zu tun und war zu alt für solche Späße. Sie freute sich auf einen gemütlichen Abend am Feuer – vielleicht eine schöne Tasse Tee und Musik aus dem Radio.

Oder einfach ins Bett, mit einer prall gefüllten Wärmflasche und einem guten Buch, aber keinesfalls einem Krimi.

Agnes Sharp hinkte zurück in den lockenden Schein der Bushaltestelle, erwischte wie durch ein Wunder ihren Bus und war schon bald auf dem Weg nach Hause.

Sunset Hall.

Während der Bus sich gemächlich durch das Dorf schlängelte und Agnes aus dem Fenster starrte, der Dunkelheit wegen aber nur ihr eigenes Spiegelbild inklusive vor Kälte geröteter Nase zu sehen bekam, schlug ihre Vorfreude in Unbehagen um. Sie hatte ihr Haus vor einigen Jahren in eine Senioren-WG umfunktioniert, und das Zusammenleben hatte viele Vorteile – wenn man schlechte Laune hatte, war meistens jemand da, an dem man sie auslassen konnte –, aber auch Nachteile. Den Bewohnern von Sunset Hall entging nicht viel. Heute würden sie voller Neugier auf sie warten – mit irgendeinem aufgewärmten Abendessen und einer Menge unangenehmer Fragen. Sie brannten darauf, Agnes’ neues Hörgerät auszuprobieren.

Charlie, Bernadette, Winston, Brexit, der Marschall und natürlich Edwina. Für sich genommen waren sie alle schwer in Ordnung, aber wenn etwas so Spannendes wie ein Arztbesuch passierte, konnten sie sich in einen Mob verwandeln und würden genau wissen wollen, wie es gelaufen war.

Es war schlecht gelaufen, und Agnes hatte keine Lust, ihren Mitbewohnern die peinlichen Details auf die Nase zu binden. Das Schlechte an einem Hörgerät war, dass man so einiges zu hören bekam, auf das man hätte verzichten können. Die Worte »Hippies« und »asozial« zum Beispiel. Und wenn dann eine dicke Illustrierte griffbereit lag … Immerhin würde sie ihre Mitbewohner mit der Geschichte vom toten Küster ablenken können. Mit etwas Glück beschäftigte das die anderen lange genug, um Agnes die Flucht ins Bett zu ermöglichen.

Mit etwas Glück – denn in letzter Zeit war ein Mord im Dorf keine allzu große Besonderheit mehr.

Der Bus hielt auf dem Dorfplatz, wo man kürzlich den Apotheker aus dem Teich gefischt hatte. Er passierte die Stelle, an der man den Vorsitzenden des Taubenzüchtervereins tot im Gebüsch entdeckt hatte – keine einzige Schramme am Leib, aber mit rechten Dingen war das sicher auch nicht zugegangen –, und sauste dann entschlossen die Landstraße entlang Richtung Sunset Hall.

Während ein Heizkörper warme Luft unter ihren Rock blies, wurden auch Agnes’ Wangen heiß und rot und ihre Stimmung dunkler und dunkler.

Was war nur mit ihrem Heimatdorf Duck End los?

Früher hatte es so etwas hier nicht gegeben.

Traditionell waren dörfliche Konflikte immer zivilisiert gelöst worden. Die Leute hatten miese Gerüchte verbreitet, Katzen rasiert, Kupfernägel in nachbarliche Apfelbäume getrieben oder notfalls giftige anonyme Leserbriefe an den Dorfboten geschrieben, aber Mord war in der Regel verpönt gewesen.

Bis jetzt.

Jetzt sah es so aus, als würden sämtliche Morde, die sich die Bewohner von Duck End in den letzten zwanzig Jahren verkniffen hatten, auf einmal nachgeholt. Erst der Apotheker, dann der Taubenzüchter, nun der Küster.

Und natürlich hatte der Trend im Herbst mit Agnes’ Freundinnen Lillith und Mildred angefangen. Diese Fälle waren dank Agnes aufgeklärt, aber das schien die Dorfbewohner nicht daran zu hindern, lustig weiterzumorden.

Agnes missbilligte das.

Erwartete man etwa von ihr, dass sie alle dörflichen Sauereien aufklärte? Da konnten sie lange warten! Immerhin war sie schon so lange pensioniert, dass sie sich kaum noch erinnern konnte, was sie damals bei der Polizei eigentlich genau gemacht hatte. Es hatte viele Akten gegeben, und dann und wann hatte jemand Scones mit ins Büro gebracht, so viel stand fest. Der Rest war verschwommen.

Düster starrte sie auf ihr Spiegelbild, das immer rotgesichtiger wurde, bis der Bus sie endlich vor Sunset Hall ausspuckte.

Agnes hinkte den Gartenpfad entlang, vor sich ihr Haus, das es selbst in den ungastlichen Wintermonaten fertigbrachte, gemütlich auszusehen. Hagebutten leuchteten an kahlen Sträuchern, Efeu schmiegte sich an die Mauern wie eine grüne Decke, warmes Licht erhellte die Fenster und die einladende, seit Neuestem korallenrot gepinselte Haustür. Wie im Bilderbuch. Dann entdeckte Agnes durch eines der erleuchteten Fenster ihre Mitbewohner. Wie erwartet hatten sie sich im Salon zusammengerottet, sogar der Wolfshund Brexit war dabei, und lauerten darauf, Agnes über ihren Arztbesuch auszuhorchen.

Sie holte tief Luft, öffnete die Tür, hängte den Stock an die Garderobe und wand sich aus ihrem Mantel.

Dann betrat sie, die Geschichte vom toten Küster auf den Lippen, kampfbereit den Salon.

»Ihr werdet nicht glauben, was mir heute …«

Sie verstummte, weil ihr klar wurde, dass sich niemand für das interessierte, was ihr im Dorf passiert war, heute, gestern, übermorgen oder sonst wann. Brexit wedelte kurz, aber höflich mit dem Schwanz, die Aufmerksamkeit der anderen jedoch war auf einen Brief gerichtet, der harmlos, weiß und rechteckig auf dem Couchtisch ruhte.

»Was ist das?«, fragte Agnes, plötzlich beleidigt von dem allgemeinen Desinteresse. Immerhin hatte sie sich auf das Drängen ihrer Mitbewohner hin ein Hörgerät verpassen lassen – und nun scherte sich niemand darum!

»Ein Brief«, murmelte Charlie. Sie war ihr Neuzugang und für Agnes’ Geschmack viel zu glamourös, aber sie backte herausragende Pfannkuchen.

»Das seh ich!«, fauchte Agnes. Wieso ein Brief interessanter sein konnte als ihre Geschichte vom Küster, war ihr schleierhaft.

»Er ist für Edwina!«, fügte Bernadette mit Grabesstimme hinzu. Bernadette war blind und dick und zynisch. Hinter ihren dunklen Brillengläsern konnte sie düster sein wie keine Zweite.

Oh!

Agnes musste sich setzen. Ein Brief für Edwina war in der Tat ein Ereignis!

Edwina war, was manche Leute als »nicht ganz da« bezeichnet hätten. Solche Leute verstanden nicht, wie unglaublich »da« Edwina sein konnte, wenn man mit ihr zusammenlebte. Yoga, Tänze, Spiele, Sperenzchen mit Hettie der Schildkröte. Außerdem backte sie die härtesten Kekse weit und breit. Hervorragende Wurfgeschosse. Praktisch unverwüstlich, genau wie Edwina selbst.

