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Zu gern würde Emma mit Schulschwarm Erik in der berühmten Achterbahn "CloudKiss" knutschen. Leider ist sie Luft für ihn. Zum Trost hat sie sich in ihrer Fantasie einen festen Freund zugelegt: Colin ist zwar ebenso unsichtbar wie sie für Erik, dafür sieht er aber mindestens ebenso gut aus und ist natürlich immer für sie da. Ein Traumtyp im wahrsten Sinne des Wortes. Peinlicherweise funkt Colin Emma gern auch mal im realen Leben dazwischen und bringt sie damit in Erklärungsnöte, sodass ihre Schlagfertigkeit gehörig auf die Probe gestellt wird. Doch dann erwacht Eriks Interesse an ihr – und Emma hat plötzlich einen eifersüchtigen Dreamboy am Hals. Bzw. im Kopf. Als schließlich auch noch ein geheimnisvoller Fremder auftaucht, der Traumtyp Colin aufs Haar gleicht, hat Emma endgültig das Gefühl, in einer Dauer-Achterbahnschleife zu leben …
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Seitenzahl: 305
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Brigitte KanitzMister DreamEin Traumtyp zu viel
Für Alice und Virginia.Ich wünsche euch traumhafte Küsse mit dencoolsten Typen dieser Welt!
ISBN 978-3-649-66923-4
eISBN 978-3-649-67073-5
© 2016 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Brigitte Kanitz
Covergestaltung: Elsa Klever, Anna Schwarz
www.coppenrath.de
Das Buch (Hardcover) erscheint unter der ISBN 978-3-649-66923-4
Eine Treppenstufe knackte. Es klang wie ein Pistolenschuss.
Panik ergriff mich und ich drückte mich fest an die Wand.
Als ob das etwas genutzt hätte!
So lang, wie ich war, konnte ich mich sowieso nicht unsichtbar machen. Da half mir auch meine natürliche, geisterhafte Blässe nichts.
Angestrengt hielt ich den Atem an und lauschte. Hatte ich jemanden aufgeschreckt? Zum Beispiel den Typen, den ich überraschen wollte? Na ja, überfallen wäre auch ein passender Ausdruck für das, was ich vorhatte.
Doch alles blieb ruhig. Vorsichtig richtete ich mich wieder auf und atmete ein paar Mal tief durch.
Dann stieg ich weiter die schmale, steile Holztreppe zum Dachboden unseres Hostels »Cloud« hinauf. Bis vor wenigen Tagen war ich ewig nicht mehr hier oben gewesen – zuletzt wahrscheinlich, als ich mit meiner Freundin Lilli als Kind Verstecken gespielt hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, ob noch mehr Stufen knarrten. In der einen Hand trug ich zwei frische Handtücher, mit der anderen hielt ich mich an der Wand fest. Ein Treppengeländer gab es nicht. Früher oder später würde sich hier jemand den Hals brechen. Entweder unser neuer Untermieter Tom – oder ich, während ich ihm nachspionierte.
Oder Colin, natürlich. Aber dem würde das nichts ausmachen.
»Darling, du bist ein böses Mädchen«, sagte er in meinem Kopf. »Natürlich würde ich mir furchtbar weh tun! Ich hab schließlich Gefühle wie du!«
Ich blieb stehen, damit ich beim Augenverdrehen nicht tatsächlich selbst die Treppe hinunterfiel.
»Quatsch«, antwortete ich. »Du bist nicht aus Fleisch und Blut, du spürst nichts!«
Colin schwieg und sah mich aus seinen meergrünen Augen vorwurfsvoll an. Mein langjähriger, wenn auch unsichtbarer Freund hatte in letzter Zeit ein Eigenleben entwickelt, das mir zunehmend auf den Keks ging. Dauernd mischte er sich in Angelegenheiten ein, bei denen ich ihn gar nicht herbeifantasiert hatte – besonders in männliche Angelegenheiten, wohlgemerkt.
Dabei war ich so glücklich, dass sich auf diesem Gebiet endlich etwas getan hatte bei mir!
Als ich daran dachte, dass Erik und ich jetzt wirklich und wahrhaftig zusammen waren, wollte ich mich in den Unterarm kneifen, widerstand aber der Versuchung. War sowieso schon voller blauer Flecke. Ich kniff nämlich seit fünf Tagen, weil ich dieses Wunder noch immer nicht fassen konnte.
Eine turbulente Woche lag hinter mir – endlich war mal was los gewesen in meiner Heimatstadt Kiesel, einem eher unbedeutenden Fleck auf der norddeutschen Landkarte. Unbedeutend, abgesehen von der Nähe zum berühmten Himmelspark. An einem einzigen Wochenende war mehr passiert als sonst in einem ganzen Jahr: Erst hatte Erik pünktlich zu meinem siebzehnten Geburtstag angefangen, mich überhaupt wahrzunehmen, nachdem ich schon seit drei Jahren hoffnungslos in ihn verliebt gewesen war. Dann erschien Tom und hatte mich komplett durcheinandergebracht. Und schließlich war ich tatsächlich mit Erik zusammengekommen. Letzten Montag auf der Achterbahn »CloudKiss«.
Fünf Tage war das jetzt her.
Fünf absolut glückliche Tage.
Aber leider nicht fünf sorgenfreie Tage.
Langsam kehrte ich wieder in die Gegenwart zurück und ertappte mich bei einem seligen Lächeln, das mir selbst vor Colin etwas peinlich war.
Zurück zu Tom.
Ich hatte etwas zu erledigen!
Vorher musste ich aber erst einmal Colin loswerden, der mir sonst bei der ganzen Aktion dazwischenfunken würde. Obwohl er vor ziemlich genau drei Jahren meiner eigenen Fantasie entsprungen war (als Ablenkung von meinem schrecklichen Liebeskummer wegen Erik), war das Loswerden nun schwieriger, als man glauben könnte.
