Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Friesisch herb Während am Strand von Greetsiel die «Ostfriesische Schlickrennen-Wältmeisterschaft» tobt, wird Aleke Dönnerschlach auf ihrer Fischfarm ertränkt. Ihr frisch angetrauter Gatte hat ein wasserdichtes Alibi – er war beim Rennen dabei, im Team von Henner und Rudi. Doch wer hatte ein Motiv, Aleke um die Ecke zu bringen? Die Kripo Wittmund hat schnell einen Schuldigen parat, aber Henner, Rudi und Rosa haben da mal wieder ihre Zweifel. Erst recht, als ein zweiter Mord geschieht. Und als sie erfahren, dass es von Seiten der Tierschützer massive Proteste gegen die Fischfarm gab, legt das Trio sich so richtig ins Zeug ... «Morden im Norden: spannend und witzig und vor allem mit viel Herz erzählt.» (Reinhard Jahn, WDR 5)
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Christiane Franke • Cornelia Kuhnert
Miss Wattenmeer singt nicht mehr
Ein Ostfriesen-Krimi
Ihr Verlagsname
Friesisch herb
Während am Strand von Greetsiel die «Ostfriesische Schlickrennen-Wältmeisterschaft» tobt, wird Aleke Dönnerschlach auf ihrer Fischfarm ertränkt. Ihr frisch angetrauter Gatte hat ein wasserdichtes Alibi – er war beim Rennen dabei, im Team von Henner und Rudi. Doch wer hatte ein Motiv, Aleke um die Ecke zu bringen? Die Kripo Wittmund hat schnell einen Schuldigen parat, aber Henner, Rudi und Rosa haben da mal wieder ihre Zweifel. Erst recht, als ein zweiter Mord geschieht. Und als sie erfahren, dass es von Seiten der Tierschützer massive Proteste gegen die Fischfarm gab, legt das Trio sich so richtig ins Zeug ...
«Morden im Norden: spannend und witzig und vor allem mit viel Herz erzählt.» (Reinhard Jahn, WDR 5)
Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.
Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und Herausgeberin arbeitet sie als Dozentin für kreatives Schreiben.
Die Julisonne hat die riesige Halle im Laufe des Tages in einen Glutofen verwandelt. Dicht an dicht stehen die großen Plastikbassins. Leise Musik erfüllt den schummrigen Raum. Aleke Dönnerschlach knipst das Licht an und wirft einen Blick auf das Thermometer an der Wand. Achtundzwanzig Grad. Die Luftfeuchtigkeit ist kaum auszuhalten. Sie schwitzt in ihrem wasserdichten Arbeitsoverall und streicht sich die Schweißperlen von der Stirn. Wie schön wäre es jetzt am Strand, im leichten Seewind. Mit dem Rad braucht sie keine zehn Minuten bis dorthin. Doch ihr Pflichtbewusstsein ist stärker. Aleke schlüpft durch den schweren Streifenvorhang in die angrenzende Halle. Sofort ist es kühler. Erst gestern hat sie zusammen mit Reent die Störweibchen in die Becken mit dem wärmeren Wasser umgesetzt, die Fische sollen glauben, im sibirischen Frühling zu sein.
Vorsichtig klettert Aleke über die Umrandung ins Wasser. Mit gekonntem Griff packt sie ein über einen Meter langes Weibchen und fixiert es in ihrer Armbeuge. Die Stirn ist grau gefärbt. Ein gutes Zeichen. Sanft streicht Aleke über die weicher gewordene Bauchdecke des Störs. «Bald ist es so weit», flüstert sie dem Fisch liebevoll zu.
Plötzlich rumst es.
Ob Reent schon zurück ist? Sie wirft einen Blick auf die Uhr. Nein, er und seine Kumpels werden noch beim Schlickschlittenrennen sein. Wahrscheinlich haben sie noch nicht mal mit dem Aalsprint angefangen.
Die Hallentür fällt mit lautem Krachen ins Schloss. Aleke zuckt zusammen.
«Hier bist du! Hab ich’s mir doch gedacht», hört sie eine Stimme am anderen Ende der Halle. «Ich wollte nicht versäumen, dir noch persönlich zur Hochzeit zu gratulieren.»
Ungebetene Gäste während der Arbeit sind Aleke ein Graus. Aber sie möchte nicht unhöflich sein. «Danke. Das ist lieb. Ich hatte mich schon gewundert, dass du nicht beim Polterabend warst.» Sie streicht weiter über den Bauch des Störs. «Leider passt es im Moment nicht so gut. Ich kontrolliere gerade, wie weit die Weibchen sind – und vor allem ihre Eier.»
«Ich will dich gar nicht lange stören. Aber wenigstens kurz anstoßen möchte ich mit dir. Guck, ich hab alles mitgebracht. Prosecco und Granatapfellikör, den magst du doch so gern.»
Ein Korken knallt.
«Auf deine Zukunft.»
Ergeben nickt Aleke und lässt den Stör mit einer zärtlichen Bewegung wieder ins Wasser gleiten. Dann dreht sie sich um und greift lächelnd nach dem Glas. Das hätte sie nicht tun sollen.
Aufgekratzt braust Reent Dönnerschlach in seinem alten, silbergrauen VW Caddy über die Landstraße am Deich entlang nach Hause. Eigentlich wollte er dieses Jahr seine Teilnahme bei der Schlickschlittenrennen-Wältmeisterschaft in Greetsiel absagen, aber Aleke hat ihn überredet. Und es hat echt wieder riesigen Spaß gemacht, den Schlitten unter dem Gejohle von Hunderten von Zuschauern über das Watt zu schieben. Aus aller Herren Länder haben sich verkleidete Gruppen eingefunden. Henners Schwester Clara hat sich richtig viel Mühe mit dem Nähen ihrer Kostüme gegeben – sie sind dieses Jahr als «Die Daltons» in gestreifter Sträflingskleidung angetreten. Es wäre auch Rudi, Henner und Sven gegenüber unfair gewesen, sie zu versetzen. Aber anschließend mitfeiern wollte er dann doch nicht, zum Glück hatten seine Teamkollegen dafür Verständnis.
«Klar, geh du man zu deiner jungen Frau», hat Rudi mit einem Augenzwinkern gesagt. Reent hat seine schlammverkrusteten Schuhe in die Plastikwanne auf der Ladefläche und sich selbst hinters Steuer geschmissen und war losgebraust. Warum mit Umziehen aufhalten? Die Sitze sind ja durch eine Folie geschützt.