Nur: Eine geeignete Korrespondentin war sie nun beileibe nicht. Agnes konnte sich nicht erinnern, in all den Jahren des Zusammenlebens je einen Brief an Edwina gesehen zu haben – nicht einmal Werbung. Aber jetzt war es so weit.

Sie guckte genauer hin. Der Brief wirkte offiziell, mit einem kleinen Plastikfenster, durch das die Adresse zu sehen war. Agnes setzte ihre Lesebrille auf und fischte das Schreiben mit spitzen Fingern vom Tisch. Da stand eindeutig Edwinas Name. Und: Sunset Hall.

Sie seufzte.

»Wir dachten, wir warten mit dem Aufmachen lieber auf dich«, erklärte der Marschall. Er war früher beim Militär gewesen und wartete in Krisensituationen grundsätzlich auf Agnes, ob ihr das nun passte oder nicht.

Wie es aussah, hatten sich schon Fraktionen gebildet. Die erste, brieffeindliche Fraktion bestand aus Bernadette, Winston, dem Marschall und Charlie. Die andere Fraktion war Edwina, die vor dem Sofatisch die Yogaposition des Kriegers eingenommen hatte. Kein gutes Zeichen.

Winston manövrierte sich in seinem Rollstuhl neben Agnes. »Wir haben sogar überlegt, ob wir ihn einfach verbrennen sollen«, raunte er ihr zu. Winston war in ihrer WG für Frieden und Logik zuständig. Ein so kontroverser Vorschlag sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich.

»Das ist mein Brief! Kommt nicht in Frage!«, kreischte Edwina, die noch gute Ohren hatte. Gute Ohren, gute Augen, gute Knochen, gute Figur. Nur im Kopf sah es weich und wollig aus. Edwina ließ den Krieger Krieger sein, schnappte Agnes den Brief aus der Hand und machte Anstalten, ihn zu öffnen.

»Vielleicht ist es ja eine Bombe!«, warnte Charlie.

Das gab ihnen zu denken. Edwina hatte früher beim Geheimdienst gearbeitet, und unter Berücksichtigung aller Fakten kam ihnen eine Briefbombe um einiges wahrscheinlicher vor als ein einfacher Brief.

»Ist es nicht!«, widersprach Edwina, hielt aber doch inne.

Mit einem gewagten Manöver, das sie um ein Haar das Gleichgewicht gekostet hätte, konnte Agnes den Brief wieder in ihre Gewalt bringen.

Sie überlegte kurz.

»Wir machen ihn auf«, entschied sie schließlich. »Verbrennen können wir ihn anschließend immer noch.«

Es dauerte eine Weile, bis Agnes das Kuvert mit Hilfe einer Stricknadel aufgestochert hatte – sie glaubte nicht wirklich an die Sache mit der Briefbombe, aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Der Brief bestand aus einem einzigen Blatt. Agnes faltete es auseinander und rückte ihre Lesebrille zurecht.

»Liebe Edwina Singh«, las sie.

»Das bin ich!« Edwina strahlte.

Der Rest der Wohngemeinschaft hing an Agnes’ Lippen wie sonst nur selten.

»Ich freue mich, Ihnen mitzuteilen, dass Sie die Gewinnerin unseres großen Preisausschreibens sind!«, las Agnes.

»Hurra!«, jubelte Edwina.

Später brauchten sie eine ganze Weile, um zu rekonstruieren, wie es dazu gekommen war, dass Edwina überhaupt an einem Preisausschreiben hatte teilnehmen, geschweige denn es auch noch hatte gewinnen können. Normalerweise achteten sie streng darauf, dass Edwina möglichst wenig Kontakt mit der Außenwelt hatte. So war es besser.

Vor allem für die Außenwelt.

Streng genommen war der Marschall schuld. Der Fehler war ihm vor etwa einem Monat unterlaufen, als er, vom stundenlangen Betteln zermürbt, Edwina ins Internet gelassen hatte, damit sie Schildkrötenvideos gucken konnte.

Dann war er aufs Klo gegangen und hatte sich anschließend ein wenig verzettelt.

In den fünfzehn Minuten Internetzeit, die dabei herausgesprungen waren, hatte Edwina es nicht nur geschafft, Videos von sich paarenden Schildkröten zu sehen, eine Heizlampe für Reptilien zu bestellen und den Marschall bei einer Partnerbörse anzumelden, sondern sie hatte offensichtlich auch an einem Preisausschreiben teilgenommen – und es gewonnen!

Jetzt hatten sie den Salat!

»Und was hat sie gewonnen?«, fragte Charlie vorsichtig.

»Eine …« Agnes las stumm weiter.

Dann las sie ein zweites Mal.

Und zur Sicherheit auch noch ein drittes.

Es war alles noch viel schlimmer, als sie befürchtet hatte!

2 Winterstarre

Hellwach vor Wut saß Agnes in ihrem Bett.

Sie hatte schwere Geschütze aufgefahren: Die Wärmflasche war prall gefüllt, heißer Tee dampfte in der Tasse, aus dem Radio plätscherte Musik, und vor ihr lag aufgeschlagen ein gutes Buch.

Kein Krimi selbstverständlich. Etwas mit Niveau.

Trotzdem wollte sich die gemütliche Stimmung, die sie sich im Bus in den schönsten Farben ausgemalt hatte, nicht so recht einstellen. Die Heizung war wieder einmal ausgefallen, und die Wärmflasche kam gegen die arktische Zimmertemperatur nicht so recht an. Ihr Tee kühlte rapide ab. Aus dem Radio schallte unbarmherzig Jingle Bells und erinnerte Agnes unangenehm an den Küster.

Und dann war da noch die Sache mit der Reise.

Wie der Teufel es wollte, hatte Edwina doch tatsächlich im Internet eine Reise gewonnen. Eine romantische Reise! Für zwei Personen. An die Küste. In ein Öko-Luxushotel der Extraklasse! Romantisch! Edwina! Und statt ihr die Sache auszureden, wie es sich gehört hätte, waren ihre Mitbewohner damit beschäftigt, sich bei Edwina einzuschmeicheln, um den Platz des zweiten Gastes zu erringen.

Die Sache kam natürlich überhaupt nicht in Frage. Keiner von ihnen war in der Lage, Edwina allein in Schach zu halten. Ausgeschlossen. Und in einem romantischen Hotel konnten selbst kleine Malheure schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Außerdem fand Agnes das »Öko« im Namen des Hotels beunruhigend. Karotten konnten »öko« sein und waren dann meistens ein wenig schrumpelig, aber ein Hotel? Das ergab keinen Sinn …

Sie merkte, dass sie sich kein bisschen für ihr Buch interessierte, Niveau oder nicht, und warf es verärgert aus dem Bett. Der Tee war kalt, die Wärmflasche gluckste spöttisch, das Radio setzte zu einer verfrühten Version des Little Drummer Boy an.

Parumpumpum – pum.

Agnes drückte zuerst den Knopf am Radio, dann den an der Leselampe.

Dann lag sie im Dunkeln und ärgerte sich in den Schlaf.

