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Die Sonne scheint, die Narzissen sprießen, und Hettie die Schildkröte erwacht aus ihrer Winterstarre. Auch in der Senioren-WG von Sunset Hall regen sich Frühlingsgefühle: Charlie sucht im Internet nach dem Mann fürs Lebensende, Bernadettes Hochzeit rückt drohend näher, und sogar Agnes selbst scheint vor Schmetterlingen im Bauch nicht ganz gefeit. Doch dann treffen mysteriöse Drohbriefe ein, und eine alte Bekannte sitzt tot auf einer Bank. Agnes ist sicher: Irgendwo zwischen Hochzeitstorten, Champagnerbrunnen und Blumengestecken lauert der Tod. In ihrer eigenen, unnachahmlichen Art heften sich die Senioren von Sunset Hall an die Fersen des Täters – und geraten dabei in ein Netz kriminalistischer Verstrickungen, das ihnen selbst zum Verhängnis werden könnte …
»Nicht mehr und nicht weniger als ein Krimihit, wie es ihn seit den Miss-Marple-Romanen auf dem Literaturmarkt nicht mehr gegeben hat.« Literturmarkt.info
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Seitenzahl: 423
Die Sonne scheint, die Narzissen sprießen, und Hettie die Schildkröte erwacht aus ihrer Winterstarre. Auch in der Senioren-WG von Sunset Hall regen sich Frühlingsgefühle: Charlie sucht im Internet nach dem Mann fürs Lebensende, Bernadettes Hochzeit rückt drohend näher, und sogar Agnes selbst scheint vor Schmetterlingen im Bauch nicht ganz gefeit. Doch dann treffen mysteriöse Drohbriefe ein, und eine alte Bekannte sitzt tot auf einer Bank. Agnes ist sicher: Irgendwo zwischen Hochzeitstorten, Champagnerbrunnen und Blumengestecken lauert der Tod. In ihrer eigenen, unnachahmlichen Art heften sich die Senioren von Sunset Hall an die Fersen des Täters – und geraten dabei in ein Netz kriminalistischer Verstrickungen, das ihnen selbst zum Verhängnis werden könnte …
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Leonie Swann
Kriminalroman
Originalausgabe
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Copyright © der Originalausgabe 2024 by Leonie Swann
Copyright © dieser Ausgabe Mai 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Lektorat: Susanne Wallbaum
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic®, München
CN · Herstellung: ast
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30493-5V001
www.goldmann-verlag.de
Die Bewohner von Sunset Hall
Agnes
Ex-Polizistin, WG-Gründerin und Schmetterlingsdompteuse
der Marschall
Ex-Militär, Fan von Feuerwaffen und von Agnes
Edwina
Ex-Geheimdienstlerin, Reptilienfanatikerin, nicht alle Tassen im Schrank
Charlie
Vloggerin von Charlies wilder Wunderwelt, fabelhaft, bringt Glamour in die WG
Winston
im Rollstuhl, Ruhepol der WG
Bernadette
die Braut, blind und verliebt, aber nicht blind verliebt
Jack
ehemaliger Auftragskiller, aktuell Bernadettes Bräutigam
Lillith
tot und in einer Dose, aber noch immer ein wichtiges WG-Mitglied
Hettie
WG-Schildkröte, frisch dem Kühlschrank entstiegen
Oberon
Boa constrictor, die nach Höherem strebt
Brexit
wuscheliger WG-Wolfshund
Die anderen
Christopher
gut aussehender Mann aus dem Internet, Charlies Galan
Roman der Leguan
nicht so gut aussehender Mann aus dem Internet, Zimmerpflanzenfreund, Agnes’ Date
der Küster
Dominic, Mordopfer und Papierhorter
der Pfarrer von Duck End
langatmig
Benjamin Stout
Privatdetektiv
Countess Constance Purr
Schlossherrin von Mistletoe Manor, blaublütiger Flamingo
Geschäftsfrau Dorothea Gretchen
Brillenschlange und unerwünschter Hausgast
Moira, Norma und Gilda/Hilda
Mitglieder der Strickgruppe Die Verstrickten
Mia
ein kompliziertes Mädchen
James
der Stripper für die reife Frau
The Sweet Potatoes
Swingband, vier Herren und eine Sängerin
Weitere Hochzeitsgäste
Silvie
Haushaltshilfe
Silvies Ehemann
der neue Gärtner
Charlies Enkel und
dessen Lebensgefährte
die Tochter des Marschalls
und deren Freund
Nathan
Enkel des Marschalls
Sparrow
Gelegenheitseinbrecher und WG-Freund
Sparrows Begleitung
die Fotografin
Nach der Hochzeit fühlte Agnes sich seltsam leer. Sie legte ihr komisches Cocktailhütchen auf den Küchentisch, braute Tee und manövrierte ein großzügiges Stück Hochzeitstorte auf einen Teller.
Dann arrangierte sie Teetasse, Tortenstück und Kuchengabel auf einem Tablett, stellte ein Kännchen Milch dazu und wollte sich einen Zuckerwürfel greifen, ließ es am Ende aber sein. Die Wahrheit war: Sie konnte keinen Würfelzucker mehr sehen. Schließlich glitt sie mithilfe des Treppenlifts in den ersten Stock, nicht in ihr Zimmer, sondern in den Sonnenraum, der um diese Zeit natürlich verlassen und völlig sonnenlos im Dunkeln lag. Ein wenig muffig roch es auch.
Agnes knipste eine Leselampe an und sah dem Licht einen Augenblick lang zu, wie es ominöse Schatten an die Wände warf. Der Stuhl – ein Grabstein; die Grünlilie – eine Spinne. Sogar ihr eigener Schatten wirkte zwielichtig und fremd. Sie seufzte, schüttelte die schlechte Stimmung ab wie Regentropfen, goss Milch in den Tee und schaufelte sich eine erste Gabel Hochzeitstorte in den Mund. Vorzüglich. Als sie merkte, dass sie den Teelöffel in der Küche vergessen hatte, rührte sie den Tee mit der Kuchengabel um, dann nahm sie Papier und Bleistift aus der Spieleschublade.
Lange starrte sie auf das leere Blatt Papier, das im Schein der Leselampe zu leuchten schien. Am liebsten hätte sie auch ein wenig auf dem Bleistift herumgekaut, doch das erschien ihr nicht ratsam, der empfindlichen Dritten wegen.
Agnes Sharp hatte in ihrem langen Leben überdurchschnittlich viel mit Morden zu tun gehabt – erst beruflich bei der Polizei, später privat in ihrer Freizeit.
Einen Mord geplant hatte sie noch nie.
Es war gar nicht so einfach.
Sie gönnte sich einen zweiten Bissen Torte und strengte die ihr verbliebenen grauen Zellen an. Endlich setzte sie entschlossen die stumpfe Bleistiftspitze aufs Papier und begann zu schreiben.
Die anämische Nachmittagssonne ergoss sich in einem ungelenken Winkel in den Raum und formte bleiche Lichtpfützen auf den Steinfliesen. Draußen versuchten sich ein paar Vögel zaghaft an ihren Frühlingsliedern, doch in der Waschküche von Sunset Hall war es noch still und winterlich. Eine einzelne Fliege, die sich verfrüht in die kühle Luft geschwungen hatte, warf sich, vermutlich auf der Suche nach ein wenig Wärme, hartnäckig gegen eine Fensterscheibe.
Edwina lag reglos auf dem Boden, das Gesicht klein und zusammengezogen, so als hätte sie gerade Zitrone gekostet, die Hände gekrümmt wie Klauen. Eine rote Flüssigkeit sickerte ihr aus dem Mundwinkel, und die gleiche Flüssigkeit bildete auf den Fliesen bereits eine ansehnliche Lache.
Unweit von ihr, neben zwei zusammengeknüllten Socken, die wohl für die Waschmaschine bestimmt waren, ruhte die Tatwaffe, eine nun ebenfalls blutverschmierte Heckenschere.
Charlie, die vor Schreck den Wäschekorb hatte fallen lassen, starrte entgeistert auf das Bild des Grauens.
»Edwina?«
So ungewohnt leblos sah ihre Mitbewohnerin kleiner aus als sonst, zerbrechlicher und, zum ersten Mal, seit Charlie denken konnte, wirklich alt. Ein hageres Weiblein im lila Trainingsanzug, die Haare kurz und igelartig, die Schafspantoffeln zu groß und zu albern. NOTIMETODIE stand auf ihrem Sweatshirt.
