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In jedem gebrauchten Kleidungsstück verbirgt sich eine Geschichte. In manchen auch ein Mord.
Missy, Besitzerin eines Vintage-Lädchens an der Englischen Riviera, entdeckt in einer Lieferung ein ungewaschenes Seidenkleid sowie eine Zigarettenspitze mit einer Nadel. Wurde damit ihre Theaterkollegin Amanda Peer bei einer Dreißiger-Jahre-Party ermordet? Als Missys heimlicher Schwarm Harry Sailor zum Hauptverdächtigen wird, setzt sie alles daran, den Fall zu lösen – zum Unmut von Inspector Corning, dem sie ein Dorn im Auge ist. Bei ihrer Spurensuche schlüpft Missy mithilfe von Mode und Accessoires aus dem vergangenen Jahrhundert in immer neue Rollen. Dabei kommt sie jedoch nicht nur dem Geheimnis des Seidenkleides näher, sondern auch dem ihrer eigenen Familie ...
Cosy Crime aus der Heimat von Agatha Christie. Mit britischem Humor und Vintage-Touch.
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Seitenzahl: 386
In jedem gebrauchten Kleidungsstück verbirgt sich eine Geschichte. In manchen auch ein Mord.
Missy, Besitzerin eines Vintage-Lädchens an der Englischen Riviera, entdeckt in einer Lieferung ein ungewaschenes Seidenkleid sowie eine Zigarettenspitze mit einer Nadel. Wurde damit ihre Theaterkollegin Amanda Peer bei einer Dreißiger-Jahre-Party ermordet? Als Missys heimlicher Schwarm Harry Sailor zum Hauptverdächtigen wird, setzt sie alles daran, den Fall zu lösen – zum Unmut von Inspector Corning, dem sie ein Dorn im Auge ist. Bei ihrer Spurensuche schlüpft Missy mithilfe von Mode und Accessoires aus dem vergangenen Jahrhundert in immer neue Rollen. Dabei kommt sie jedoch nicht nur dem Geheimnis des Seidenkleides näher, sondern auch dem ihrer eigenen Familie ...
Cosy Crime aus der Heimat von Agatha Christie. Mit britischem Humor und Vintage-Touch.
Holly Birtwell ist das Pseudonym von Antje Wenzel, die 1984 in Berlin geboren wurde. Nach einem Bibliotheksstudium in Potsdam arbeitete sie als Texterin und schrieb Geschichten für Kinder. Längere Zeit lebte sie in Hawaii, wo sie surfen lernte und an einer alten Schreibmaschine tippte. Seit den Britpop-Zeiten hat sie ein Faible für England und mag den britischen Humor in Büchern und Serien. Ihr Kinderbuch „RockeTim – Mein Hund legt los und ich zieh‘ Leine“ (Oetinger, 2017) spielt in Cornwall. Im Rahmen einer Autorenausbildung im Schreibhain Berlin entstand der Stoff für ihre Cozy Crime-Reihe, die an der Englischen Riviera, der Heimat von Agatha Christie, spielt. Seitdem verlässt sie während des Schreibens für kurze Ausflüge ihr Leben als Bibliothekarin und Mutter in Berlin, um sich in die Gegend zu träumen
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Holly Birtwell
Missy und das halbseidene Kleid
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Impressum
»… aber die Vergangenheit ist mehr als Dekor. Wir werden Geschichten brauchen, viele Geschichten.« (aus »Zeitzuflucht« von Georgi Gospodinov)
Missy wippte mit ihrem Bein zu »These Boots are made for Walking« und schob sich ein Stück Hummer in den Mund. So ließ es sich leben! Leider war dieses Dolce Vita an der Südküste Englands auch ziemlich teuer. Wenn sie nicht bald ein Kleid oder wenigstens einen Hut verkaufte, musste sie sich die nächsten Tage von Bohnen und Toast ernähren.
Ein leises Glockenläuten drang von der Eingangstür bis zu ihrem Büro – die Gelegenheit war gekommen! Missy leckte sich die Finger ab und wusch sie an dem schmalen Waschbecken. Vor dem Spiegel richtete sie ihr Tuch, das sie zu einem Turban gewickelt hatte, und tänzelte in den Verkaufsraum ihres Vintage-Ladens. Wie bei einer Zeitreise streifte sie durch die Jahrzehnte, vorbei an Samtshirts und Schlaghosen aus den 70ern, Miniröcken aus den 60ern und Lederjacken und Tellerröcken aus den 50ern.
»Clara, schön, dich zu sehen!«, sagte sie zu der kleinen blonden Frau, die sich ein hellblaues Kostüm vor den Körper hielt.
»Hallo Missy, ich brauche diesmal etwas Klassisches für ein Vorstellungsgespräch. Das Kostüm hier wäre perfekt!« Sie kam einen Schritt näher und flüsterte: »Und, hast du ihm sein Geheimnis entlockt?«
Missy konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Natürlich. Dieses Rätsel habe ich gestern erst gelöst.« Sie machte eine Kunstpause, um die Spannung zu steigern. Es funktionierte. Claras Augen weiteten sich, als würde Miss Marple persönlich vor ihr stehen und den Mörder entlarven.
»Das Kostüm wurde bei der Eröffnung eines Gepardengeheges getragen«, sagte Missy. Sie liebte es, ihre Kundinnen mit den Geschichten, die sich hinter den Kleidungsstücken verbargen, zu verblüffen. Mittlerweile waren sie zu ihrem wichtigsten Verkaufsargument geworden. Je skurriler und mysteriöser, desto besser.
»Was? Du nimmst mich auf den Arm.« Clara blickte sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugier an.
»Riech selbst. Zuerst wirst du von Lavendel eingehüllt, wahrscheinlich von einem Weichspüler. Wenn du aber weiter an dem Stoff schnupperst, nimmst du den Geruch einer Raubkatze wahr.«
Clara hob den Rock zu ihrer Nase. »Das muss doch kein Gepard sein. Es könnte auch eine Katze sein, die auf dem Schoß ihres Frauchens saß.«
Missy schüttelte den Kopf. »Meine Nase täuscht sich nie. Ich war extra im Zoo von Paignton und habe das Gepardengehege besucht. Mein Verdacht hat sich bestätigt. Der Geruch ist zu herb und erdig für eine Hauskatze.«
»Wie aufregend! Und woher weißt du, dass das Kleid bei der Eröffnung des Geheges getragen wurde? Hast du die Zoowärter befragt?«
Missy griff in die Tasche des Blazers und zog, ähnlich spektakulär wie ein Magier, der einen weißen Hasen aus einem Hut zaubert, einen weißen Papierklumpen hervor. Sie entfaltete ihn, und zum Vorschein kam eine verwaschene Eintrittskarte. »Das Beweisstück. Siehst du die Schrift?«
»CSP«, las Clara vor. »Den Rest kann ich nicht lesen. Was soll mir die Eintrittskarte sagen, außer dass die Vorbesitzerin beim Waschen vergessen hat, die Taschen zu leeren?«
»CSP ist die Abkürzung für Cheetah Safety Program, eine Gepardenfarm in Südafrika. Dort leben Geparden auf einer großen Fläche und werden geschützt. Damit sie etwas Abwechslung haben, werden sie ab und zu von Touristen besucht und gestreichelt.«
»Dann hat die Vorbesitzerin sich wohl sehr schick gemacht für den Geparden und ihn auch gleich gekuschelt.« Claras Gesicht hellte sich auf, und sie zwinkerte Missy zu.