Als sie am nächsten Morgen – gehüllt in drei Strickjacken und trotzdem steif vor Kälte – die Küche betrat, saß der Rest der Hausgemeinschaft schon beim Frühstück. Höchst ungewöhnlich, normalerweise war Agnes immer die Erste am Tisch. Winston war in eine bunte Wolldecke gewickelt und sah mit seiner Glatze beunruhigend wie ein Riesenbaby aus, der Marschall trug gegen die Kälte Schal und Militärmütze, Bernadette hatte schlichtweg ihre Bettdecke mit an den Esstisch gebracht, Edwina trug Daunenjacke und einen Teewärmer als Kopfbedeckung, und auf Charlies Kopf saß eine fabelhafte Pelzmütze.

Brexits Atem dampfte.

Agnes schnupperte. Es roch gut. Nach Kaffee und …

Charlie hatte ihre berühmten Pfannkuchen gemacht, und Edwina hatte sich schon vier davon auf den Teller gehäuft. Die Augen größer als der Magen, wieder einmal, aber niemand sagte etwas. Natürlich nicht.

»Guten Morgen«, murmelte Agnes.

Der Marschall sprang auf und zog ihr einen Stuhl zurecht. Dann schenkte er ihr lauwarmen Kaffee ein. Wenigstens das funktionierte noch.

Ansonsten war mit ihren Mitbewohnern an diesem Morgen nicht viel anzufangen. Bemützt und eingepackt saßen sie da und sahen zu, wie Edwina sich einen Pfannkuchen nach dem anderen in den Mund stopfte.

Immerhin hatte noch niemand das blöde Wort »Reise« ausgesprochen.

Doch als Edwina fertig war – einen angebissenen Pfannkuchen ließ sie übrig, genau wie Agnes es befürchtet hatte –, fasste Winston sich ein Herz.

»Nun, Edwina«, sagte er sanft. »Hast du es dir schon überlegt?«

Agnes schluckte entschlossen einen Bissen Pfannkuchen hinunter und versuchte sich an einem Ablenkungsmanöver.

»Wir brauchen einen Klempner!«, sagte sie laut. »Ich habe mir den Boiler angesehen. Nicht nur einfach ausgefallen. Kaputt! Schon wieder!«

Diese Nachricht hätte normalerweise Entsetzen ausgelöst, aber heute taten alle ihr Bestes, Agnes zu ignorieren. Es war unerhört!

»Was überlegt?«, fragte Edwina nach einer Weile und stocherte mit der Gabel in ihrem verschmähten Pfannkuchen herum.

»Na ja«, murmelte Charlie. »Wen du mitnehmen magst …«

»Auf die Reise«, ergänzte Bernadette, als könnte da irgendein Zweifel bestehen.

Der Marschall sah aus, als würde er auch gern seinen Hut in den Ring werfen, doch er bemerkte Agnes’ Blick und hielt loyal den Mund.

Edwina nickte. »Hab ich. Natürlich.«

Sie rollte den angebissenen Pfannkuchen zusammen und hielt ihn sich vors Auge wie ein Fernrohr. Dann blickte sie von einem zum anderen.

Charlie, Marschall, Brexit, Bernadette, Winston, Agnes.

Agnes, Winston, Bernadette, Brexit, Marschall, Charlie.

Charlie …

Täuschte sich Agnes, oder saßen ihre Mitbewohner tatsächlich etwas strammer, wenn Edwina ihr Pfannkuchenfernglas auf sie richtete?

»Und?«, fragte Bernadette schließlich. »Wer ist es?«

»Lillith!« Edwina strahlte.

Bernadette stöhnte, Charlie rollte die Augen, der Marschall legte die Hand an die Stirn, und Winston sackte unter seiner bunten Decke ein wenig in sich zusammen. Agnes fühlte ein hysterisches Lachen in ihrer Kehle aufsteigen, aber sie riss sich zusammen.

Edwina, die den allgemeinen Widerstand zu spüren schien, ließ ihren Pfannkuchen zurück auf den Teller platschen. »Lillith ist meine beste Freundin«, erklärte sie. »Und sie kommt sonst nicht viel raus.«

»Ausgeschlossen!« Agnes nippte kampfeslustig an ihrem Kaffee. »Du kannst nicht allein in so ein Hotel. Es muss jemand auf dich aufpassen!«

»Und es muss jemand auf das Hotel aufpassen«, murmelte Bernadette.

»Lillith kann auf mich aufpassen!« Edwina weigerte sich, klein beizugeben.

Jetzt platzte Agnes endgültig der Kragen. »Lillith ist tot und in einer Dose!«, zischte sie.

Ihre Freundin Lillith war leider vor ein paar Monaten einer Kugel zum Opfer gefallen und residierte seither in einer Kaffeedose im Blumenfenster. Zog Edwina wirklich die Gesellschaft einer Dose voll menschlicher Asche der ihren vor? Das sprach ja mal wieder Bände!

Jetzt sah sogar Edwina ein wenig schuldbewusst aus. »Am liebsten würde ich natürlich Hettie mitnehmen, aber Charlie meint, wir dürfen die Kühlkette nicht unterbrechen«, erklärte sie vernünftig.

Hettie war die Hausschildkröte von Sunset Hall, sie verbrachte die kalten Monate nach Reptilienart im Kühlschrank, in Winterstarre.

»Wie wär’s mit Brexit?«, fragte Agnes ironisch.

Der Wolfshund hörte seinen Namen und richtete den Blick hoffnungsvoll auf den letzten Pfannkuchen.

Edwina schüttelte ernst den Kopf. Es war klar, dass sie sich auch das schon längst überlegt hatte. »Brexit ist zu groß. Er kann nicht mit!« Damit schob sie dem Hund entschuldigend ihren Pfannkuchen zu, und Brexit schmatzte.

Agnes spürte, dass sie die Luft anhielt. Jetzt waren Edwina alle nichtmenschlichen Begleiter ausgegangen, und die Sache wurde wieder spannend. Zu ihrem großen Ärger stellte Agnes fest, dass sogar sie selbst begann, die Aussicht auf eine Reise attraktiv zu finden. Sicher, der oder die Auserwählte würde Edwina an der Backe haben – kein reines Vergnügen –, doch ein gut beheiztes Hotelzimmer allein erschien momentan schon als ein Luxus, und dazu kamen vermutlich eine Menge gutes Essen und vielleicht sogar ein kleines Unterhaltungsprogramm.

Außerdem würde sie sich dann nicht mit dem ermordeten Küster herumschlagen müssen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass die Sache früher oder später an ihr hängenbleiben würde, so unfähig, wie die Polizei hier in der Regel war.

Doch wenn sie einfach ihren Koffer packte …

Sie kämpfte gegen so etwas wie Vorfreude an und stand auf.

»Ich rufe den Klempner an!«, verkündete sie und stakste aus der Küche. Edwina umwerben?

Das wäre ja noch schöner!

Als Agnes mit vernichtenden Neuigkeiten zurückkehrte, hatte sich die Stimmung gewandelt. Vorher hatten alle Edwina hofiert, jetzt waren die Blicke hoffnungsvoll auf sie, Agnes, gerichtet.

Komisch.

