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„Achtung, Mordwaffe!! Mit Stiel nach unten öffnen!“
Missy hält den Zettel, der in ihrem Vintage-Geschäft an einem alten Regenschirm angebracht ist, zunächst für einen Scherz – bis eine Klinge mit Blut aus dem Griff fährt. Schnell wird bekannt, dass das Model Dandya Daisy damit bei einem Fotoshooting attackiert wurde und nun in Lebensgefahr schwebt. Missy will herausfinden, warum der Schirm in ihrem Laden gelandet ist und folgt zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Zoe einer Spur, die sie direkt zum Britischen Geheimdienst führt. Ist Betty, die den Schirm ans Fotoset gebracht hat, wirklich die Mörderin, wie die Polizei behauptet? Kurzerhand versteckt Missy die Hauptverdächtige und schleust sich in das Shooting-Team ein, um mehr zu erfahren. Dabei verärgert sie nicht nur DCI Corning, sondern erfährt auch mehr über den Tod ihrer Mutter …
Der zweite Fall von „Missy Marple“, die in der Heimat von Agatha Christie mit Charme, Schirm und britischem Humor ermittelt.
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Seitenzahl: 361
„Achtung, Mordwaffe!! Mit Stiel nach unten öffnen!“
Missy hält den Zettel, der in ihrem Vintage-Geschäft an einem alten Regenschirm angebracht ist, zunächst für einen Scherz – bis eine Klinge mit Blut aus dem Griff fährt. Schnell wird bekannt, dass das Model Dandya Daisy damit bei einem Fotoshooting attackiert wurde und nun in Lebensgefahr schwebt. Missy will herausfinden, warum der Schirm in ihrem Laden gelandet ist und folgt zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Zoe einer Spur, die sie direkt zum Britischen Geheimdienst führt. Ist Betty, die den Schirm ans Fotoset gebracht hat, wirklich die Mörderin, wie die Polizei behauptet? Kurzerhand versteckt Missy die Hauptverdächtige und schleust sich in das Shooting-Team ein, um mehr zu erfahren. Dabei verärgert sie nicht nur DCI Corning, sondern erfährt auch mehr über den Tod ihrer Mutter …
Der zweite Fall von „Missy Marple“, die in der Heimat von Agatha Christie mit Charme, Schirm und britischem Humor ermittelt.
Holly Birtwell ist das Pseudonym von Antje Wenzel, die 1984 in Berlin geboren wurde. Nach einem Bibliotheksstudium in Potsdam arbeitete sie als Texterin und schrieb Geschichten für Kinder. Längere Zeit lebte sie in Hawaii, wo sie surfen lernte und an einer alten Schreibmaschine tippte. Seit den Britpop-Zeiten hat sie ein Faible für England und mag den britischen Humor in Büchern und Serien. Ihr Kinderbuch „RockeTim – Mein Hund legt los und ich zieh‘ Leine“ (Oetinger, 2017) spielt in Cornwall. Im Rahmen einer Autorenausbildung im Schreibhain Berlin entstand der Stoff für ihre Cozy Crime-Reihe, die an der Englischen Riviera, der Heimat von Agatha Christie, spielt. Seitdem verlässt sie während des Schreibens für kurze Ausflüge ihr Leben als Bibliothekarin und Mutter in Berlin, um sich in die Gegend zu träumen
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Holly Birtwell
Missy und der fadenscheinige Schirm
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Impressum
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Missy fühlte sich von dem trostlosen Vernehmungszimmer und der Erwartung dessen, was kommen mochte, vollkommen eingehüllt, fast verschluckt. Erst als Detective Chief Inspector Corning zurückkam, wurde sie langsam wieder ausgespuckt – starr, ängstlich und neugierig zugleich. Erstaunt sah sie zu, wie er einen quietschenden Wagen in den Raum schob, auf dem ein Fernseher stand.
»Ich zeige Ihnen gleich Aufnahmen einer Überwachungskamera.« Mit den Worten nahm er eine Fernbedienung in die Hand und bediente damit einen Videorekorder.
Auf der Bildfläche erschien ein krisseliges, dunkles Schwarz-weiß-Bild von Säulen und Zapfstellen. Eine leere Tankstelle. »Was …« Missy stockte. Am oberen Bildrand entzifferte sie kleine, unscharfe weiße Zahlen: 07.10.2002.
Das Todesdatum ihrer Mutter.
Missys Atem beschleunigte sich, als ein Auto vor einer Zapfsäule anhielt. Die Fahrertür öffnete sich. Heraus kam ein Mann, den sie trotz der schlechten Qualität der Aufnahmen anhand seiner langen, staksigen Beine und anmutigen Bewegungen sofort erkannte. Missy zuckte zusammen. Sie wusste, dass er an dem Tag in Torquay gewesen war, hatte bisher aber nur eine vage Vorstellung davon gehabt.
Er stieg aus dem Auto und lief Richtung Zapfsäule. Noch bevor er dort ankam, öffnete sich die Beifahrertür, und eine zweite Person trat heraus, mit langen, voluminösen und leicht zerzausten dunklen Haaren, die Missy ebenfalls sofort wiedererkannte, weil sie ihre ganze Kindheit lang an ihnen gelehnt, an ihnen gerochen und mit ihnen gespielt hatte. Während ihre Mutter sich kurz zur Seite drehte, fing die Kamera für einen Augenblick ihr Gesicht ein. Obwohl es nur schemenhaft auf dem Bildschirm zu sehen war, wurde die Angst darin deutlich. Im nächsten Moment rannte sie los, gefolgt von Missys Vater. Er holte sie ein, wollte sie festhalten und warf sie dabei zu Boden.
»Mama!«, sagte Missy schluchzend. Am liebsten hätte sie weggeschaut, aber sie war in einer Art Schockstarre gefangen und konnte nichts weiter tun als zuzusehen, wie ihre Mutter die Hände aufstützte und langsam aufstand, ihren Vater ignorierend, der ihr seinen Arm reichte. Mit verzerrtem Gesicht sah ihre Mutter ihn an, schien ihm etwas zuzurufen, bevor sie ihn schubste und aus der Bildfläche rannte. Ihr Vater setzte dazu an, ihr zu folgen, aber kam zum Stehen, als an der Tankstellentür ein Mann auftauchte und ihm etwas zurief. Unschlüssig drehte er sich zu ihm um, dann zu seiner Frau und wieder zurück, bevor er zum Auto ging, es volltankte und bezahlte.