Rasant prescht er die Auffahrt der Fischfarm hoch und springt aus dem Auto. Er schnappt sich die Schuhe und öffnet die Tür des alten Bauernhauses.
«Aleke! Ich bin wieder da!» Keine Antwort. Dann wird sie wohl noch bei den Fischen sein. Das trifft sich gut, er wollte drüben sowieso unter die Dusche. Der Bodenablauf in Halle 1 ist dafür ausgelegt, auch mal größere Mengen Dreck aufzunehmen. Aleke würde ihm die Hölle heiß machen, wenn er so schlickverschmiert ins Bad ginge.
Reent marschiert hinüber zur Halle. «Hey, unsere Mannschaft ist Dritter geworden!», ruft er, kaum hat er die schwere Tür geöffnet. Keine Antwort. Er sieht sich um. Aber auch hier ist Aleke nicht. Eigenartig. Vielleicht ist sie bei dem schönen Wetter doch zum Strand gefahren. Dennoch drückt er den schweren Plastikvorhang beiseite und wirft einen Blick zu den Becken. Keine Spur von seiner Frau. Er will gerade wieder gehen, als er die Pfütze vor dem hintersten Bassin sieht. Hoffentlich ist da kein Leck! Zielstrebig steuert er das Becken an und stutzt, als er etwas Grünes danebenliegen sieht. Alekes Overall. Was hat das zu bedeuten? Reent kommt nicht dazu, weiter nachzudenken, denn ein dunkler Schatten im Fischbecken erregt seine Aufmerksamkeit. Schlagartig verschwindet jede Farbe aus seinem Gesicht.
Rudolf Hieronymus Bakker, kurz Rudi genannt und seines Zeichens Dorfpolizist in Esens und Neuharlingersiel, lümmelt auf dem Beifahrersitz und beißt herzhaft in die Bratwurst, die er sich auf der Festwiese in Greetsiel gekauft hat. «Hmm … lecker.» Ketchup läuft ihm über das Kinn.
«Papa!»
«Nun hör mal auf, Sven. Bloß weil du unter die Vegetarier gegangen bist, werde ich doch wohl noch essen können, was mir schmeckt.»
Sven grummelt etwas hinter dem Lenkrad, ist dann aber still, und sie gondeln gemütlich in Rudis alter Ente nach Neuharlingersiel zurück. Henner, Rudis bester Freund seit Kindesbeinen und der Postbote des Ortes, sitzt auf der Rückbank. Er hat seine Bratwurst bereits verputzt und gönnt sich zum Runterspülen ein Ostfriesenbräu. Neidisch hört Rudi das Ploppen des Verschlusses. Er selbst darf erst zu Hause ein Bierchen zischen, für elterliche Begleitfahrer gilt die Nullkommanull-Grenze. Rudi hat zwar schon direkt nach dem Staffellauf-Schlickrennen ein Jever getrunken, aber das zählt nicht. Das war gegen den Durst.
Es ist heute aber auch eine Hitze! Rudi wischt sich den Schweiß von der Stirn. «Das haben wir dieses Jahr echt super gedeichselt!», sagt er und ist immer noch wild begeistert von ihrer Leistung beim Schlickschlittenrennen.
«Wir sind förmlich übers Watt geflogen!», jubelt Sven, während Henner nur ein einsilbiges «Jo» von sich gibt.
«Und das, obwohl wir nicht geübt haben.» Sven kann seine Begeisterung überhaupt nicht bremsen.
«Übt ja keiner.» Henner bleibt weiter einsilbig. Rudi weiß, dass sein Freund das Schaukeln im Fond der Ente nicht gut verträgt. Aber es nützt nichts, Sven muss Fahrpraxis kriegen. Auch wenn Henners Magen rebelliert.
«Wir waren so klasse! Habt ihr gesehen, wie schwer sich das Wikinger-Team aus Bensersiel getan hat?», sagt Rudi, um seinen Freund abzulenken.
«Jo», brummt Henner.
In diesem Moment ertönt die Fanfare von Rudis Handy. Unwillig zieht er sein Telefon aus der Tasche seiner sauberen Jeans. Anders als Reent haben sie in Greetsiel alle noch geduscht, mit schlickverschmierten Klamotten setzt sich bei ihm nämlich keiner ins Auto.
«Bakker.»
«Hier ist Reent», hört er die atemlose Stimme seines Teamkollegen.
«Na, was hat Aleke gesagt?», röhrt Rudi fröhlich in den Hörer. «Sie ist ja jetzt mit einem Fast-Wältmeister verheiratet. Da ist sie bestimmt bannig stolz!»
«Rudi … ich … hab Aleke im Fischbecken gefunden.» Entsetzen schwingt in Reents Stimme mit. «Sie trieb zwischen den Stören. Nur im BH.»
Rudi runzelt die Stirn. «Warum geht Aleke denn halbnackt ins Becken?»
«Aleke … sie ist tot», stammelt Reent.
Augenblicklich entgleisen Rudi alle Gesichtszüge. «Ach du Scheibenkleister!»
«Ich hab sie rausgezogen. Aber zu spät.» Reent wird mit jedem Wort leiser.
«Scheiße.» Rudi ist fassungslos. «Reent, bist du sicher? Ruf lieber noch den Arzt.»
«Rudi … sie lebt nicht mehr.»
«Gut. Ich meine, nicht gut. Besser, ich informiere die Kollegen in Wittmund. Lass alles so, wie es ist. Ich bin gleich da.» Aus dem Handschuhfach holt er das Polizeiblinklicht, klappt das Fenster der Ente hoch, setzt das Blaulicht auf das Rolldach und hält es fest. «Gib Gas, Sven. Wir sind im Einsatz.»
Das lässt sich sein Sohn nicht zweimal sagen.
Eine halbe Stunde später steht Rudi mit der Rolle Absperrband unter dem Arm neben Reent. Richtig kläglich sieht der in dem verdreckten gelb-schwarzen Anzug der Daltons aus.
«Die Kollegen müssten gleich hier sein», sagt Rudi beinahe entschuldigend und schaut auf Aleke, die neben dem Becken liegt. Kein Zweifel, sie ist tot. Das hat auch der Notarzt bestätigt. Gemeinsam gehen sie vor die Halle und warten auf das Eintreffen der Kripo.