Die Fliege ließ vom Fenster ab und begann, sich für die rote Pfütze zu interessieren.
Charlie sah sich die Szene eine Weile an, dann kauerte sie sich neben ihre Freundin und steckte einen Finger in die Blutlache.
Tomatenrot und dickflüssig.
Charlie schnupperte.
»Da ist also der Ketchup hin«, sagte sie leise.
Die Fliege brummte im Zuckerrausch, doch Edwina regte sich nicht und sah, wenn das möglich war, noch toter aus als zuvor.
Unbarmherzig fuhr Charlie fort.
»Heute gibt es Hamburger, Edwina. Hast du das schon vergessen? Hamburger und Pommes. Und du weißt, was wir alle von Pommes ohne Ketchup halten: nicht viel!«
Die Mahlzeiten in ihrer Senioren-WG mochten eintönig sein, aber es gab ein paar Dinge, auf die man sich normalerweise verlassen konnte. Eines dieser Dinge war Ketchup.
Edwina öffnete ein Auge, hellwach und erschreckend blau.
»Geh weg!«, zischte sie. »Es ist eine Überraschung!«
»Ich war überrascht«, sagte Charlie.
»Es ist nicht für dich«, murmelte Edwina. »Es ist für Agnes! Um sie aufzuheitern!«
Das blaue Auge schloss sich wieder.
»Aufzuheitern …« Charlie schüttelte den Kopf und begann, die verstreuten Wäschestücke vom Boden aufzulesen.
»Agnes mag Morde«, sagte Edwina trotzig.
»Aber doch keinen an dir!«, fauchte Charlie. »Jetzt habe ich Ketchup-Flecken auf der Bluse! Das geht ganz schwer wieder raus!«
Die tote Edwina zuckte mit den Schultern.
Charlie kippte die Wäsche in die Trommel und setzte die Maschine in Gang. Es stimmte, dass Agnes in letzter Zeit ein wenig seltsam war. Noch seltsamer. Gestresst. Zerstreut. Ungewohnt verlegen. Ein interessanter Mord konnte da womöglich Abhilfe schaffen, aber so einfach, wie Edwina sich das vorstellte, war die Sache natürlich wieder einmal nicht.
»Rufst du Agnes?« Edwina ließ nicht locker.
Charlie stemmte die Hände in die Hüften. »Na gut. Aber es ist das letzte Mal!«
»Einverstanden!«, krähte Edwina erfreut und leckte sich ein wenig Ketchup von den Lippen.
Die übrigen Bewohner von Sunset Hall saßen im Salon zusammen: Agnes, Winston und der Marschall. Der Wolfshund Brexit schnarchte auf dem Teppich, und Oberon, die hauseigene Boa constrictor, räkelte sich im Terrarium. Alle versuchten, es sich trotz des rußenden Kaminfeuers gemütlich zu machen – mit unterschiedlichem Erfolg.
Der Marschall, der seinen linken Arm im Gips hatte, reinigte einhändig und ungewohnt gut gelaunt eine seiner vielen Feuerwaffen. Es ging schleppend voran. Winston hatte seinen Rollstuhl unter die Leselampe manövriert und versuchte sich an einem Kreuzworträtsel, Agnes, die WG-Gründerin und Hausbesitzerin, strickte etwas Unförmiges in einem zweifelhaften Sumpfgrün und stieß dann und wann einen saftigen Fluch aus. Brexit träumte mit zuckenden Pfoten.
Nur Oberon schien die Sache mit dem Entspannen professionell anzugehen, zufrieden aalte er sich unter seiner Wärmelampe.
Charlie stieß die Tür auf, legte dramatisch eine Hand an die Stirn und sah trotz wirren Haars und Ketchup auf der Bluse wieder einmal fabelhaft aus.
»Edwina ist tot!«, verkündete sie.
»Schon wieder!« Agnes legte verärgert ihr Strickzeug weg.
»Sie meint es gut«, sagte Winston, ohne von seinem Kreuzworträtsel aufzublicken.
»Was ist es diesmal?«, fragte der Marschall mit mildem Interesse. »Erhängt auf dem Dachboden? In der Badewanne ertränkt?«
»Hoffentlich nicht schon wieder ›In der Badewanne ertränkt‹!«, murmelte Winston. Dieses Szenario hatte das letzte Mal eine gehörige Überschwemmung verursacht, weil Edwina post mortem immer wieder warmes Wasser nachgefüllt hatte.
»In der Waschküche erstochen!« Charlie rollte die Augen. »Mit der Gartenschere. Und Pommes mit Ketchup könnt ihr euch erst einmal abschminken!«
Agnes kämpfte sich aus ihrem Sessel. Mit steifen Gliedern und einer störrischen Hüfte war das gar nicht so einfach.
»Ich seh mir die Sache lieber mal an.«
In einem Anflug von Eitelkeit ignorierte sie ihren Gehstock und tappte, verfolgt von einer Wolke düsterer und ganz grundsätzlicher Gedanken, den Flur entlang Richtung Waschküche.
War die Sache mit der Rentner-WG wirklich eine gute Idee gewesen? In der Theorie ging es darum, einander zu unterstützen, mit Gleichgesinnten einen würdevollen Lebensabend zu verbringen und sich notfalls auch gegenseitig das Ableben ein wenig zu erleichtern. In der Praxis musste man sich mit Schlangen, ketchupverschmierten Mitbewohnerinnen und einfallslosen Pseudomorden herumschlagen. Und dann und wann passierte sogar ein echter Mord.
Würdevoll war etwas anderes!
Doch wie so vieles im Leben kam diese Erkenntnis um einige Jahre zu spät. Das Haus war schon voller Rentner und Getier, und wenn sie sich nicht sputete, holte sich Edwina auf den kalten Fliesen auch noch eine Erkältung.
Sie stieß die Tür zur Waschküche auf und stöhnte. Edwina war mit dem Ketchup wirklich sehr großzügig umgegangen! Agnes trat näher und fühlte Edwinas Puls, der zufrieden vor sich hinpochte. Dann nahm sie sich die Gartenschere vor.
»Erstochen«, sagte sie laut. »Ein Stich zwischen die Rippen, mitten ins Herz. Tatwaffe: Gartenschere. Warum das Opfer deswegen aus dem Mund blutet, ist mir allerdings nicht ganz klar.«
Edwina setzte sich auf und strahlte. »Ich dachte, so sieht es besser aus.«
»Hm«, sagte Agnes.
»Und wer war es?«, fragte Edwina hoffnungsvoll.
»Was weiß ich?«, murmelte Agnes. Sie wusste genau, worauf Edwina hinauswollte, aber sie hatte keine Lust auf ihre Spielchen.
Edwina breitete die ketchupbeklecksten Arme aus.
»Brexit!«
Der Wolfshund! Schon wieder! So wie es aussah, war Brexit derzeit an allem schuld, in der WG wie im Leben.
»Brexit liegt im Salon und schläft!«, sagte Agnes streng. »Er hat ein Alibi.«
»Aber …« Edwina brach ab und senkte die Hände. »Du freust dich gar nicht!«
»Ich …« Agnes suchte nach Worten. »Ich bin ein bisschen deprimiert, das ist alles. Mit Morden hat das nichts zu tun.«
Fast nichts.
»Aber es ist Frühling!«, rief Edwina und sprang leichtfüßig auf. »Wie kann man denn im Frühling so deprimiert sein?«
Agnes blickte sie neidisch an. So beweglich müsste man sein! Oder wenigstens halb so beweglich. Auch ein Zehntel davon hätte Agnes schon geholfen. Ob es zu spät war, auf ihre alten Tage mit diesem Yoga anzufangen? Vermutlich.
»Sag das mal dem Wetter!«, murmelte sie verstimmt.
»Ich sage das dem Wetter jeden Tag«, versicherte Edwina und wischte sich mit einem Lappen Ketchup vom Mund.
»Das Wetter hat versprochen, sich zu bessern. Aber du … du besserst dich nicht.«
Das war das Seltsame an Edwina. Im Allgemeinen war sie das, was weniger gut informierte Leute als »verwirrt« bezeichnet hätten. Nichts als Unsinn im Kopf, Hunderte von blödsinnigen Projekten und dazu noch eine ungesunde Fixierung auf Reptilien. Aber manchmal traf sie den Nagel auf den Kopf. Höchst ärgerlich.
»Was stimmt denn nicht mit mir?«, schnauzte Agnes. Es hatte kampfeslustig klingen sollen, kam aber seltsam kläglich heraus.
Edwina tätschelte ihr mit klebrigen Fingern den Handrücken.