»Der Klempner ist verschwunden«, verkündete sie düster. Vermutlich auch ermordet, so wie es derzeit in Duck End zuging. Oder geflohen. Vielleicht war er ja der Täter? Oder einfach mit seiner Geliebten durchgebrannt? Die Sache interessierte Agnes nicht wirklich. Fest stand: Er würde ihren Boiler nicht reparieren, und der Klempner aus der nächstgelegenen kleinen Stadt hatte nach eigener Aussage schon eine Liste so lang wie sein Arm. »Vor in drei Wochen geht da gar nichts!« Drei Wochen ohne heißes Wasser. Drei Wochen im Salon zusammengepfercht, dem einzigen Raum, der noch mit einem Kaminfeuer zu beheizen war. Wenn sie sich nur damals in den Achtzigern nicht hätte breitschlagen lassen, auf Zentralheizung umzustellen! Jetzt musste sie es ausbaden – obwohl von Baden in nächster Zeit wohl keine Rede sein konnte. Kurze kalte Duschen – und dann zitternd in ein noch kälteres Bett. Vielleicht wäre es ja besser, einfach wie Hettie in Winterstarre zu verfallen – die Temperatur jedenfalls stimmte schon mal!

Agnes blickte dramatisch von einem zum anderen, doch irgendwie schien ihre Nachricht nicht zu ihnen durchzudringen.

»Oh«, sagte der Marschall mitfühlend, aber Agnes sah, dass selbst er nicht so richtig bei der Sache war.

Sie verschränkte die Arme. Was war hier nur los? Wenigstens wenn es um den Boiler ging, sollten sie doch alle zusammenhalten!

Winston räusperte sich. »Charlie hatte da so eine Idee«, sagte er vorsichtig.

Charlie sah unter ihrer Pelzmütze ein bisschen aus wie Katharina die Große, zugleich aber auch sehr spitzbübisch. Sie lächelte verhalten, dann breitete sie ebenso elegant wie dramatisch die Arme aus. Die Fransen ihres Morgenmantels tanzten.

»Warum fahren wir nicht einfach alle?«

Später saß Agnes im Salon – so nahe am Feuer wie nur irgend möglich, ohne sich die Strickjacken zu versengen – und brütete.

Natürlich gab es tausend gute Gründe, warum sie nicht alle gleichzeitig verreisen konnten.

Geld zum Beispiel.

Oder vielmehr: Mangel an Geld.

Sie wusste nicht genau, wie viel gerade in der Haushaltskasse war, und auch nicht, wie viel so eine Gruppenreise kosten würde, aber sie hatte das sichere Gefühl, dass diese beiden Summen nicht kompatibel waren.

Außerdem musste Brexit ausgeführt werden.

Und es musste jemand vor Ort sein, um den nun zuständigen Klempner per Telefon zu terrorisieren. Sonst konnten sie bis zum Frühjahr auf warmes Wasser warten.

Außerdem …

»Hast du es dir schon überlegt?«, fragte der Marschall neben ihr vorsichtig.

»Da gibt es nichts zu überlegen!«, schnappte Agnes und versuchte, mit ihrem Sessel von ihm abzurücken. Doch das klappte nicht, denn auf ihrer anderen Seite saßen Bernadette, daneben Charlie und dann Winston, so eng gedrängt, dass kaum ein Blatt Papier zwischen sie gepasst hätte, geschweige denn eine erboste Agnes. Vor ihr lag Brexit, schnarchte und roch nach nassem Hund, und von hinten streckte die Kälte lange, gierige Finger nach ihrem Rücken aus. Agnes saß fest.

Sie stöhnte und schloss die Augen. Ihre Mitbewohner hatten sich gegen sie verschworen und wollten alle eine Reise machen. Und sie hatten eigentlich ganz vernünftige Argumente!

Es war ein Albtraum!

In Momenten wie diesem hätte sie am liebsten allein in ihrem Zimmer geschmollt, aber so, wie die Dinge standen, war es zum einsamen Schmollen einfach zu kalt. Sie steckte im Salon fest, und wenn sie auch nur das geringste Zeichen von Schwäche zeigte, würden die anderen sie früher oder später weichklopfen.

Edwina war die Einzige, die nicht bei ihnen am Feuer saß. Sie hatte, noch immer in ihre Daunenjacke gehüllt, bereits mit dem Packen begonnen.

Yogamatte.

Taschenmesser.

Reptilien-Wärmelampe.

Lillith in der Dose.

Fernbedienung.

»Du brauchst im Hotel keine Fernbedienung!«, fauchte Agnes.

Dann ärgerte sie sich noch mehr, weil sie »im Hotel« gesagt hatte. Ihr entging nicht, wie Charlie und Winston einander triumphierende Blicke zuwarfen.

Jetzt war die Sache so gut wie entschieden.

Agnes war im Allgemeinen gegen Änderungen, die sie nicht selbst eingeführt hatte. Aus Prinzip. Und so eine Reise war eine gewaltige Änderung. Andererseits würde sie das Wärmeproblem lösen – zumindest vorläufig. Außerdem würde es in einem schicken Hotel, anders als in Duck End, keinen Mord und Totschlag geben, und die Haushaltskasse war auch in Sicherheit, denn Charlie hatte sie alle eingeladen. Eine großzügige Geste – Agnes hatte keine Ahnung gehabt, dass ihre Mitbewohnerin so gut betucht war.

Charlie hatte versprochen, Brexit bei ihrem Enkel unterzubringen; der Marschall hatte im Internet einen Haussitter für die Zimmerpflanzen engagiert und versprochen, den Klempner per E-Mail zu nerven. Winston hatte sich zur Feier des Tages einen neuen, extrakompakt zusammenfaltbaren Reiserollstuhl bestellt; und Bernadette hatte begonnen, sich auszumalen, was sie unterwegs so alles essen würde: eine ganze Menge, so viel stand fest.

Agnes merkte, dass sogar sie selbst, wenn auch sehr diskret, vor sich hin summte. Sie war noch immer gegen diese wahnwitzige Reise, natürlich, aber klammheimlich hatte sie bereits begonnen, sich ebenfalls auf die Fahrt zu freuen.

Sie würde zum ersten Mal seit langer Zeit das Meer sehen.

Bestimmt gab es Personal, Zentralheizung und Essen, und sicherlich war man auch auf betagtere Gäste eingestellt.

Was konnte schon schiefgehen?

Sie warf einen Blick auf Edwina, die gerade versuchte, Lilliths große Gartenschere in ihren Koffer zu bekommen, und seufzte.

Zu Mittag saßen sie in der Küche neben dem Ofen, der sich gerade redlich mühte, eine Fertigpizza zu erwärmen, und hörten zu, wie Charlie am Handy den Hotelmenschen so lange zur Schnecke machte, bis er für sie alle Zimmer organisiert hatte.

»Wie, ist mir egal!«, rief Charlie und rollte mit den Augen, obwohl das der Typ am anderen Ende der Leitung bestimmt nicht sehen konnte. »Die Frage ist, wann!«

Wie es schien, versuchte der Hotelmensch, zu Wort zu kommen, wurde aber sofort von Charlie abgebügelt.