»Fall gelöst, Watson.« Missy grinste.
Clara schnupperte noch einmal an dem Blazer. »Ich nehme das Kostüm!«
Missy lächelte. Ihre Kundschaft ließ sich gern von ihren Geschichten verzaubern und erzählte sie weiter. Das war das Wichtigste, denn war es nicht das Wesen von Geschichten, dass sie verbreitet wurden?
Missy dachte oft daran, wie sie vor einem Jahr, kurz nach ihrem 35. Geburtstag, in Deutschland alles stehen und liegen gelassen hatte und kurzerhand in das Städtchen Torquay gezogen war. Zum Glück hatte sie durch ihre Mutter neben dem deutschen auch einen britischen Pass, sonst hätte sie heiraten oder nachweisen müssen, dass sie gerade den Abschluss an einer Topuniversität geschafft hatte oder ein innovatives Business eröffnen wollte, und sie war sich nicht sicher, ob das Vintage Mission dazu zählte. Sie hätte nie gedacht, dass sie den britischen Pass außer für ein paar Reisen einmal gebrauchen würde, da sie nur selten in England gewesen war und sie dort keine Verwandten hatte. Da hatte sie auch die Stadt Torquay noch nicht gekannt, von der sie vom ersten Besuch an verzaubert gewesen war.
Missy hatte das Gefühl, ihr Fleckchen Erde gefunden zu haben, in dem sie Wurzeln schlagen und ihre eigene Geschichte voranbringen wollte. Sie liebte diesen Ort an der sogenannten Englischen Riviera, die mit seinem für England ungewöhnlich milden Klima, den Sandstränden zwischen Steilküsten und Höhlen und den vielen Hügeln tatsächlich an die Côte d’Azur erinnert. Und Palmen, überall Palmen! Die Stadt hatte ihre ganz eigene, glanzvolle Geschichte, von der die viktorianischen Villen erzählten, und war auch die Heimat von Agatha Christie.
Leider war der Glanz in den letzten Jahrzehnten angeraut, aber vielleicht konnte Missy dem Ort mit ihrem Laden ein Fünkchen Glamour zurückgeben. Außerdem gab es da noch eine andere Geschichte, der sie hier nachspüren wollte.
In der ruhigen Dolphin Road, nur ein paar Minuten Fußweg von der Strandpromenade und dem Hafen entfernt, hatte sie ein »FOR RENT«-Schild in einem Schaufenster entdeckt. Sie war sofort verzaubert gewesen von dem maroden Charme der alten Villa, die sich perfekt für ihren Traum eines Vintage-Ladens eignete. Ohne zu überlegen, vermietete Missy ihre Wohnung in Deutschland und richtete den Laden mit Fundstücken von Flohmärkten und Antiquariaten ein, wobei sie jedes Jahrzehnt anders dekorierte. Dazu stellte sie auch ältere Ausgaben von Agatha Christies Büchern. Sie erinnerten sie daran, dass jedes Kleidungsstück wie ein Fall war, den sie lösen wollte, oder besser: eine Mission!
Seit der Eröffnung hatte sich das Vintage Mission in ganz Südengland herumgesprochen. Erst kamen die Kundinnen die wenigen Kilometer aus Paignton am Strand entlanggefahren, später auch aus den umliegenden Ortschaften, die oft mit »mouth« endeten: Dartmouth, Teignmouth, Sidmouth. Der Ruf des Ladens verbreitete sich unter Vintage-Liebhabern, die fasziniert waren von den Einzelstücken aus dem letzten Jahrhundert und von Missys Geschichten. Manche reisten sogar nur deswegen aus Brighton oder London an.
Nachdem Clara gegangen war, verkaufte Missy noch mehrere Geschichten: ein A-linienförmiges weißes Minikleid, das an das Hochzeitskleid von Yoko Ono erinnerte, sowie eine Lederjacke, die der vorherige Besitzer bei einer Motorradtour durch das nördliche Afrika getragen hatte. Auch eine Tasche aus Korbgeflecht mit Bambusgriff wurde sie los. Kein Wunder, denn sie war auch schon bei einem romantischen Heiratsantrag am Strand von Biarritz dabei gewesen. Das Essen für die nächsten Tage war gesichert.
Kurz vor Feierabend knurrte Missys Magen. Bis auf die Hummerreste zu Mittag und einem Scone zur Tea Time hatte sie nichts mehr gegessen. In einer Stunde würde ihr Kochkurs beginnen, bis dahin musste sie es noch aushalten.
Sie ging zum Schallplattenspieler und legte »Dream a little Dream of me« von Ozzie Nelson auf. Die Platte hatte sie für ein paar Pfund auf einem Flohmarkt erworben. Jedes Mal aufs Neue war sie begeistert von der Originalversion aus den 30er-Jahren, die viel beschwingter klang als das Cover von The Mamas and The Papas. Sobald das Orchester zu spielen begann, bewegte Missy den Kopf im Takt und hängte Kleidungsstücke, die im falschen Jahrzehnt gelandet waren, tänzelnd wieder an die richtige Stelle. Dabei sang sie den träumerischen Text mit und dachte unweigerlich an Harry, der am nächsten Morgen mit einer neuen Lieferung kommen würde. Automatisch zogen sich ihre Mundwinkel nach oben, und ihre Wangen glühten. Würde sie sich morgen trauen, ihn endlich um ein Date zu bitten?
Lächelnd zählte Missy die Kasse, holte ihre Tasche aus dem Büro und zog gerade ihren Schlüssel heraus, als das Glockenläuten wieder leise zu hören war.
»Tut mir leid, aber ich schließe jetzt. Sie können gerne morgen wiederkommen«, rief sie, ohne aufzublicken.
Kurz darauf rümpfte sie die Nase. Sie erkannte den blumig-süßen Duft, der vom Verkaufsraum bis in das Hinterzimmer drang. Falls sich im Vintage Mission noch in irgendeiner Ecke eine Hummerduftnote verfangen hatte, war diese von dem Geruch nach Mandarinen, Jasmin und Patschuli verschluckt worden.
Missy brauchte gar nicht erst hochzuschauen, um zu wissen, wer über die Türschwelle getreten war: Ms Kilster. Nur sie schaffte es, den Laden mit ihrer Anwesenheit und ihrem Duft komplett einzunehmen. Die große, stämmige Frau Mitte vierzig wirkte für diesen zarten Duft viel zu energisch. Sie fuchtelte mit den Armen umher und spähte von einem Regal zum nächsten, als würde sie verfolgt werden und ein Versteck suchen. Oder einen Tarnanzug.
»Miss Missy!«, kreischte Ms Kilster durch den Verkaufsraum. Im nächsten Augenblick beugte sie sich nach vorn, um die Hände auf den Oberschenkeln abzustützen. Nachdem sie mehrmals tief ein- und ausgeatmet hatte, sprach sie weiter. »Sie müssen mir helfen! Es ist ein Notfall.«
Hatte sich Ms Kilster verletzt? Missy konnte keine Wunde entdecken. Zumindest keine äußere. Was war, wenn sie eine Gehirnerschütterung hatte? Oder ihre Lunge versagte? Missy versuchte, Bruchstücke ihres Erste-Hilfe-Kurses zusammenzukratzen. Wie ging noch mal die stabile Seitenlage? Wie oft musste man den Brustkorb vor der Mund-zu-Mund-Beatmung nach unten drücken? Dann fiel ihr ein, dass sie Verletzte zuerst ansprechen sollte. »Was ist passiert?«
Ihre Patientin richtete sich wieder auf. »Ich brauche ganz dringend …« Sie rang nach Luft.