«Du hast bestimmt kein Foto gemacht, als du sie im Becken hast schwimmen sehen, oder?», fragt Rudi wenig hoffnungsvoll. Reent schüttelt den Kopf und sieht Rudi an, als wäre der nicht recht bei Trost.
«Natürlich nicht!», sagt er empört. «Ich bin gleich ins Wasser und hab sie rausgeholt.»
«Schon gut.» Rudi drückt Reent die Rolle Flatterband in die Hand. «Sperr du damit mal vorn den Eingang ab. Ich geh wieder rein und mach die ersten Aufnahmen.»
Reent nickt ergeben und stiefelt mit der Rolle los, als zwei Fahrzeuge mit Blaulicht auf den Hof fahren. Die Türen des Bullis werden aufgeschoben, und die Kollegen der KTU springen heraus. Routiniert ziehen sich die Kriminaltechniker ihre Einwegschutzanzüge an. Kriminalhauptkommissar Haueisen und Kriminaloberkommissar Schnepel sind schneller. Sie streifen sich nur die Plastiküberzieher über die Schuhe und marschieren direkt auf Rudi zu.
«’n Abend», grüßt Haueisen. «Wo ist die Tote?»
«Drinnen. Neben dem Stör-Becken.» Rudi zeigt auf die Halle, deren Wand mit einem riesigen Stör und dem Schriftzug «Störtebekers Kaviar» bemalt ist. Gemeinsam gehen sie hinein, vorbei an Becken, in denen das Wasser blubbert.
Schnepel rümpft die Nase. «Das muffelt ja unangenehm», näselt er, zieht ein zerknülltes Taschentuch aus der Hose und hält es sich vor die Nase.
«Stellen Sie sich nicht so an, Schnepel.» Haueisen marschiert zum hinteren Becken, bleibt davor stehen und betrachtet die fast nackte Leiche. Dann wendet er sich an den Notarzt. «Sie haben den Tod bestätigt?»
«Ja. Leider», antwortet dieser.
«Irgendwas verändert?», will Haueisen wissen.
Rudi schiebt die Unterlippe vor. «Na ja. Als Reent sie sah, ist er natürlich gleich ins Wasser. Er hat sie rausgeholt und Mund-zu-Mund-Beatmung versucht.»
«Reent. Auch wieder einer Ihrer Kumpel?», fragt Haueisen, ohne Rudi anzusehen. Es klingt wie ein Vorwurf.
«Neuharlingersiel ist nun mal nicht groß. Klar kennt man sich. Außerdem bilden wir zusammen ein Team bei der Schlickschlittenrennen-Wältmeisterschaft. Von da kommen wir auch gerade», gibt Rudi kämpferisch zurück. Schnepel steht neben dem Chef und grinst überheblich. «Schlickschlittenrennen. Bakker, du bist dir aber auch für keinen Schwachsinn zu blöde.»
Armleuchter! Rudi ärgert sich, verkneift sich aber jeden weiteren Kommentar. Schließlich stehen sie vor einer Toten.
Im nächsten Augenblick wird die schummrige Halle in taghelles Licht getaucht. Die Strahler der Kriminaltechniker könnten ein ganzes Fußballfeld ausleuchten.
«Dann lasst uns mal ran», sagt der Chef der Abteilung, Klaus Kröver. Der großgewachsene Vierzigjährige mit den blonden struwweligen Haaren richtet die Spheron-Kamera für die Aufnahmen aus, als draußen ein drittes Auto vorfährt.
Kurz darauf steuert der für den Bereich Aurich-Wittmund zuständige Rechtsmediziner Doktor Valentin Emterbäumler mit seinem Köfferchen das Fischbecken an.
«Und was haben wir heute?»
Während Emterbäumler auf die Tote hinabblickt, erklärt ihm Haueisen das Wenige, was er weiß.
«Na, dann schaun ma moi», sagt Emterbäumler und beginnt mit seiner Untersuchung. «Lassens mir jetzt mei Ruh, i meld mi, wenn i fertig bin!» Der Bayer dreht Haueisen den Rücken zu.
Eine Weile stehen alle betreten herum, dann ordnet Haueisen an: «Bakker, kümmern Sie sich um den Knaben im Biene-Maja-Kostüm. Und informieren Sie den Bestatter, damit der nachher die Leiche abholt. Oder haben Sie Pöppelmeyer schon angerufen?»
«Nö. Hab ich noch nicht. Mach ich aber gleich.» Etwas leiser faucht Rudi: «Außerdem sind wir die Daltons. Und nicht Biene Maja.»
Reents Frau ist tot. Noch immer ist Henner Steffens bestürzt. So ’ne junge Deern. Wie sich das im Auto anhörte, war das ja wohl kein Herzinfarkt. Klar, dass Rudi sich da drum kümmern muss. Arme Aleke. Armer Reent. Die Siegesfeier für den phänomenalen dritten Platz fällt ja nun wohl aus. Dritter Platz! In all den Jahren hatten sie es noch nie aufs Treppchen geschafft. Aber unter diesen Umständen kann man die Bronzemedaille echt nicht feiern. Schade. Dabei haben sie das wirklich gut hingekriegt. Sven hatte ihnen auf der Hinfahrt eingebläut, dass hohe Geschwindigkeit das Einsinken verringert. Und genauso haben sie das gemacht.
Henner schnappt sich ein Pils aus dem Kühlschrank und setzt sich auf die Bank vorm Haus. Die Luft ist noch richtig warm. Gluckernd läuft das Bier seine Kehle hinunter.
«Hast du für mich auch eins?»
Die Stimme seiner Nachbarin Rosa Moll reißt ihn aus der langsam einsetzenden Entspannung. Bitte nicht. Es ist Sonntag, und wenn alles glattläuft, kommt Rudi nachher noch wie üblich zum Tatort gucken. Das weiß Rosa ganz genau. Träge öffnet Henner die Augen und muss augenblicklich zwinkern. Wie sieht die denn aus? Auf ihrem Kopf thront ein wagenradgroßer Hut. Das passt zwar zu ihrem Kleid, aber nicht nach Neuharlingersiel. «Im Kühlschrank», sagt er verdattert, fragt aber nicht, wo sie in diesem Aufzug gewesen ist.
