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Was bedeutet interkulturelles Verstehen?
Seit seinen Anfängen ist das Christentum eine missionarische Religion. Doch wie ist die christliche Sendung zu verstehen? Welche Begründungsmuster und Zielvorstellungen sind leitend?
In diesem Lehrbuch werden globale missionstheologische Diskurse der letzten einhundert Jahre nachgezeichnet und unterschiedliche christliche Profile (Pfingstbewegung, Orthodoxe Kirchen, römisch-katholische Kirche, protestantische Akteure u.a.) in ihren kontextuellen Varianten (etwa in Afrika oder Asien) vor Augen geführt. Aktuelle ökumenische Herausforderungen werden unter Einbeziehung von Beispielen behandelt, wie etwa: Mission und Interreligiöser Dialog, Befreiung, diakonisches Handeln, Versöhnung, Partnerschaft, Konversion, Heilung, Exorzismen, Prosperity Gospel oder Genderfragen. Den Abschluss bildet der Versuch, für den deutschen Bereich Hinweise zu einer ebenso kontextuellen wie interkulturell anschlussfähigen Missionstheologie zu geben.
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Seitenzahl: 882
Lehrbuch Interkulturelle Theologie / Missionswissenschaft
Band 2
Der christlichen Religionsformation eignet seit ihren Anfängen ein missionarischer Charakter, da sich ihre Botschaft gleichermaßen an alle Menschen richtet. Dieses grenzüberschreitende und transformierende Wirken ist Gegenstand des Faches Interkulturelle Theologie / Missionswissenschaft. Wie aber geschieht ›Mission‹ ? Wie wird sie begründet, welche Ausdrucksgestalten findet sie und nach welchen Zielvisionen richtet sie sich aus? Blickt man in die deutsche Medienöffentlichkeit, so zeigt die Verwendung des Begriffes Mission einen ambivalenten Befund. Einerseits wird ganz natürlich von UN-Missionen gesprochen, wobei vorausgesetzt wird, hier handele es sich zumeist um humanitäre und damit nicht nur gerechtfertigte, sondern – um der Not der Menschen willen – auch wünschenswerte, ja geradezu notwendige Einsätze. Umgekehrt wird religiösen Missionen nicht selten mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet, da hier die Sorge mitschwingt, es könne sich bei solchen Unternehmungen leicht um Manipulation handeln. Dass gerade die deutsche Öffentlichkeit nach den Erfahrungen der Nazi-Diktatur und ihres ausgefeilten Propagandaapparates eine besondere Sensibilität im Umgang mit weltanschaulichen Geltungsansprüchen aufweist, ist verständlich. Diese Sensibilität ist ein hohes Gut, denn es geht zivilgesellschaftlich darum, Formen von Manipulation zu erkennen und zu ächten und damit gerade auch den Minderheitsmeinungen ihr Recht zuzugestehen.
Vor diesem Hintergrund ist es die Aufgabe des Faches Interkulturelle Theologie / Missionswissenschaft, auf die tatsächliche Gestalt religiöser Missionen aufmerksam zu machen, sie zu analysieren und innerhalb von Gesellschaft, Kirchen und nicht zuletzt theologischer Ausbildung bekannt zu machen. Diesem Anliegen weiß sich der vorliegende Band verpflichtet. Es geht kurz gesagt darum, zu zeigen, dass ›Mission‹ in globaler und interkultureller Perspektive innerchristlich oft ganz andere Geltungsansprüche und Ausdrucksformen aufweist, als gemeinhin gedacht. Das Phänomen christlicher Missionen ist global gesehen weitaus umfangreicher und vielgestaltiger, als dies aus der Perspektive weitgehend säkularisierter Gesellschaften Westeuropas erwartet werden mag. Gleichzeitig wäre darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur die christliche Religionsformation ein aktives und grenzüberschreitendes Ausbreitungsverhalten zeigt. Seit ihren Anfängen haben ebenso die buddhistische wie die islamische Religionsformation – in ihren vielfältigen Gestaltwerdungen – stammes- und kulturübergreifend gewirkt. Nachdem während des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vielfältige interreligiöse Kontakte stattgefunden hatten, wurden Organisationsformen christlicher Missionen darüber hinaus von etlichen religiösen Akteuren adaptiert, so dass seither etwa neohinduistische Missionen (wie die Ramakrishna-Mission), neobuddhistische Formationen (wie etwa Sokka Gakkai) und islamische Revitalisierungsbewegungen (wie etwa Tablighi Jamacat) grenzüberschreitend tätig sind. Religiöse Missionen sind nicht nur auf lokaler und nationaler Ebene aktiv, sondern auch als Global Player.