»Na ja, es ist der Küster, nicht wahr? Er ist ermordet worden, und du weißt noch immer nicht, wer es war. Niemand weiß es. Aber das ist nicht so schlimm, Agnes. Man muss nicht immer alles wissen.« Sie nickte weise.
Agnes hatte den Küster ein paar Monate zuvor erhängt im Glockenturm entdeckt. Kein schöner Anblick an einem Freitagnachmittag kurz vor Feierabend. Mord, so viel war Agnes schnell klar gewesen, doch anstatt sich wie gewohnt für die Sache zu interessieren, hatte sie überfordert ihre Koffer gepackt und war in den Urlaub gefahren. Es war kein Geheimnis, dass ihr die Geschichte nachging. Trotzdem war der tote Küster momentan ihr kleinstes Problem.
Seufzend ließ sie sich auf einem Schemel nieder.
»Es ist nicht der Küster«, gestand sie. »Es ist die blöde Hochzeit.«
Der drohend heranrückende Wonnemonat Mai versprach in diesem Jahr ganz besonders wonnig zu werden, denn es standen nicht nur Sonnenschein und Maiglöckchen auf dem Programm, sondern auch die Hochzeit von Mitbewohnerin Bernadette und ihrer Jugendliebe Jack. Ein Urlaubsflirt, der Agnes’ Meinung nach gründlich in die Hose gegangen war. Jetzt war Bernadette drauf und dran, sich auf ihre alten Jahre in ein Brautkleid zu zwängen, sich zum Altar zu schleppen und anschließend aus der WG zu verschwinden, um in einem malerischen Haus in den Cotswolds ein neues Leben zu beginnen. Und die anderen in der WG hatten nichts Besseres zu tun, als sie in ihrem Wahn auch noch zu bestärken. Warum bloß? Was stimmte denn nicht mit Sunset Hall? Sie hatten doch alles, was man zum Wohlfühlen brauchte! Warme Mahlzeiten. Hübsche Zimmer. Reptilien. Gesellschaft. Einen malerischen Garten. Brexit. Autonomie. Sogar der Boiler war inzwischen geflickt, zumindest notdürftig. Was konnte man in ihrem Alter vom Leben schon mehr erwarten?
Bernadette erwartete ganz offensichtlich mehr. Liebe! Glück! Die Sache wollte Agnes nicht in den Kopf. Normalerweise war sie von der Anwesenheit ihrer Mitbewohner genervt – aber wie sich zeigte, war es noch viel schlimmer, wenn sie sich wieder davonmachten, sei es durch Tod, wie erst letzten Herbst leider ihre Freundin Lillith, sei es, wie jetzt, unerwartet und tragisch, durch Hochzeit.
Agnes, die immer eine gewisse Zeit brauchte, um sich mit Neuerungen anzufreunden, hinkte den jüngsten Entwicklungen hinterher. Einmal in Sunset Hall, immer in Sunset Hall! So hatte sie es sich bei der Gründung der Wohngemeinschaft zumindest vorgestellt. Tod und Hochzeit waren WG-feindliche Kräfte, denen man so gut wie möglich trotzen musste!
»Du hast noch kein Geschenk«, sagte Edwina kritisch.
»Kein Geschenk«, gestand Agnes. »Keine Idee für ein Geschenk. Keine Idee, was ich anziehen soll.«
Agnes widerstand der Versuchung, sich die spärlichen Haare zu raufen, und brach frustriert ab.
»Das ist kein Problem«, tröstete Edwina. »Ideen sind überall.« Ihre Ketchup-Hände vollführten einen großen Bogen, der nicht nur die Waschküche umfasste, sondern praktisch die ganze Welt.
Agnes ächzte. »Du solltest dich umziehen«, sagte sie, bevor Edwina sie mit ihren Ideen behelligen konnte. »Und die Heckenschere muss auch sauber gemacht werden. Sonst rostet sie.«
Edwina stülpte die Unterlippe vor, und Agnes fühlte sich gleich ein wenig besser. Sie war Agnes Sharp, die Stimme der Vernunft in dieser sonst an Vernunft nicht eben reichen Wohngemeinschaft! Sie stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden, notfalls mit Gehstock, und sie würde sich von einer so banalen Sache wie einer Hochzeit nicht ins Bockshorn jagen lassen!
»Wenigstens ist es keine große Affäre«, murmelte sie, als Edwina sich endlich samt Gartenschere in Richtung Waschbecken getrollt hatte. »Standesamt und dann eine Feier im kleinen Kreis. Wie schlimm kann das schon sein?«
Doch beim gemeinsamen Abendessen, als sie alle mit trocken geratenen Hamburgern rangen und einhellig die Abwesenheit des Ketchups beklagten, sah die Sache schon wieder ganz anders aus.
Bernadette und ihr Verlobter Jack waren noch rotwangiger und noch besser gelaunt als gewöhnlich von ihrem romantischen Nachmittagsspaziergang zurückgekehrt und hatten sofort angefangen, mit sogenannten guten Nachrichten um sich zu werfen.
Die allerbeste dieser Nachrichten war augenscheinlich, dass die dicke Tochter des Tante-Emma-Laden-Besitzers mit ihrem Reitlehrer durchgebrannt war. Gut für die Tochter, gut für den Reitlehrer, gut vermutlich auch für eine Menge Pferde, die sich nun wohl ein wenig auf die faule Haut legen konnten, doch wirklich relevant war die Sache deshalb, weil damit eine gewisse Hochzeit, nämlich die der Tante-Emma-Tochter mit dem Bankmanager der lokalen Filiale, nicht mehr stattfinden würde.
»Durchgebrannt und abgesprungen«, grinste Bernadette und legte liebevoll die Hand auf Jacks Unterarm. Blind wie ein Maulwurf, Bernadette, aber Jacks Arm fand sie so zielsicher wie ein ganzes Geschwader Brieftauben. Agnes senkte den Blick.
»So was kommt vor«, sagte Charlie und nagte an einer angebrannten Fritte.
»Aber nicht oft«, entgegnete Bernadette. »Es ist perfekt! Schicksal!«
»Es bedeutet, dass Mistletoe Manor nun auf einmal kurzfristig einen Termin frei hat«, erklärte Jack und legte seine Hand schützend über Bernadettes. »Da konnten wir nicht anders, als gleich zuzuschlagen.«
Schicksal. Zuschlagen. Agnes kniff misstrauisch die Augen zusammen. Hatte Jack mit der Reitlehrergeschichte vielleicht etwas zu tun? Es war kein Geheimnis, dass Mistletoe Manor in der Gegend die beste Adresse für Hochzeitsfeierlichkeiten war. Lustschloss, Landschaftsgarten, lokale Sterneküche. Einen Champagnerbrunnen hatten sie angeblich auch. Romantik bis zum Abwinken und üblicherweise auf Jahre ausgebucht.
Und jetzt sollte da auf einmal spontan ein Termin frei sein? Jack sah für Agnes’ Geschmack ein wenig zu selbstzufrieden aus. Von außen betrachtet mochte er wie ein betagter, liebenswerter Pinguin wirken, aber er hatte eine lange und erfolgreiche Karriere als Hitman für das organisierte Verbrechen hinter sich. Ein Typ, der es gewohnt war, Hindernisse effizient aus dem Weg zu räumen. Immerhin hatte er den Bräutigam nicht, wie sonst in der Branche üblich, einfach verschwinden lassen.
»Wann denn?« Agnes blickte etwas neidisch auf Bernadettes Hand, die in ihrem Jack-Sandwich so sicher und aufgeräumt aussah, und zückte einen Stift, um den neuen Hochzeitstermin gleich im WG-Kalender festzuhalten.
Als Bernadette das Datum flötete, wurde sie etwas blass.
»Zwei Wochen? Wie in aller Welt wollt ihr in zwei Wochen …«
Bernadette unterbrach sie. »Kein Problem. Das Gute an der Sache ist, dass der Pfarrer auch einen Termin frei hat. Pfarrer, Standesbeamter, Mistletoe Manor, die Küche, sogar eine Band. Das ganze Paket! Das Einzige, was wir tun müssen, ist da sein und zwanzig Gäste einladen.«
Zwanzig Gäste?
Da hatten sie den Salat!
Später am Abend, nachdem Brexit die verschmähten Burgerreste verdrückt und Edwina im Terrarium das Licht ausgeknipst hatte, hielt die Wohngemeinschaft von Sunset Hall im Salon bei Kerzenlicht eine Vollversammlung ab.