Corning schaltete das Videoband aus und reichte Missy ein Taschentuch.
Einige Sekunden lang starrte sie weiter auf den schwarzen Bildschirm, bevor sie schnaubte und die Tränen von ihrem Gesicht wischte. »Woher haben Sie die Aufnahmen?«
»Nach dem Tod Ihrer Mutter haben wir anfangs Untersuchungen eingeleitet und dabei die Aufnahmen entdeckt«, erzählte Corning. »Wir hatten Ihren Vater verdächtigt, sie die Klippen hinuntergestoßen zu haben, aber keine Beweise dafür gefunden.«
Missy wusste, dass sich ihre Eltern kurz vor der Abreise ihrer Mutter aus Deutschland gestritten hatten und ihr Vater ihr nach Torquay gefolgt war, um darüber zu reden. Und dass ihre Mutter bei den Klippen in der Nähe von Babbacombe ausgerutscht und gefallen war, als er ihr nachrannte. So weit hatte ihr Vater seine Teilschuld zugegeben. Noch immer wusste Missy nicht, worum es in dem Streit ging, und hatte auch nicht geahnt, dass er so heftig gewesen war. Diese Aufnahmen rückten seine Geschichte in ein anderes Licht, oder besser: Sie rief die Schatten hervor. War der Tod vielleicht doch kein Unfall gewesen? Wie gut kannte man seine Eltern, und wie gut konnte man ihnen vertrauen?
Missy betrachtete das silberfarbene Kleid mit den Glitzerpailletten, die in der müden Herbstsonne leicht aufblitzten. Wie sie wohl im Scheinwerferlicht funkeln würden! Der Stoff war fein gewebt und sehr edel, das sah sie sofort. Auf jeden Fall war das Kleid nicht retro.
»Es wurde sicher schon bei der Met-Gala getragen, den Oscars oder –« Sie roch daran und nahm, tief unter den Pailletten verborgen, den Geruch von Zypressen wahr. »Cannes!« Dieses Kleid brauchte definitiv den großen Auftritt und hatte ihn sicher schon öfter erlebt. Wer weiß, vielleicht hatte Greta Garbo oder Sophia Loren es getragen oder sogar Brigitte Bardot?
Harry lachte. »Ach ja? Und wie, meinst du, ist es von New York, Los Angeles oder Cannes ausgerechnet in einem Car Boot Sale in Cornwall gelandet, wo es im Kofferraum eines Toyota lag?« Er drehte das selbst geschriebene Preisschild um. »Und für sieben Pfund verkauft wird?«
»Die Wege von Kleidungsstücken sind manchmal unergründlich, aber zum Glück hast du ja mich.« Missy betrachtete das Kleid genauer und fuhr mit den Fingern über den Stoff. Fast makellose Seide. Entweder war es tatsächlich nur bei einem Auftritt getragen worden und hatte danach jahrzehntelang im Kleiderschrank gehangen, oder jemand hatte es wirklich gut behandelt beziehungsweise von Angestellten behandeln lassen. Auf jeden Fall war es mindestens das Zwanzigfache wert. »Stars heben nicht alle Kleider auf, die sie besitzen, sonst wären ihre Villen irgendwann bis zur Decke vollgestopft. Sicher verkaufen sie ihre Kleidung weiter und geben sie einem Charity-Shop oder einem Sammler. Vielleicht werfen sie sie auch einfach in die Altkleidersammlung.«
»Ich möchte gerne einmal Brigitte Bardot bei einer Altkleidertonne treffen«, sagte Harry und grinste.
Missy freute sich darüber, ihn so ausgelassen zu sehen. Die letzten Wochen waren hart für Harry gewesen. Nach dem tragischen Mord an Amanda hatte er sich in seine Arbeit gestürzt und war unentwegt mit seinem VW-Bus unterwegs gewesen, um Klamotten von Großhändlern zu kleinen Vintage-Geschäften zu fahren. Seitdem war Missys kleiner Lagerraum voll von Herbst- und Wintermode aus dem letzten Jahrhundert. Capes, Dufflecoats und Kamelhaarmäntel stapelten sich darin schon bis zur Decke, so dass sich die Regalböden unter der Last verbogen. Mehr konnte sie Harry wirklich nicht abnehmen. Wenn es nicht ein sehr kalter Winter wurde oder die Menschen an der Englischen Riviera plötzlich in einen Vintage-Rausch verfielen, würde sie auf einem Großteil der Teile sitzenbleiben. Zum Glück war Secondhandkleidung keinen Fast-Fashion-Trends unterworfen, die so schnell wieder out waren, dass die Sachen nach einer Saison weggeworfen oder als Schnäppchen verramscht wurden. Somit konnte sie die übrig gebliebenen Sachen auch im nächsten Jahr wieder herausholen.
Um sich von seiner Trauer abzulenken, hatte Harry sogar eine Arbeit in einem Hotel angenommen, wo er zweimal die Woche Bingoabende vor einem Publikum moderierte, das das Mindestalter von achtzehn Jahren schon mehr als viermal überschritten hatte. Missy glaubte, dass er es allein in der Wohnung nicht aushielt, wo ihn alles an Amanda erinnerte. Seine Vermieterin hatte ihm zwar gekündigt, ihm aber nach dem Mord an Amanda noch eine Gnadenfrist von sechs Monaten gegeben. Bis dahin musste er bereit sein, sich mit Amandas Sachen auseinanderzusetzen, und entscheiden, was er damit tat und wohin er zog.
Als er Missy vor zwei Tagen fragte, ob sie einen Car Boot Sale in Cornwall besuchen wolle, hatte sie sofort zugesagt. Auch sie war nach dem Gespräch mit Corning so verstört gewesen, dass sie in ein tiefes Loch gefallen war, in das nur durch ihre Arbeit ein paar Lichtstrahlen hereinfielen. Doch sie hatte gelernt, damit umzugehen und ihre Trauer im Stillen auszuleben.