Der Missionswissenschaft kommt damit sowohl innerchristlich als auch interreligiös die Aufgabe zu, die religiös-weltanschaulichen Begründungsmuster der jeweiligen Akteure zu untersuchen, deren Organisation, Methodik, Ziele oder allgemein Ausdrucksgestalt ihres Ausbreitungsgeschehens. Dadurch können wichtige Erkenntnisse zu diesen Religionsformationen gewonnen werden, und zwar in ihrer spezifischen Verhältnisbestimmung zur jeweiligen Gesellschaft und Zivilgesellschaft, im Blick auf ihre interreligiösen Handlungsmuster sowie ihre intrareligiösen Profilierungen.
Der vorliegende Band wird exemplarisch verschiedene christliche Ausdrucksgestalten von Mission in globaler, kontinentaler, konfessioneller und kontextueller Perspektive beschreiben. Dabei wird sich zeigen, dass christliche Missionstheologien und missionarische Handlungsmuster nicht nur durch die Struktur der jeweiligen christlichen Sozialkonfiguration geprägt sind (etwa Kirchenstrukturen, Netzwerkmuster oder Sozialstrukturen von Organisationen), sondern sehr stark auch durch den jeweiligen Kontext, aus dem heraus sie entstanden sind oder auf den sie sich beziehen. Mission kann dann etwa schwerpunktmäßig unter dem Aspekt der Versöhnung beschrieben werden, der Heilung, des Dialogs oder des Kampfes für Gerechtigkeit und Befreiung. Zur kontextuellen Bedingtheit gehört auch, dass der Begriff einer Theologie der Mission erweitert werden muss. Missionstheologien manifestieren sich, wie wir sehen werden, in verschiedenen Medien, das heißt etwa Büchern wie Flugblättern, Liedern wie Tänzen, rituellen Handlungen wie Vergemeinschaftungsformen, medizinischen wie künstlerischen Ausdrucksformen oder der Befolgung ethischer wie wirtschaftlicher Handlungsmuster.
Aufgabe von Interkultureller Theologie / Missionswissenschaft im Sinne religions- und kulturwissenschaftlicher Methodik ist es, die Wahrnehmung kulturell-kontextuell verschiedener Missionstheologien zu befördern. Die Frage lautet: Warum und wozu manifestieren sich diese impliziten wie expliziten Missionstheologien gerade in dieser spezifischen Gestalt? Interkulturelle Theologie / Missionswissenschaft im Sinne missionstheologischer Methodik geht der Frage nach, welche theologischen Begründungsmuster und Zielvisionen von Mission zu erkennen sind und wie diese praktisch umgesetzt werden. Diese sind mit neutestamentlichen Begründungen für die christliche Sendung als auch mit konkurrierenden Missionsverständnissen anderer christlicher Akteure ins Gespräch zu bringen.
Damit leistet das Fach nicht nur einen Beitrag zur Wahrnehmung von religiösen Akteuren im Kontext von Gesellschaft und Zivilgesellschaft, sondern es trägt mit religions- und kulturwissenschaftlicher Methodik zur Beschreibung des Phänomens Mission bei, es verhilft in intrachristlicher aber interkultureller Perspektive dazu, die Missionen der fremden Geschwister besser zu verstehen und leistet im Blick auf interkulturell-ökumenische Beziehungen einen Beitrag, die Frage nach christlicher Gemeinsamkeit inmitten kultureller Pluriformität offen zu halten. Es geht dabei auch um Prozesse christlicher Selbstverständigung im Horizont interkontinentaler Konstellationen. Wie bedeutend solche Prozesse der Selbstverständigung globaler Religionsformationen sind, kann man leicht an Beispielen ablesen, dass Medienberichte über religiöse Vorfälle in einem Land zu Massenprotesten und nicht selten Gewalttaten in anderen Ländern führen. So gesehen eignet Analysen im Bereich des Faches Interkulturelle Theologie / Missionswissenschaft mittelbar auch politische Relevanz.