»Sorry, so meinte ich das nicht«, murmelte ich also begütigend. »Ich weiß ja, dass du immer für mich da bist.«
»Right!«, sagte Colin mit Nachdruck.
»Könntest du jetzt trotzdem bitte gehen? Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen und es könnte gefährlich werden.«
»Okay.« Colin machte ein erschrockenes Gesicht. »Pass auf dich auf, ja? Wenn du mich brauchst, bin ich da. See you later.« Eilig stieg er die Treppe hinab und verschwand.
Die knackende Stufe machte bei ihm natürlich kein Geräusch. Vielleicht, weil er sich auf halbem Weg in Luft auflöste.
Ich unterdrückte ein Grinsen. Manchmal war Colin Helmsworth nur halb so klug und mutig, wie ich ihn mir ausgedacht hatte. Ob ich Lilli bei Gelegenheit verraten sollte, dass ich einen neuen Trick hatte, um ihn loszuwerden?
Lieber nicht.
Sie machte sich schon genug Sorgen um meine geistige Gesundheit, seit ich ihr meinen eingebildeten Boyfriend gebeichtet hatte. Dabei pflegte Lilli selbst ein ziemlich abgefahrenes Hobby und wurde von diversen Leuten durchaus für exzentrisch gehalten. Aber darin würde ich sie vermutlich längst übertreffen. Spätestens wenn herauskam, dass ich mich im Grunde gerade über mein eigenes Unterbewusstsein lustig gemacht hatte, würde sie mich einweisen lassen.
Ich lauschte. Auf dem Dachboden war nichts zu hören – Tom hatte also noch nicht mitbekommen, dass ich auf dem Weg zu ihm war. Gut so.
Allerdings bekam ich nun doch Zweifel, ob die Alibi-Handtücher wirklich ausreichen würden, um mir einen Zutritt zur Dachkammer zu verschaffen. Ich war in den letzten Tagen schon mehrmals unter einem Vorwand bei ihm aufgetaucht und hatte dabei versucht, ihn auszuhorchen.
Erfolglos.
Sehr schnell war ich jedes Mal von ihm abgewimmelt worden.
Übrigens trieb mich nicht etwa die pure Neugierde zu meinen Spionageaktionen. Ich hatte handfeste Gründe! Tom war aus gleich mehreren Gründen verdächtig: Erstens hatte er sich das Vertrauen meiner Mutter erschlichen und war quasi dauerhaft in unserem winzigen Hostel eingezogen, obwohl er problemlos nebenan im Luxushotel »Star« hätte unterkommen können. Josephine mit PH hatte sämtliche Tricks eingesetzt, die ihr zur Verfügung standen, und ihm sogar eine kostenfreie Unterbringung angeboten – welcher Junge hätte sich das schon entgehen lassen?
Zweitens hatte ich mich furchtbar erschrocken, als Tom Samstagnacht wie aus dem Nichts im Himmelspark aufgetaucht war, und seitdem befand ich mich in einer Art partieller Schockstarre. Denn wie zur Hölle war es möglich, dass dieser Typ, den ich nie zuvor gesehen hatte, meinem ausgedachten Traumboy wie aus dem Gesicht geschnitten war?
Es gab nur zwei Unterschiede zwischen den beiden: Tom war nicht ganz so groß wie Colin – und er besaß zwei süße Grübchen, die Colin abgingen. Aber davon abgesehen hätten sie mit ihren schwarzen Locken und meergrünen Augen locker eineiige Zwillinge sein können.
Drittens hatte Tom seit seinem geheimnisvollen Erscheinen bei uns nicht eine Silbe über seine Herkunft verraten, was mich besonders irritierte, weil er dagegen eine Menge über mich selbst zu wissen schien.
Heute hatte ich mich darüber hinaus auch noch gefragt, warum ein Typ, der neuerdings im Himmelspark arbeitete, seinen ersten freien Tag ausgerechnet auf unserem stickigen Dachboden verbrachte. Es war Mitte Juli und der gesamte Norden Deutschlands wurde von einer afrikanischen Hitzewelle heimgesucht. Da oben mussten mindestens vierzig Grad herrschen.
Wenn nicht fünfzig.
Wie hielt er das bloß aus? Es gab nur ein winziges Oberlicht, durch das bestimmt keine frische Brise hereinwehte, also musste sich die Wärme so richtig schön zwischen den schrägen Wänden stauen.
Meine Mutter hatte gemeint, er sei wahrscheinlich unempfindlich gegen hohe Temperaturen und ich solle den armen Jungen in Ruhe lassen, damit er sich nach den ersten harten Arbeitstagen erholen könne.
Sie hatte aus mir unverständlichen Gründen einen Narren an Tom gefressen und ihn bei uns aufgenommen, ohne mich auch nur nach meiner Meinung zu fragen. Das nagte an mir, neben allem anderen.
Als ich nun den schmalen Treppenabsatz ganz oben erreichte, fühlte ich mich wie eine Bohnenstange in einem Backofen. Hätte mein Gesicht eine andere Farbe als bleich annehmen können, wäre ich jetzt hochrot gewesen.
Ich wischte mir mit den Handtüchern einige Schweißtropfen von der Stirn und hob die Hand, um an die Tür zu klopfen. Diesmal war ich fest entschlossen, nicht zu weichen, bevor ich nicht eine Antwort auf meine Frage bekommen hatte. Oder besser: bevor ich nicht Antworten auf meine vielen, vielen Fragen bekommen hatte!
Aus der Kammer war ein gedämpftes Murmeln zu hören.
Ich ließ die Hand sinken und legte mein Ohr an die Tür. Redete da nicht jemand?
Ja, ganz klar, das war Toms Stimme.
Aber mit wem sprach er?
Hatte er Besuch?
Etwa von Josephine mit PH?