Die Vollversammlung hieß Vollversammlung, weil sie meistens von einer angemessenen Menge Alkohol begleitet wurde. Sherry, Portwein, Whisky, Gin Tonic, je nach Geschmack. Sogar Brexit bekam eine Weinbrandbohne angeboten, lehnte aber vernünftig ab. Die vollständige Anwesenheit aller Mitbewohner war für eine Vollversammlung hingegen nicht vonnöten – ganz im Gegenteil. Bernadette und ihr Bräutigam waren, verstohlen wie Teenager, in ihrem Zimmer verschwunden, und der Rest der Truppe nutzte die Gelegenheit, das problematische Thema Hochzeit offen zu diskutieren.
Der Termin prangte schon dick unterstrichen, zweifach umkreist und von Edwina mit einem kleinen Totenkopf versehen im Terminkalender und rückte mit jeder verstreichenden Sekunde bedrohlich näher.
Vierzehn Tage.
Zwanzig Gäste.
Fünf überforderte WG-Bewohner.
Eine Schildkröte, eine Boa constrictor und Brexit.
So sah die Arithmetik des bevorstehenden Ereignisses aus, und sie fühlten sich alle ein wenig eingeschüchtert. Jack und Bernadette sollten einen wunderschönen Tag haben, so viel stand fest. Doch was genau machte einen wunderschönen Tag aus? Da gingen die Meinungen sofort weit auseinander.
»Schildkröten!«, sagte Edwina mit Nachdruck. »Jede Menge Schildkröten! Wir tauen Hettie auf. Das ist der erste Schritt!«
Hettie, die WG-Schildkröte, war derzeit im Salatfach des Kühlschrankes mit der Winterstarre beschäftigt. Sie aufzuwärmen, war jedes Jahr ein wichtiges saisonales Ereignis, trotzdem bezweifelten die anderen, dass die Hochzeitsvorbereitungen damit getan sein würden.
»Mistletoe Manor ist wirklich eine schicke Adresse«, gab Charlie zu bedenken. »Da muss ich meine Garderobe noch einmal grundsätzlich überdenken. Landhausstil, habe ich mir zuerst gedacht, aber jetzt sollte es wirklich superschick sein.«
Charlie verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit damit, fabelhaft auszusehen, und hatte auf ihre alten Tage sogar begonnen, ein Lifestyle-Vlog im Internet zu betreiben. Charlies Wilde Wunderwelt. Wild war es auf alle Fälle.
Agnes gab einen missmutigen Laut von sich. Die Kleiderfrage beschäftigte auch sie, und realistisch betrachtet gingen ihre Chancen, einen superschicken Auftritt hinzulegen, gegen null. Charlie mochte jeden Tag ein neues, schimmerndes Teil aus der Tiefe ihres Schrankes zaubern, Agnes selbst hingegen konnte sich glücklich schätzen, wenn sie Schuhe mit ein wenig Absatz, Strümpfe ohne Laufmaschen und ein Kleid in einer angemessenen Farbe fand. Nicht zu hell und nicht zu dunkel – darauf kam es bei Hochzeiten an.
Sie bemerkte, dass der Marschall sie über den Rand seines Whiskyglases hinweg verträumt anblickte, und hätte sich fast an ihrem Drink verschluckt.
»Können wir vielleicht kurz über den Elefanten im Raum sprechen?«, fragte sie gereizt.
Edwina blickte hoffnungsvoll auf, doch da war kein Elefant.
»Du meinst die Sache mit den Gästen?« Winston nickte besorgt.
»Und ob ich die meine!«, erwiderte Agnes.
Wie alles im Leben hatte auch der unverhoffte Termin in Mistletoe Manor einen Haken. Man konnte dort nicht einfach mit Bräutigam, Schildkröte und Boa constrictor aufkreuzen, oh nein, man musste auch eine gehörige Portion Gäste einladen. Mindestens zwanzig Stück. Unter zwanzig Gästen warf das Manor nicht mal den Champagnerbrunnen an.
Für ein durchschnittliches Paar wäre das keine große Schwierigkeit gewesen, aber bei Jack und Bernadette sah die Sache anders aus. Die beiden hatten sich schon vor langer Zeit kennengelernt. Bernadette hatte damals mit der Bande eines Drogenbosses herumgehangen und sich irgendwann entschlossen, die Gangster an die Polizei zu verpfeifen. Sie hatte danach eine neue Identität verpasst bekommen, während Jack in der Branche geblieben war und nun auf eine erfolgreiche Karriere jenseits der Legalität zurückblickte.
Das Leben hatte die beiden wieder zusammengeführt, doch ihre Freundeskreise – falls überhaupt vorhanden – waren eindeutig nicht kompatibel. Mehr noch: Die Hochzeit konnte nur dann einigermaßen glatt über die Bühne gehen, wenn kein einziger ihrer früheren Bekannten dort auftauchte. Das machte die Sache mit den Gästen ein wenig schwierig.
»Wir kommen natürlich!«, sagte der Marschall.
»Fehlen noch fünfzehn Leute«, ächzte Agnes, und um Edwina den Wind aus den Segeln zu nehmen, ergänzte sie schnell: »und ich glaube nicht, dass Schildkröten und Schlangen zählen. Nicht in Mistletoe Manor.« Wenn man Edwina glauben wollte, gab es kaum ein Problem, das sich nicht mithilfe von Reptilien lösen ließ. Die Wahrheit sah anders aus.
»Nun ja«, sagte Charlie, »fünfzehn ist nicht gerade eine große Zahl. Wenn wir alle unsere Freunde zusammennehmen …«
Schweigen senkte sich über die Vollversammlung, während jeder in Gedanken potenzielle Freunde durchging. Sobald man ein gewisses Alter erreicht hatte, schrumpfte das soziale Umfeld ganz rapide, zum einen natürlich durch die unvermeidlichen Todesfälle, zum anderen, weil man selbst immer zänkischer und unverträglicher wurde. Die traurige Wahrheit war: Selbst zu fünft kamen sie nicht auf fünfzehn Leute, mit denen sie sich noch nicht zerstritten hatten.
Dennoch hatten sie am Ende so eine Art vorläufige Liste zusammen.
Da waren Silvie, die Zugehfrau, die sich in Sunset Hall nur sporadisch blicken ließ, und die Tochter des Marschalls mit neuem Lover sowie bereits etabliertem Sohn Nathan.
Da war Sparrow, ihr Einbrecherfreund.
Außerdem hatte Charlie einen Enkel, mit dem sie sich gut verstand, und Winston erinnerte sich an eine Cousine dritten Grades.
Dann ging ihnen langsam die Puste aus.
Die Kerzen flackerten, die Vollversammlung sprach dem Alkohol zu. Schweigen lag über dem Tisch wie ein zweites Tafeltuch, bis der Marschall aufstand und den Plattenspieler in Gang setzte.
Night and day, you are the one …
Agnes rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
»Es wird nicht ganz reichen«, murmelte der Marschall und legte auf dem Weg zurück vom Plattenspieler kurz die Hand auf Agnes’ Schulter.
… only you, under the stars.
»Wo finden wir bloß zusätzliche Hochzeitsgäste?«, rief Agnes, vielleicht etwas zu laut. Die anderen starrten sie an, doch der Marschall war schon weitergegangen und gesellte sich wieder zu seinem Whisky.
Charlie zuckte mit den Achseln. »Wo schon? Im Internet!«
»Du meinst, man kann sie bestellen?«, fragte Agnes unsicher und musterte die Gesichter, die ihr von Charlies Computerbildschirm entgegengrinsten.
Charlie nickte ermutigend. »In gewissem Sinne. Dieser hier, zum Beispiel: John, 82, will die schönen Dinge des Lebens mit Dir genießen.«
»Mit mir?«, fragte Agnes entsetzt und starrte auf das Foto eines Herren mit Knollennase, der vor einem roten Auto posierte und dabei Brusthaare zur Schau stellte.
Charlie winkte ab. »Dieschönen Dinge genießen heißt immer nur das eine. Den bekommst du überhaupt nicht aus dem Bett.«
»Welchem Bett?«, hauchte Agnes. Etwa ihrem? Das kam wirklich überhaupt nicht in die Tüte. Sie war zwar bereit, sich für Bernadettes Hochzeit ins Zeug zu legen, aber das … Außerdem … Sie schüttelte den Kopf, doch Charlie hatte John schon mit einer Handbewegung vom Bildschirm verschwinden lassen und deutete nun auf Mark. Schnurrbart. Augenringe. Schönes Hemd.