Rosa setzt eine beleidigte Miene auf. «Muss ja auch nicht sein.» Sie lässt sich neben ihn auf die Bank plumpsen, ihr Hut streift dabei seinen Kopf, und er rutscht schnell ein Stück zur Seite. «Ich wollte eigentlich mit euch auf euren tollen Erfolg anstoßen.» Jetzt strahlt sie ihn an. «Ich war nämlich mit Clara an der Strecke und hab zugesehen.»
Henner verschluckt sich beinahe an seinem Bier. «Du warst in Greetsiel? Mit Clara?» Clara ist seine drittälteste Schwester.
«Ja. Ihr habt das ganz toll gemacht. Ich bin richtig stolz auf euch! Aber, dass ihr beim Aalsprint lebendige Aale in der Hand hattet … ihhh … dass du so einen überhaupt anfassen magst …»
Henner schüttelt den Kopf über so viel Unwissenheit. «Sind doch keine echten Aale.»
«Hat Clara aber gesagt.»
«Dumm Tüch. Das sind mit Sand gefüllte Fahrradschläuche. Was meinst du, was uns sonst die Tierschützer erzählen würden.»
«Ach so. Dann bin ich ja beruhigt. Das werde ich gleich morgen Clara erzählen.»
Henner grient. «Das weiß die. Wahrscheinlich wollte sie dich nur veräppeln.»
Rosa stemmt die Hände in die Hüften. «Wirklich? Na, die kann was erleben. Mir so einen Unsinn zu erzählen.» Aber schon im nächsten Moment hat sie ihren Unmut vergessen. «Wo ist Rudi eigentlich? Ich dachte, ihr feiert zusammen.»
Henner stellt die Flasche auf die Armlehne der Bank. «Is nix mit Feiern. Auf’m Rückweg kriegte Rudi einen dienstlichen Anruf.»
«Was Schlimmes? Einbruch? Verkehrsunfall?»
«Schlimmer.»
Als Rudi aufwacht, fühlt er nichts als bleierne Müdigkeit. Er hat die halbe Nacht nicht schlafen können. Immer wieder geisterte die tote Aleke durch seinen Kopf. Wie sie neben dem Becken der Störe gelegen hat – das sah gespenstisch aus. Rudi klappt die Bettdecke zur Seite und kommt langsam hoch. Der Rücken tut ihm weh, und in den Beinen hat er Muskelkater wie schon lange nicht mehr. Die Schlickschlittenrennen hat er früher einfach besser weggesteckt. Wie so vieles. Mit nackten Füßen angelt er nach seinen ausgetretenen Filzpuschen. Der arme Reent. Verliebt. Verlobt. Verheiratet. Verwitwet. Mann, Mann, Mann. Neuharlingersiel ist auch nicht mehr das, was es mal war. Von wegen friedlicher Fischerort!
Auf das Obduktionsergebnis ist er wirklich gespannt. Schnepel tippte gestern Abend auf Selbstmord. Da ist Reent richtig wütend geworden. Aleke war glücklich, hat er gesagt. Aber nach einem Unfall sah die ganze Sache nun auch nicht aus. Emterbäumler jedenfalls hat nur den Kopf geschüttelt und gemeint: Schaun mer moi. Wie der Bayer eben so ist: bloß nicht festlegen, bevor nicht alles aufgeschnitten, vermessen und gewogen ist.
Rudi steigt in die Dusche, dreht das heiße Wasser auf und lässt es auf sich niederprasseln. Nachdem er sich eingeschäumt, die Haare gewaschen und den ganzen Seifenkram abgespült hat, nimmt er die Brause in die Hand, stellt die Temperatur auf kalt und lässt das Wasser kurz über seinen Kopf laufen. Er kneift die Augen zusammen, und seine Zähne klappern. Angenehm ist das nicht, aber zumindest ist er jetzt richtig wach.
Als er in die Küche kommt, sitzt Sven bereits am Tisch und schmiert sich dick Nutella auf sein Frühstücksbrot. «Moin, Papa. Ich hab den Tee schon aufgebrüht.»
«Das ist lieb.» Rudi gießt sich eine Tasse ein und beobachtet seinen Sohn. Geht’s noch dicker mit der Nougatcreme? Doch er sagt nichts, um die morgendliche Stimmung nicht zu verderben.
«Ist gestern ja ganz schön spät bei dir geworden. Ich wollte eigentlich noch warten, bis du nach Hause kommst, aber dann war ich so müde, dass ich ins Bett gegangen bin.» Sven beißt in sein Brot. Die Zähne hinterlassen eine deutliche Spur in der braunen Masse. «Was ist denn passiert? Ist Aleke wirklich tot?»
«Ja. Schlimme Sache.»
«Was für’n Schiet! Aleke war so ’ne Sympathische. Wie die mit den Fischen umgehen konnte – die hat richtig mit denen geredet.»
«Geredet?»
«Och, Papa, das habe ich dir doch erzählt. Als ich das Praktikum bei denen auf der Fischfarm gemacht habe. Aber du hörst mir ja immer nur halb zu.»
Rudi lässt einen Kluntje in die Tasse fallen und schenkt sich Tee nach. Stimmt, er sollte sich mehr auf das konzentrieren, was Sven ihm erzählt, doch manchmal driften seine Gedanken einfach ab. Er müsste seinem Sohn mehr Aufmerksamkeit schenken. Aber nicht heute, jetzt muss er andere Probleme lösen. «Wie war eigentlich das Verhältnis zwischen Reent und Aleke?»
Sven hat gerade wieder von seinem Brot abgebissen. «Wie meinst du das?», fragt er mit vollem Mund und wirft seinem Vater einen misstrauischen Blick zu.
«Haben die beiden sich gut verstanden?»
«Was ist das denn für eine blöde Frage? Sonst hätten die ja wohl nicht letzte Woche geheiratet.»
Rudi seufzt. «Manchmal trügt der äußere Schein, und hinter der Fassade sieht es ganz anders aus. Im Laufe der Jahre hab ich so einiges mitbekommen. Hier ein Verhältnis, da ein verflossener Verehrer. Meinst du, dass Aleke Reent treu war?»
«Papa!»
«Ich frag ja nur. Und sonst? Kennst du jemanden, der etwas gegen Aleke hatte?»
«Hmmm.»
«Wie? Hmmm?»
«Gegen Aleke hatte niemand was. Mehr gegen Reent und seine Massentierzucht. Ich muss jetzt aber los, sonst kriege ich den Bus zur Schule nicht.»