Meine Erzfeindin Josephine von Lerchen stellte Tom nach, seit sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Aber würde sie wirklich in der Hitze der Dachkammer zerlaufendes Make-up und herabhängende Engelslocken riskieren? Eher nicht. Sie legte sehr viel Wert auf ein perfektes Auftreten. Schließlich gehörte ihrer Mutter das »Star« nebenan, und für Josephine war es eine Frage der Ehre, den hohen Status ihrer Familie zu repräsentieren.
Sofern ein Miststück wie sie überhaupt wusste, was Ehre war, dachte ich grimmig.
»Das kannst du nicht von mir verlangen!«, sagte Tom in diesem Moment etwas lauter als zuvor.
Huch?
Sollte Josephine dermaßen zudringlich geworden sein? Ich machte große Augen.
Andererseits, wenn ich es recht bedachte, konnte Tom gar keinen Besuch haben. Ich hatte seit dem frühen Morgen auf der Lauer gelegen – niemand wäre unbemerkt an mir vorbeigekommen. Selbst wenn ich eines der Gästezimmer herrichtete oder unten am Empfang die Post sortierte, hatte ich die Treppe im Auge behalten. Keine Josephine auf dem Weg nach oben, kein Tom in die entgegengesetzte Richtung.
Da war ich mir ganz sicher, denn ich hatte mich an diesem Freitag hochkonzentriert in all meine Aufgaben gestürzt, weil ich mich dringend von einem ganz anderen Thema hatte ablenken müssen. Schnell schob ich den Gedanken beiseite und schwor mir, den Typen da oben nun endlich zur Rede stellen.
»Das kann ich nicht!« Toms Stimme klang jetzt geradezu flehentlich.
Ein eisiger Schauder lief mir über den Rücken.
Wenigstens hörte ich so schlagartig auf zu schwitzen.
Wurde Tom bedroht? Hielt ihm da jemand eine Pistole an die Brust?
Ein scharfes Messer an den Hals?
Prüfend betrachtete ich die Tür. Hoffentlich würde sie sofort nachgeben, wenn ich mich dagegen warf.
Noch zögerte ich. Leider neigte ich zu einer gewissen Tollpatschigkeit und hatte manchmal meine langen Glieder nicht unter Kontrolle. Gut möglich, dass ich zu viel Schwung nahm, auf der anderen Seite des Dachbodens durch die Wand brach, durch die Luft segelte und im Brunnen von Kiesels Marktplatz landete.
Autsch!
Bevor ich mich entscheiden konnte, was ich tun sollte, sagte Tom, diesmal etwas leiser: »Das sind eigentlich alles nette Leute hier.«
Hm, danke.
Hoffentlich war auch ich damit gemeint und nicht bloß meine Mutter oder Josephine oder die Leute aus unseren Freundeskreisen. Tom war mir zwar äußerst suspekt, aber dennoch hätte es mich gestört, von ihm abgelehnt zu werden.
Die anderen fanden ihn übrigens einfach nur cool. Sowohl meine »Wild People«, kurz WPs, als auch Josephines »Rich and Beautiful«, die R’n’Bs, mochten Tom und wollten ihn gern in ihre Reihen aufnehmen. Obwohl er so ein albernes Geheimnis um seine Person machte.
Oder gerade deshalb. Ein spannender Fremder kam schließlich selten nach Kiesel.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Geschehnisse hinter der Kammertür und horchte, ob jemand Tom antworten würde.
Doch drinnen blieb alles still, Tom musste also telefonieren.
»Nein! Nein! Niemals! Vergiss es! Das werde ich nicht tun!«
Was denn?
Was denn??
WAS DENN???
Aber Tom sagte nichts mehr, und ich fragte mich, ob ich den Blödmann überhaupt retten wollte.
Ich konnte ihn nicht besonders gut leiden, er ging mir mit seiner Geheimnistuerei gehörig auf die Nerven, und er hatte mich heftig durcheinandergebracht, als er wie die Inkarnation Colins vor mir aufgetaucht war. Ja, wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich sogar ein bisschen Angst vor ihm. Und ich hätte schwören können, dass er auf uns alle hier ziemlich herabsah. Er kam aus Berlin, so viel wusste ich immerhin. Für den waren wir doch bloß doofe Provinzler.
Allerdings hatte Tom soeben erwähnt, dass wir hier alles nette Leute seien. Warum? Plötzlich bekam ich Angst vor dem, was Tom tun sollte. Wer war der Typ, mit dem er sprach – ein Erpresser? Ein Attentäter etwa?
Offensichtlich verlangte er etwas von Tom, das der nicht tun wollte. Etwas, das sich gegen uns richtete. Ob nur gegen meine Mutter und mich oder gegen ganz Kiesel, vielleicht sogar inklusive des Himmelsparks, war dann schon egal.
Ebenso beunruhigte mich, dass Tom sich anscheinend selbst vor seinem Gesprächspartner fürchtete. Bislang hatte ich ihn ja schon in den verschiedensten Stimmungen erlebt. Unerschrocken, vor allem. Belustigt auch, kühl und sachlich sowieso und verschlossen erst recht.
Aber ängstlich?
Nein. Definitiv nicht.
Ach, verdammt!
Wie kompliziert mein beschauliches Leben geworden war, seit Tom wie aus dem Nichts aufgetaucht war! Vorher hatte ich nur meinen harmlosen Colin gehabt, der so herrlich durchschaubar und einfach gestrickt war, wie ich ihn eben erfunden hatte …
Nebenan wurde es wieder laut.
»Nein! Charlotte hat …«
Vor Schreck hüpfte ich hoch und schrie auf, als mein Kopf den Holzbalken über mir traf. Kurz wurde mir schwindelig, dann passierte alles gleichzeitig.
Die Handtücher flatterten um mich herum durch die Luft. Die Tür wurde aufgerissen – und Colin trat heraus und richtete den Lauf einer Waffe auf mich.