»Da. Schon besser: sucht die Begleitung einer eleganten Dame für kulturelle Abenteuer. Außerdem ist er nur 79. Glaub mir, Agnes, jedes Jahr zählt!«
»Ist Bernadettes Hochzeit ein kulturelles Abenteuer?«, fragte Agnes und nippte an ihrem Sherry. In ihrem Kopf ging es weich und wirr zu. Charlie hatte sie nach der Vollversammlung in ihr Zimmer gezerrt, den Computer angeworfen und dann Sherry nachgeschenkt. Viel zu oft.
Charlie grinste. »Ein Abenteuer ist sie allemal. Hier, wie wäre es mit dem: Roman. Ein bisschen blass vielleicht, aber er sucht Gesellschaft und gute Gespräche. Das wäre doch was für dich, Agnes! Du magst Gespräche.«
Agnes musterte Roman, der entfernt an einen Leguan erinnerte, ohne große Begeisterung.
»Und dann? Kommt er wirklich zur Hochzeit?«
Charlie strich sich eine weiße Strähne aus der Stirn. »Und ob. Ich hab es ausprobiert. Für mein Blog. Wenn man fünf oder sechs von ihnen kontaktiert, ist meistens einer dabei, der anbeißt.«
»Anbeißt«, wiederholte Agnes überfordert.
»Und wenn er angebissen hat, bringst du ihn mit zur Hochzeit!«, erklärte Charlie geduldig. »Und für Winston, den Marschall und Edwina finden wir auch noch …«
»Den Marschall?«, murmelte Agnes ungläubig, doch Charlie hörte nicht hin.
»Edwina wird eine harte Nuss, zugegeben, aber ich habe da jemanden im Auge. Yogafreak. Und schwupps, fünf Gäste mehr. Voilà!«
»Glaubst du nicht, das ist ein bisschen …« Agnes brach ab. Ja was nun: Unehrlich? Unmoralisch? Oberflächlich? Im Prinzip war doch nichts dagegen einzuwenden, dass Leute sich im Internet kennenlernten. Sie wollte nur nicht mit einem Leguan zur Hochzeit, so einfach war die Sache.
Charlie hatte schon wieder die Sherryflasche in der Hand und verscheuchte Agnes’ Bedenken wie lästige Fliegen.
»Ach was, Agnes! Die moderne Frau wirft heutzutage nicht einfach mit siebzig das Handtuch. Die moderne Frau steht mitten im Leben. Und dazu gehört eben Onlinedating.«
Agnes wollte nicht mitten im Leben stehen, sie wollte mitten im Bett liegen, gerade um diese Zeit, vorzugsweise ohne John, Mark oder Roman. Das war doch wirklich nicht zu viel verlangt!
»Ist das nicht sehr riskant?« fragte sie leise.
»Ich wüsste nicht, warum.« Charlie hatte sich die Hände auf die Schultern gelegt und ließ die Ellenbogen kreisen wie kleine Flügel, vermutlich, um die vom vielen Vloggen verspannten Muskeln zu lockern. »Schau dir die Typen an. Glaubst du, unter diesen Nasen steckt ein Killer? Wirklich, Agnes! Musst du immer nur an das eine denken?«
»Ich denke nicht an Mord«, verteidigte sich Agnes. »Und wenn, dann höchstens an den an Roman. Oder Mark. Ich meine das Risiko …« Sie griff sich an die Brust, wo unter einer Feinstrickjacke ihr Herz klopfte, alkoholisiert, verwirrt und fast etwas schuldbewusst. »… das Risiko im Inneren.«
Charlie ließ ihre Ellenbogenflügel sinken und musterte Agnes kritisch.
»Du alte Romantikerin! Wer hätte das gedacht! Aber jetzt mal ganz ehrlich, Agnes: Wenn man jung ist, ja, da ist das eine große Entscheidung. Mit fünfunddreißig – da hat man so einen Typen womöglich fünfzig Jahre an der Backe. Und das Herz …« Ähnlich wie Agnes griff auch Charlie sich an die Brust, aber die Geste wirkte unsicher, eher so, als wollte sie tasten, ob da überhaupt noch ein Herz wohnhaft war. »Aber in unserem Alter … na und? Bis dass der Tod euch scheidet … selbst darauf kann man warten.« Sie grinste Agnes spitzbübisch an.
»Aber ist es nicht ein wenig spät?« Agnes äugte verstohlen auf ihre Armbanduhr und leerte dann beherzt ihr Sherryglas. Sie wollte endlich ins Bett!
Charlie, die ihr Herz gefunden zu haben schien, stand auf und schwankte ein bisschen.
»Für die Liebe ist es nie zu spät!«, erklärte sie mit der lauten Wunderweltstimme, die sie sonst nur für ihre Gefolgschaft im Internet bemühte. »Wir mögen ein wenig verwelkt aussehen, aber im Inneren sind wir doch alle noch fünfundzwanzig. Wir wollen erkannt und gesehen werden!«
Agnes wollte vor allem ins Bett. Mit etwas Mühe hievte sie sich aus Charlies Schreibtischstuhl und strebte Richtung Flur.
»Ich war noch nie fünfundzwanzig!«, murmelte sie und zog die Tür hinter sich zu.
»Dann wird es höchste Zeit!«, rief Charlie und klickte auf ein grünes Feld, um Roman dem Leguan in Agnes’ Namen eine Nachricht zu senden.
Am nächsten Tag nach dem Frühstück machte sich die Hausgemeinschaft daran, gestärkt mit Toast und Spiegeleiern eine Hochzeitseinladung zu verfassen. Die Zeit drängte.
Charlie, die selbst einige Hochzeiten auf dem Buckel hatte, hatte ihnen erklärt, wie der Hase lief:
Gäste tauchten nicht einfach von allein auf, sie wollten gelockt und umworben werden, am besten mit zuckersüßen Formulierungen und der Aussicht auf ein gutes Essen. Die Einladung sollte schick, glatt und vor allem normal aussehen und die potenziellen Gäste in falscher Sicherheit wiegen.
Absagen konnten sie sich nun wirklich nicht leisten.
Winston, der von ihnen allen die leserlichste Handschrift hatte, saß schreibbereit am Esstisch, während die anderen nach den passenden Worten suchten.
Und suchten.
»Liebe Freunde«, versuchte sich Bernadette zögerlich.
Jack berührte sie sanft an der Schulter. »Aber die meisten von ihnen sind nicht wirklich unsere Freunde.«
»Zum Glück nicht«, sagte Bernadette und grinste. Die dunkle Sonnenbrille saß ihr keck auf der Nase, ihre Wangen schimmerten rosig und gesund, und statt der sonst üblichen unmöglichen Farbkombinationen trug sie ein praktisches, aber elegantes tiefseeblaues Kostüm. Jack mochte eine zweifelhafte Berufslaufbahn hinter sich haben, aber er tat ihr gut. Keine Frage.
»Liebe Freunde und Nicht-Freunde«, schlug Edwina diplomatisch vor, doch Charlie schüttelte entschieden den Kopf.
»Liebe Leute«, sagte der Marschall.
»Zu locker«, mahnte Charlie.
»Sehr geehrte Hochzeitsgäste«, versuchte sich Winston.
»Nicht locker genug«, sagte Charlie.
»Wie wär’s mit: Liebe Gäste?«, fragte Agnes. »Ein Gast, der kommt, ist ein lieber Gast. So einfach ist das.«
Gegen Liebe Gäste hatte niemand etwas einzuwenden, und Winston setzte die ersten Worte aufs Papier.
Ermutigt von ihrem Erfolg fuhr Agnes fort. »Wir drehen den Strick, äh, knüpfen das Band …« Einen Moment lang dachte sie an den Küster, der aufgeknüpft im Glockenturm gehangen hatte. Warum ging ihr die Sache bloß so nach? Verdammt! Jetzt hatte sie sich verzettelt.
»Wir trauen uns. Traut Ihr Euch?«, sagte Bernadette ironisch. Jack lachte leise. Die Harmonie zwischen den beiden quoll über und schwappte über den Frühstückstisch. Agnes stach ungehalten in ihr verschmähtes Spiegelei und sah dem Dotter beim Auslaufen zu.
»Man sieht nur mit dem Herzen gut«, zitierte Winston.
»Mit dem Herzen sieht man überhaupt nicht gut!«, fauchte Agnes. »Das Herz hat keine Augen. Mit dem Herzen sieht man gar nichts!«
Die anderen guckten sie überrascht an.