»Einen Stuhl?«
Ms Kilster schüttelte den Kopf und japste.
»Eine Tüte zum Atmen?« Das hatte Missy zumindest einmal in einem Film gesehen.
Ihr Gegenüber wedelte mit der Hand.
»Einen Notarzt?«
»Ich brauche ein Kostüm für eine Theateraufführung.«
Das war der Notfall? Eine Dramaqueen war nichts dagegen. Dennoch war Missy erleichtert. Ein echter Notfalleinsatz hätte ihre Ankunft beim Kochkurs um einiges verzögert. »Morgen können Sie mir in aller Ruhe erzählen, um welches Stück es sich handelt.« Sie lief zur Ladentür, öffnete sie und hoffte, dass Ms Kilster diesen Wink verstand und ihr folgen würde.
Diese bewegte sich tatsächlich zur Tür, doch anstatt hindurchzugehen, schlug sie sie geräuschvoll vor Missys Nase zu. »Das ist unmöglich. In einer halben Stunde beginnen die Proben.«
Mit Kleidernotfällen, bei denen sie die Chirurgin spielen sollte, kannte sich Missy aus. Nicht selten musste sie in letzter Sekunde das passende Outfit für ein Date, eine Party oder eine Theateraufführung finden. Sie schaute auf die Uhr. Wenn sie sich bei der Kleiderwahl beeilten und sie schnell fuhr, könnte es klappen, und sie würde es gerade noch zum Kochkurs schaffen. Den hatte sie dringend nötig, seitdem sie sich von dem Geld ihres Vaters gelöst hatte und nicht mehr so verschwenderisch leben konnte. Und seitdem sie in England, dem Land von Fish, Chips und Beans lebte. Gesundes Essen hatte hier anscheinend keinen großen Stellenwert. Sie wollte auf keinen Fall die Häppchen verpassen. Ihr Bauch wartete schon sehnsuchtsvoll darauf, wenigstens ein paar Käsestangen oder Oliven zu bekommen. »Welche Rolle spielen Sie denn?«
Ms Kilster fuchtelte wieder mit den Armen. »Das weiß ich auch nicht. Es sind gleich mehrere Schauspieler und der Kostümbildner abgesprungen. Dieser Halunke hat die Kostüme einfach mitgenommen. Dabei ist die Premiere schon in zehn Tagen. Es ist eine Katastrophe!«
Das war nicht nur ein Notfall, sondern ein Einsatz auf der Intensivstation, fürchtete Missy. Dafür hatte sie keine Zeit. »Das ist wirklich furchtbar, aber Sie kommen einen Tick zu spät. Die Kasse ist schon abgeschlossen, und ich habe noch einen …«
Ms Kilster stierte Missy mit aufgerissenen Augen an, so dass ihr das Wort »Kochkurs« im Hals steckenblieb.
»Um welches Stück handelt es sich denn?«, fragte Missy. »Wir finden sicher schnell etwas für Sie.«
»Das Böse unter der Sonne. Wir wollen es zum Agatha Christie Festival aufführen. Kennen Sie das Stück? Es geht um den Tod von Arlena Marshall. Sie war früher eine Sängerin und Schauspielerin und hält sich für was Besseres. Dabei ist sie nur ein billiges Flittchen. Sie kommt an einer Bucht ums Leben und …«
»Ich habe das Buch gelesen und den Film gesehen«, wandte Missy schnell ein, bevor Ms Kilster ihr den kompletten Krimiplot mit allen Verdächtigen, Fährten und Wendungen erzählte. Sie rief sich die Bilder des Films vor Augen. »Also brauchen Sie ausgefallene Strandmode.« Missy ging zu einem Bereich mit Badeanzügen, Kimonos, Strohhüten, Tüchern und feinen Sonnenschirmen aus Papier. Den hatte sie extra für die Touristen und Strandliebhaber eingerichtet. Schließlich war das Meer nur zwei Ecken entfernt. Zugegeben, um zu der einen Ecke zu kommen, musste man schon ein paar Hundert Meter laufen, aber dann war die Strandpromenade mit den Geschäften, Hotels, Palmen und dem malerischen Yachthafen auch schon da.
Ms Kilster stieß einen Juchzer aus. Sie sah Missy an, als ob sie ihr nach einer zwanzigstündigen Geburt ihr Baby hinstrecken würde. »Sie sind meine Rettung! Ich könnte Sie küssen.«
Daraus wurde nichts, denn an jedem Teil hatte sie etwas auszusetzen. Der Bikini war zu freizügig, der Badeanzug mit Knopfleiste zu bieder, der Playsuit mit Gürtel zu verspielt. Erst als Missy ihr einen bohèmehaften Seidenkaftan zeigte, zuckte ein Lächeln über ihre Lippen.
»Nicht schlecht«, sagte Ms Kilster. Sie hielt den Kaftan an ihren Körper und betrachtete sich im Spiegel.
»Er ist aus einem Kleiderfundus von einem Filmset in London. Dort wurde er sicher von der einen oder anderen berühmten Schauspielerin getragen.« Missy beschlich ein schlechtes Gewissen. Sie hatte zwar herausgefunden, dass der Kaftan von einem Filmset stammte, eine Markierung hatte darauf hingewiesen, aber sie hatte nie ermitteln können, ob dieses Filmset in London oder an einem anderen Ort gewesen war, geschweige denn, ob es eine berühmte Schauspielerin getragen hatte oder eine Komparsin. Das billige Parfüm, das an dem feinen Stoff haftete, ließ allerdings auf Letzteres schließen. Egal, ein Notfall konnte auch eine Notlüge verkraften. Hauptsache, Ms Kilster verließ den Laden so schnell wie möglich.
»Perfekt. Dürfte ich bitte ein Glas Wasser haben? Mein Mund ist ganz ausgetrocknet.«
»Tut mir leid, es ist schon fünfzehn Minuten nach Ladenschluss«, sagte Missy und bereute ihren Einwurf im nächsten Augenblick, denn sie erntete wieder diesen irren Blick, bei dem jedes Widerwort zwecklos war.
»Sie wollen mich doch nicht verdursten lassen!«
»Nehmen Sie den Kaftan?«, fragte sie, als sie Ms Kilster ein Glas reichte.
»Vielleicht.« Sie deutete auf ein gestreiftes Oberteil. »Was ist damit?«
Missy zog den luftige, langärmelige Blouson heraus und zückte ein passendes Tuch aus dem Regal. Sie hielt es vor ihren eigenen Körper, um zu zeigen, dass es einer Frau, die ein paar Konfektionsnummern größer trug, nicht passen konnte.
In dem Augenblick nippte Ms Kilster an ihrem Wasserglas und verschluckte sich. »Es ist perfekt!«, rief sie, wobei sie nach jedem Wort hustete.