Meine Arme, die gerade noch Halt suchend herumgerudert waren, flogen von selbst in die Höhe, und meine Hände knirschten nur ein kleines bisschen, als sie ebenfalls Bekanntschaft mit dem Balken machten.
»Nicht schießen!«, rief ich panisch. »Ich mach mich auch nie wieder über dich lustig!«
»Spinnst du?«
Tom nahm die Waffe runter. Beziehungsweise zog mir das Handtuch vom Gesicht, und sogar durch den Schleier der Todesangst, der dunkelrot vor meinen Augen waberte, erkannte ich das Smartphone in seiner Hand. Ich ließ die Arme sinken und rieb mir die schmerzenden Fingerknöchel.
»Du Idiot!«, fuhr ich ihn an. »Wieso richtest du dein Handy wie eine Knarre auf mich? Du hast mich zu Tode erschreckt!«
Dass ich ihn im ersten Augenblick wieder mal mit meinem Mister Dream verwechselt hatte, verschwieg ich lieber.
Der Blick aus Toms meergrünen Augen flackerte belustigt.
Als würde seine erschreckende Ähnlichkeit mit meinem Traumboy mich nicht schon genug verwirren, tauchte Colin direkt neben Tom wieder auf und schaute mich mitleidig an.
»Jetzt hast du alles vermasselt, Baby«, flüsterte er. »Hast du wirklich geglaubt, ich wollte dich erschießen?«
»Das ist doch Unsinn, Emma«, sagte Tom gleichzeitig mit einer Stimme, die er sonst wahrscheinlich für die kleinen Kinder im Himmelspark reservierte, wenn sie Angst vor dem Karussell hatten. »Wieso sollte ich das tun?«
Aber so schnell gab ich nicht auf, auch wenn ich gerade doppelt sah. »Vielleicht, weil du dich verfolgt fühlst?« Ich deutete auf das Telefon. »Weil du vor jemandem … Angst hast?«
Toms Miene verschloss sich. »Und deshalb machst du dich über mich lustig?«
Vor Verlegenheit wich ich einen Schritt zurück, und fast wäre ich endgültig die Treppe heruntergefallen, wenn Tom mich nicht am Arm gepackt hätte.
Er seufzte. »Was ist bloß los mit dir, Emma?«
Mir fiel absolut nichts ein, was ich darauf sagen könnte, ohne für komplett geisteskrank erklärt zu werden.
»Wolltest du mir die bringen?«, fragte er nach einem unendlich langen Moment der Stille. Er deutete auf die zerknüllten Handtücher am Boden. Sie hatten den actionreichen Zwischenfall nicht besonders gut überstanden.
»Äh …«
Emma! Komm schon! Du bist doch klug und wortgewandt!
»Genau.« Ich riss mich zusammen. »Ich dachte, bei der Hitze könntest du frische gebrauchen. Aber dann habe ich zufällig gehört, wie du mit jemandem gestritten hast und …«
»Und was?«, unterbrach er mich. »Dann hast du dir gedacht, du könntest eine Weile an der Tür lauschen, oder was?«
Jep, dachte ich.
»Quatsch«, sagte ich.
»Hat man dir als Kind nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, andere Leute auszuspionieren?«
»Meine Kindheit geht dich einen Scheiß an!« Seine Überheblichkeit machte mich schon wieder wütend. »Und wenn es sich anhört, als würdest du da drin mit Terroristen sprechen, wird man sich ja wohl mal vergewissern dürfen, ob alles in Ordnung ist!«
Tom grinste schon wieder. »Du hast eine blühende Fantasie, Emma Stern«, sagte er, wandte sich ab und wollte durch die Tür verschwinden.
Ha! Wenn du wüsstest!, dachte ich mit einem grimmigen Blick auf Colin, der hinter Tom her ins Zimmer spazierte. Ich sah abermals doppelt – aber das brachte mich auf eine Idee.
So einfach wollte ich mich nicht schon wieder abservieren lassen! Ohne lange zu überlegen, schlüpfte ich an Tom und Colin vorbei.
Manchmal hatte es durchaus Vorteile, so dünn zu sein.
Tom reagierte eine Sekunde zu spät. Als er nach mir griff, war ich schon mitten im Zimmer. Mit einem Rundumblick, der nicht lange dauerte, weil die Dachkammer in unserem engen Altstadthaus wirklich winzig war, stellte ich fest, dass sich hier nicht viel verändert hatte, seit meine Mutter einen Wohnraum aus der Rumpelkammer gemacht hatte. Ein schmales Bett stand dort, wo vorher nur eine Matratze gelegen hatte. Außerdem gab es jetzt einen alten Teppich, der den halben Boden bedeckte. An der Dachschräge klebte ein Poster von irgendeinem Typen mit einer Gitarre, das nicht so ganz zu der ansonsten nüchternen Einrichtung zu passen schien.
Im Übrigen wirkte der Raum noch genauso ordentlich wie letzten Sonntag, als meine Mutter ihn mit Josephines Hilfe eingerichtet hatte.
Ordentlich und sauber.
Geradezu steril.
Das wunderte mich. Mein eigenes Zimmer sah – mit Ausnahme von heute – immer aus, als sei es von Trollen bevölkert, die sich damit amüsierten, meine sämtlichen Klamotten, Bücher und Schulsachen durch die Gegend zu werfen. Die machten da so eine Art olympische Troll-Spiele draus.
Meine Mutter verkniff sich Kommentare dazu, weil sie genau wusste, dass ich mindestens den halben Tag damit beschäftigt war, die Gästezimmer und Bäder unseres Hostels zu putzen. Sie betonte nur immer, wir seien eben beide auf die Einnahmen des »Cloud« angewiesen, und ich vermutete, sie wurde durchaus von schlechtem Gewissen geplagt, weil ich neben Schule und Arbeit praktisch null Freizeit hatte. Jetzt in den großen Ferien erging es mir da kaum besser, weil das Hostel ausgebucht war und ich den ganzen Tag mithelfen musste.