»So bald wie möglich natürlich!«, rief sie. »Was? Donnerstag? Newquay? Gar kein Problem! Wir fliegen! Natürlich haben wir alle Reisepässe! Fabelhaft!«

Die Zeit bis Donnerstag verging wie im Fluge, hauptsächlich dank der verzweifelten und zeitraubenden Suche nach den Reisepässen. Wenn sie nicht suchten oder packten oder sich über die beste Route zum Flughafen zankten, klebten sie vor dem Kaminfeuer, reichten eine Thermoskanne mit heißem Tee herum und malten sich die Reise aus.

»Es wird Häppchen geben«, sagte Bernadette glücklich. »Jede Menge Häppchen.«

»Und Champagner!«, ergänzte Charlie. »Vergiss den Champagner nicht!«

»Torten und Scones und Kekse«, erwiderte Bernadette.

»Gin Tonic«, seufzte Charlie.

«Und Schildkröten«, sagte Edwina verträumt. »Exotische Schildkröten, die nie Winterschlaf halten! Nicht zum Essen natürlich. Zur Gesellschaft!«

Niemand hatte das Herz, ihr zu erklären, dass die Sache mit den Schildkröten eher unwahrscheinlich war, selbst in einem Öko-Luxushotel.

»Yoga gibt es bestimmt«, sagte Charlie, die sich mit Luxus am besten auskannte, weil einer ihrer zahlreichen Ex-Ehemänner irgendwann Erfolg an der Börse gehabt hatte. »Und Massagen. Sauna. Vielleicht sogar eine kleine Tanzveranstaltung.«

Agnes schluckte eine spitze Bemerkung hinunter und beschloss, sich der allgemeinen Vorfreude anzuschließen. »Der Boiler dort wird einwandfrei funktionieren«, sagte sie optimistisch. »Und es wird friedlich sein. So friedlich. Kein Mord und Totschlag!« Einen Moment lang dachte sie an den toten Küster, daran, wie er in den Seilen gehangen hatte. Wie war das, hatte sie eigentlich die Polizei …? Vermutlich hatte sie in der ganzen Aufregung um Edwinas Brief doch vergessen anzurufen, aber inzwischen war er bestimmt gefunden worden, und schließlich war die Sache nicht ihr Problem.

Sie spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, dann schob sie den Gedanken an den baumelnden Küster weit von sich. Ihr Koffer war gepackt, und zwar mit den feinsten Kleidern, die sie in ihrem Schrank gefunden hatte. Obendrein hatte sie vor, am Flughafen in einen neuen Lippenstift zu investieren und später im Hotel vielleicht eine Schönheitsbehandlung auszuprobieren. Mal sehen, wie gut diese Behandlungen wirklich waren …

»Wir können uns endlich alle entspannen!«, verkündete Winston. Das war nun wiederum unwahrscheinlich, denn sie waren sehr gut darin, sich gegenseitig vom Entspannen abzuhalten. Aber vielleicht stellte sich ja im Hotel, geschmiert mit Häppchen und Champagner, so etwas wie Harmonie ein?

»Ich werde mir den Wind um die Nase wehen lassen und aufs Meer hinausblicken«, verkündete der Marschall. Seit klar war, dass die Reise in ein Küstenhotel ging, hatte er begonnen, sich ein wenig als Seebär aufzuspielen, dabei war er, soweit Agnes wusste, in seiner Zeit beim Militär nicht bei der Marine gewesen, sondern in der Wüste.

»Wir werden nette Leute kennenlernen«, strahlte Winston. »Gleichgesinnte!«

Dazu würde es dann hoffentlich doch nicht kommen. Agnes versuchte, sich gleichgesinnte Leute vorzustellen, und schauderte.

»Es wird sonnig sein!«, sagte Bernadette, so als läge Cornwall irgendwo in der Karibik und nicht nur ein paar Stunden von Duck End entfernt.

»Inspirierend!«, rief Charlie, so inbrünstig, dass ihre Pelzmütze verrutschte.

»Und elegant«, sagte Edwina und drehte eine Pirouette. »Überaus elegant!«

Als die anderen am Abend vor der Abfahrt zu Bett gegangen waren, ungewöhnlich früh, um dem angedrohten frühen Start gewachsen zu sein, stand Edwina noch einmal auf und tappte hinunter in den Salon, barfuß, trotz der Kälte.

Die anderen sollten sie nicht hören.

Unten stand sie einen Moment lang reglos da, fühlte den kalten Steinboden unter den nackten Füßen und lauschte. Es war ungewöhnlich still in Sunset Hall. Brexit war bereits gestern von Charlies gutaussehendem Enkel abgeholt worden, der Boiler gab schon seit Tagen keinen Pieps mehr von sich, und Hettie schlief im Kühlschrank, so tief, dass keiner von Edwinas Gedanken sie je erreichen konnte, so tief, dass ihr Herz nur noch ab und an schlug, verhalten, nebenbei.

Edwina hatte keine Lust, über Hetties sporadischen Herzschlag nachzudenken. Sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass sie nicht überrascht werden würde, öffnete sie noch einmal ihren Koffer, um ihre Ausrüstung zu kontrollieren.

Taschenmesser.

Gartenschere.

Notizbuch und Stift.

Feuerzeug.

Korkenzieher.

Fernbedienung.

Wärmelampe.

Perücke.

Selbst gebackene Kekse.

Aufblasbare Schildkröte für den Pool.

Lillith.

Irgendwo steckten auch noch ein Badeanzug, ein Kamm, ein bisschen Unterwäsche, der eine oder andere Jogginganzug und ein blaues Kleid, das mitzunehmen Agnes sie praktisch gezwungen hatte, aber darauf kam es nicht an.

Anders als die anderen hatte Edwina sich von der fadenscheinigen Geschichte mit dem Gewinnspiel keine Sekunde täuschen lassen. Natürlich nicht. Die Reise war nicht einfach eine Reise.

Es war eine Mission.

Sie, Edwina, im Geheimdienst Ihrer Majestät, war endlich aus ihrem eigenen langen, kalten Winterschlaf geholt worden, um einen Auftrag zu erfüllen. Sie fühlte ihren Herzschlag, nicht faul wie der von Hettie, sondern erwartungsvoll, entschlossen.

Die Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, worin ihre Mission bestehen könnte, bereitete Edwina keine Sorge. Sie würde es früh genug erfahren, durch einen mysteriösen Anruf vielleicht, einen Zettel mit einer Telefonnummer, den ihr jemand heimlich in die Manteltasche steckte, oder womöglich durch eine Karte, die ihr – versteckt in einer Pralinenschachtel – aufs Zimmer gebracht wurde. (Insgeheim hoffte sie auf die Variante mit der Pralinenschachtel.)

Jetzt ging es erst einmal darum, bereit zu sein. Kritisch musterte sie den Inhalt ihres Koffers. Brauchte sie mehr Unterwäsche? Hatte sie genügend Kekse eingepackt? War Lillith gut verstaut?

Es bekümmerte sie ein wenig, dass sie keine echten Waffen mitnehmen konnte, nicht in einem Flugzeug, aber auch mit einer Gartenschere oder einem Korkenzieher konnte man notfalls eine gehörige Portion Schaden anrichten. Jetzt ging es erst einmal darum, dass ihr niemand auf die Spur kam.

Edwina beschloss, die aufblasbare Schildkröte nicht im Koffer zu lassen, sondern als Handgepäck zu transportieren, sozusagen als Ablenkungsmanöver. Sie begann zu pusten. Während die Gummischildkröte, die sie bereits »Hettie 2« getauft hatte, langsam Gestalt annahm, schien Lilliths Asche sie kritisch zu mustern.