Mit dem vorliegenden Werk liegt nun der zweite Band von diesem Lehrbuch Interkulturelle Theologie / Missionswissenschaft vor. Schon an dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die Vertiefung wichtiger Themen, die in diesem Band nur gestreift werden, dem dritten Band vorbehalten ist. In das Buch sind eigene missionarische Erfahrungen ebenso wie Erfahrungen mit Menschen in verschiedenen Ländern Afrikas und Asiens eingeflossen. Stellvertretend für viele Gesprächspartner, die mir wichtige Hinweise gegeben haben, danke ich Prof. Dr. Han Kook-il (Seoul, Süd-Korea), Prof. Dr. Daniel Jeyaraj (Liverpool, UK), dem Chairman der Church of Pentecost, Dr. Opoku Onyinah (Accra, Ghana), Prof. Dr. Scott Moreau (Wheaton, USA), Prof. Dr. Kirsteen Kim (Leeds, UK), Prof. Dr. Tharwat Kades (Kairo), Prof. Dr. Andreas Heuser (Basel, Schweiz) und Dr. Apeliften Sihombing (Siantar, Indonesien). Danken möchte ich darüber hinaus meinen Hilfskräften Alexa Schreitner und Steffen Pogorzelski sowie ganz besonders meinen Doktoranden Detlef Hiller und Sören Asmus sowie meinem Mitarbeiter und Kollegen Dr. John Flett.
Wuppertal, im November 2012
Henning Wrogemann
In den letzten zehn Jahren hat innerhalb Deutschlands das Interesse am Thema Mission allgemein zugenommen, sei es in den Medien, sei es in der Wissenschaft. Gesellschaftlich wird gefragt, welche Anforderungen an religiöse und gesellschaftliche Missionen zu stellen sind, in welcher Art und Weise hier also Geltungsansprüche erhoben werden können und dürfen. Politisch wird immer deutlicher, dass auch etwa militärisch abgestützte Friedensmissionen immer wieder auf ihr Mandat hin zu überprüfen sind. Religiös wird nach der Mission christlicher Großkirchen angesichts eines permanenten Mitgliederschwundes gefragt, wohingegen im globalen Szenario das Wachstum von Pfingstkirchen vermehrt sozial- und kulturwissenschaftliches Interesse auf sich gezogen hat. In diesen verschiedenen Zusammenhängen wird deutlich, dass es einer sorgsamen Wahrnehmung dessen bedarf, was missionarisches Wirken betrifft, denn dies manifestiert sich in ganz unterschiedlichen Dimensionen. Eben diese Vielfalt sichtbar werden zu lassen, ist Anliegen des vorliegenden Bandes. Mission, so wird zu zeigen sein, wird immer wieder überraschend anders gelebt und erlebt. Zur Einstimmung sei den weiteren Ausführungen daher ein anschauliches Beispiel vorangestellt.