»Emma, verschwinde«, sagte Tom.
Es klang nicht laut und drohend, sondern leise, entschieden.
Eines Tages, in zwanzig Jahren vielleicht, würde er einen prima Rektor/Chef/Diktator abgeben. Und alle Leute würden brav seinen Befehlen folgen.
Er war schon heute verflixt überzeugend. Ich musste mich ziemlich beherrschen, um nicht mit gesenktem Kopf den Dachboden zu verlassen.
Einzig der Anblick von Colin, der wieder mal neben seinem Doppelgänger stand und ihn prüfend betrachtete, bewahrte mich davor, schuldbewusst einzuknicken. Ich kicherte, als mein Traumboy seine Wangen befühlte, denen im Gegensatz zu Toms Gesicht jegliche Grübchen fehlten.
»Was ist jetzt schon wieder lustig?«, fragte Tom. »Findest du es lächerlich, dass ich allein sein möchte?«
Ich zwang meine Mundwinkel, mit dem Grinsen aufzuhören.
»Tom«, sagte ich so freundlich wie möglich und versuchte, meiner Stimme einen tiefen, vertrauenerweckenden Klang zu geben. »Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist? Es kann helfen, jemandem sein Herz auszuschütten.«
Tom sah mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. »Du hast sie ja nicht mehr alle. Es gibt nichts, worüber ich reden müsste.«
Sein Gesichtsausdruck präzisierte: Und wenn es etwas gäbe, wärst du mit Sicherheit die letzte Person auf Erden, der ich etwas anvertrauen würde. Da kannst du dich auf den Kopf stellen!
Doch so leicht kam er mir nicht davon.
»Aber … du sollst etwas tun, das du nicht willst«, wagte ich mich vor. »Das … ähm … habe ich zufällig gehört.«
Kurz schaute Tom zu Boden, dann fixierte er mich wieder streng. Offenbar kam er zu dem Schluss, dass ich nicht weichen würde, bevor ich nicht eine befriedigende Antwort von ihm bekam. Aber er brauchte lange dafür. Lange genug, um sich etwas auszudenken, fand ich.
»Es ging um den Job«, erklärte er dann. Dazu rang er sich ein Lächeln ab, das ungefähr so echt war wie Josephines goldblonde Haarfarbe. »Die wollten mich vom Kinderkarussell zur ›CloudKiss‹ versetzen, aber ich habe abgelehnt.«
Keine Sekunde lang glaubte ich ihm.
»Warum?«, hakte ich nach. »Das wäre doch viel cooler und du könntest oft umsonst damit fahren. Ist doch ein Bonus für die Angestellten, oder?«
Wegen dieser berühmten Achterbahn kamen immerhin die Jugendlichen nicht nur aus ganz Deutschland, sondern sogar aus aller Welt in die norddeutsche Tiefebene gereist.
Die »CloudKiss« hatte die Form einer großen Wolke mit himmelfarbenen Schienen und zweisitzigen Wagen, die ebenfalls wie Wolken gebaut waren, nur sehr viel kleiner – geradezu verschwindend klein im Vergleich zu dem riesigen Gerüst. Die Fahrt ging zunächst im Innern der Riesenwolke hoch und höher, bis die Wagen praktisch mitten in den Himmel hineinfuhren, quasi direkt hinein in die echten Wolken. An diesem Punkt war die »CloudKiss« hundertfünfundvierzig Meter hoch und gehörte damit zu den höchsten Achterbahnen der Welt.
Es war ein Wahnsinnsgefühl, wenn der Wagen schwerelos in die Tiefe schoss. So oft war ich schon damit gefahren, meistens mit Lilli. Aber nie war es so schön gewesen wie am vergangenen Montag mit Erik. Zum ersten Mal hatte auch ich auf der »CloudKiss« geküsst …
Denn das war der besondere Gag der Achterbahn: Rund fünfzig Meter unter dem höchsten Punkt, wenn der Wagen schon so richtig Fahrt aufgenommen hatte, war eine Kamera installiert. Das Pärchen, das es schaffte, genau dort einen perfekten Kuss hinzulegen, gewann einen tollen Preis. Meistens gab es zwei Tickets für Rockfestivals.
Sollte in einem Monat mehr als ein Pärchen dieses Kunststück schaffen, wurde ausgelost. Das kam aber so gut wie nie vor, weil es echt schwierig war.
Der gelungene Kuss hieß »CloudKiss des Monats«, denn er sollte zweierlei symbolisieren: Die Liebe zwischen zwei jungen Leuten – und die geniale Höhe der Achterbahn, auf der beinahe in den Wolken geküsst wurde. Das alles war mir während der Fahrt mit Erik jedoch herzlich egal gewesen.
Als ich mich an unseren endlosen Kuss erinnerte, wurde mir noch heißer, als mir ohnehin schon war. Und wenn ich an heute Nacht dachte … Doch das verbot ich mir energisch. Das machte mich viel zu nervös und genau darum war ich ja hier. Um mich abzulenken.
Zum Glück holte Tom mich ins Hier und Jetzt zurück. »Kein Interesse. Bis ich hoffentlich eines Tages mit den Tieren im Himmelspark arbeiten kann, bleibe ich gern bei den Kindern. Und so einen Teufelsritt auf der Achterbahn muss ich sowieso nicht haben.«
Wollte er mir gerade weismachen, er hätte Angst? Er, der am letzten Wochenende auf das Riesenrad geklettert war, um in einer halsbrecherischen Aktion einen Typen zu retten, den er gar nicht kannte?
Der Junge aus München hatte seine Furchtlosigkeit beweisen wollen und war dann hilflos an einer der Gondeln hängen geblieben. Einzig Tom hatte den Mut aufgebracht, ihm zu helfen.