Edwina hörte kurz mit dem Pusten auf. »Mach dir keine Sorgen, Lillith«, sagte sie leise. »Ich werde gut aufpassen. Auf mich. Auf die anderen. Und auf dich sowieso.«

Lillith schien beruhigt, und Edwina war froh, ihre Freundin im Gepäck zu haben. Die anderen waren vollkommen in Ordnung, aber sie konnten manchmal ein wenig weltfremd sein. Lillith war diejenige, mit der man richtig gute Gespräche führen konnte, Pläne schmieden, Gedanken austauschen. Lillith machte nie blöde Vorschläge oder versuchte, ihr Dinge auszureden. Lillith hielt dicht. Zumindest, wenn man den Deckel richtig zudrehte. Ihr konnte man sich anvertrauen.

»Es ist ein Abenteuer«, verkündete Edwina, und sowohl Lillith als auch die halb aufgeblasene Hettie 2 schienen ihr zuzustimmen.

3 Über den Wolken

Doch als die Bewohner von Sunset Hall sich am nächsten Morgen schläfrig und zerknittert aus dem Taxi schälten, fühlte sich das noch nicht besonders abenteuerlich an. Eher wie eine Zumutung. Agnes, für die schon die Fahrt mit dem Überlandbus eine Herausforderung darstellte, war von der langen Autofahrt vollkommen ausgelaugt. Noch nie hatte sie so viele miese Vorstädte und tropfnasse Schafe auf einen Haufen gesehen. War das wirklich die Welt – ihre Welt? In ihrer Erinnerung hatte die anders ausgesehen: voller grüner Wiesen, beschaulicher Städte und schöner Landschaft.

Wo war nur die ganze Landschaft hin?

Sie drückte dem Taxifahrer ihren Gehstock in die Hand und versuchte, sich auf ihre Tasche zu stützen. Charlies mondäner Federhut wirkte zerrupft, Bernadettes obligatorische Sonnenbrille saß schief, der Marschall hatte einen glasigen, fernen Blick, und Winston, der nicht mit dem neuen, supertransportablen Rollstuhl zurechtkam, schwitzte.

Edwina hatte sich irgendwie eine aufblasbare Schwimmschildkröte besorgt und hüpfte damit auf und ab wie ein Gummiball.

Der Wind zerrte und zupfte an ihnen, wie um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.

Halt! Warte! Bleib da! Geh nicht!

Doch die Bewohner von Sunset Hall hörten nicht hin.

Schließlich zog der Taxifahrer ab, und sie standen mit ihrem Gepäck vor dem Flughafen.

»Da hinein!« Charlie hatte einen Trolley für all ihr Gepäck besorgt und schob selbstsicher auf die Drehtür des hässlichen Flachbaus zu.

Es stellte sich heraus, dass ein Flughafen hauptsächlich aus drei Dingen bestand: grauem Fußboden, soweit das Auge reichte, dröhnenden Ansagen, die Agnes selbst mit Hörgerät nicht verstand, und Menschen. Menschen überall. Agnes konnte sich nicht erinnern, jemals so viele Leute auf einmal gesehen zu haben. Viele waren unangemessen angezogen, mit Sandalen und Shorts und Sonnenhüten. Zu ihrem heimlichen Ärger musste Agnes feststellen, dass sich Edwina mit Trainingsanzug, Pantoffeln und Gummischildkröte hier nahtlos einfügte.

Charlie drückte jedem von ihnen ein Stück Papier in die Hand.

»Tickets! Da entlang!«

Widerwillig folgte Agnes ihren Mitbewohnern ans Ende einer Schlange und versuchte, so zu tun, als ginge sie die ganze Sache nichts an. Dann und wann bewegte sich etwas, und Edwina hüpfte auf ihrer Schildkröte einen Platz weiter. Die anderen zogen nach.

Agnes nutzte die Wartezeit, um die Mitpassagiere diskret in Augenschein zu nehmen.

Immerhin waren sie nicht die Ältesten hier. Bei Weitem nicht. Schräg neben ihr standen drei antike Damen in Schwarz, und der Typ im Rollstuhl, den die drei mehr schlecht als recht die Schlange entlangmanövrierten, sah so aus, als wäre er bereits tot. Wenn diese wackeligen Gestalten es schafften, sich bis an Bord durchzuschlagen, musste Agnes sich keine Sorgen machen.

Irgendwann hatten sie sich bis zum Schalter vorgearbeitet und mussten ihre Reisepässe vorzeigen. Das dauerte ein wenig, weil Edwina ihren Pass, strategisch unpassend, in ihrem BH versteckt hatte. Sie bekamen kleine bunte Aufkleber auf ihre Tickets gepappt, dann sahen sie ihrem Gepäck dabei zu, wie es, mit Papierwimpeln versehen, auf einem Band von ihnen wegsegelte. An diesem Punkt hätte Agnes ihren Koffer liebend gern allein auf die Reise geschickt und sich still und heimlich davongemacht. Aber dafür war es zu spät.

Sie seufzte.

Als Nächstes ging es darum, sich mit vielen anderen hoffnungsfrohen Fluggästen durch eine Art Schleuse zu zwängen.

»An Bord!«, jubelte Edwina und warf die aufblasbare Schildkröte hoch in die Luft.

»Zur Sicherheitskontrolle«, korrigierte Charlie.

Agnes, die nach ihren Jahren bei der Polizei nicht ganz unerfahren war, hatte so etwas schon erwartet. Vermutlich würde man ihr Handgepäck und ihre Kleidung nach Waffen durchsuchen, vielleicht auch nach Drogen. Drogen! Agnes seufzte. Schön wär’s!

Jenseits der Schleuse mussten sie schon wieder warten. Wie die meisten ihrer Landsleute hatte Agnes, was das Anstehen betraf, einen gewissen Ehrgeiz. Sie wählte die Schlange, die ihr am kürzesten vorkam, und reihte sich entschlossen ein. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, dass ihre Mitbewohner von einem Flughafenschergen in eine andere Schlange gelotst worden waren. Statt ihrer stand hinter ihr jetzt ein Typ im Hawaiihemd und grinste. Agnes schielte sehnsüchtig nach Federhut, bunter Hippiedecke und aufblasbarer Schildkröte, die langsam, aber unaufhaltsam von ihr wegdrifteten wie Treibgut auf hoher See.

Sie rang mit einem Anflug von Panik. Es ging doch nur darum, irgendwie durch die Sicherheitskontrolle zu kommen. Danach würden die anderen auf sie warten, nicht wahr? Oder spätestens im Flugzeug! Sie würde es doch wohl zum Flugzeug schaffen! Schließlich flog sie nicht zum ersten Mal. Doch früher war alles anders gewesen. Mehr … Service. Weniger Schlangen.

Agnes umklammerte ihr Flugticket.

Genau jetzt hätte sie sich auf die Reise freuen sollen. Vorfreude war schließlich die schönste Freude, und wenn sie nicht sofort damit anfing, war es dafür schon mal zu spät. Doch Agnes fühlte ihre aufgekratzte Stimmung in sich zusammensacken wie ein zu plötzlich gekühltes Soufflé.