»Es ist nur ein Zitat«, beschwichtigte Winston. »Antoine de Saint-Exupéry. Ein schöner Hochzeitsspruch. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
»Dann braucht man eben eine Brille!«, rief Agnes. Sie verstand selbst nicht, warum sie plötzlich so schlecht gelaunt war. Immerhin ging es nur darum, dass Bernadette und Jack in Mistletoe Manor einen wunderschönen Tag verleben sollten, idealerweise mit Gästen.
Beschämt von ihrem Ausbruch blickte Agnes auf ihren Teller. »Winston, lies doch mal, was wir schon haben«, sagte sie kleinlaut.
»Liebe Gäste«, las Winston.
Viel war es nicht.
Auch Charlie schien langsam die Geduld zu verlieren. »Den Gästen ist egal, wer wie gut sieht«, erklärte sie. »Und mit was. Die Gäste wollen wissen, was für sie bei der Sache herausspringt.«
»Frösche«, schlug Edwina vor. »Frösche für alle! Feiert mit uns in Mistletoe Manor den Bund fürs Leben. Mit Fröschen!«
»Das ist es!«, rief Bernadette. »Nur ohne Frösche!«
Während Edwina schmollte und Winston den Satz ohne Frösche aufs Papier brachte, studierte Charlie die E-Mail, die Jack und Bernadette von Mistletoe Manor bekommen hatten. »Wir sollten auch ein bisschen den Ablauf erklären. Man weiß gern, was einen erwartet, gerade auf einer Hochzeit. Champagnerempfang um zehn, Trauung um elf in der Hauskapelle, anschließend standesamtliche Trauung, festliches Hochzeitsmenü und Tanz bis in die frühen Morgenstunden. Und dann noch ihre Spezialität: Mitternachtssuppe.«
»Tanz?« Um ein Haar wäre Agnes vom Stuhl gefallen. Bis in die frühen Morgenstunden? Es gab genau zwei Aktivitäten, die sie gern bis in die frühen Morgenstunden betrieb. Eine davon war die Mörderjagd. Die andere: gepflegter Tiefschlaf, nach Möglichkeit traumlos.
Sie versuchte, sich diesen Tanz vorzustellen: Bernadette und Jack, eng umschlungen, der Welt entrückt, und um sie herum wild zusammengewürfelte Hochzeitsgäste: Sylvie, die Haushaltshilfe, und Nathan, der Enkel. Sparrow und Roman, der Leguan. Charlie, in bunte Marabufedern gehüllt, der Marschall in Uniform und mit Orden behängt, klimpernd wie ein Christbaum, Edwina mit Oberon um den Hals geschlungen wie eine exotische Schlangentänzerin, alle schlurfend und wankend in einem schrecklichen Reigen und irgendwo dazwischen sie, Agnes, in einem vernünftigen Seidenkleid.
Es war nicht auszudenken!
Charlie schien ihre Gedanken zu erraten und runzelte die Stirn.
»Vielleicht erwähnen wir den Tanz besser nicht. Die Band heißt Sweet Potatoes. Ehrlich gesagt erwarte ich mir da nicht viel.«
Sie brachten den Rest des Ablaufs aufs Papier, dann guckten sie mit Stolz auf Winstons nun schon ansehnlich gefüllten Zettel.
»Vielleicht sollten wir zum Abschluss noch etwas Positives sagen«, überlegte Charlie. »Etwas, das sie ermutigt zu kommen?«
»Kommt, oder ihr werdet es bereuen!«, schlug Edwina vor und zeichnete einen ihrer Totenköpfe neben den Ablaufplan.
»Kommt und ihr werdet es bereuen«, murmelte Agnes, aber der Marschall hörte sie doch und hob eine Augenbraue.
Agnes errötete. »Na ja. Ich sage es, wie es ist.«
Die Augenbraue senkte sich wieder, etwas enttäuscht, wie es Agnes schien.
Am nächsten Tag verließ ein offiziell aussehender Stapel weißer Umschläge Sunset Hall. Manche von ihnen reisten per Post bis in die fernsten Ecken des Königreiches – vor allem Dartmoor, wo Winstons Cousine lebte –, manche wurden mit leeren Versprechen und weniger leeren Drohungen persönlich überreicht.
Agnes heftete einen neuen Zettel an den Kühlschrank. Zugesagt stand darauf und dann erst einmal gar nichts.
Es begann das große Warten. Unaufhaltsam kroch der Tag mit dem Totenkopf auf dem Kalender auf sie zu, und sie zerbrachen sich den Kopf darüber, wo sie bloß die restlichen Gäste herbekommen sollten.
Dann hatte Agnes unter der Dusche eine Eingebung.
Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Wenn Wasser floss und Shampoo schäumte, flossen und schäumten ihre Gedanken eben auch. Doch unglücklicherweise gelang es ihr nicht oft, sich ihre Duscheingebungen zu merken, bis sie wieder trocken war und den jeweiligen Gedanken per Bleistift und Zettel verewigen konnte. Jede Menge guter Ideen wurden so mit Seifenschaum und Shampooresten in den Abfluss gespült.
Aber nicht diese.
Als sie sich nach der Art junger Ideen schlüpfrig und seifenglatt davonmachen wollte, hielt Agnes an ihr fest, bis sie wieder trocken und in einen Morgenmantel gewickelt war und die Idee begonnen hatte, sich unter ihrem unbarmherzigen Griff ein wenig zu festigen.
Agnes ließ Stift und Zettel links liegen und schlüpfte stattdessen in ihre Pantoffeln, um die Idee ihren Mitbewohnern persönlich zu präsentieren.
Sie fand Winston, den Marschall und Edwina im Salon. Edwina fütterte das Kaminfeuer mit Zeitungsresten, Winston und der Marschall waren dabei, das Essen und den Einkauf für die nächste Woche zu planen.
Als Agnes im Morgenmantel und mit tropfenden Haaren hereinschneite, blickten sie überrascht auf.
»Wir müssen keine weiteren Gäste einladen!«, rief sie und tropfte auf Winstons Menüplan. »Wir engagieren sie einfach!«
Während Winston seinen Plan wieder trockentupfte – Würstchen, Eintopf, Blumenkohl überbacken, glaubte Agnes zu erkennen – und der Marschall ihr einen Sessel hinschob, erklärte sie, es gebe schließlich Leute, die keine Wahl hätten, Leute, die praktisch von Berufs wegen auf Hochzeiten aufkreuzen müssten. Fotografen. Floristen. Solche Sachen.
Man konnte sie einfach engagieren. Da waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt!
»Vielleicht braucht Winston ja jemanden, der ihm mit dem Rollstuhl hilft«, sagte Agnes und grinste. Der Marschall grinste zurück.
»Warum ausgerechnet ich?«, maulte Winston.
»Und dann vielleicht noch eine Krankenschwester?« Agnes versuchte, kreativ zu sein. »In unserem Alter ist eine Krankenschwester doch immer eine gute Idee! Denen in Mistletoe Manor ist es doch egal, ob die Gäste beruflich oder privat da sind, Hauptsache, sie sitzen am Tisch und essen ihr Hochzeitsmenü!«
»Wie wär’s mit einem Privatdetektiv?«, fragte Edwina plötzlich und hielt ihnen einen zerknitterten Zeitungsfetzen mit Kleinanzeigen unter die Nase.
Benjamin Stout stand da.
Privatdetektiv.
Kein Fall ist mir zu schwer.
»Das werden wir ja sehen!«, rief Agnes, und im nächsten Augenblick war sie dabei, sich zusammen mit Winston, dem Marschall und Edwina für Benjamin Stout einen Fall auszudenken. Einen Fall, der nur in Mistletoe Manor aufgeklärt werden konnte.
Endlich begann die Sache mit den Hochzeitsvorbereitungen Agnes ein wenig Spaß zu machen.
Der Spaß verging ihr allerdings schon kurz darauf, als sie allein im Salon saß und wieder mit ihrer Strickarbeit rang. Der Marschall und Winston tätigten im Internet eine Lebensmittelbestellung, und Edwina war draußen im Garten, um einen neuen Anwärter für den Posten des Gärtners zu interviewen. Nach dem Ableben ihrer Freundin Lillith war es dringend notwendig, jemanden anzustellen, der die Hortensien und Dahlien in Schuss hielt. Edwina nahm ihre Rolle sehr ernst und hatte sogar die Urne mit Lilliths Asche unter dem Arm, um dem aktuellen Kandidaten Respekt einzuflößen und gehörig auf den Zahn zu fühlen. Obwohl es da in Sachen Zähne vielleicht gar nicht mehr so gut aussah. Agnes äugte kritisch aus dem Fenster. Der Mann war mindestens achtzig und trug einen weißen Rauschebart, machte aber im Großen und Ganzen einen stabilen Eindruck. Als Edwina ihm Lillith vorstellte, nickte er sogar höflich Richtung Urne.