Nix da!, entschied ich. Tom war einfach ein Lügner, das hatte ich schon gewusst. Und zwar der schlechteste Lügner der Welt.
»Ich glaube dir kein Wort«, sagte ich.
Tom blieb unbeeindruckt. »Es ist, wie ich es gesagt habe.«
»Ich bin nicht so naiv, wie du vielleicht denkst, bloß weil ich aus Kiesel bin«, fauchte ich.
Tom hob die Brauen.
Mir wurde bewusst, dass wir an einem toten Punkt angelangt waren. Nichts hatte ich erfahren, rein gar nichts.
Es war zum Verzweifeln!
In genau dieser Sekunde rief jemand nach mir.
Erik.
Auf einmal sehnte ich mich brennend nach meinem wunderbaren neuen Freund.
»Behalt deine Geheimnisse doch für dich«, sagte ich. »Ich muss gehen.«
»Auf einmal?«
»Ja, Erik ist da. Mein Freund.«
Tom hob nur die Schultern und machte Platz, damit ich an ihm vorbeikonnte.
»Der Typ ist okay«, sagte er noch.
Ich schnaubte. Wie großzügig von ihm! Wollte er mir etwa gestatten, Erik zu treffen?
Als ob er dazu irgendeine Berechtigung hätte!
Bevor die Wut wieder in mir aufsteigen konnte, beschloss ich, dass mir Toms Meinung egal war. Dann hörte ich, wie er hinter mir die Tür schloss, aber es kümmerte mich nicht. Ich hoffte nur, er habe Colin mit in der Dachkammer eingesperrt. Sollten die beiden Nerv-Zwillinge sich doch gegenseitig auf den Wecker gehen! Unten wartete mein großer, blonder, freundlicher, liebevoller Freund auf mich.
Erik lehnte an dem alten Bartresen, der uns als Empfang und manchmal auch als Theke diente, wenn meine Mutter das Hostel von Zeit zu Zeit in einen angesagten Partyclub verwandelte. So wie zu meiner Geburtstagsfeier letzte Woche, gegen die ich mich erst so gesträubt hatte. Nun dachte ich glücklich daran, wie Erik und ich einander an jenem Abend nähergekommen waren. Dank eines gründlichen Umstylings, zu dem ich von Lilli und Janne gezwungen worden war, hatte Erik mich vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben angesehen.
Wie im Film war das gewesen.
Die letzten drei Stufen sprang ich hinunter und flog auf Erik zu.
»Schön langsam, Emma. Auch wenn ich im Rettungsdienst arbeite.«
»Pass auf!«, rief auch Colin, den natürlich nichts in der Dachkammer gehalten hatte.
Ich ignorierte ihn und lachte. Erik zog mich gern mit meinem Hang zu Stürzen auf, aber er tat es stets mit einem liebevollen Funkeln in seinen Bernsteinaugen. Also verzieh ich ihm jedes Mal auf der Stelle.
Wie immer, wenn ich Erik nur sah, setzte mein Herz zum Galopp an, und ich hoffte, es würde damit auch in hundert Jahren nicht aufhören. War mir egal, ob ich davon auf Dauer einen Schaden bekam. Vielleicht wurde Erik ja Kardiologe wie seine Mutter, dann würde er sich eines Tages darum kümmern können. Bis dahin wollte ich dieses aufregende Gefühl voll auskosten.
Ich landete in seinen Armen, bog den Kopf zurück und küsste ihn ausgiebig.
Himmlisch, dass es bei meiner Körperlänge möglich war, zu ihm aufzuschauen, fand ich. Es gab schließlich nicht viele Jungs in Kiesel, die größer waren als ich.
Erik erwiderte zärtlich meinen Kuss und hielt mich ganz fest. Er roch so frisch wie immer. Die hohen Temperaturen schienen ihm überhaupt nichts auszumachen.
Ich schmiegte mich so eng an ihn, als wollte ich mit ihm verschmelzen. In dieser Sekunde war ich das glücklichste Mädchen von ganz Kiesel.
Ach was, der ganzen Welt!
Und Colin verschwand. Er löste sich auf, wurde regelrecht durchscheinend und hinterließ bloß einen Nebelschleier, der dann auch davonwehte.
Fein, dachte ich mit dem winzigen Teil meines Verstandes, der nicht von Glückshormonen lahmgelegt worden war. Wenn ich Erik küsse, bin ich Colin auch los.
Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass Erik sanft versuchte, sich von mir zu lösen.
Warum nur?
Ich wollte weiterküssen.
Die ganze Nacht lang.
Mein ganzes Leben lang!
»Emma«, murmelte er, als er seinen Mund von meinen Lippen befreit hatte. »Tut mir leid, aber ich muss gleich wieder gehen.«
»Was?« Ich wich ein Stück zurück. Mein Herz beendete seinen Sprint auf der Rennbahn und beruhigte sich. Schade. Hätte gern noch den großen Preis von Kiesel gewinnen können.
»Wieso denn? Wir wollten doch …«
Ich brach ab. Erik wusste genauso gut wie ich, was für heute geplant gewesen war.
Phase zwei.
Wir hatten nicht groß darüber gesprochen, es war eher eine stille Vereinbarung. Wenn wir beide unsere diversen Verpflichtungen erfüllt hatten, wollten wir diese Nacht zusammen verbringen.
Egal, wie spät es werden würde.
Den ganzen Tag lang hatte ich mich darauf gefreut. Und war so nervös deswegen gewesen, dass ich mich zu dem Überfall auf Tom entschlossen hatte, um auf andere Gedanken zu kommen. Zuvor hatte ich sogar mein Zimmer aufgeräumt, geputzt und einige Zeit darauf verwendet, die nagelneue und sündhaft teure Unterwäsche anzuprobieren, die ich mir extra gekauft hatte. Rote Spitze und ein so genialer Push-up-BH, dass sogar ich plötzlich über so etwas wie eine Oberweite verfügte …
Dann hatte meine Mutter auch noch angekündigt, sie sei zum Essen beim Sparkassendirektor eingeladen und es könnte spät werden. Besser hätte es also gar nicht sein können.