Die andere Gegend und ein wenig Freizeit würden sicherlich frischen Wind in Harrys und ihren Alltag bringen. Für Missy war diese Art Pop-up-Flohmarkt, auf dem die Leute aus ihren Autos heraus ihre gebrauchten Sachen anboten, etwas Neues, auch wenn sie in England wohl gang und gäbe waren. Überall standen Autos mit geöffneten Kofferräumen, aus denen Kleider, Schmuck, Geschirr und anderes Gebrauchtes verkauft wurden. Die meisten hatten zusätzlich Kleiderständer und Tische dabei, einige sogar Schaufensterpuppen! Wie hatten sie es nur geschafft, diese ganzen Dinge in ihre Autos und Busse zu packen? Missy kam sich vor wie bei einer riesigen Zaubershow, bei der die Magier immer mehr Gegenstände und Tiere aus ihren Hüten herauszogen. Es war faszinierend, fast hypnotisierend.
Sie hatte gehofft, die eine oder andere Besonderheit dort zu finden. Beim Schlendern über die mittlere Parkplatzreihe hatte sie zwischen den gewöhnlichen Alltagsgegenständen und modernen Kleidungsstücken zwar auch ein paar alte Sachen entdeckt, wie Postkarten, Bücher, Schallplatten oder Kleidung, aber sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch einen Schatz zu bergen, über dessen Wert sich die Besitzer gar nicht bewusst waren. Es war nicht so leicht, das Vintage-Herz abzustellen, wenn es einmal sein Blut durch die Adern des Körpers pumpte. Gerade als sie über die letzte Reihe schlenderten, entdeckte sie das Kleid von Greta Garbo oder welchem Star auch immer, und es pochte automatisch schneller. Selbst wenn es nicht ein Filmsternchen in eine Altkleidertonne geworfen hatte, war es eine schöne Geschichte für das Vintage Mission, in dem Missy Kleidungsstücke mit Geschichte verkaufte – auch wenn sie sich die Vergangenheit mithilfe ihres ausgeprägten Geruchssinns, ihres geschulten Blicks für die Besonderheiten der verschiedenen Jahrzehnte und einer Prise Phantasie selbst ausdachte.
»Ich nehme es!« Sie strahlte die Verkäuferin an und drehte sich zu Harry. »Es gibt sicher einige Frauen in Devon, die es zu schätzen wissen, ein Kleid von einer Berühmtheit aus der Altkleidertonne zu kaufen.«
Harry lachte. »An der Geschichte solltest du noch etwas arbeiten, damit dir jemand das Kleid abkauft.«
Missy hakte sich bei ihm unter, und sie spürte ihr Herz wieder ein wenig hüpfen. Doch sie wusste, dass sie es ignorieren musste. Harry war noch lange nicht so weit, eine neue Beziehung einzugehen, geschweige denn von Amanda Abschied zu nehmen. Sie genoss es, einfach nur an seiner Seite zu sein.
Gemeinsam schlenderten sie weiter von Auto zu Auto. Wie eine Schatzjägerin ging Missy von Kleiderstange zu Kleiderstange, durchwühlte Kisten, Kofferräume und Sitzbänke, dachte sich Geschichten zu den einzelnen Stücken aus und verhandelte die Preise, wobei sie sich richtig lebendig fühlte. Dann musste ihr kleines Lager eben noch ein wenig mehr aushalten, den Spaß ließ sie sich nicht nehmen – außer von ihrem Portemonnaie, dessen Inhalt trotz der vielen Schnäppchen langsam versiegte.
An einem Land Rover in der vorletzten Reihe blieb sie stehen und fuhr mit den Fingern durch eine Schatulle, in der sich Schmuck befand, der auf den ersten Blick antik aussah. »Billiger Modeschmuck«, flüsterte sie Harry zu und drehte sich zum Gehen um. Dabei überflog sie noch einmal den Kofferraum und erstarrte. Neben einer Puppe lag eine Zigarettenspitze. Sofort kamen die Erinnerungen an Amandas Tod wieder hoch. Wie Missy das schwarze Seidenkleid und die ausziehbare Zigarettenspitze in einer der Kisten von Harry entdeckt und lange geglaubt hatte, dass Amanda damit ermordet worden war. Harry durfte sie auf keinen Fall entdecken.
In dem Moment drehte er sich zu Missy und dem Kofferraum um. »Was ist los?«
Schlagartig wandte sich Missy ab und zeigte auf einen Mini neben ihnen. »Schau mal, ich bin gespannt, was hier verkauft wird. Bestimmt lauter kleine, süße Dinge.«
Doch es war zu spät. Harry hatte die Zigarettenspitze entdeckt. Sein Gesicht wurde blass.
»Komm, gehen wir«, sagte Missy und hakte sich wieder bei ihm ein, aber sie drang nicht zu ihm durch.
Harry starrte weiter die Zigarettenspitze an und begann sogar zu schwanken.
»Lass uns weitergehen«, flüsterte sie, in der Hoffnung, dass das eine Frequenz war, die er wahrnahm, wie Ultraschallwellen bei Fledermäusen.
»Möchten Sie die Zigarettenspitze kaufen?«, fragte eine Frau mit rosa gefärbten Haaren.
Harry zuckte zusammen und schien aus seinen tiefen Gedanken wieder auf der Oberfläche aufzutauchen, als hätte er einen lebensrettenden Stromstoß erhalten.
Er wandte sich von dem Kofferraum weg, und sein Gesicht wirkte schmerzverzerrt, die Augen glasig. »Lass uns zurück nach Torquay fahren.«
Missy nickte und lief hinter ihm zum VW-Bus zurück.
Den ganzen Rückweg über starrte Harry wortlos auf die Straße, als wäre Missy nicht anwesend. Jedes Mal, wenn sie in seine Richtung blickte, um ein Gespräch zu beginnen, überlegte sie es sich anders. Was sollte sie auch schon sagen? Wie schön das Wetter war und was für großartige Sachen sie gefunden hatte? Solche Banalitäten würden sicher an ihm abprallen. Sie wusste, dass es manchmal besser war, nichts zu sagen und die anderen in ihrem Schmerz zu lassen. Wusste, dass dies zum Trauerprozess gehörte. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte es auch etliche Tage gegeben, an denen sie sich einfach nur allein in ihrem Schmerz suhlen wollte und jeden als Eindringling in ihre Trauer sah. Für Harry wäre es sicher auch besser, nicht mit Dauerbeschäftigungen seine Gefühle zu verdrängen, sondern ihnen Raum zu lassen, seinen Wunden Luft zum Heilen zu geben, statt sie mit einem Pflaster zu bedecken.