Schneller als erwartet hatte sie sich bis zur Sicherheitskontrolle vorgearbeitet. Sie legte selbstbewusst ihre Handtasche in die kleine Plastikwanne und marschierte durch den komischen Metallrahmen. Es fiepte. Agnes wollte weitergehen, wurde aber von einer jungen Frau mit Plastikhandschuhen und so etwas wie einem Föhn aufgehalten. Sie musste stillstehen und die Arme ausstrecken, während die Frau ihr mit dem Föhn, der vermutlich doch kein Föhn war, über den Körper fuhr. Es fiepte wieder. Es fiepte eine ganze Menge. Ihr Büstenhalter fiepte und ihr Stützkorsett, ihre Schuhe und sogar der Druckknopf an ihrem Rock.

Agnes guckte die Frau mitleidig an. Dachte die im Ernst, dass sie mit ihrem Büstenhalter den Kapitän erdrosseln würde? Nach allem, was sie über die moderne Luftfahrt wusste, tat der Kapitän sowieso kaum noch etwas und war im Grunde völlig überflüssig.

Die Sicherheitsmaßnahmen erschienen ihr übertrieben.

Endlich gab sich die Frau mit dem Föhn doch zufrieden, und Agnes wankte etwas benommen an ihr vorbei. Sie hatte genug von dem Zirkus. Wo war denn nun endlich dieses verdammte Flugzeug?

Fast hätte sie ihre Handtasche vergessen, aber ihr Arm erinnerte sich, auch wenn der Rest von ihr gerade etwas durch den Wind war. Der Arm fühlte sich leer an.

Handtasche! Richtig!

Vorhin hatte sie sie in so einer Plastikwanne platziert, und jetzt …

Agnes blickte auf und entdeckte ihre Tasche ein paar Meter weiter, noch immer in der Wanne. Ein Sicherheitsmensch mit Handschuhen machte sich an ihr zu schaffen.

Es war eine großartige Handtasche, die Agnes seit vielen Jahren treue Dienste leistete. Sie wusste aus Erfahrung, dass man ein stattliches Picknick darin unterbringen konnte, eine Katze samt Jungen oder ein kleines Zelt, und auch diesmal hatte Agnes die Kapazitäten der Tasche voll ausgeschöpft. Da waren Geld und Lippenstift, ein gutes Buch, ihr Strickzeug, die Lesebrille, die Utensilien, die man brauchte, um ein Gebiss in Form zu halten, all die Medikamente, die sie benötigte, und eine ganze Menge, die sie hoffentlich nicht benötigen würde.

Und da war ein Schlüpfer. Nur so. Zur Reserve. Ihre Mutter hatte ihr vor langer Zeit eingebläut, dass eine Dame nie ohne Reserveschlüpfer auf Reisen gehen sollte, und obwohl Agnes noch nie einen benötigt hatte und auf ein Leben voller sinnlos herumgetragener Unterwäsche zurückblickte, hatte sie sich stets an diese Regel gehalten. Sie konnte es kaum erwarten, ihrer Mutter irgendwann im Jenseits zu erklären, wo sie sich ihre Regel vom Notschlüpfer hinschieben konnte.

Jetzt wurde besagter Schlüpfer von dem Sicherheitsmenschen auseinandergefaltet und begutachtet wie ein archäologisches Fundstück. Das war doch zu bunt! Agnes schnappte sich ihren Gehstock, der es wie durch ein Wunder unbeschadet durch die Sicherheitskontrolle geschafft hatte, und hastete zu dem Typen mit den Handschuhen hinüber.

»Ist das Ihre Tasche?«, fragte der Mann und sah sie über den Bund ihres Schlüpfers hinweg kritisch an.

Agnes schluckte. Sie hätte gern geleugnet, mit diesem Schlüpfer, der ihr übertrieben groß und mit seinem Hauch weißer Spitze auch ein bisschen frivol vorkam, auch nur das Geringste zu tun zu haben. Aber sie musste ihre Tasche wiederhaben.

Also nickte sie, mit Würde, wie sie hoffte.

»Haben Sie hier Flüssigkeiten drin?« Der Mann legte den Schlüpfer beiseite und kramte weiter in der Tasche herum.

Agnes hörte mit dem Nicken auf. Flüssigkeiten? Sie hatte sich wohl verhört! Natürlich hatte sie Flüssigkeiten dabei – das Gebiss-Reinigungsset, ein Shampoo für extrafeines Haar und eine Flasche Orangensaft. Das konnte doch wirklich kein Verbrechen sein!

Sie beschloss, den Mann zu ignorieren, und griff nach ihrer Tasche, doch der Sicherheitsmensch war schneller. Mit einer Hand hielt er den Henkel fest, mit der anderen wühlte er weiter und förderte erst Orangensaft, dann Shampoo und Gebissset zutage.

Das durfte doch nicht wahr sein! Agnes holte tief Luft. Den Saft und das Shampoo konnte sie zur Not opfern, aber für die Gebissreinigung war sie zu kämpfen bereit bis – nun ja, bis auf die Zähne!

»Sie dürfen leider nicht mehr als hundert Milliliter Flüssigkeiten mitführen«, erklärte der Wahnsinnige mit den Handschuhen. Jemand musste ihn zur Räson bringen!

Hilfesuchend blickte Agnes sich um. In einer anderen Reihe entdeckte sie den Marschall, dem gerade erklärt wurde, dass sein getreues Klappmesser nicht mit auf die Reise gehen durfte, während Edwina die Luft aus ihrer Schildkröte lassen musste. So wie es aussah, war auch die Gartenschere bereits konfisziert worden. Es war ein großes Palaver, und Agnes war nicht ganz unglücklich, in der anderen Schlange gelandet zu sein. Kein Saft und kein Shampoo also. Nun gut. Mit ihren Haaren war sowieso nicht mehr viel los, Shampoo oder nicht, und ein bisschen Orangensaft würde sich an Bord ja wohl finden lassen.

Aber die Gebissreinigung! Sie deutete energisch auf die entsprechende Flasche, die der Mann gerade in einen durchsichtigen Plastikbeutel packte.

»Die brauche ich!«

»Die kriegen Sie gleich wieder. Ich schicke sie nur noch mal durch den Scanner, einverstanden?« Damit schleppte der Mann ihren Gebissreiniger davon, zurück zum Anfang der Schlange.

Agnes stöhnte. Sie war nicht einverstanden, aber was blieb ihr schon übrig? Sie wollte endlich ins Flugzeug oder einfach irgendwohin, wo man sich hinsetzen konnte. Aber eben nicht ohne Gebisspflege!

Entschlossen pflanzte sie sich neben die Plastikwanne und wartete. Ihre Hüfte tat weh. Die Luft war schlecht. Ihr wurde ein wenig schwindelig.

»Hey, Oma! Wird das heute noch was?«

Agnes schreckte auf und sah sich um. Oma? Unverschämt!

Neben ihr stand jemand. Er musste nach ihr durch die Sicherheitskontrolle gekommen sein und versuchte, sich an ihr und ihrer Tasche vorbeizudrängen.

»Geh doch zurück ins Heim«, murmelte er.

Tatsächlich überlegte Agnes, ob sie sich verhört hatte – wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Dann erinnerte sie sich an ihr Hörgerät. Nicht verhört also. Auch an dem höhnischen Grinsen konnte sie ablesen, dass sie richtig verstanden hatte.