Agnes versuchte, sich auf ihre Handarbeit zu konzentrieren. Es sollte eine Mütze werden, eine grüne Mütze. Militärgrün. Agnes schob den Gedanken ärgerlich beiseite und blickte ihr Strickprojekt vorwurfsvoll an. Momentan sah es am ehesten aus wie etwas, in dem man Zwiebeln aufbewahren könnte oder vielleicht Kartoffeln. Unförmig. Das war das Wort.
Im Dorf gab es seit Neuestem eine Gruppe strickwütiger Weiber, die lange bunte Hüllen für Baumstämme strickten. Niemand wusste, warum, aber feststand, dass in letzter Zeit immer mehr Bäume mit Strickaccessoires auftauchten. Was für eine Zeitverschwendung!
Agnes war so in Gedanken versunken, dass sie zusammenfuhr, als sich neben ihr jemand räusperte.
»Bernadette!«, rief sie, halb erleichtert, halb enttäuscht. Wen hatte sie denn erwartet? Und was wollte Bernadette von ihr? War sie zurzeit nicht voll und ganz damit beschäftigt, verlobt zu sein?
»Hi«, sagte Bernadette und ließ sich neben Agnes auf dem Sofa nieder. Täuschte sich Agnes, oder machte sie hinter ihren dunklen Brillengläsern einen verlegenen Eindruck? Was war los? Hatten sich die Turteltauben gestritten? War die Hochzeit gar vom Tisch?
»Wo ist Jack?«, fragte Agnes halb hoffnungsvoll. »Ist was passiert?«
»Nickerchen«, sagte Bernadette trocken. »In unserem Alter braucht man ab und zu ein Nickerchen, auch wenn man verliebt ist. Gerade wenn man verliebt ist. Außerdem passt es mir ganz gut. Ich habe ein Anliegen, Agnes.«
Agnes legte ihr Strickzeug weg und machte sich auf Bernadettes Anliegen gefasst, doch die Freundin sagte erst einmal gar nichts und schien stattdessen zu lauschen.
»Das Leben geht manchmal seltsame Wege«, murmelte sie schließlich.
Dem war wenig entgegenzusetzen, also schwieg Agnes zurück. Bernadette war eine, die ein gutes gemeinsames Schweigen zu schätzen wusste. Agnes hingegen wurde nach einer Weile unruhig. Das unausgesprochene Anliegen schwebte ein wenig drohend im Raum.
»Hast du Zweifel?«, fragte sie.
Bernadette lachte leise. »Natürlich habe ich Zweifel, Agnes. Überall Zweifel! Ich? Heiraten? Lächerlich! Ich hätte nie gedacht … nie erwartet … Im Grunde halte ich von der Ehe nicht viel. Wenn man nichts sieht, hört man umso mehr, und was man so hört …«
Sie verstummte erneut, und Agnes machte sich darauf gefasst, ihr sämtliche Zweifel und Anliegen mühsam aus der Nase ziehen zu müssen.
»Aber?«, fragte sie vorsichtig.
»Es spielt keine Rolle«, erklärte Bernadette. »Ich weiß, dass ich zu alt für solche Späße bin, dass Jack ein schwieriger Typ ist, dass er ein moralisch fragwürdiges Leben hinter sich hat, dass alte Gewohnheiten schwer zu brechen sind, dass wir uns kaum kennen und uns vermutlich nach kurzer Zeit an die Gurgel gehen werden. Doch …«, sie streckte tastend und irgendwie hoffnungsvoll die Hand aus, der Wärme des Kaminfeuers entgegen, »… nichts davon spielt eine Rolle. Hier drinnen«, sie klopfte sich auf die Leibesmitte, »sieht alles ganz anders aus. Schmetterlinge, verstehst du, Agnes?«
»Schmetterlinge«, wiederholte Agnes ein wenig ratlos und versuchte, sich die internen Flattertiere vorzustellen, wie sie sich gegen Bernadettes Magenwände warfen. Es gelang nur schlecht.
»Wenn man sie fühlt, muss man es eben versuchen«, fuhr Bernadette fort. »Denn wenn man es nicht versucht, ist man schon ein bisschen tot – und tot ist man sowieso noch früh genug.«
»Viel zu früh!« Da waren sie sich einig.
»Ich möchte, dass du meine … wie soll ich das sagen … Brautjungfer klingt komisch, aber du weißt, was ich meine.« Bernadette brach ab und guckte verlegen.
Brautjungfer klang in der Tat komisch und beschwor vor Agnes’ innerem Auge eine gertenschlanke Gestalt in Pastelltönen herauf, die sich verzweifelt darum bemühte, das Brautbouquet zu erhaschen. Nichts davon hatte etwas mit ihr zu tun.
»Die Schmetterlinge setzen mir manchmal ein wenig zu«, erklärte Bernadette. »Ich hätte gern jemanden an meiner Seite, der klar denkt. Jemanden, der sich nicht von den Schmetterlingen ins Bockshorn jagen lässt.«
Agnes starrte auf ihr Strickzeug hinunter und dachte eine Weile nach.
Agnes Sharp, Schmetterlingsdompteuse. Es war eine Ehre – und eine Zumutung.
»Okay«, sagte sie schließlich, und Bernadette drückte ihr überschwänglich die Hand, bevor sie sich, vermutlich von ihren inneren Flattermännern getrieben, wieder zu Jack gesellte.
Um Antwort wird gebeten hatte vornehm auf den Einladungen gestanden, und tatsächlich: Endlich konnten auf dem Zettel am Kühlschrank ein paar Zusagen vermerkt werden.
Charlies Enkel hatte versprochen zu kommen und obendrein seinen Partner mitzubringen.
Die Tochter des Marschalls wollte da sein, mit Freund und Kegel – oder in diesem Fall eher Kugel –, dem rundlichen Enkel Nathan.
Winstons Cousine sagte ab, dafür wollte die Haushaltshilfe Sylvie samt Ehemann kommen.
Der neue Gärtner war eingestellt worden, und zu seinen ersten Pflichten würde es gehören, die Brombeerranken unter Kontrolle zu bekommen und bei der Hochzeit aufzutauchen.
Eine Fotografin war engagiert, dem Privatdetektiv hatte Agnes mithilfe des Marschalls eine E-Mail geschickt.
Charlie schrieb einen mysteriösen »Christopher« auf die Liste, und Agnes fürchtete sich heimlich vor Roman dem Leguan.
Dann kam eine Antwort, auf die keiner von ihnen gefasst gewesen war. Edwina entdeckte den Brief eines Morgens auf dem Abstelltisch im Flur, und auf den ersten Blick wirkte er mit seinem rosa Umschlag recht vielversprechend. Ein rosa Umschlag konnte nur Gutes bedeuten!
Doch nachdem Edwina den Umschlag aufgerissen hatte, sah die Sache anders aus.
»Da hat sich jemand ganz schön Mühe gegeben«, rief sie, als sie beim Frühstück den Brief den anderen präsentierte, und in der Tat: Jemand hatte aus Zeitungsschnipseln gewissenhaft eine Nachricht zusammengeklebt, Buchstaben für Buchstaben.
Da stand:
Something old,Something red,Something stolenSomething dead.Ich werde da sein, um Deinen Ehrentag gebührend zu begehen.X.