Auf dem Rückweg betrachtete Missy durch das Fenster die wunderschönen Buchten, die sich an der Küste von Cornwall und Devon entlangzogen, begleitet von Feldern mit Schafen und Kühen, bunten Strandhütten und vereinzelten Strandgängern mit Hunden oder Kindern. Es war Ende Oktober, und der Herbst hatte mit seinen frischen Brisen, leichten Regenschauern und dem abkühlenden Wasser die letzten Sommerurlauber und Sonnenanbeter wieder zurück in ihre Städte befördert – mit den Erinnerungen im Kopf und der Sehnsucht nach dem Meer, kleinen Buchten, kurzen Hosen und Kleidern, unter denen sie ihre Badesachen trugen, nach glitzernden Wellen und Bootstouren.
Missy mochte den Wechsel der Jahreszeiten und freute sich darauf, dass es in Torquay und an der Küste ruhiger zuging als im turbulenten Sommer. Zeit, um den Kopf freizubekommen und über das Geschehene nachzudenken. Sie freute sich auf Strandspaziergänge, bei denen sie keinen Slalom um sonnengebräunte Beine machen musste, auf leere Bänke mit Sicht auf das Meer und den erdigen Geruch von Regentropfen auf dem Asphalt, der beim Verdunsten einen Nebelstreifen hinterließ.
Während der langen Rückfahrt nach Torquay war sie eingenickt. Als sie aufwachte, sah sie Palmen vor der Küste und Hügel im Hintergrund. Im ersten Moment dachte sie an Cannes und die Französische Riviera, wo sie oft mit ihren Eltern im Urlaub gewesen war. Doch beim Blick auf die Palmenblätter an der Promenade, die aus ihrer sommerlichen Starre gerissen waren und unbeholfen im Herbstwind tanzten, erinnerte sie sich, dass sie in Torquay war, an der Englischen Riviera. Als sie mit Harry die Bucht verlassen hatte, herrschte Ebbe. Jetzt war das Meer bis an die Mauern vorgedrungen und so aufgewühlt, wie Harry wohl sein musste. Wellen schlugen geräuschvoll gegen die Mauern und hinterließen Algenhaufen, deren fischig-salziger Duft ihr in die Nase stieg. Missy schloss die Lider. Plötzlich war sie wieder jung und im Bikini an der Côte d’Azur.
Von einem Ruck, der sie nach vorn kippen ließ und den nur ihr Gurt aufhielt, wurde sie aus ihren Gedanken geschleudert. Reifen quietschten, und dann hielt der VW-Bus schlagartig an. Missy riss die Augen auf. Mitten auf der Torbay Road standen Menschen, die sich gar nichts aus dem Stau und dem Hupkonzert machten, das sie verursachten. Die meisten von ihnen waren jung und aufgestylt, was Missy überraschte, da zu der Jahreszeit viel weniger Touristen in der Gegend unterwegs waren, und wenn, dann waren sie in der Regel älter oder trugen praktische Kleidung. Nur zu den Half-Term-Ferien, wenn die Kinder in Großbritannien freihatten, waren noch vereinzelt Familien an der Englischen Riviera, aber die waren erst in einer Woche.
»Sind die verrückt?«, sagte Harry, aus seinem Inneren gerissen, und fügte seine Hupe auch noch zu dem Orchester hinzu, was es nicht unbedingt besser klingen ließ. »Ich hätte die fast umgefahren.«
»Was machen sie dort? Merken die gar nicht, dass sie den ganzen Verkehr aufhalten?« Beim genaueren Hinschauen entdeckte Missy einen Mann, der ein Stativ mit einer Videokamera auf der Promenade aufgebaut hatte. Drehten die etwa einen Film? Seelenruhig spazierte eine groß gewachsene Frau mit langen schwarzen Haaren und einer Sonnenbrille mit rosa Gläsern über die Straße. Sie wirkte wie eine Diva, die in einem hautengen grünen Kleid mit Kragen viel zu dünn angezogen war, sich aber kein Frieren anmerken ließ. Ab und zu schaute die Sonne durch die Wolkendecke hindurch, der Hochsommer war allerdings in weite Ferne gerückt. Oder verwechselte auch sie den Ort mit der Französischen Riviera, wo im Oktober noch über zwanzig Grad herrschten?
Lächelnd posierte sie vor einer Frau, die einen Fotoapparat auf sie richtete. Ihre Haare umwehten ihren schlanken Oberkörper. Um sie herum stand ein etwas älterer Mann und schwenkte eine runde silberne Scheibe, die in der Sonne reflektierte. Das Hupen und die wütenden Zurufe der Menschen in den Autos schüchterten sie nicht ein, im Gegenteil. Sie spornten sie an. Je lauter es wurde, desto ausdrucksstärker und lasziver posierte sie, als wäre sie Marilyn Monroe. Fehlte nur noch, dass der Wind ihren Rock nach oben wehte.
Ihre Reize prallten an Harry völlig ab. Er riss die Tür seines Busses auf und rief: »Was soll das?«
Ein Mann, der aus seinem Wagen ausgestiegen war, ging auf die Gruppe zu und stellte sich mit verschränkten Armen davor. »Gehen Sie von der Straße, sonst hole ich die Polizei!«, knurrte er.
Das Model, das für das Fotoshooting posierte, zwinkerte ihm zu.
Die Fotokamera schwenkte zu dem Mann, der jetzt losbrüllte: »Nehmen Sie das Ding von mir weg.« Er griff nach der Kamera und zog daran.
In dem Augenblick stampfte eine Frau vom Bürgersteig auf den Mann zu und betrat die Szene, die von mehreren Handykameras gefilmt wurde. Missy seufzte. Sie hätte gleich wissen müssen, dass Ms Kilster hinter alldem steckte. Sie nahm ihre Rolle als PR-Frau ein wenig zu ernst, wie Missy nur zu gut wusste. Um das Theaterstück »Das Böse unter der Sonne« zu bewerben, hatte sie Amanda an einem Schießstand im Keller des Rubin Shake posieren lassen, wo die Arme ermordet worden war. Natürlich war es nicht die Schuld von Ms Kilster gewesen, aber trotz aller Trauer, geplatzten Proben, Festnahmen und anderen Widrigkeiten hatte sie die Aufführung des Stückes durchgezogen.