«Halt die Klappe!», kreischt Pepe und dreht eine Runde durch die Küche. Schließlich landet der Beo mit Schwung auf seinem Käfig, dass der nur so wackelt. Pepe sieht sich um und plustert zufrieden sein Gefieder auf.
«Da bist du ja gerade noch an einer Bruchlandung vorbeigekommen», sagt Rosa belustigt und trinkt den Rest des Grünen Tees im Stehen. Dann stellt sie den Becher in die Spülmaschine und gähnt. Sie ist heute früh aufgewacht, noch vor dem Weckerklingeln. Sie hat aber auch einen Unsinn geträumt. Schnell schneidet sie einen Apfel für die Pause klein und hält Pepe ein Stückchen davon hin. «Hier, mein Lieber, und jetzt ab in dein Reich.» Ohne zu murren, klettert der Beo auf ihren Finger, klemmt sich das Apfelstück in den Schnabel und lässt sich in den Käfig bugsieren. Er springt auf die höchste Stange, lässt den Apfel fallen und steckt den Kopf ins Gefieder.
Im Flur wirft Rosa einen kurzen Blick in den Spiegel. Besser noch mal den Lippenstift nachziehen. Dann schnappt sie sich ihre Ledertasche und die Schlüssel. Beim Hinuntergehen fällt ihr Blick auf Henners Tür. Das war nicht in Ordnung, wie er sie gestern Abend hat abblitzen lassen. Tatortabend hin oder her. Wenn jemand plötzlich stirbt, ist es doch völlig normal, dass man mehr über die Umstände erfahren möchte.
Als sie vor ihrem Auto steht, sieht sie sich um, obwohl sie nicht ernsthaft damit rechnet, einen ihrer beiden Freunde zu treffen: Henner müsste mit dem Postfahrrad längst auf seiner Runde sein, und Rudi, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnt, ist sicher auch schon im Dienst. Ob die junge Frau ermordet wurde? Wie ärgerlich, dass sie sich noch mindestens bis Mittag gedulden muss, ehe sie mehr erfährt. Sie legt die Schultasche auf den Beifahrersitz ihres Fiat 500 und will gerade den Motor anlassen, als sie Rudis Sohn an der Bushaltestelle stehen sieht. Entschlossen fährt sie das Faltdach zurück, hebt den Hintern vom Sitz, schiebt den Kopf durch die Luke im Dach und ruft: «Guten Morgen, Sven! Soll ich dich nach Esens mitnehmen?»
«Das ist nett. Danke!» Sven strahlt.
«Kein Problem. Wir haben doch quasi den gleichen Schulweg.» Rosa nimmt ihre Schultasche und wirft sie mit Schwung auf die Rückbank. Gerade noch rechtzeitig, denn schon lässt sich Sven auf den Beifahrersitz fallen. «Zum Glück fangen die Sommerferien bald an. Mann, wie ich mich darauf freue!»
«Geht mir genauso. Eigentlich ist es jetzt schon fast wie Ferien. Zumindest bei uns. Die Zeugnisse sind geschrieben, und in den nächsten drei Tagen passiert nicht mehr viel. Bei euch doch auch nicht, oder?»
«Nö. Alles easy. Nur das mit Aleke ist natürlich schlimm.»
«Ja. Furchtbar.» Rosa schaltet in den vierten Gang, als sie die Jugendherberge am Rand von Neuharlingersiel hinter sich gelassen haben. «Weiß dein Vater schon mehr?», fragt sie in beiläufigem Tonfall.
«Nö, mehr, als dass Aleke tot im Fischzuchtbecken gelegen hat, weiß Papa auch nicht. Er glaubt aber nicht an einen Unfall. Weil sie doch keine Hose anhatte. Und das ist ja nicht normal. Selbst bei diesen Temperaturen nicht.» Sven starrt aus dem Fenster. «Achtung!»
Direkt vor Rosa biegt ein riesiger Güllewagen aus dem Feldweg auf die Straße. Vor Schreck steigt sie voll in die Eisen.
«Ist direkt Ironie des Schicksals, dass sie zwischen all den Fischen gestorben ist», sagt Sven.
«Was hat das denn mit Ironie des Schicksals zu tun?» Der Geruch von Gülle dringt in Rosas Nase. Sie drückt eine Taste, und das Faltdach schließt sich.
«Ich war in den letzten Osterferien für ein Praktikum auf der Fischfarm. Am Anfang hat mir das echt Spaß gemacht, und ich fand das total interessant. Aber nach und nach bin ich dahintergestiegen, was Fischfarm eigentlich heißt.»
«Wie meinst du das?» Rosa wirft Sven einen verständnislosen Blick zu, konzentriert sich dann wieder auf die Fahrbahn, setzt den Blinker und überholt den Güllewagen.
«Berit sagt, dass es eine konventionelle Massentierzucht ist, was Reent da in den Becken macht. Berit sagt, die afrikanischen Welse sind die Schweine von morgen. Zigtausende von denen liegen dicht gedrängt auf dem nackten Betonboden im Wasser und tauchen nur auf, wenn’s was zu fressen gibt.» Sven schüttelt angewidert den Kopf. «Als Berit das kapiert hat, hat sie ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr auf der Farm abgebrochen. Und Aleke gefragt, wie sie denn damit klarkommt, wo sie selbst so liebevoll mit ihren Stören umgeht und ganz auf Nachhaltigkeit setzt. Das findet nämlich sogar Berit ganz gut, wie Aleke das macht. Obwohl sie es natürlich prinzipiell bescheuert findet, den Fischen die Eier zu klauen.»
Berit. Sofort hakt Rosa nach: «Berit? Wer ist das denn?»
Ein Lächeln huscht über Svens Gesicht. «Mit Berit bin ich in der Tierschutzgruppe. Ich hab sie auf der Fischfarm kennengelernt. Sie findet es wichtig, dass die Menschen den Lebensraum der Fische achten, damit auch die zukünftigen Generationen noch Fische haben werden. Deshalb haben sie und die Tierschutzgruppe auch zu dieser Aktion aufgerufen.»
Sofort wird Rosa hellhörig. «Welche Aktion denn?»
«Na, die mit den Fischen.» Sven zeigt nach vorne auf den Zebrastreifen. «Hier kannst du anhalten. Die letzten Schritte gehe ich zu Fuß.»
Rosa will noch mal nachhaken, aber da hat Sven schon die Tür zugeschlagen und eilt auf das Schulgebäude zu.