Ins Heim! Unglaublich! Was glaubte der Kerl eigentlich, wer er war?

Sie blickte kritisch zu ihm hinauf. Hochgewachsen, aber nicht wirklich erwachsen. Dünn. Bleich. Männlein? Weiblein? Männlich, vermutete Agnes, aber sie hätte nicht genau sagen können, wie sie zu diesem Schluss gekommen war. Die Schultern des Flegels waren eher breit, das Kinn wirkte eckig, aber sie sah auch dünne Beine in schwarzen Leggins, lange schwarze Haare, Augen mit dunklem Lidstrich und langen Wimpern und grün lackierte Fingernägel.

Jung. So viel stand fest. Jung und ungehobelt.

»Was ist, Oma«, näselte der Jungmensch von oben herab. »Haben sie dein Valium konfisziert?«

Das kam der Wahrheit unangenehm nahe, und Agnes hätte gern etwas Treffendes und Gemeines geantwortet, aber ihr fiel nichts ein. Früher war sie schlagfertig gewesen, aber in letzter Zeit … Also begnügte sie sich damit, sich mit Hilfe ihres Gehstocks so breit wie möglich zu machen, damit der Flegel nicht an ihr vorbeikonnte.

»Mach keinen Ärger, Oma!«, drohte der Jungspund, aber Agnes war fest entschlossen, so viel Ärger zu machen wie nur irgend möglich.

Einfach auf ihr herumzuhacken, nur weil sie alt war und ihren Gebissreiniger nicht zurücklassen wollte, war … Sie schluckte und versuchte, sich nicht zu sehr aufzuregen. Aufregung war schlecht – für sie, für das Karma und irgendwann vielleicht auch für den Typen in Schwarz. Schließlich war sie mit einem Gehstock bewaffnet.

»Da bist du!« Jemand hakte sich bei ihr unter.

Charlie!

Agnes grinste erleichtert, aber ihre Mitbewohnerin schien eher genervt. »Kommst du, Agnes? Wir könnten da drüben ein bisschen Verstärkung gebrauchen.« Charlie senkte die Stimme. »Edwina hat Lillith mitgebracht, und jetzt wollen sie sie konfiszieren.«

Agnes stöhnte und blickte zwei Reihen weiter, wo ein Sicherheitsbeamter zweifelnd an einer Kaffeedose schnupperte, während Edwina fast beiläufig die Position des Kriegers eingenommen hatte.

Gar nicht gut.

Der Flegel nutzte ihre Unaufmerksamkeit und drückte sich, nicht ohne ein verächtliches Zischen, an Charlie und ihr vorbei. Agnes hoffte, dass sein Flugzeug Verspätung hatte oder zumindest in gehörige Turbulenzen geriet, bis sein Gesicht so grün war wie seine Fingernägel.

Dann war endlich auch der Sicherheitsmensch mit ihrem Gebissreiniger zurück. Er lächelte unschuldig, so als hätte er sie nicht gerade einer vollkommen unnötigen Schikane unterzogen. Agnes riss ihm den Beutel aus der Hand, warf ihn in ihre Tasche und schnappte sich den Henkel. Den weißen Schlüpfer ließ sie in der Plastikwanne liegen. Sollte der Schnüffler damit doch anfangen, was er wollte!

Zusammen mit Charlie eilte sie hinüber zu Edwina, die mit gefährlicher Ruhe den Kerl beobachtete, der die Kaffeedose mit Lillith untersuchte.

»Ist das Ruß?« Der Mann schnupperte ein zweites Mal.

Agnes baute sich vor ihm auf. »Nun, jedenfalls ist es keine Flüssigkeit, nicht wahr?«

»Nein«, gab der Mann zu.

»Und eine Waffe ist es auch nicht«, fuhr Agnes schnell fort. War Edwina erst einmal in der Kriegerpose, durfte man nicht lange fackeln. »Der Rest geht Sie nun wirklich nichts an. Also machen Sie einfach den Deckel wieder drauf und lassen uns an Bord gehen, ja? Wir sind nämlich nicht mehr die Jüngsten.«

Der Sicherheitsmensch blickte auf und sah Agnes, die sich mit besorgniserregender Gebrechlichkeit auf ihren Stock stützte, und dahinter die anderen Bewohner von Sunset Hall, die alle versuchten, so senil auszusehen wie nur irgend möglich.

Er zuckte mit den Achseln, schraubte hastig den Deckel zurück auf die Dose und zog den Reißverschluss von Edwinas bunter Sporttasche zu.

»Natürlich, Madame. Genießen Sie die Reise.«

Agnes schnaufte verächtlich. Von Genießen konnte hier nun wirklich nicht die Rede sein!

Der Rest ihrer Zeit im Flughafen zog an Agnes vorbei wie ein besonders schlecht choreographierter Albtraum, mit allen Zutaten wie drängenden und schubsenden Menschenmassen, verwirrenden Ansagen, winzigen Anzeigen auf Tafeln, die man in Rekordgeschwindigkeit entziffern musste, bevor sie sich wieder änderten, und wachsender Panik, weil wirklich nirgends ein Flugzeug zu sehen war. Untermalt wurde das Ganze von stechenden Hüftschmerzen und Edwinas ständigen Quengeleien. Es gab Läden und Restaurants. Man bot ihnen Eierlikör zum Probieren an.

Bernadette wollte etwas essen, Edwina hatte ihre Plastikschildkröte wieder aufgeblasen und war überall im Weg, und Charlie deutete mal hierhin, mal dorthin und bestand darauf, dass alle ihr folgten. Agnes hatte schreckliche Angst, den Flug zu verpassen, und wünschte sich zugleich nichts sehnlicher, als wieder in Sunset Hall zu sein, egal, ob der Boiler ausgefallen war oder nicht.

Irgendwann saß sie wie durch ein Wunder doch in einem Flugzeug, eingeklemmt zwischen einem Geschäftsmann und einer wildfremden Frau im Kunstpelzmantel, die mit Gusto auf ihr Telefon starrte.

Wo waren die anderen? Schon wieder abgedriftet? Saß sie überhaupt in der richtigen Maschine? Sie drehte den Hals, so gut es ging, und entdeckte den Marschall, der ein paar Reihen weiter militärisch aus dem Flugzeugfenster starrte, und neben ihm Bernadette, die mit gutem Beispiel vorangegangen war und schon schlief. Keine schlechte Idee.

Probehalber schloss Agnes die Augen, aber der Ellenbogen des Geschäftsmannes stach ihr unangenehm in die Rippen, und als sie endlich doch für einen Moment wegdöste, wurde sie binnen Sekunden von einer Flugbegleiterin geweckt, die wissen wollte, ob sie den Sicherheitsgurt geschlossen hatte. Agnes kam nicht mit dem Gurt zurecht, und schließlich erbarmte sich die Frau im Kunstpelz und half ihr beim Anschnallen.

Es war viel zu heiß. Die Stewardess stand nun im Mittelgang und alberte mit einer Schwimmweste herum. Agnes schwitzte am Kopf und hatte gleichzeitig kalte Füße. Es war die Hölle.

Warum bloß hatten sie sich für einen Flug entschieden? Warum waren sie nicht einfach mit dem Auto nach Cornwall gefahren?