Wir sind unterwegs im Südosten Pakistans, in der Provinz Sindh. Die Straße zieht sich durch das flache Land, dessen Bewuchs hier noch einigermaßen üppig ist. Dies wird sich in ein paar Monaten ändern, wenn die Sonne über dem Gebiet der Thar-Wüste brennen wird. In einem kleinen Dorf machen wir Halt und betreten ein einfaches Haus. Hier treffen wir Asif, einen pakistanischen Christen, der die meiste Zeit in einem der vielen Dörfer der Umgebung lebt, Dörfer, die von Angehörigen der Kaste der Khachi Koli bewohnt werden. Wir kommen ins Gespräch. Asif erzählt, dass er sich als eine Art Missionar versteht. Auf die Frage, worin genau seine Arbeit besteht, gibt er jedoch eine für westliche Ohren verblüffende Antwort. Das Wichtigste ist, so meint er, einfach mit den Menschen zusammen zu leben. Natürlich versuche er, Hilfe für die Menschen zu organisieren, Hilfe besonders im medizinischen Bereich, denn selbst die einfachste Basisversorgung funktioniert in diesen Gebieten nicht, Hilfe aber auch im Bereich von Schulunterricht. Die meisten Dorfbewohner seien Hindus, gibt er zu bedenken, eine Bevölkerungsgruppe, der in diesem Land keine besondere Aufmerksamkeit zuteilwerde. Eher im Gegenteil, denn die Khachi Koli werden diskriminiert.
Als landlose Stammesangehörige hinduistischer Religionszugehörigkeit sind sie für viele in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung ungebildete kuffar (arab. für Ungläubige), die als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden können, aber eigentlich nach Indien gehören. Die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung will mit diesen Menschen daher nach Möglichkeit nichts zu tun haben. »Es ist wichtig, dass ich für sie Essen koche und sie einlade, oder umgekehrt, dass sie für mich Essen kochen dürfen, ich zu ihnen nach Hause komme und dort mit ihnen zusammen esse«, meint Asif und fährt fort: »Ich werde als jemand wahrgenommen, der einen höheren Status hat, und allein dadurch, dass ich mit den Menschen auf diese Weise zusammenlebe, kommen ihnen Fragen.« Asif lebt seit langen Zeiten in seiner Hütte, er liest die Bibel, er betet, aber er verkündigt nicht von sich aus. Wenn Menschen ihn fragen, dann gibt er Auskunft, sonst nicht. Was hier spricht, ist sein körperliches Dasein mit den Menschen. Denn entgegen den Reinheitsvorschriften der Hindu-Traditionen, nach deren Verständnis eine kultische Verunreinigung besonders durch gemeinsames Essen und durch Heirat droht, zeigt Asif, dass dies für ihn und seinen Glauben keine Rolle spielt. Entgegen der Tradition, niederkastige Menschen von heiligen Schriften und heiligen Orten (Tempeln) fern zu halten, lebt Asif seinen Glauben inmitten der Menschen und veranschaulicht auf diese Weise eine Grunddimension des christlichen Glaubens: Dass allen Menschen ohne Unterschied die Botschaft des Evangeliums gilt und Regeln kultischer Reinheit außer Kraft gesetzt werden.
Szenenwechsel. Betrachten wir ein Bild der indischen Künstlerin Angela Trindade, welches die ›Missionstheologie‹ veranschaulicht, der auch Asif folgt. () Angela Trindade gilt als eine bedeutende Dalit-Künstlerin, sie verstarb 1980. In dem Bild drückt sie aus, was Jesus ihr bedeutet und worin für sie das Evangelium besteht. Da ist Jesus, es ist »unser« Jesus, so können auch europäische Augen erkennen, aber dann ist er es auch wieder nicht. Lange Haare, Bart und Heiligenschein, das kennen wir. Doch dieser Jesus trägt keine Jesus-Latschen, sondern er ist barfuß, und sein Gewand ist nicht weiß oder grau, sondern leuchtend orange. Seine Augen sind nicht auf die Frau vor ihm gerichtet, sondern sie wirken halb verschlossen, der Fuß scheint merkwürdig angewinkelt zu sein – ob das eine bequeme Sitzhaltung ist? Jesus wird uns hier indisch dargestellt, als ein Asket, ein Mensch, der um der meditativen Einsicht willen ein Leben in der Hauslosigkeit führt, auf Wanderschaft, ähnlich dem Buddha Gautama, denn bei den Buddhisten ist orange oder rot die Farbe der Mönche. Die Augen sind wie bei einem Meditierenden halb geschlossen, Jesus sitzt in einer in Indien bekannten Meditationshaltung. Ruhig, in sich gekehrt. Eigentlich sieht er so aus, als würde ihn die ganze Situation nicht betreffen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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