»Es könnte allerdings einen Tick zu klein für Sie sein.« Missy drückte sich vorsichtig aus, um nicht sagen zu müssen, dass Ms Kilster niemals, auch nicht mit Luftanhalten und Korsett, in das Oberteil passen würde.
Ms Kilster lachte. »Nein, Sie Dummerchen. Es ist doch nicht für mich. Darin sehe ich ja aus wie ein Elefant im Tutu. Es ist natürlich für Sie.«
»Für mich?«
»Ja, es ist genau das richtige Kostüm für Madame Redfern. Schlicht, aber elegant.« Sie griff nach einem Papierschirm und drückte ihn Missy in die Hand. »Halten Sie den mal.« Sie klatschte in die Hände und rief: »Grandios, grandios, grandios!«
Missy verstand nicht, was gerade geschah. »Sie meinen, ich soll in dem Theaterstück mitspielen?«
»Natürlich! Sie sind die perfekte Besetzung. Groß, abgemagert, lange braune Haare. Gut, Ihren Schönheitsfleck müssen wir überschminken, sonst denken alle an Marilyn Monroe, und das passt gar nicht.«
»Aber … ich kann doch gar nicht schauspielern.«
»Papperlapapp! Das kriegen Sie schon hin. Sie müssen bei der Rolle nur immer ganz unschuldig tun und wehleidig wirken. Und nervös.«
Missys Bauch zog sich zusammen, und ihr Oberkörper versteifte sich. Sie hatte vor langer Zeit einen schweren Vorhang vor das Thema Theater gehangen, und dieser sollte auch zubleiben.
»Genau so! Sie sind die geborene Schauspielerin.«
»Aber ich muss zum Kochkurs!«, protestierte Missy.
»Wer will schon kochen, wenn er Kunst machen kann? Also, schließen Sie den Laden schon ab. Ich fahre Sie hin. Und beeilen Sie sich.« Ms Kilster drückte ihr das Geld für beide Teile in die Hand und wartete an der Ladentür. Einen Fuß wippte sie nervös auf und ab, so dass der Absatz klackerte.
Missy ahnte, dass Gegenwehr zwecklos war, also nahm sie ihre Tasche und folgte ihr. Sie würde Ms Kilster schon beweisen, wie ungeeignet sie war – und endlich die leckeren Häppchen essen.
Missy bestand darauf, mit ihrem eigenen Auto zu fahren. Wenn Ms Kilster am Steuer genauso temperamentvoll und rücksichtslos war, dann saß sie lieber nicht auf dem Beifahrersitz. Außerdem wollte sie nur kurz bei der Probe vorbeischauen, allen beweisen, dass sie eine Fehlbesetzung wäre, und schleunigst zu ihrem Kochkurs verschwinden.
Sie stieg in ihren gelben Käfer und trat bis zum Anschlag aufs Gaspedal. Verfolgungsjagdtauglich war ihr Auto allerdings nicht. Es ruckelte, als ob es auf einer Schotterstraße im Gebirge fuhr, dabei hatte es noch nicht einmal die örtliche Höchstgeschwindigkeit erreicht. Wie eine Rennfahrerin raste Ms Kilster durch die Straßen von Torquay und schaffte es, dem Feierabendverkehr mit Drängeln und Schneiden von Autos zu entgehen, wobei sie fast einen Fußgänger überrollte. Mehrmals bremste sie scharf, hupte und gab Missy ein Zeichen, schneller zu fahren.
Was dachte sie sich eigentlich? Spazierte kurz vor Feierabend in den Laden hinein und benahm sich wie eine Diva, die sich alles erlauben kann. Missy hätte ihr die Tür vor der Nase zuknallen sollen und nicht anders herum! Vielleicht sollte sie einfach die Kurve kratzen, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sie jetzt umkehrte, bekam sie vielleicht noch ein paar Oliven ab.
Doch etwas hielt Missy davon ab, das Lenkrad herumzureißen. Eine Erinnerung. Sie sah sich selbst als Kind auf dem Rücksitz, in einem roten Samtkleid, schwarzen Lackschühchen und mit einem weißen Band im Haar – Sachen, die ihr Vater ihr für diesen Abend gekauft hatte. Es war die Premiere eines Stückes, für das ihre Mutter seit Monaten geübt hatte. Ihre schöne Mutter, die immer nach ihren Lieblingsblumen, Magnolien, roch, ihr abends das Haar kämmte und ihr dabei englische Kinderlieder vorsang. Missy kam die Melodie ihres Lieblingsliedes wieder in den Sinn, »Lavender’s Blue«, und sie begann es zu singen. »Ahhh!«
Ms Kilsters Auto hielt plötzlich an. Es quietschte. Missy trat auf das Bremspedal. Die rote Heckklappe näherte sich, als wäre sie ein Knutschmund, der auf Missys Käfer abfuhr und ihn gleich küssen würde. Bevor sie sich berührten, stand der Käfer still. Ms Kilster sprang aus dem Auto und öffnete ein Tor, durch das sie hindurchfuhr. Vor einem Gebäude stellte sie ihr Auto ab und rannte zum Eingang, in dem der einzige Lichtschein von der flackernden Glühbirne kam. Wie eine Fluglotsin zeigte sie den Weg, als ob Missy nicht selbst sehen könnte, dass es dort hineinging. »Kommen Sie, Miss Redfern, ich meine, Miss Missy!«
Missy stellte ihren Käfer auf den leeren Parkplatz und rannte zum Eingang. Je schneller sie drin war, desto schneller würde sie auch wieder herauskommen und wenigstens die Hauptspeise mitkochen können. Sie trat in eine schmucklose Eingangshalle, in der es wie in einem feuchten Keller roch. »Was ist das für ein Gebäude?« Wie ein Theater wirkte es jedenfalls nicht. Von einer Strandkulisse fehlte auch jede Spur.
»Die Turnhalle der Benton Primary School. Luke, der Mr Redfern spielt, ist hier Sportlehrer und hat uns die Halle als Probeort zur Verfügung gestellt. Und auch als Aufführungsstätte. Eigentlich wollten wir in einem Tanzsaal aufführen, aber das wurde uns gestrichen.« Ms Kilster schnaubte und ging in schnellem Schritt voraus, die Treppe hinauf zur Umkleidekabine, die nach kaltem Schweiß und Staub roch.
Missy wünschte sich sehnlichst ein Atemgerät oder eine Taucherglocke. Leider gehörten diese Utensilien noch nicht zur Standardausrüstung für ihre Handtasche. Noch nie hatte sie sich so schnell umgezogen. Auf dem Weg nach unten knotete sie ihr Tuch zu einem Turban. Sie ging noch einmal nach draußen, um frische Luft zu schnappen.
Nach fünf Minuten sah sie Ms Kilster durch das Fenster in ihrem Kaftan die Treppe nach unten laufen. Sie hatte sich in eine wohlhabende Frau verwandelt, die den ganzen Tag nichts weiter zu tun hatte, als Hochglanzmagazine am Strand durchzublättern, sich bunte Getränke mit Strohhalmen und Schirmchen bringen zu lassen und von gut aussehenden jungen Männern massiert zu werden.