Als Rudi die Polizeistation in Esens betritt, sitzt sein Kollege Bernie Bütefisch schon am Schreibtisch, vor sich eine Tüte von Bäcker Lorenz. «Bist ja spät dran heute», stellt Bernie fest.
«Sag bloß, du hast es noch nicht gehört? Aleke Dönnerschlach von ‹Störtebekers Kaviar› ist tot.»
Bernie starrt Rudi mit offenem Mund an.
«Das ist echt der Hammer. Ihr Mann Reent ist mit Henner, Sven und mir in der Schlickschlittenmannschaft. Die beiden haben grad erst geheiratet. Ich hab dir doch von dem Polterabend erzählt. Als er gestern zurück auf die Farm kam, trieb seine Frau tot in einem der Fischbecken.»
«Echt? Nee. Hab ich nix von mitgekriegt. Ist die ertrunken?»
«Sieht so aus. Wobei mich stutzig macht, dass sie weder Hose noch Unterhose anhatte, nur einen BH. Ich war ja als erster vor Ort und hab Fotos gemacht. Für die Akten. Da hatte Reent sie aber schon aus dem Becken gehoben. Kann gut sein, dass wir es mit einem Gewaltverbrechen zu tun haben.»
«Sach mal, warum bist eigentlich immer du dabei, wenn es um solche Sachen geht? Ich könnte das doch genauso gut übernehmen.» Bernie reißt die gelb-rote Papiertüte auf und drei dick mit Mett und Zwiebeln belegte Brötchenhälften kommen zum Vorschein.
«Ich bin eben immer der Erste, der von den Leuten angerufen wird. Hat wohl was mit privatem Netzwerk zu tun. Neuharlingersiel ist eben noch kleiner als Esens. Daran wird’s liegen. Guten Appetit.» Rudi fährt seinen Computer hoch, öffnet die Klappe an seiner Kamera und steckt das Verbindungskabel ein, um die Bilder von gestern hochzuladen. Natürlich nur die vom Tatort. Nicht die vom Schlickrennen. Selbstredend kommen seine Aufnahmen qualitativ nicht an die der Kriminaltechnik heran, aber: Was man hat, das hat man. Und wer weiß, wozu er die noch mal brauchen kann. Gerade beginnt die Übertragung der zweiunddreißig Bilder, da klingelt das Telefon.
«Geh du mal ran, ich hab den Mund voll», bittet Bernie, der inzwischen die zweite Brötchenhälfte am Wickel hat.
«Bakker.»
«Ich bin’s», hört Rudi Schnepel sagen. «Der Chef sagt, du sollst mich abholen, damit wir beide uns heute den Dönnerschlach vornehmen. Er selbst fährt nach Oldenburg zur Obduktion.» Schnepel klingt wenig begeistert.
«Warum kommst du nicht her und holst mich ab? Ist doch sonst ein Umweg.»
«Ich habe kein Auto zur Verfügung.»
Ein breites Grinsen legt sich auf Rudis Gesicht. Na denn, wenn seine Hilfe gebraucht wird, sagt er nicht nein. «Bin in zwanzig Minuten da.»
«Lass dir ruhig Zeit. Passt mir sowieso nicht, dass ich mit muss, ich hab grad so ein schwieriges Sexualverbrechen auf dem Tisch, aber der Chef kennt kein Pardon.» Schnepel stöhnt in den Hörer.
«Ach, du meinst diese Sache, die Bernie letztens an euch weitergeleitet hat?»
«Genau. Der Typ windet sich wie ein Aal. Aber damit kommt er bei mir nicht durch. Bei mir nicht! Du weißt ja, in so einem Fall muss man ganz genau ermitteln, nicht dass man vor Gericht eine Bauchlandung hinlegt.»
«Alles klar.» Rudi legt auf und wartet, bis auch die restlichen Bilder hochgeladen sind, dann stöpselt er die Kamera aus und fährt den Computer wieder runter. Ist energiesparender. Und man sollte die Staatskasse nicht zu sehr belasten, sonst hat man gleich den Bund der Steuerzahler an den Hacken.
«Ich bin dann mal wieder weg», ruft Rudi Bernie zu und schnappt sich seine Dienstjacke.
«Du hast es gut», sagt sein Kollege neidisch und greift zur dritten Metthälfte.
Auf dem Parkplatz rollt Rudi das Stoffverdeck seiner Ente zurück. Bei diesem Wetter macht es mehr Spaß, mit seinem Auto zu fahren, als mit dem Dienstwagen. Die Sonne knallt mit voller Kraft vom Himmel, und Rudi setzt sich die Dienstmütze auf. Sicher ist sicher. Er will schließlich keinen Sonnenbrand riskieren. Sven hat ihn erst vor drei Wochen darauf hingewiesen, dass sich an seinem Hinterkopf eine kahle Stelle bildet. Vergnügt zockelt Rudi die Landstraße entlang und singt wie üblich laut und falsch zur Radiomusik mit. Als er auf dem Parkplatz des Wittmunder Polizeikommissariats hält, schmettert er den Text von Udo Jürgens’ «Die Sonne und du» so laut, dass sich der Kollege von der Verkehrspolizei demonstrativ die Ohren zuhält.
Rudi hupt drei Mal. Tatsächlich kommt Schnepel kurz darauf aus dem Gebäude und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Wie immer ist er in Zivil.
«Moin, Rudi.»
«Moin. Na, was macht dein Sexualverbrecher? Hast du inzwischen alles zusammen, um ihn hinter Gitter zu kriegen?»
Schnepel schnalzt mit der Zunge. «Ich hab den Kerl am Haken. Gegen Mittag hab ich ihn ins Kommissariat einbestellt. Dann werde ich ihn auseinandernehmen.»
Rudi mustert Schnepels Schädel. Da wächst schon lange nichts mehr, nur ein dunkler Kranz knapp über den Ohren ist stehen geblieben. Rudi könnte ihm die alte Sportkappe anbieten, die für Notfälle auf der Rückbank liegt. Er will schon danach greifen, aber warum sollte er das tun? Rührt Schnepel jemals freiwillig auch nur einen einzigen Finger für ihn? Rudi startet den Wagen und singt dabei leise: «Die Sonne, die Sonne und duhuhu». Schnepel wirft ihm einen schrägen Blick zu – und schweigt, während sie zur Fischfarm kutschieren. Kurz vorm Ziel kehrt Schnepel das Großmaul heraus. Im Befehlston sagt er: «Du hältst dich im Hintergrund und überlässt mir das Fragen. Ist das klar?»