Und jetzt das!
Enttäuscht ließ ich den Kopf hängen. »Geh nicht«, bat ich.
»Ich muss«, sagte er mit echtem Bedauern in der Stimme.
»Aber ich … habe mich so wahnsinnig auf dich gefreut.«
Erik küsste meine Nasenspitze. »Es tut mir so leid, Emma. Bitte glaub mir, ich würde bleiben, wenn ich könnte.«
In seinen Bernsteinaugen glommen Funken auf.
Oh Mann! Wenn das kein Versprechen für eine sehr heiße Phase zwei war!
Leichter machte er es mir dadurch aber nicht.
»Guck mich nicht so an!«
»Wie denn?«
»So … sexy.«
Erik lachte leise und küsste mich wieder.
»Was kann es denn so Wichtiges geben?«, wagte ich zu fragen.
»Ein paar der Kinder haben Fieber«, erklärte er.
Verdammt!
Manchmal wünschte ich mir, mein Freund wäre ein bisschen weniger hilfsbereit und nicht ganz so selbstlos drauf. Ein bisschen weniger aufopferungsvoll und nicht ganz so beliebt. Ach ja, und ein bisschen weniger zukünftiger Chefarzt und nicht ganz so ernsthaft.
Erik Hansen war immer für andere da. Er arbeitete im Himmelspark als Rettungshelfer, widmete einen Teil seiner Freizeit den Flüchtlingen bei uns im Ort und würde im Herbst sein Medizinstudium in Hamburg antreten, um sein ganzes restliches Leben im Dienst der Menschheit zu verbringen.
Allerdings fand ich, er hatte auch alles Recht der Welt, jung zu sein und sein Leben zu genießen.
Zusammen mit mir, wenn ich mal einen Wunsch äußern durfte.
Ich runzelte die Stirn und dachte nach. Wie viel Zeit hatten wir eigentlich in dieser Woche tatsächlich miteinander verbracht?
Eine Stunde, zwei?
Stets hatte Erik es eilig gehabt, weil er zurückmusste zu seinen Fachbüchern, weil er Dienst im Himmelspark hatte oder im Flüchtlingsheim gebraucht wurde.
Mochte ja sein, dass ich im Hostel auch ganz gut beschäftigt war, aber ich hatte definitiv mehr Zeit für eine Beziehung als er.
Blöderweise durfte ich nicht meckern. Hätte Erik lieber mit Freunden herumgehangen als mit mir, wäre ein Hobby der Grund für seine häufige Abwesenheit gewesen, hätte die Sache anders ausgesehen.
Aber so?
Keine Chance. Er hatte ja sogar seinen Platz im Basketballteam abgegeben, um mehr Zeit für seine vielen Aufgaben zu haben.
Nein, nein, ich durfte gar nichts sagen.
Ich fand es ja auch toll, wie er sich für andere einsetzte. Zum Beispiel in dem neuen Flüchtlingsheim, das in der alten Polizeikaserne eingerichtet worden war. Viele Leute aus Kiesel halfen den Menschen, die es aus Kriegsgebieten bis nach Deutschland geschafft hatten. Auch die WPs setzten sich für sie ein. Erst Mitte der Woche hatten wir alle unser altes Spielzeug zusammengesucht und gespendet. Nur meinen geliebten abgegriffenen Teddy, Mister Pickles, hatte ich behalten. Sorry, aber an dem hing ich. Ich war jedoch fest entschlossen, noch mehr zu helfen, sobald ich irgendwie die Zeit dafür fand.
Erik tat natürlich viel mehr als wir alle zusammen. Wie es so seine Art war. Manchmal dachte ich, er sei viel zu gut, um echt zu sein. Ich liebte ihn dafür und hasste mich selbst, weil ich so egoistisch war, mehr von seiner kostbaren Zeit zu fordern.
So wie jetzt.
»Aber die Kinder sind hoffentlich nicht schwer krank, oder? Und Doktor Hauser ist doch auch noch da.«
Der Arzt kümmerte sich genau wie Erik in seiner Freizeit um die Flüchtlinge.
Mein Freund schaute mich geduldig an.
»Das stimmt schon, Emma. Aber er braucht meine Hilfe. Allein schafft er es nicht. Ein halbes Dutzend Kinder ist schon betroffen. Wir befürchten eine heftige Sommergrippe.«
Ich nickte. »Geh nur. Ich verstehe das schon.«
»Sicher?«
»Na klar.«
Er lächelte, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und verließ mit langen Schritten das Hostel.
Aus einem der Gästezimmer drang ein Geräusch und eine Stimme sagte: »Die Frage ist, wen du dir da angelacht hast. Einen heißen Lover oder eine männliche Mutter Theresa.«
Ich wirbelte herum.
Lilli trat in unseren kleinen Flur, lugte kurz zur Eingangstür und grinste mich dann breit an.
Ich stützte mich schwer auf den Tresen. Auf einmal war ich sehr, sehr müde. So müde, dass ich es kaum fertigbrachte, wegen ihres blöden Spruches sauer auf sie zu sein. Ich gähnte ausgiebig und rieb mir das Gesicht.
»Sei nicht so fies«, sagte ich nur.
»War nicht so gemeint«, antwortete sie friedfertig. »Erik Hansen ist ein klasse Typ. Na ja, wenn er mal da ist.« Womit sie auf Lilli-Art meinen Erik im Telegrammstil perfekt beschrieben hatte.
»Du hast gelauscht«, sagte ich streng.