Die Worte »Empathie« und »Rücksichtnahme« hatte sie anscheinend weiterhin aus ihrem persönlichen Lexikon gestrichen. »Was tun Sie da? Sie stören ein wichtiges Fotoshooting!«, dröhnte sie.
Der Mann, der an der Kamera zog, hielt inne und starrte Ms Kilster an, die sich mit Händen an den breiten Hüften vor ihm aufbäumte. »Was ich hier tue? Was machen Sie hier?«, empörte sich der Mann so laut, dass Missy ihn sogar durch das Hupkonzert hindurch verstehen konnte. »Das ist eine Straße und kein Laufsteg.«
Ms Kilster verdrehte die Augen. »Mein Gott, Sie werden Ihr Auto doch einmal für zwei Minuten stehen lassen können. Sie denken nur an sich, Sie Egoist!«
Der Mann schnaufte wie ein Pferd und schüttelte den Kopf. War Schaum um seinen Mund? »Ich bin egoistisch? Sie halten hier den ganzen Verkehr auf! Haben Sie dafür überhaupt eine Genehmigung? Verschwinden Sie hier mit Ihren Modepuppen!«
Missy spürte, wie ein Gewitter aufzog, das nicht vom Himmel kam, sondern direkt von Ms Kilster. Diese Frau gab nie auf und war zu fast allem fähig, das hatte Missy am eigenen Leibe erfahren und auch an dem ihres Käfers, dessen Reifen sie einfach zerstochen hatte. Der Mann und Ms Kilster waren wie negativ und positiv aufgeladene Luftmassen. Wenn nicht bald jemand einschritt, würden auf der Torbay Road Blitze einschlagen.
Missy öffnete die Beifahrertür, stieg aus dem VW-Bus und setzte ein Lächeln auf. »Ms Kilster, wie schön, Sie zu sehen!«
Sie drehte sich zu ihr, und für einen kurzen Moment schienen Sonnenstrahlen durch die grauen, aufgeladenen Wolken in ihrem Gesicht. »Miss Missy, was für eine Überraschung!«
»Was ist hier los? Organisieren Sie ein Fotoshooting?« Missy ignorierte die Menschen um sie herum, die so etwas wie »Verschwindet« riefen und noch ein paar Ausdrücke, die nicht ganz jugendfrei waren.
»Touché! Ich möchte die schönsten Seiten der Englischen Riviera aufnehmen und allen zeigen, wie herrlich es hier auch im Herbst sein kann. Die meisten Touristen verziehen sich ja, sobald der Sommer vorbei ist, und dann werden hier nur noch Rentnertruppen angekarrt.« Sie verdrehte die Augen. »Die Gegend könnte dringend eine Verjüngungskur gebrauchen.«
»O ja, das stimmt!« Im Herbst und Winter wurde das Vintage Mission wesentlich weniger besucht. Nur ein paar Stammkunden trotzten dem trüben Wetter und kamen aus Cornwall oder Devon zu ihr, und eben Rentnerinnen, um ein stilechtes Outfit für die Hotellobby oder den Bingoabend zu kaufen. »Aber meinen Sie nicht, dass so ein Stau und die Zurufe nicht eher zu schlechter Publicity führen könnten?«, fragte sie Ms Kilster.
»Sie haben ja keine Ahnung. Das ist richtig gute PR. Stellen Sie sich nur vor, die Videos von den Smartphones werden in ganz Großbritannien geteilt, vielleicht sogar auf dem Kontinent. Die Menschen werden erstaunt sein, wie wild es hier zugeht«, sagte Ms Kilster strahlend, als wäre sie tatsächlich überzeugt von dieser Strategie. »Zusätzlich noch die PR-Fotos mit jungen Menschen! Sie werden sehen, nächstes Jahr kommen die Londoner Hopster, oder wie die heißen, in Strömen.«
»Sie meinen Hipster?« Missy konnte sich das Lachen kaum verkneifen.
»Sagte ich doch.« Ms Kilster winkte ab, bevor sie sich wieder dem Mann zuwandte, der die ganze Zeit neben ihnen gestanden hatte. »Wir sind gleich fertig. Nur noch ein Minütchen.« Blitzschnell drehte sie sich zum Model. »Das machst du ganz wunderbar, Schätzchen! Nur noch einmal cool über die Straße laufen wie auf einem Laufsteg. Oder wie die Beatles auf der Abbey Road.«
Mit dem Unterschied, dass die auf einem Zebrastreifen liefen, wo die Autos sowieso anhalten müssen, und nicht mitten über die Straße, dachte Missy.
Nachdem die Fotografin noch ein paar Fotos geknipst hatte, rief Ms Kilster: »Wir haben jetzt alles! Abmarsch.« Das Model winkte noch einmal den Autos und Fußgängern zu und spazierte dann zum Bürgersteig, hinter ihr die Fotografin und Ms Kilster.
Missy sprang in den VW-Bus und drehte sich zu Harry, der die Szene mit finsterer Miene beobachtet hatte. Als die Straße freigeräumt war, fuhr er ohne ein Wort weiter. Missy konnte sich gar nicht vorstellen, was in seinem Kopf vor sich ging, geschweige denn in seinem Herzen. Gab er Ms Kilster etwa eine Teilschuld an Amandas Mord, weil sie wegen ihrer Marketing-Schnapsidee vor dem tödlichen Schießstand gewesen war? Gerne würde Missy ihn aus seiner Dunkelheit herausholen oder zumindest Lichtstrahlen hineinwerfen, auch wenn es nur ein Kerzenlicht war. »Möchtest du vielleicht noch ein wenig zum Strand gehen?«
Harry drehte sich kurz zur Seite, wobei Missy das Gefühl hatte, dass tatsächlich ein kleiner Funke in Harrys Augen zu sehen war, bevor sie wieder auf die Straße starrten. »Ich würde gerne allein sein«, sagte er fast tonlos. »Ein anderes Mal vielleicht.«
»Verstehe. Ich komme auf dein Angebot zurück.« Missy sah, wie sich sein Mundwinkel leicht anhob, nur einen Millimeter, aber das reichte ihr, um zu wissen, dass Harrys Funke noch nicht ganz erloschen war. Es war das Kerzenlicht in seiner Dunkelheit, das für einen Augenblick brannte.