Rudi beißt sich auf die Lippe und schluckt eine schnippische Antwort herunter.
Rosa hat erst mit ihren Schülern die Fensterbilder abgenommen und dann die während des Schuljahres angefertigten Tuschezeichnungen verteilt. Kevin und zwei andere Schüler haben danach den Klassenschrank ausgeräumt, und Finn, der Streber der Klasse, hat das Aquarium gesäubert und die Fische für den Abtransport zu sich nach Hause fertig gemacht. Ehe Rosa sich’s versieht, klingelt es zur großen Pause. Jetzt freut sie sich auf ihre Freistunde, in der sie ihr Fach im Lehrerzimmer aufräumen will. In dem halben Jahr, seit sie in Esens unterrichtet, hat sich dort zum Glück noch nicht allzu viel angesammelt.
Mit dem Gong zur nächsten Stunde leert sich das Lehrerzimmer. Die Einzige, die außer Rosa sitzen bleibt, ist die Referendarin. Karina ist Rosa in den letzten Wochen regelrecht ans Herz gewachsen. Sie gehört zu den Menschen, die immer fröhlich und gut aufgelegt sind. Lediglich ihre veganen Anwandlungen gehen Rosa manchmal auf den Keks. Heute ist Karina allerdings ungewöhnlich blass. Vielleicht sollte sie doch mal ein ordentliches Stück Fleisch essen.
Rosa schenkt sich eine Tasse Kaffee ein und setzt sich neben sie. Von Fröhlichkeit ist bei Karina momentan nichts zu spüren. Die Referendarin sitzt zusammengekauert auf dem Stuhl und starrt auf den Tisch.
«Was ist denn los? Es sind doch bald Ferien. Da gibt’s keinen Grund, Trübsal zu blasen.» Rosa versucht Karina aufzumuntern. Das gelingt ihr aber nicht. Die Referendarin sieht nur kurz auf und schnieft.
«Du wirst es doch wohl sechs Wochen ohne Schüler aushalten», startet Rosa einen zweiten Versuch. Karina antwortet nicht. Automatisch fasst Rosa nach ihrer Hand. «Was ist denn los?»
«Eine Freundin von mir … ist tot.»
Rosa stutzt. «Meinst du Aleke Dönnerschlach?»
Mit dem Ärmel ihrer weißen Bluse wischt Karina über ihre Augen. Die Wimperntusche hinterlässt schwarze Streifen. «Du weißt es schon?»
Rosa nickt. «Ja, ich hab’s gestern Abend gehört. Mein Nachbar und der Leiter der Esenser Polizeistation sind ja beste Freunde.»
Karina wischt sich noch einmal über die Augen. «Ich kann das einfach nicht fassen. Erst letzte Woche haben Reent und Aleke geheiratet. Der arme Reent, der tut mir so leid.»
«Ja, schrecklich», sagt Rosa und hält einen Moment inne. «Was ist der eigentlich für ein Typ?» Sie weiß selbst, dass ihre Frage ein wenig dreist ist, aber zum Glück scheint Karina sich nicht daran zu stören.
«Wie? Was soll der schon für ein Typ sein? Der ist ganz normal.» Karina schluchzt.
«Normal? Was heißt das?»
«Na ja. Reent ist eben bodenständig. Der hat die Ausbildung zum Landwirt gemacht und auf dem Hof seiner Eltern gearbeitet, genau, wie es von ihm erwartet wurde. Er war schon immer ein begeisterter Angler, und irgendwann wollte er sich nicht mehr nur um Kühe und Felder kümmern, sondern seinen Traum von einer eigenen Fischzucht verwirklichen. Das fanden seine Eltern zwar nicht so klasse, aber er hat dann die Ausbildung zum Fischwirt gemacht. Und die Fischfarm in allen Einzelheiten durchgeplant. Von den Becken bis zur Biogasanlage.» Mit belegter Stimme fährt sie fort: «Aleke hat das ungeheuer imponiert. Wahrscheinlich hat sie sich deshalb so voll in die Fischzucht gestürzt.»
«Und dann haben die beiden auch noch geheiratet», stellt Rosa ein wenig wehmütig fest.
Einen Moment schweigen beide. Dann sagt Karina: «Tja. Sie haben eine riesige Hochzeit gefeiert. Ich fand es ja ein bisschen too much, aber Aleke wollte unbedingt das volle Programm.»
Das kann Rosa verstehen. Hochzeit in Weiß, davon träumt sie schon lange. Fehlt nur noch der richtige Mann. Unwillkürlich entweicht ihr ein Seufzer.
«Wir haben bis morgens um fünf im Sielhof gefeiert. Für Mitternacht hatten Nora, Henrike und ich die Band ‹Laway› engagiert. Die spielen Friesen-Folk vom Feinsten. Das war unser Hochzeitsgeschenk, weil wir so was ja früher auch gesungen haben. In unserer Abi-Band ‹Miss Wattenmeer›. Um Mitternacht wurde die Videoaufnahme von unserem letzten Auftritt eingespielt. Das war cool. Danach hat ‹Laway› genau diesen Song gespielt. Es war der Wahnsinn. Nora und ich sind auf die Bühne gesprungen und haben lauthals mitgesungen. Aleke auch. Im Brautkleid und mit Mikro in der Hand … Aleke war ja damals unsere Leadsängerin.» Karina presst die Lippen aufeinander.
«Aber?», hakt Rosa nach. Für kippende Stimmungen hat sie ein Gespür.
«Ach, wie es immer so ist, wenn Alkohol getrunken wird. Nora hatte zu viel getankt und sich an Reent rangeschmissen. Das fand Aleke gar nicht witzig.»
Nichts erinnert mehr an das große Polizei-Aufgebot von gestern, als Rudi auf dem gepflasterten Hof der Fischfarm parkt. Lediglich der Wagen des Bestatters steht hier. Kein Wunder, vor Beerdigungen gibt es ja viel zu besprechen. Rudi klingelt nur einmal, bevor er die Tür öffnet und ruft: «Ich bin’s, Rudi. Bleib man sitzen, Reent, ich find den Weg auch allein.»