»Xavier?«, fragte Edwina mit einem zweifelnden Blick auf das X. »Wir haben gar keinen Xavier eingeladen!«
»Das ist kein Xavier«, sagte der Marschall düster, nachdem er seine Lesebrille gefunden und den Schnipselbrief eingehend studiert hatte. »Das ist ein Feigling! Ein anonymer Drohbrief! Gar nicht schön!«
»Etwas Altes, etwas Rotes, was Gestohl’nes und was Totes«, wiederholte Charlie und ließ ihren Marmeladentoast links liegen. »Was soll das denn bedeuten?«
»Na ja, es ist eine Variante dieses Hochzeitsreimes«, sagte Winston. »Normalerweise geht es um was Altes, was Neues, was Geliehenes und was Blaues, und das alles soll der Braut Glück bringen. Aber mit Glück hat das hier bestimmt nichts zu tun. Eher im Gegenteil. Ich denke, der Reim kündigt ein Unglück an. Worum geht es diesem X bloß?«
»Darum, dass Bernadette und Jack keinen wunderschönen Tag verleben sollen!«, erklärte Agnes und nahm dem Marschall das Schreiben aus der Hand. »Das ist ein feiger Brief, der Angst machen soll. Aber wer auch immer hinter diesem Machwerk steckt, hat sich geschnitten! Wir haben keine Angst! Und Bernadette erst recht nicht! Wir erzählen ihr erst gar nichts von der Sache!«
Sie hatte sich mit ihrer neuen Rolle als Brautjungfer und Hochzeitshüterin angefreundet und betrachtete den gemeinen Schnipselbrief als persönliche Herausforderung. Bernadette hatte sich nun mal, angestachelt von ihren Schmetterlingen, dazu entschlossen, blind und vertrauensvoll den Schritt ins Unbekannte zu wagen. Es war mehr als nur eine persönliche Entscheidung – es war Hoffnung für sie alle. Eine große Geste, die zeigte, dass man selbst entscheiden konnte, wann das Leben vorbei war. Nichts und niemand hatte das Recht, diesen mutigen Schritt zu überschatten!
»Du willst tatsächlich …«, fragte Charlie, aber Agnes legte rasch den Finger an die Lippen und stopfte den Brief samt Umschlag unter ihre Strickjacke. Regte sich etwas im ersten Stock? Bernadette und Jack waren notorische Langschläfer, aber wenn Bernadette erst einmal wach war, hörte sie so gut wie alles.
Ja. Über ihnen knarzte es. Da war jemand auf dem Weg ins Badezimmer.
»Was, wenn es keine leere Drohung ist?«, zischelte ihr Charlie ins Ohr. »Was, wenn dieser Xavier es ernst meint? Wir können Bernadette doch nicht einfach ahnungslos in die Gefahr tappen lassen!«
Im ersten Stock betätigte jemand die Klospülung, und Agnes hatte es eilig, das leidige Thema Drohbrief vom Tisch zu bekommen.
»Wir halten nach den Zeichen Ausschau«, flüsterte sie. »Nach etwas Altem, etwas Rotem, etwas Gestohlenem und etwas Totem. Wenn wir etwas davon sehen, können wir anfangen, uns Sorgen zu machen. Bis dahin … reicht mir vielleicht jemand den Toast?«
Trotz ihrer zur Schau gestellten Tapferkeit machte Agnes sich heimlich Sorgen.
Sie hatte den Drohbrief in ihre unterste Schreibtischschublade gestopft, dahin, wo auch Gebrauchsanweisungen für längst verblichene Haushaltsgeräte und Handwerkerrechnungen aus den 80ern ihr Dasein fristeten. Doch selbst durch Holz und Papier spürte sie ihn weiterhin, eine hämische, unheilvolle Präsenz. Einige Male musste sie sogar gegen die Versuchung ankämpfen, das Schnipselwerk hervorzuholen und durch ihre Lesebrille auf Hinweise zu untersuchen. Was für Hinweise würde sie schon finden? Die Grundidee war offensichtlich, und jemand, der genug Geduld hatte, Buchstaben für Buchstaben einzeln aufs Papier zu kleben, hatte wahrscheinlich auch an Handschuhe gedacht. Außerdem hatten mittlerweile fast alle in der WG das Ding in der Hand gehabt – Fingerabdrücke konnten sie da sowieso vergessen.
Was Agnes am meisten beunruhigte, war sowieso nicht der blöde Reim, sondern der Umschlag, in dem er gekommen war: rosig und jungfräulich, ganz ohne Adresse und Briefmarke. Mit der Post war er jedenfalls nicht gereist.
Wie also war er auf ihren Beistelltisch geraten?
Hatte der Briefkleber sich dreist bis nach Sunset Hall gewagt, trotz Brexit, Würgeschlange und sieben mehr oder weniger rüstiger Senioren? Und wenn nicht: Wer hatte den Brief dann in den Flur transportiert? Und woher wusste X überhaupt, dass eine Hochzeit geplant war? Jack und Bernadette hatten das nicht gerade an die große Glocke gehängt.
War X ein geladener Gast?
Und welcher Idiot schrieb einer Blinden schon einen Drohbrief?
Fragen über Fragen. Agnes war fest entschlossen, der Sache diskret nachzugehen.
»Agnes, bist du fertig? Agnes?«
Jemand hämmerte an ihre Zimmertür, und Agnes schreckte hoch. War sie eingeschlafen? Hatte sie die Sache mit dem Brief vielleicht nur geträumt? Und wie spät war es? Nachmittag, und nicht zu knapp, wie sie nach einem Blick auf die Uhr feststellen musste.
Die Tür sprang auf, und da stand Charlie, schick bis an die Zähne, Samtmantel, Fuchskragen und sogar ein Hut. Im Hut steckten drei Fasanenfedern.
»Was ist los?« Agnes stemmte sich aus ihrem Ohrensessel. »Warum? Gehen wir auf die Jagd?«
»In gewissem Sinne.« Charlies Augen funkelten. »Wir wollten doch mit dem Pfarrer sprechen und vielleicht schon mal einen Blick auf Mistletoe Manor werfen. Hast du das vergessen, Agnes?«
Agnes, die sich in der Tat an rein gar nichts erinnerte, guckte Charlie und ihre fremden Federn misstrauisch an. Hatte sie die Sache wirklich vergessen – oder vielleicht gar nicht erst richtig gehört –, oder versuchte Charlie gerade, ihr einen unangenehmen Job unterzujubeln?
»Zum Pfarrer? Wieso? Ist das nicht Bernadettes Aufgabe?«
Charlie wedelte ungeduldig mit der Hand. »Bernadette und Jack sind total damit beschäftigt, verlobt zu sein, die haben Besseres zu tun. Die Logistik übernehme ich – so ein wunderschöner Tag organisiert sich schließlich nicht von selbst!«
Agnes sah ein, dass sie Charlie nicht so einfach wieder loswerden würde, und machte sich auf die Suche nach ihrem Mantel.
Mantel. Schal. Strickmütze.
Keine Feder weit und breit.
»So willst du gehen?« Charlie musterte sie mit mildem Horror.
Agnes warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und zuckte mit den Schultern. Ihre Erscheinung kam ihr eigentlich ganz respektabel vor. »Wieso denn nicht? Glaub mir, der Pfarrer ist Schlimmeres gewöhnt.«
»Der Pfarrer vielleicht …« Da war es wieder: ein Glitzern in Charlies Augen. Agnes wickelte sich, halb misstrauisch, halb neugierig, den Schal um den Hals ließ sich erst in den Treppenlift und später in Charlies Sportwagen verfrachten und ergab sich in ihr Schicksal.
»Glaub mir, Agnes«, plauderte Charlie, während sie ihren kleinen roten Flitzer auf der Einfahrt wendete, dass der Kies spritzte, »ich habe das oft genug gemacht. Man kann eine Hochzeit entweder organisieren oder genießen. Beides zusammen geht nicht.«
Agnes saß unangenehm zusammengefaltet da und wurde von der Beschleunigung in den Beifahrersitz gepresst. Der Wagen war eine Neuanschaffung. Hatte Charlie überhaupt einen gültigen Führerschein?
Doch für solche Fragen war es nun zu spät, ihre Freundin steuerte bereits auf das Tor zu. Am Tor stand der Marschall, eine Narzisse in der Hand, und sah verwirrt und verloren aus. Agnes winkte ihm zu, und dabei zog ihr Herz sich ein wenig zusammen, wie eine Schnecke, die auf einer ihrer Kriechexpeditionen mit den Fühlern etwas Überraschendes berührt hat.
In dem Moment bog Charlie in die Landstraße ein und trat aufs Gas, und von da an war Agnes’ Herz vor allem mit Pochen beschäftigt, schneller und schneller, während sie in Rekordgeschwindigkeit auf das Dorf zurasten.
Als sie so über Land sausten, wo eine Menge Apfelbäume und Weißdornsträucher vorsichtig über das Blühen nachdachten, spürte Agnes zum ersten Mal in diesem Jahr den Frühling. Es mochte zu kalt für die Jahreszeit sein, zu regnerisch und unwirtlich, aber die Art, wie sich das Licht über die Dinge legte, sanft, aber hartnäckig, klebrig wie Honig, war unverkennbar, genau wie der Geruch. Grün und erdig – der Geruch von Pflanzen, die vom Wachsen träumten. Dieser Geruch lag in der kalten Luft wie ein Versprechen.