Harry setzte Missy vor dem Vintage Mission ab und half ihr, die Einkäufe in den Laden zu tragen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo sie sie unterbringen würde.
Zoe stand hinter der Theke und tippte etwas in einen Laptop. Wie immer trug sie schwarze Leggings und ein lockeres schwarzes Shirt, als würde sie in einem Sportgeschäft für Gothic-Fans arbeiten und nicht in einem farbenfrohen Vintage-Laden. Vielleicht sollte Missy ihr einmal etwas von Coco Chanel und dem »Kleinen Schwarzen« erzählen.
»Was sind das für Sachen?«, fragte Zoe, ohne sie vorher zu begrüßen.
»Schön, dich zu sehen!«, sagte Missy mit extrabreitem Grinsen. Ein Gefühl beschlich sie, und es war kein gutes. »Ach, das sind nur ein paar Schnäppchen, die Harry und ich auf dem Car Boot Sale gemacht haben«, versuchte Missy ihre Einkäufe herunterzuspielen.
»Ich hoffe, dass sie für deinen Kleiderschrank sind und nicht für den Laden.« Zoe schaute die Sachen prüfend an.
»Eigentlich …«, begann Missy. Sie schluckte, als sie Zoes hochgezogene Augenbrauen sah. Beinahe kam sie sich vor wie bei Corning im Verhörzimmer. Warum verteidigte sie sich eigentlich vor ihrer Angestellten? Na gut, Zoe war für die Buchhaltung und das Geschäftliche zuständig und im Laufe des letzten Jahres auch eine Freundin geworden, dennoch war es immer noch ihr Laden. Während Missy diese Gedanken ausformulierte, meldete sich wieder dieses ungute Gefühl, von dem sie nun wusste, was es war: ihr Gewissen, das sie während ihres Shoppingrausches unterdrückt hatte. Erneut setzte sie ihr Grinsen auf. »Eigentlich ist es für das Vintage Mission. Sind es nicht großartige Sachen?« Missy öffnete eine Tüte, aus der eine Handtasche mit Muschelverschluss und Perlmuttplättchen herausschaute, von denen schon einige locker waren. »Schau mal, hier muss man nur –« Weiter kam sie nicht.
»Missy!« Zoe schüttelte den Kopf. »Wo sollen wir das ganze Zeug denn unterbringen? Unser Lager platzt schon aus allen Nähten.«
Mit »Lager« meinte sie die kleine Abstellkammer neben der Toilette, die von oben bis unten mit Kisten und losen Kleidungsstücken vollgestellt war. Jedes Mal, wenn Missy die Tür öffnete, fiel ihr ein Rock, eine Bluse oder ein anderes Teil entgegen. Normalerweise würde sie sich freuen, wenn die alten Sachen ihr etwas erzählen wollten, doch sie redeten in einem Durcheinander aus den verschiedensten Jahrzehnten und in unterschiedlichen Sprachen, so dass selbst Missy überfordert war.
»Wir können doch …« Sie überlegte, aber für das Problem hatte sie keine wirkliche Lösung. Im Verkaufsraum war kein Platz für die Neuzugänge, und sie wollte die Kleiderstangen auch nicht so vollstopfen, dass es aussah wie in einer Rumpelkammer.
Zoe verdrehte erst die Augen und schaute Missy danach eindringlich an, als wollte sie sie hypnotisieren. Dann stellte sie die Frage, vor der sich Missy am meisten fürchtete: »Woher hast du eigentlich das Geld für die ganzen Klamotten?«
Noch hatte sie sie nicht so sehr hypnotisiert, dass sie ihr alles erzählte. Missy versuchte, woanders hinzuschauen, aber ihr Blick kam immer auf Zoe zurück, als wäre sie ein Magnet.
»Wir schreiben zwar noch keine roten Zahlen, aber haben in den letzten Wochen nicht solche großen Gewinne gemacht, dass wir uns ein ganzes Lager an Winterklamotten leisten können.« Zoe zog einen rot-blauen Skianzug aus den 70er Jahren unter dem Tisch hervor, der aus einer Jacke mit weiten Ärmeln und einer Schlaghose bestand und den Missy ziemlich stilsicher fand. »Ich frage mich auch, wer solche Sachen hier an der Küste von Südengland kaufen soll. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir hier einmal Minusgrade hatten.« Zoe bohrte ihren Blick tiefer in Missy hinein.
»Es gibt sicher Menschen aus der Gegend, die ihren Urlaub in den Bergen verbringen«, verteidigte sie sich, wohlwissend, dass Zoe recht hatte. Einen Skianzug am Meer zu verkaufen, war wie Bikinis auf dem Mount Everest anzubieten.
»Das wird garantiert ein Ladenhüter. Woher ist das Geld? Hast du eine Bank überfallen?«, hakte Zoe nach.
»Nicht ganz.« Missy wusste, dass ihr Blick keiner Lüge standhalten würde. »Das Geld habe ich mir legal bei der Bank besorgt.«
»Du hast einen Kredit aufgenommen?« Als Missy schwieg, schüttelte Zoe den Kopf und fuhr fort: »Wahrscheinlich hast du noch das Vintage Mission als Sicherheit angegeben.«
Schweiß drang aus Missys Poren, als würde sie beim Ringen in den Schwitzkasten genommen. Zoe sollte über eine Karriere bei der Polizei nachdenken oder als Geldeintreiberin. Die richtigen Abschreckungsmethoden, wie die Arme hinter dem Rücken zu verdrehen, konnte sie bereits. »Das waren nur ein paar Tausend, nicht mehr.«
Zoe schnaubte. »Und wer soll das Geld zurückzahlen? Du bist kein Teenager mehr. Dein Vater zahlt sicher nicht mehr deine ganzen Shoppingexzesse.«
Bei den Worten spürte Missy einen Schmerz in der Brust. Ihren Vater zu erwähnen, war ungerecht, schließlich wusste Zoe von Missys Vergangenheit als reicher Spross eines Parfümeurs mit einem Imperium. Und sie wusste auch, was zu dem Bruch mit ihm geführt hatte, wusste von dem mysteriösen Tod ihrer Mutter und Missys Versuchen, herauszufinden, was ihr Vater damit zu tun hatte. Im letzten Jahr hatte sie problemlos ohne sein Geld leben können, aber als sie sah, wie Harry sich nach Amandas Ermordung in die Arbeit stürzte, konnte sie ihm einfach keine Lieferkisten abschlagen. Welche Dummheiten man doch beging, wenn man verliebt war! Dafür war man anscheinend nie zu alt. Zoes Vorwürfe hatte sie verdient, auch wenn sie für ihr zartes Alter schon etwas zu altklug klang.