Sie gingen einen langen, schwach erleuchteten Flur hinunter. Wie auf Kommando drehte sich Ms Kilster zur Seite, öffnete eine Tür und schritt hindurch. Missy folgte ihr, und sie befanden sich in einem winzigen Raum, der nicht größer war als eine Abstellkammer. Auf einer Kleiderstange hingen einzelne Kostüme, ein Prinzessinnenkleid, bei dem der Schleier abgerissen war, sowie ein Pfirsichkostüm und ein billiges Polizistenkostüm.
Missy kamen Erinnerungen von früher hoch. Als Kind hatte sie sich oft im Kleiderfundus des Theaters aufgehalten, in dem ihre Mutter arbeitete. Nach der Schule ging sie öfter zu ihren Proben und spielte mit den extravaganten und teils verrückten Kostümen oder versteckte sich in den Stofftruhen und zwischen den Gardinen. Ihr wurde dort nie langweilig, denn sie überlegte sich Geschichten für die Kostüme. Anfangs handelte es sich meist um Märchen von Rittern, Prinzen und Prinzessinnen, später kamen auch ihre Freunde und Partys vor. Als sie älter war, hatte sie sich Partys und Liebesgeschichten ausgedacht, in denen sie die Heldin gespielt hatte. Ob der Pfirsich sich wohl in einen Polizisten verwandeln würde? Missys Herz schlug schneller. Sie musste hier raus.
»Das hier ist der Kleiderfundus, den Sue und die anderen ausgeraubt haben wie Seeräuber. Sie haben nur Jahrmarktsfummel übrig gelassen!« Ms Kilster schloss die Tür wieder und stampfte zur nächsten. Dahinter befand sich die Turnhalle, die mit Scheinwerfern hell ausgeleuchtet war. In der Mitte des Parketts, dort, wo für das Basketball-Spielfeld ein Kreis aufgezeichnet war, standen fünf Menschen. Jeder hatte ein Strandoutfit an. Missy musste bei dem Anblick, der sich ihr bot, das Lachen unterdrücken. Lauter Trockenschwimmer! Ein älterer, rundlicher Mann trug einen blau-weiß gestreiften Männerbadeanzug wie früher, das musste Detektiv Poirot sein. Die Frau mit dem weißen Badeanzug und dem auffälligen grünen Hut, der nach oben hin spitz zulief, war sicher Arlena Marshall, die Diva. In dem Kreis standen zudem zwei junge Männer in Badehose sowie eine Schülerin in einem bunten Badeanzug und einem Umhang.
»So eine Frechheit«, sagte diese gerade.
»Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte der Poirot-Verschnitt.
Ms Kilster stampfte auf sie zu, wobei der Boden bei jedem Schritt knarrte. »Unser Stück ist gerettet!«, verkündete sie. »Ich habe eine neue Schauspielerin für euch an Land gezogen, ein noch unbekanntes Gesicht.«
Missys Schritt verlangsamte sich augenblicklich. Hatte Ms Kilster etwa sie gemeint? Unerhört! Sie war weder eine Schauspielerin noch ein Fisch, den man aus dem Wasser zog. Alle starrten sie an, als wäre sie tatsächlich eine Meerjungfrau.
»Hi«, sagte Missy zögerlich und hob den Arm zu einem schlappen Gruß. »Ich denke, da gibt es ein kleines Missverständnis.«
Der rundliche Herr kam auf sie zu. »Sie sind Madame Redfern, es ist eindeutig. Dieser Blick – phantastisch! Meine Güte, was für eine Erleichterung.«
Missy schüttelte den Kopf. »Ihr versteht das falsch. Ich bin gar keine Schauspielerin. Ich bin nur hier, weil –«
»Sie ist ein bisschen schüchtern vor Fremden.« Ms Kilster schaute Missy mit einem aufmunternden Blick an. »Aber keine Sorge, das legt sich schnell. Wir sind hier unter Freunden.«
Missy fürchtete, dass sie aus dieser Nummer nicht so schnell wieder herauskommen würde. Wenn sie Glück hatte, bekam sie vielleicht noch die Nachspeise vom Kochkurs ab.
»Du hast den Blick von Madame Redfern perfekt drauf«, sagte die Frau im weißen Badeanzug. »Wir würden uns so freuen, wenn du mitmachen könntest. Ich bin Amanda.« Sie lächelte und reichte Missy ihre Hand, die trotz der Kühle in der Halle warm war.
Ein Geruch von Rosen und Limette zog zu ihr, und sie spürte sofort eine Verbindung zu Amanda. »Freut mich, ich bin Missy. Eigentlich fühle ich mich auf der Bühne nicht besonders wohl. Und ich habe wirklich kein Talent zum Schauspielern. Glaubt mir.«
Jetzt trat einer der beiden Männer hervor, der nur eine Badehose trug. Auf seinem durchtrainierten Körper hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Er fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare, die mit Haargel so wild geformt waren, als käme er tatsächlich gerade aus dem Wasser gestiegen. »Hallo, ich bin Luke, dein Mann.« Er lachte. »Ich spiele Mr Redfern.«
Ihr Mann? Missy schluckte. Gar nicht so übel. Sie dachte an Harry, der am nächsten Morgen wieder neue Kleiderkisten bringen würde und mit dem sie einen Flirt am Laufen hatte. Das hoffte Missy zumindest, aber bisher war noch nichts weiter geschehen. Kein Treffen, kein Kuss. Nichts als vielsagende Blicke. Tja, wenn Harry nicht auf ihre offensichtlichen Avancen einging, musste er sich nicht wundern, wenn sie sich einen Ehemann suchte.
»Freut mich, Mr Redfern. Da war wohl eine Heiratsvermittlerin am Werk.« Sie gab Luke die Hand.
»Wenn jeder zwei Rollen übernehmen würde, dann bräuchten wir nicht unbedingt weitere Darsteller«, sagte ein Mann, der sich als Paul vorstellte und den Gatten von Amanda spielte. Er schien auch die Regie zu führen. »Amanda, du könntest Arlena Marshall und Ms Castle spielen. Und Missy, du Ms Redfern und Ms Gardener. Eventuell müssen wir noch kleine Anpassungen vornehmen, damit ihr nicht in einer Szene doppelt vorkommt, aber das sollte kein Problem sein.«
Missy zuckte zusammen. Eigentlich war von einer Probe die Rede gewesen und nicht von einer Ein-Frau-Show. Sie war doch kein Zirkusaffe. »Zwei Rollen? Ich habe noch nicht einmal für eine Rolle vorgesprochen.«
Paul lächelte sie an. »Keine Sorge. Wir sind nur eine Laiengruppe und nicht das Royal Shakespeare Theatre. Niemand hier hat Schauspielerei studiert. Ich bin nur ein einfacher Versicherungskaufmann, Amanda ist Tanzlehrerin, Luke ist Sport- und Mathelehrer, Mr Warren arbeitet in einem Supermarkt, und Ms Kilster ist in der Werbebranche tätig.«
»Außerdem bin ich im Organisationsteam des International Agatha Christie Festivals«, sagte Ms Kilster mit erhobenem Kopf. »Und ich werde nicht zulassen, dass Sue und die anderen unser Stück ruinieren. Also, hopp, hopp. Die Proben beginnen.«
Sie fingen mit Aufwärmübungen an. Alle sollten kreuz und quer im Kreis laufen, ohne sich gegenseitig anzustoßen. Danach gab Paul Befehle, die alle während des Gehens umsetzen sollten: Füße abrollen, Schultern lockern, Hüfte kreisen. Missy kam sich vor wie beim Seniorensport.