Sie wirkte kein Stück verlegen. »Sorry, ließ sich nicht vermeiden. Ich wollte gerade nach dir rufen, als ich hörte, wie Erik ankam. Da bin ich in das Gästezimmer geschlüpft. Ich meine, so selten, wie du ihn siehst, wollte ich euch nicht stören. Und wenn er geblieben wäre, hätte ich mich gleich wieder vom Acker gemacht. Ich schwöre!«
Wahrscheinlich erwartete sie eine Standpauke zum Thema Nachspionieren von mir. Doch darauf hatte ich wenig Lust. Außerdem war ich mit Sicherheit der letzte Mensch, der gerade jetzt das Recht dazu hatte.
»Wieso sind eigentlich keine Gäste in dem Zimmer?« Lilli war in ihrer sprudeligen Art längst woanders. »Ich denke, ihr seid voll ausgebucht?«
»Sind wir auch«, erwiderte ich. »Es sind ja überall in Deutschland große Ferien. Aber dort wohnen drei junge Leute, die Verwandte hier in Kiesel haben. Da sind sie heute Abend eingeladen.«
Die genaue Geschichte und wie meine Mutter und der Sparkassendirektor da mit drinhingen, ersparte ich mir jetzt. Mamas Liebesleben war ziemlich bunt, und Lilli liebte es, darüber zu quatschen.
Ich nicht.
Heute Abend schon gar nicht mehr.
»Alles klar. Und was wird nun aus der Nacht der Nächte?«
Lilli war natürlich eingeweiht. Beste Freundinnen mussten solche Sachen wissen. Sie hatte auch meine Unterwäsche begutachtet, einen schrillen Pfiff ausgestoßen und anschließend seufzend gesagt: »Ich hätte dir ja gern was von mir abgegeben, dann hättest du einen Haufen Geld sparen können.«
Und damit hatte sie nicht etwa Dessous gemeint! Das, was ich schmerzlich an Körperrundungen vermisste, behauptete Lilli gern, zu viel zu haben. Dabei hatte sie einfach eine perfekt weibliche Figur, und die Jungs flogen nur so auf sie, wie ich schon häufig neidvoll bemerkt hatte.
Mutlos hob ich die Schultern. »Hast ja gehört, was Erik gesagt hat. Die Kinder haben Fieber.«
»Ja, klar. Und ohne Erik kriegen sie alle Lungenentzündung. Bis du sicher, dass es nicht bloß eine Ausrede von ihm war?«
Ich musste mich am Tresen festhalten, so erschrocken war ich. »Warum sollte er denn schwindeln?«
»Was weiß ich? Vielleicht hat er Panik? Vielleicht geht ihm alles zu schnell? Vielleicht will er erst in der Hochzeitsnacht Sex haben? Solche Leute soll es geben. Unbefleckt, bis der Pastor seinen Segen gesprochen hat.«
»Hör schon auf!« Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen.
Lillis Worte säten fiese Zweifel in mir, nicht wegen der Warterei bis zur Hochzeitsnacht, das war bestimmt Quatsch. Aber wegen der Möglichkeit, dass er noch nicht bereit war. Konnte das stimmen?
»Erik und ich waren uns einig. Wir haben uns beide … äh … darauf gefreut. Er kann nichts dafür, dass er dringend gebraucht wird.«
Zu meiner Überraschung nickte sie nur. »Ja, klar, sorry. Wahrscheinlich sehe ich Gespenster.«
»Mich nicht«, sagte Colin und kicherte albern.
»Witzbold«, knurrte ich.
Sein liebevolles Lächeln wirkte erleichtert. Weil Erik wieder verschwunden war? Weil Phase zwei kurz vor der Zündung abgebrochen worden war?
So genau wollte ich es lieber nicht wissen.
Lilli tätschelte meinen Arm. »Sei nicht traurig. Das mit Erik und dir wird schon. Ihr braucht nur eine gewisse Anlaufzeit.«
Sie wollte nett sein, das spürte ich – aber ich fand, es klang wenig überzeugend.
Am liebsten hätte ich sie weggeschickt. Ich mochte nicht mehr reden, nicht mehr nachdenken. Weder über Erik noch über Tom.
Doch Lilli schien selbst etwas auf dem Herzen zu haben. Unschlüssig zupfte sie an ihrem T-Shirt herum. »Puh! Ist mir warm!«, stöhnte sie. »Diese Hitze ist echt nicht mehr normal.«
Mir fiel auf, dass das T-Shirt nicht so eng an ihrem Körper anlag wie sonst. Lilli war bei Klamotten grundsätzlich eher praktisch veranlagt und kaufte sich die gleichen Sachen immer mehrfach in derselben Größe. Seit Anfang Juli trug sie abwechselnd sechs grüne T-Shirts. Ich hätte schwören können, dass sich noch vor einer Woche darunter ein viel ansehnlicheres Bäuchlein abgezeichnet hatte.
Irritiert schaute ich sie an. »Was ist eigentlich los? Warum bist du hergekommen?«
»Mama veranstaltet eine ihrer Séancen zu Hause«, erklärte sie. »Aber ich habe heute absolut null Bock auf Hokuspokus.«
Einen Moment lang traute ich meinen Ohren nicht und wollte schon fragen, ob ich vielleicht bei ihr mal Fieber messen sollte. Aber dann musste ich lachen.
Nena Nickel war die Wahrsagerin im Himmelspark und Lilli war mit Leib und Seele ihre Tochter. Meine Freundin liebte alles Übersinnliche: Sie deutete Horoskope, legte Tarotkarten, schaute in ihre Glaskugel, bis ihre Augen tränten, und pendelte, bis ihr schwindlig wurde.
»Hokuspokus?«, stieß ich zwischen zwei Lachern hervor. »Hat dir jemand eine Gehirnwäsche verpasst?«
Lilli senkte den Kopf, sodass ich ihren Gesichtsausdruck nicht mehr erkennen konnte. Sie war immerhin ein ganzes Stück kleiner als ich.
»Manchmal muss man sich von seinen Träumen verabschieden und dem realen Leben stellen«, meinte sie düster.