Auf einmal lächelte Zoe unverhofft. »Ich habe eine Lösung für dein Problem.«
Wo kam denn dieser plötzliche Stimmungswechsel her? Hatte sie doch Mitleid mit Harry und konnte Missy sogar verstehen? »Das ist wunderbar!« Vielleicht hatte sie Ideen, wie sie die Verkaufsfläche effektiver einrichten konnten, oder sie hatte eine kostenlose Lagerhalle aufgetrieben. Das nannte sie mal Engagement.
»Wir werden die Sachen im Internet verkaufen!« Zoe drehte den Laptop zu Missy und zeigte auf eine Website, auf der in der oberen Leiste »Vintage Mission« stand. Darunter waren Fotos von Schaufensterpuppen zu sehen, die Mäntel, Capes und Kleider trugen.
Missy erkannte die Sachen sofort. Sie waren aus dem Lager. »Was ist das?«
»Unsere Website. Zusätzlich werde ich noch einen Social-Media-Account erstellen, damit noch mehr Leute die Sachen entdecken können. Was sagst du?« Zoe grinste sie an.
Missy war so schockiert, dass sie gar nichts mehr sagen konnte. Ein paar Mal hatte Zoe ihr von dieser Idee erzählt, aber sie hatte diese immer abwenden können. Nicht ohne Grund besaß sie weder ein Handy noch eine E-Mail-Adresse, geschweige denn ein Konto in einem der sozialen Netzwerke. Unter keinen Umständen hatte sie von ihrem Vater gefunden werden wollen. Bis vor ein paar Monaten. Irgendwie war er ihr auf die Schliche gekommen, und ihre ganzen Abschottungsversuche waren umsonst gewesen. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, ihre Mode im Internet zu verkaufen. Sie liebte den direkten Kontakt zu den Kunden und Kundinnen, die netten Gespräche und die Reaktionen, wenn sie ihnen die Geschichten erzählte, die sich hinter den Kleidungsstücken verbargen. Wie sollte sie denn im Internet sehen, ob das Kleidungsstück gut zu den potenziellen Käufern passte, welche Art von Geschichten sie mochten? Nein, das konnte Missy sich einfach nicht vorstellen. Außerdem hatten sie im Vintage Mission noch nicht einmal WLAN.
Aber Missy wusste auch, dass Zoe einen Nerv traf. Es war unmöglich, die ganzen Klamotten in diesem Winter zu verkaufen. Und die Zinsen, die sie für den Kredit bezahlen musste, waren auch nicht ohne. Vielleicht war der Verkauf im Internet ihr einziger Ausweg, zumindest hatte sie keine bessere Idee dafür, wie sie die Schulden zurückzahlen konnte. Auf keinen Fall würde sie ihren Vater kontaktieren. Sie ärgerte sich, dass sie sich in diese Misere gebracht hatte. »Na gut.«
»Natürlich können wir auch deine Geschichten dazuschreiben«, sagte Zoe.
Langsam fand Missy Gefallen an der Idee.
»Es wäre natürlich am besten, wenn wir ein echtes Model hätten, um die Mode zu präsentieren, statt nur steife Schaufensterpuppen zu verwenden«, warf Zoe ein. »Solche Fotos sind lebendig und vermitteln eine Atmosphäre. Sie sprechen die potenziellen Kunden emotional besser an.«
»Gute Idee.« Missy erinnerte sich daran, wie sie als Kind und Teenager gerne Modekataloge durchgeblättert hatte und sich von den Bildern am Strand, in den Bergen oder anderen malerischen Landschaften hatte gedanklich mitnehmen lassen.
»Ich habe auch schon das richtige Model dafür.« Zoe grinste schon wieder so auffällig, dass Missy sich davor fürchtete, was nun kommen möge.
»Phantastisch. Und wen?« Was würde Zoe jetzt noch aus dem Hut ziehen, ihr im Laptop zeigen oder unter dem Schreibtisch hervorholen? Missy beschlich langsam das Gefühl, dass sie diese ganze Nummer geplant hatte, als hätte sie geahnt, dass sie wieder neue Klamotten anschleppen würde.
»Dich!«
»Was … wie meinst du das?«, fragte Missy verwirrt.
»Ein richtiges Model können wir uns nicht leisten, also bleiben nur noch du und ich übrig. Und da ich hinter der Kamera stehe …« Zoe zuckte mit den Schultern und presste dabei die Lippen zusammen, als täte es ihr leid, dass sie die Rolle als Model nicht übernehmen konnte. Dabei gab es doch Selbstauslöser!
Missy hatte es gewusst! Es war ein abgekartetes Spiel, bei dem sie nur verlieren konnte. »Aber … ich …«, stammelte sie.
»Du bist perfekt für diesen Job, schließlich schlüpfst du gerne in andere Rollen. Du bist wie ein Chamäleon«, beharrte Zoe.
Es stimmte, dass Missy sich gerne mithilfe der Kleidungsstücke verwandelte und berühmte Schauspielerinnen oder Sängerinnen aus den früheren Zeiten nachahmte, allerdings war es etwas komplett anderes, damit vor einer Kamera zu stehen. Sie dachte an das Model auf der Straße, das freimütig und aufmerksamkeitsstark posiert hatte. Das würde sie sich nie trauen. »Ich bin überhaupt nicht fotogen, wirklich! Auf Bildern gucke ich meist komisch, oder meine Augen sind zu.« Gut, das war eine Lüge, aber in dem Fall nur aus der Not geboren und somit legitim.