»Schneller«, rief Paul, als ob er Missys Gedanken lesen könnte. »Freeze!«
Plötzlich blieben alle stehen. Alle bis auf Missy, die Amanda rammte.
»Lauft weiter und stellt euch vor, ihr seid am Strand. Wie bewegt ihr euch?«, hörte Missy Pauls Stimme und versuchte, sich den Sand unter den Füßen vorzustellen und wie ihre Fußballen darin versanken.
»Stellt euch vor, ihr seid ein Privatdetektiv oder eine Detektivin. Wie verhaltet ihr euch?«, fragte Paul.
Missy dachte an den rundlichen Monsieur Poirot. Sie stemmte die Hände in die Hüfte, kniff die Augen zusammen und tat so, als hielte sie am Strand und im Wasser nach jemandem Ausschau. Sie entdeckte Ms Kilster, die über den Boden kroch und den Strand anscheinend mit einer unsichtbaren Lupe absuchte.
»Und jetzt«, sagte Paul, »stellt euch vor, ihr seid eine junge Frau, die mit ihrem gut aussehenden Mann ihren Urlaub verbringt. Ihr seid eifersüchtig, weil er nur Augen für die schöne Diva am Strand hat. Ihr glaubt, dass er euch mit ihr betrügt. Wie fühlt ihr euch?«
Dieser Mistkerl!, dachte Missy. Ihr Gesicht spannte sich an, ihr Kiefer knirschte, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Aber konnte sie ihrem Mann am Strand eine Szene machen? Immerhin hatte sie keinerlei Beweise für ihren Verdacht. Sie huschte mal nach links, mal nach rechts und wurde traurig, weil sie sich vorstellte, wie diese Liebe, die schon so viele Jahre gehalten hatte, von einer männerfressenden Frau zerstört wurde. Seufzend schlenderte sie über den Strand, wobei sie auf das Meer schaute, in der Hoffnung, von ihm eine Antwort zu erhalten. Fast spürte Missy den Wind an ihrer Haut. Sie verschränkte die Arme und rubbelte mit den Händen darüber.
Vor ihr stand plötzlich Mr Warren. Er hielt die Hände hinter dem Rücken, wie es Detektiv Poirot im Film tat. »Ms Redfern. Geht es Ihnen nicht gut?«
Missy blickte schüchtern vom Meer auf. »Nein.« Sie sprach mit zarter, brüchiger Stimme. »Ich frage mich, was mein Mann von dieser Arlena Marshall will. Solche Frauen bekommen immer, was sie wollen. Das ist einfach ungerecht. Ich habe ihn immer unterstützt.« Sie blickte Mr Warren an, hatte das Gefühl, dass sie selbst gerade betrogen wurde. In ihrem Inneren brodelte es. Auf einmal hörte sie Applaus.
»Das war wunderbar«, sagte Paul. »Du hast uns alle berührt, Ms Redfern.«
»Hätte Ms Marshall das gehört, hätte sie Mr Redfern sicher in Ruhe gelassen.« Amanda zwinkerte ihr zu.
Missy spürte Wärme in sich aufsteigen. Ein leichtes Kribbeln durchzog ihren Körper und sammelte sich in ihrem Bauch. Als sie die Augen schloss, tauchten Bilder von sich als Kind auf. Sie stand in ihrem roten Kleid hinter der Bühne und beobachtete ihre Mutter, die sich vor einem vollen, tobenden Saal verbeugte. Immer wieder ging sie von der Bühne weg, nur um kurz darauf erneut vor das Publikum zu treten. Jedes Mal, wenn sie das Scheinwerferlicht verließ und zu ihrer Tochter lief, strahlte sie so, wie Missy es sonst nie bei ihr sah.
»Ich muss jetzt leider los«, sagte sie. »Ich bin schon viel zu spät zum Kochkurs.«
Paul lief auf sie zu. »Bleibe bitte noch ein bisschen. Noch eine Szene! Ich möchte, dass du dir auch von uns ein Bild machst.«
Ms Kilster schaute Missy mit hochgezogenen Augenbrauen an und lächelte. »Miss Missy, Sie waren phänomenal. Nach der Szene sind Sie entlassen. Versprochen.«
»Eine letzte Szene.« Missy seufzte. »Ansonsten schuldet ihr mir ein Drei-Gänge-Menü.«
Mr Warren legte ein Handtuch auf die Bühne und bat Missy, sich darauf zu legen.
Das Handtuch war sicher nicht als Zuschauerliege gedacht. »Ich dachte, ihr wollt mir etwas zeigen?«
Mr Warren tauschte mit Miss Kilster einen Blick aus und sagte dann: »Das ist die Szene, in der Arlena Marshall am Strand gefunden wird, angeblich tot. Am Ende erfährt man, dass Ms Redfern Arlena nur gespielt hat, deshalb wäre es eigentlich dein Part.«
Amanda huschte zum Handtuch und lächelte Missy an. »Das kann ich doch jetzt übernehmen. Schließlich habe ich auch schon den Badeanzug an.« Sie streckte sich mit dem Gesicht zur Seite aus. Dann legte Mr Warren den grünen Hut über ihren Kopf.
Aus Pauls Handy drang Meeresrauschen. »Los geht’s!«, rief er.
Luke hockte vor Ms Kilster auf dem Boden und blickte zu Amanda, die er anfangs nicht erkannte. Ms Kilsters Miene verfinsterte sich, und sie riss die Augen auf, als sie die Femme fatale Ms Marshall identifizierte. Den verächtlichen Gesichtsausdruck konnte sie wirklich gut darstellen.
Luke tat so, als ob er ein Boot mit einem Seil an den Strand zöge, grinste und sprach sie an.
Dieser Schelm! Er kann wohl wirklich nicht die Finger von dieser Arlena lassen. Diese reagierte gar nicht auf seine Avancen, nicht einen Finger rührte sie, nicht einmal die Brust hob sich beim Atmen.
Ms Kilster schüttelte den Kopf, Lukes Augenbrauen zogen sich zusammen, und sein Mund spitzte sich, als wollte er etwas sagen. Doch auch er blieb stumm, sprachlos. Er sprang auf und kniete sich neben Amanda, berührte ihre Hand, ihr Handgelenk, fühlte ihren Puls. Er hob Amandas Hut an und wurde blass. »Sie … wurde erwürgt«, stotterte er. Missys Herz pochte schneller und schien ein Wettrennen mit ihrer Lunge zu machen. Sie sprang auf und spürte, wie ihr schwindelig wurde. Wankend entfernte sie sich von der Szene.
»Was ist los mit Ihnen?«, hörte sie Ms Kilster.
»Es ist nichts«, sagte Missy leise. »Ich habe nur sehr lange nichts gegessen und getrunken.«
Paul ging zu ihr und reichte ihr eine Wasserflasche.
»Danke.« Missy griff die Flasche und rannte zur Tür.
»Aber Ms Redfern!«, »Ms Gardener!«, »Miss Missy!«, »Missy!«, hörte sie Stimmen hinter sich, die leiser wurden und im Flur verklangen.