Tatsächlich sitzt Eugen Pöppelmeyer in der Küche neben Reent. Ein dicker Ordner liegt auf dem Tisch. Rudi erkennt Muster für Traueranzeigen. Ohne zu fragen, setzt er sich zu den beiden Männern. «Moin, Reent. Mein Kollege Schnepel und ich sind vorbeigekommen, um noch …» Schnepel, der stehen geblieben ist, unterbricht ihn: «Oberkommissar Schnepel. So viel Zeit muss sein. Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen, Herr Dönnerschlach.»
Rudi würde ihm am liebsten gegen das Schienbein treten. Das ist die einzige Möglichkeit, Schnepel zu stoppen. Aber dafür steht der zu weit weg.
«Wir sind gleich fertig», gibt Pöppelmeyer zurück. Seine Augen blitzen zornig. «Wie Sie sehen, sind wir dabei zu überlegen, welche Anzeige Reent für Aleke in die Zeitung setzt. Es dauert nur noch ein paar Minuten. So viel Zeit werden Sie ja wohl haben.»
Schnepel lehnt sich eingeschnappt an die Arbeitsplatte neben der Edelstahlspüle und setzt einen Gesichtsausdruck auf, der zwischen beleidigt und arrogant liegt. Zum Glück bemerkt Reent das nicht und blättert weiter in dem Ordner.
«Was meinst du, Rudi, mit Foto?» Reent zieht die Nase hoch.
«Du, da kann ich dir echt nicht helfen. Mach’s so, dass es am wenigsten weh tut, wenn du die Anzeige in der Zeitung siehst.»
«Ich hab mich für eine Urnenbeisetzung entschieden. Eigentlich haben wir mal gesagt, eine Seebestattung wäre schön, aber, wo Aleke da jetzt im Becken …» Reents Stimme versagt.
«Schon gut», mischt sich Pöppelmeyer beinahe väterlich ein, «schon gut.» Er klappt den Ordner zu und steht auf. «Ich fax dir den Entwurf noch rüber. Und den Blumenschmuck machen wir so wie besprochen. Weiße Rosen.»
«Ja.»
«Kannst mich jederzeit anrufen.» Pöppelmeyer streift mit der Hand Reents Schulter, dann verabschiedet er sich mit einem Kopfnicken.
«Ist Ihnen inzwischen eingefallen, warum Ihre Frau fast nackt im Fischbecken trieb?» Schnepel macht einen Schritt auf Reent zu und senkt vertraulich die Stimme. «Bei der Obduktion wird man gezielt auf Sperma achten – das natürlich mit Ihrer DNA abgeglichen wird. Das ist Ihnen ja wohl klar.»
Reent schluckt, und Rudi kann sich nicht mehr beherrschen. «Nun mach aber mal ’nen Punkt!», unterbricht er seinen Kollegen. Sein Ton ist messerscharf. «Reent hat ein Alibi, falls du das vergessen hast. Er war mit Henner, Sven und mir in Greetsiel.»
«Also hör mal», faucht Schnepel zurück, «das sieht ja wohl ganz klar nach einer Beziehungstat aus. Immerhin war die untenrum nackt.»
«Halt die Klappe», sagt Rudi, und kaum ist es raus, fällt ihm ein, dass das eigentlich der Spruch von Rosas Beo Pepe ist. Aber das wissen die beiden anderen zum Glück nicht. «Ich übernehm das jetzt. Setzen wir uns doch mal alle hin, damit wir uns in Ruhe unterhalten können, wie es sich für vernünftige Menschen gehört.» Schnepel verschränkt die Arme vor der Brust und macht keinerlei Anstalten, Platz zu nehmen. Dann eben nicht. Rudi wendet sich Reent zu, der ihn dankbar ansieht. «Wie geht’s dir heute?»
«Wie soll’s mir schon gehen? Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Immer habe ich Aleke in dem Stör-Becken vor mir gesehen. Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich zu spät gekommen bin. Ich hätte nicht nach Greetsiel fahren sollen. Dann wäre das alles nicht passiert.»
«Ach Mensch. Das hatte doch nix mit dem Schlickschlittenrennen zu tun. Oder gibt es etwas, das du uns gestern in der Aufregung vergessen hast zu erzählen? Gibt’s irgendjemanden, mit dem ihr Zoff hattet?»
«Nein … richtig Zoff nicht. Aber es gab Ärger mit den Tierschützern. Die sind ja gegen Aquakulturen und haben uns mit Mails bombardiert.» Reents Stimme bricht. Mit einer verschämten Handbewegung wischt er die Tränen fort, die über seine Wangen rollen.
«Was stand da drin?»
«Die üblichen Pöbeleien.»
«Na ja, das wird sich die Kriminaltechnik genauer ansehen. Die haben euren Computer mitgenommen.» Jetzt kommt die Frage, vor der sich Rudi am liebsten drücken würde. Es hilft aber alles nichts, jetzt muss er Butter bei die Fische geben: «Kannst du dir vorstellen, warum Aleke …» Rudi windet sich «… fast nackig im Fischbecken lag?»
Reent sieht Rudi traurig an. «Nein. Überhaupt nicht. Das kommt ja zu allem dazu. Ich begreife das einfach nicht. Ey, wir haben erst letzte Woche geheiratet. Du warst doch beim Polterabend dabei. Wir waren glücklich.»
«Ihr beide habt euch voll auf die Fischfarm konzentriert. Stimmt’s?», versucht Rudi, der Sache andersherum auf den Grund zu gehen.
«Ja. Wir haben vor einem Jahr noch Kredite aufgenommen, um zusätzlich in die Störzucht und die Kaviarproduktion einsteigen zu können. Das war eine Menge Holz, das sag ich dir, aber die Sparkasse hat an uns geglaubt und an das Konzept. Das läuft ja anderswo auch schon erfolgreich. Wir waren so glücklich, dass es uns gelungen ist, erwachsene Störweibchen kaufen zu können!»
Als er Rudis irritierten Blick sieht, erklärt er: «Na, die müssen mindestens acht Jahre alt sein, bevor sie geschlechtsreif sind und man Kaviar ernten kann.» Reent lächelt. «Aber woher sollst du das auch wissen. Jedenfalls haben wir in spätestens zwei Wochen den ersten Kaviarertrag. Von lebenden Stören! Aber ob ich es alleine hinkriege, den herauszustreichen … keine Ahnung. Das war Alekes Fachgebiet, das hat sie ja extra gelernt.»