»Keine Sorge, du hast ja mich«, sagte Zoe, die aufzublühen schien. »Bei mir kannst du dich frei machen. Und falls du nicht wie ein Model posieren möchtest, fotografiere ich dich einfach im Laden bei deinen normalen Bewegungen. Das sieht auch viel natürlicher aus. Die passenden Vintage-Dekoelemente haben wir ja hier.« Sie schwenkte ihren Arm über das rote Wählscheibentelefon auf der Theke, hinüber zum alten Schallplattenspieler, auf dem eine Platte von Pink Floyd lag, weiter zu alten Fotos und Plakaten von Torquay aus den 30er bis 70er Jahren, den Lampen mit Satinschirm und Kordeln.
»Fotografierst du nicht eher Landschaften?« Missy konnte sich auch nicht vorstellen, dass es spannend wäre, sie beim Aufhängen von Kleidungsstücken, beim Abkassieren oder Auspacken von Kisten zu fotografieren. In einem Punkt lag Zoe richtig: Der Laden bot die perfekte Kulisse für ein Vintage-Fotoshooting. Vielleicht sollte Missy ihr Geschäft vermieten, um ihre Schulden zu begleichen, oder gleich Ms Kilster fragen, ob sie ihren Secondhandladen nicht auch in ihre Werbekampagne aufnehmen wollte, immerhin war ihr Geschäft nicht erst seit Amandas Ermordung über die Grenzen von Devon bekannt.
»Ich habe auch einen Kurs in Modefotografie belegt«, riss Zoe sie aus ihren Gedanken. »Außerdem habe ich für dich bereits Verdächtige fotografiert, schon vergessen?«
Missy wurde von Zoes Argumenten regelrecht zu Boden gedrückt. Das Hauptargument steckte nicht in ihren Worten, sondern in ihrer ausgelassenen Art, die so untypisch für sie war. Zwar blühte sie hinter der Kamera regelmäßig auf und wurde aus ihrer Ernsthaftigkeit gerissen, aber fröhlich hatte Missy sie noch nie erlebt. »Na gut«, sagte sie kapitulierend. Wenn sie Zoe damit glücklich machte, dann sollte ihre Freundin sie fotografieren. Zudem benötigten sie die Einnahmen von der verkauften Kleidung dringend. »Wir können es ja einmal probieren.«
»Ich habe auch schon Sachen herausgesucht.« Zoe holte eine Kiste von der Theke hervor und sah Missy strahlend an.
»Aber …« Das ging jetzt ein wenig zu weit. Missy bekam den Verdacht, dass alles geplant war. Würde Zoe gleich noch eine Kamera zücken und sie auf sie richten? Oder käme bei Knopfdruck ein Scheinwerfer angefahren, der sie anstrahlte?
Zoe musste ihren schockierten Gesichtsausdruck gesehen haben, denn sie ergänzte schnell: »Du kannst dir auch gerne im Lager die Sachen aussuchen, mit denen du dich am wohlsten fühlst. Das ist das Wichtigste.«
»Sei mir nicht böse, aber mein Tag war anstrengend«, entgegnete Missy.
»Ist irgendetwas mit Harry?«
Missy überlegte, ob sie ihr von ihm erzählen sollte. Nein, seine Gefühle waren zu privat, um sie als Geschichte zu verbreiten. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist alles gut.«
»Wir können morgen Vormittag mit den Fotos beginnen, dann haben wir sowieso wenig Kundschaft.«
Wie auf ein Stichwort klingelte die Ladentür, und ein Paar betrat das Geschäft.
»Willkommen im Laden der Geschichten«, begrüßte Missy die beiden und vergaß in der Sekunde alles um sich herum.
Am nächsten Morgen wurde Missy in ihrer Wohnung von einem Sonnenaufgang geweckt, der sein Licht im ganzen Schlafzimmer ausbreitete und den altrosafarbenen Wänden einen Anflug von Gold verlieh. Durch das Fenster sah Missy kleine, fluffige Wolken durch den Himmel ziehen, der in verschiedenen Rosa-, Lila- und Goldtönen erstrahlte. Missy spürte eine Art von Magie, die sich in ihrem Herzen einnistete und Hoffnung verbreitete. Das wird ein guter Tag, sagte sie sich. In dem Moment dachte sie an die Fotosession, die ihr mit Zoe bevorstand und der sie mit gemischten Gefühlen entgegensah. Auch sie würde gutgehen, redete sie sich ein. Zoe würde schon wissen, was sie tat, und wenn alles schiefging, konnten sie immer noch die Schaufensterpuppen als Models verwenden. Mit diesen tröstenden Gedanken schlug sie die Decke zur Seite und stand auf.
Bevor sie die Arbeit begann, lief sie wie jeden Morgen zu Barbara’s Bakery, um einen Latte macchiato zu trinken und den neuesten Klatsch zu erfahren, den Barbara ihr kostenlos dazu lieferte. Sie streckte stets ihre Fühler aus, um Neuigkeiten aus der Gegend zu erfahren, verwickelte auch jeden ihrer Kunden in Smalltalk, der schnell tiefer ging, als es ihnen lieb war. So wusste sie oft schon früher als die Betroffenen selbst, wenn eine Scheidung anstand, jemand schwanger war oder auszog. Einmal hatte sie sogar einen Unfall verhindert, da sie aus den Erzählungen herausgehört hatte, dass der Bremsschlauch des Autos kaputt war. Barbara war so etwas wie Missys persönliche Nachrichtensprecherin, was praktisch war, da sie keinen Fernseher besaß und nur selten Radio hörte. Natürlich waren der Stau auf der Torbay Road und die Fotoaufnahmen das Gesprächsthema Nummer eins in der Stadt. In dem Fall waren die Neuigkeiten für Missy kalter Kaffee und sie ihrer Klatschreporterin um einiges voraus.
»Wie kann man so was nur machen? Da hätte sonst was passieren können!«, echauffierte sich Barbara.
Missy ließ sie weiterreden und dachte wieder an Harry, von dem sie nichts mehr gehört hatte, seitdem er sie vor dem Vintage Mission abgesetzt hatte.