In ihrem Käfer trank Missy die Flasche in einem Zug aus und schloss die Augen. Ihr Herzschlag und ihr Atem beruhigten sich wieder. Sie rührte sich kein bisschen. Wie fein die Linie zwischen Theater und Realität war. Es war so ähnlich wie … Nein, sie wollte nicht daran denken. Die Vergangenheit war vergangen, und sie würde auch bald diese Probe vergessen oder daraus eine Geschichte für eines ihrer Kleidungsstücke spinnen.
Missys Magen knurrte. Sie startete den Motor. Als sie das Schulgelände verließ, kam ihr die Theaterprobe irreal vor. Doch der Kochkurs war real und dass Harry morgen früh die neue Lieferung bringen würde. Sie hatte auch schon eine Idee, mit welchem Outfit sie ihn diesmal empfangen würde.
Missy spähte durch die Fensterfront des Vintage Mission, vorbei an einer Schaufensterpuppe in einem transparenten Strandpyjama aus den 30er-Jahren, bei dem der baumwollene Badeanzug durchschimmerte. Auf der Dolphin Road schlurften vereinzelte Gestalten zu dem Haus an der Ecke, an dem mit rosa Leuchtbuchstaben Barbara’s Bakery geschrieben stand. Jedes Mal, wenn Missy die Bäckerei und Barbara sah, lächelte sie unverzüglich. Sie liebte die Scones ihrer Freundin und ihr sonniges Gemüt.
In diesem Augenblick schossen ihre Mundwinkel allerdings wegen etwas anderem unkontrolliert in die Höhe: Jeden Moment würde Harry mit der neuen Lieferung um die Ecke gefahren kommen. Sie war sich ganz sicher, dass sie die letzten Male geflirtet hatten. Er strahlte sie an, wenn er die Kisten mit der Vintage-Ware in ihren Laden brachte, und gab ihr Komplimente für ihr Outfit. Er spielte sogar ihr Spiel mit, bei dem sie so taten, als würden sie sich nicht kennen, und er raten musste, als welche Persönlichkeit sie sich verkleidet hatte. Sie dachte an seine braunen Locken, die ihm öfter ins Gesicht fielen, seinen Dreitagebart, der ihm etwas Wildes verlieh, seine blauen Augen, mit denen er sie jedes Mal musterte, wenn er überlegte, wer sie sein könnte. Ob er eine Freundin hatte?
Missy setzte eine große Sonnenbrille auf und strich ihr Haarband glatt. Sie tätschelte sich den Bauch, der immer noch gewölbt war von den vier Portionen Mousse au Chocolat, die sie am Abend zuvor hinuntergeschlungen hatte, weil die Hauptspeise beim Kochkurs schon aufgegessen war, als sie endlich dort erschien. Sie durfte gar nicht an die Schalen von Erdnüssen denken, die sie hinterher in der Bar in sich hineingestopft hatte.
Abwechselnd schaute Missy auf die Uhr über der Ladentür und zur Dolphin Road. Noch immer keine Spur von Harry. Dann würde sie eben beginnen, den Laden vorzubereiten. Mit Schwung öffnete sie die Tür, so dass die Glocken läuteten. Zuerst war da dieser Duft – wie gesalzenes Sushi. Erst danach bemerkte sie die kühle Brise, die der Morgen mit sich brachte. Möwen kreischten ihren Weckruf über Dächer und Bäume. Vor die Tür stellte sie Palmen, Farne und andere tropische Pflanzen, die in dem milden Klima prächtig gediehen. Am liebsten mochte sie die Forellenbegonie, die mit ihren silbernen Punkten aussah, als hätte sie ein Designer in den 50er-Jahren entworfen. Alle paar Sekunden schaute sie zu der Ecke von Barbara’s Bakery. Doch als der grüne VW-Bus nach dem Gießen immer noch nicht auftauchte, ging sie hi-nein, um sich dort um die Pflanzen zu kümmern, die auf den Regalen, Kommoden und dem Boden standen. Manchmal fragte sie sich, ob die Pflanzen die Kleidung dekorierten oder ob es nicht doch andersherum war.
Gerade als Missy eine Dattelpalme goss, schob sich eine grüne Wand vor die Fensterfront. Ihr Herz schlug automatisch schneller, nicht nur wegen Harry, sondern auch wegen der außergewöhnlichen Kleidungsstücke, die immer ihren Geschmack trafen. Welche Geschichten würde sie ihnen heute entlocken? Eine Komödie? Ein verworrenes Drama? Oder gar einen Thriller? Vielleicht würden Harry und sie heute auch eine eigene Geschichte schreiben – den Beginn einer Romanze.
Missy tänzelte zur Tür und öffnete sie mit gespielter Eleganz. Einen Augenblick lang dachte sie an die Theaterprobe am Abend zuvor, bei der sie zu Ms Redfern geworden war. Doch jetzt war sie jemand viel Berühmteres. »Juchhu, Mr Sailor!« Sie winkte Harry mit einer leichten Handbewegung zu.
Dieser hob seine Schiebermütze kurz an, wobei ihm die Locken vor die Augen fielen und Missys Herz kurz aussetzte. »Guten Morgen, Miss Missy.« Er lächelte, stieg aus und verschwand in der Ladefläche. Drei große Pappkartons flogen auf den Bürgersteig, die er nacheinander in den Laden trug.
Missy machte vor ihm einen Knicks. »Treten Sie ein, mein Herr!«
Sie bemerkte tiefe Augenringe in seinem Gesicht. Seine Bartstoppeln wirkten diesmal eher wie ein Siebentagebart.
»Danke, meine Dame. Wer sind Sie denn heute?« Er musterte Missy, wobei sie weiche Knie bekam.
»Ist es nicht eindeutig?«, fragte sie und strich mit der Hand über ihren weißen Tüllrock, über dem sie ein schwarzes Shirt trug. Sie richtete kurz ihr Haarband und berührte die Perlenohrringe.
»Marilyn Monroe?«
»Was? Dieses schamlose Ding! Erkennen Sie mich nicht? Ich bin Grace Kelly, höchstpersönlich.« Missy reichte ihm die Hand hin.
»Es ist mir eine Ehre.« Harry lächelte, doch seine Augen hatten den Glanz verloren, mit dem er ihr Spiel immer mitspielte. Er wirkte abwesend.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
Er hielt kurz inne. »Es ist –«, begann er, dann schüttelte er den Kopf, so dass ihm seine Locken ins Gesicht wedelten. »Ach, es ist nichts.«
Missy wartete darauf, dass er wie sonst auch immer ihre Hand nahm und diese zum Abschied küsste, woraufhin sie sich mit einem Knicks verabschiedete. Diesmal reichte er ihr nur den Lieferschein zum Unterschreiben und winkte ihr mit einer schlaffen Handbewegung zu. An der Tür tippte er sich gegen die Schiebermütze. »Auf Wiedersehen, Mrs Grace Kelly«, sagte er, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die Glocken, die beim Hinausgehen läuteten, waren Missy vorher fröhlicher vorgekommen. Sie schaute zu, wie Harry davonbrauste, und stieß einen Seufzer aus. Wieder kein Date! Konnte es sein, dass die Luft zwischen ihnen aus war? Es war ein netter Flirt, aber wenn keiner sich traute, einen Schritt auf den anderen zuzugehen, dann würde er schnell verpuffen. Wer weiß, vielleicht hatte Harry in der Zwischenzeit eine andere Frau kennengelernt, eine, die sich nicht hinter ihren Kostümen versteckte und ihn geradeheraus zu einem Essen eingeladen hatte. Konnte es sein, dass sich die anbahnende Liebesgeschichte zwischen ihnen zu einem Drama voller Missverständnisse entwickelt hatte? Missy schüttelte den Kopf. Jetzt würde sie nur eines ablenken.
Ihr Blick schweifte zu den Kisten, die Harry gebracht hatte. Sofort spürte sie ein Kribbeln in den Fingern. Endlich war der große Moment da: Sie durfte die Schatztruhen öffnen und die Geschichten aus den Kleidungsstücken herausschnuppern. Welche Duftnoten hatten sich dieses Mal in den Fasern verankert und waren hinter Staub und Waschmitteln verborgen? Ein Gewürz, ein Parfum oder wieder ein Tiergeruch?
Vorsichtig öffnete Missy die oberste Kiste. Sofort stieg ihr ein Geruch entgegen, der nicht schwer zu deuten war: Zigaretten, igitt! Ganz oben auf dem Stapel lag eine blonde Perücke und darunter ein zerknittertes schwarzes Seidenkleid mit transparenten Schulterpartien. Elegant. Vielleicht aus den 20er-Jahren? Sie schaute auf das Etikett am Kragen. H&M. Wohl eher die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts. Die frühere Besitzerin hatte Stil, aber wenig Geld, vermutete Missy.
Sie hielt sich das Kleid an die Nase und fächelte sich den Geruch zu, zog das Teil sogleich wieder vom Gesicht. Der Gestank war zu intensiv. Sie musste weiter schnüffeln, noch tiefer bohren. Missy rümpfte die Nase und grub sie in den Stoff. Eine Duftnote wehte zu ihr: Gin. In dem Moment erkannte sie, wo das Kleid getragen worden war: auf einer 20er-Jahre-Party, ganz sicher. Sie entdeckte einen Schlitz im Kleid, eine dezente Tasche, die sich leicht wölbte. Was kam jetzt noch? Ein Päckchen Kokain vielleicht? Als sie hineingriff, spürte sie etwas, das lang, rund und glatt war. Ein Joint? Nein, der wäre weicher. Sie zog ein schwarzes Plastikrohr heraus, das an der einen Seite flach zulief. Es war eine Zigarettenspitze.
Missy wischte sie mit einem feuchten Tuch ab. Die Zigarettenspitze ließ sich ausfahren und wurde immer länger, fast dreißig Zentimeter lang. Das dickere Ende hielt sie elegant zwischen Zeige- und Mittelfinger und legte es an ihren Lippen an. Der Geruch von Salz und Algen drang zu ihr. Sie beobachtete ihre Wirkung im Spiegel. Wie eine Dame von Welt fühlte sie sich. Ob Grace Kelly geraucht hatte?
Sie fuhr die Zigarettenspitze wieder ein und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte sich gegen die Wand und stellte sich vor, sie sei eine Spionin, die in einer dunklen Ecke jemandem auflauerte. Wenn sie ihre Zielperson entdeckte, würde sie die Zigarette vor sich auf den Boden werfen und das glühende Ende mit der Schuhsohle zertreten.
Mit spitzen Lippen zog sie an der Öffnung. Im nächsten Augenblick stach sie etwas im Hals. Es war ein völlig überraschender Schmerz, als hätte sie jemand unerwartet mit dem Messer in den Rücken gestochen. Doch dieser Schmerz kam von innen. Sie würgte und schluckte reflexartig. Es schmeckte nach Blut. Etwas steckte in ihrem Hals fest. Sie bekam keine Luft, und das Etwas bohrte sich tiefer in ihren Rachen. Jetzt nicht mehr schlucken!
Sie steckte den Finger in den Hals, röchelte, spürte etwas Langes, Dünnes. Es hatte sich in ihrem Hals verankert wie eine Fischgräte. Sie griff in ihre Mundhöhle und zog es heraus. Zwischen den Fingern hielt sie einen silbernen Stab, der an einem Ende spitz zulief wie eine Nadel. Sie war zwar keine Expertin im Rauchen, im Gegenteil, sie musste jedes Mal husten, wenn sie an einer Zigarette zog. Aber eines wusste sie: Beim Rauchen wurde man nicht von einem Stab in den Hals gestochen. Es sei denn, es war mittlerweile eine Art Sadomaso-Rauchen erfunden worden. Noch etwas wusste sie: Mit dieser Spitze konnte man sich nicht nur das eigene Gaumenzäpfchen durchbohren, sondern auch die Pulsader eines anderen – wenn man die Nadel durch die Zigarettenspitze schoss wie durch ein Blasrohr.
Missy kam die Lieferung äußerst verdächtig vor.
1. Das Kleid war aus der heutigen Zeit. Sonst brachte Harry immer originale Kleidungsstücke des letzten Jahrhunderts. Keine billigen Imitate von modernen Modeketten.
2. Das Kleid war ungewaschen und zerknittert. Jemand hatte es schnell loswerden wollen und keine Zeit mehr gehabt, es mit Lavendel-Weichspüler zu waschen.
3. Die Nadel. Als Missy sie aus ihrem Mund gezogen hatte, zeigte die Spitze nach vorn zum Mundausgang. Sie hatte Glück gehabt, dass sie sich nicht ernsthaft verletzt hatte, jemand anderes vielleicht nicht.
In ihrem Kopf entstanden Geschichten von Mord, teuflischen Verstrickungen und anderen Verbrechen. Sie schüttelte den Kopf, wobei ihr Hals von den Stichen schmerzte.
Nein, diese Nadel konnte gefährlich sein, aber bewies gar nichts. Wahrscheinlich war sie nur durch einen dummen Zufall in die Zigarettenspitze geraten oder jemand erlaubte sich einen Scherz, beruhigte sie sich. Oder war da doch mehr dran?
In dem Moment klopfte jemand an der Scheibe. Ein Mann stand davor und tippte sich mit dem Finger an den Unterarm. Dort befand sich zwar keine Armbanduhr, aber Missy verstand die Geste als Relikt aus einer anderen Zeit, in der es noch keine Handys gegeben hatte. Sie blickte auf die Wanduhr. Das Vintage Mission sollte schon seit fünf Minuten offen sein.
Schnell verstaute sie das Kleid und die Zigarettenspitze unter dem Tresen und öffnete die Tür. Während der Mann sich umschaute, packte sie die Kisten weiter aus. Darin entdeckte sie noch ein rotes Glitzerkleid aus den 70ern, das an ABBA erinnerte. Sie hielt es sich vor dem Spiegel an und sagte: »Tut mir leid, Grace, aber Sie haben Ihren Dienst hier erfüllt. Ich habe spontanen Besuch aus Schweden bekommen. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Heimreise nach Monaco.«
Den ganzen Tag über hatte Missy im Vintage Mission mit Auspacken, Beschriften, Geschichten-Erfinden und Beraten zu tun. Jedes Mal, wenn sie abkassierte, fielen ihr das Kleid und die Zigarettenspitze ein, die unter dem Tresen verstaut lagen. Am Abend war sie mit Zoe verabredet. Ihr zuckte es in den Fingern, die verdächtige Lieferung mitzunehmen, aber sie wollte Zoe auch nicht aufwühlen. Diese hatte vor, in Ruhe das Abendrot zu fotografieren, das heute aufgrund der Wolken besonders vielversprechend war.