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Die natürlichen Paradiese vor der Haustür entdecken! Für Daniela Trauthwein, Wander-Reporterin und Bloggerin, liegt der Schlüssel zum Glück und zu innerer Zufriedenheit in der wilden Natur der deutschen Nationalparks. Denn dort, wo sich Natur fern von den Eingriffen des Menschen frei entfalten kann, herrscht eine eigene Dynamik aus ungezähmter Lebendigkeit und Ur-Energie. Wie fühlt sich die Wildnis an, die den Ursprüngen des Lebens in Deutschland nahekommt? Auf der Suche nach ihrem verlorengegangenen Selbst kehrt Daniela Trauthwein dem Büroalltag den Rücken und begibt sich in die wildesten Gebiete Deutschlands. Wie Puzzleteile fügen sich ihre Erlebnisse und Erkenntnisse zu einem Gefüge zusammen, das ihr Leben völlig verändern wird.
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Das Buch
Mit allen Sinnen erlebt Daniela Trauthwein ihre Wanderungen durch zahlreiche Nationalparks in Deutschland: Sie atmet den harzigen Duft dichter Nadelwälder, schreitet über moosig-weichen Grund, streift zarte Buchenblätter, lauscht dem Waldgeflüster und kann sich nicht sattsehen an dem von Grün strotzenden Laubwerk. Jede Erfahrung in der sich selbst überlassenen Natur kostet sie voll aus – und macht Lust darauf, unsere vielfältige Wildnis selbst zu entdecken.
Die Autorin
Daniela Trauthwein, geboren 1969, ist Autorin, Naturliebhaberin und bei jedem Wetter draußen unterwegs. Über ihre Erlebnisse schreibt sie auf ihrem Blog www.wander-reporterin.de, auf Facebook, Instagram und Twitter, und hat einen Wanderführer für die Pfalz veröffentlicht (Wanderungen für die Seele). Die Autorin lebt in einem kleinen Winzerdorf in unmittelbarer Nähe zum Pfälzerwald.
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ISBN 978-3-8437-2695-5
Bildnachweis:
Alle Fotografien im Bildteil stammen aus dem Privatbesitz der Autorin.
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage August 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
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Für Lara und Jannis – meine wundervollen Patenkinder
Mein Elternhaus lag direkt am Waldrand. Mit dem Rauschen der Bäume im Wind der Jahreszeiten bin ich aufgewachsen, es hat mich begleitet, am Tag und in der Nacht. Im Wald meiner Kindheit gab es einen Vogelpark. Kraniche, Pfauen, Störche, ein paar Rehe und sogar eine Wildkatze lebten dort. Jeden Sommer wartete ich abends auf die Rufe der exotischen Vögel. Erst nachdem die Pfauen zu hören waren, konnte ich einschlafen. So vertraut waren mir die Tiere dort. Wann immer ich durch das Gatter des Parks schritt, tauchte ich ein in diese andere Welt, sammelte Federn und beobachtete stundenlang die Tiere.
Mein Spielplatz war der Wald mit den umliegenden Wiesen. Unter seinem Dach habe ich Abenteuer erlebt, mich ausgetobt und die Natur entdeckt. Auf Moosteppichen habe ich mich ausgeruht, mit Sonnentupfen im Gesicht, die durch die Baumkronen hindurchtanzten. Gebannt untersuchte ich mit einer Lupe Blätter, Käfer und Erdklumpen. In der Vergrößerung wurden faszinierende kleine Welten sichtbar, zu denen ich mir Geschichten ausdachte. Zeit hatte damals für mich noch keine Bedeutung, ich hatte sie im Überfluss. In diesem Einklang mit der Natur und ihren Geschöpfen habe ich eine Kindheit lang tiefes Glück empfunden.
Den Park gibt es schon lange nicht mehr. Eine Umgehungsstraße führt heute durch die ehemaligen Gehege. Die Rufe der Pfauen und Kraniche sind längst verstummt. Gedankenverloren sitze ich auf meiner Terrasse in der warmen Sonne und weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Eigentlich wollte ich das Wochenende sinnvoll nutzen und mit Aktivität füllen. Ich wollte meine Buchhaltung auf den aktuellen Stand bringen und vor allem: wandern. Waldluft atmen und Energie tanken. Doch nun hocke ich hier, unmotiviert, lustlos und träge darauf wartend, dass der Tag zu Ende geht. Lediglich mein Gedankenkarussell möchte nicht ruhen und dreht sich unaufhörlich. Alle meine beruflichen Pläne haben sich vorerst in Luft aufgelöst. Ich hatte vorgehabt, mich selbstständig zu machen, Wanderseminare und Fotokurse anzubieten, hatte so viele Pläne. Und nun? Eine Pandemie bringt die Welt zum Stillstand. Alles ruht. Ich fühle mich gefangen, wie in einem Vakuum. Eine zwiespältige Situation, in der ich keine Chance sehe, mich aus dem Angestelltenverhältnis zu befreien, das mir einerseits die Luft zum Atmen nimmt, mir aber andererseits finanzielle Sicherheit gibt. Hinzu kommt die mentale Erschöpfung durch die Pflegesituation meines Vaters. Fast sechs Monate lang habe ich ihn betreut und versorgt, täglich bis zu zwölf Stunden. Und im Nebenzimmer: das mobile Homeoffice. Dort die Videokonferenz, hier ein Mensch, der Hilfe braucht – unangekündigt und sofort. Mein Leben gehörte in dieser Zeit nicht mehr mir. Das hat Spuren hinterlassen.
Lethargie und innere Leere haben die Oberhand, drängen alles andere in den Hintergrund. Mein inneres Gleichgewicht droht zu kippen. Ein Gleichgewicht, das ich mir nach dem schmerzvollen Ende meiner Beziehung monatelang hart erarbeitet habe. Ich war so stolz auf mein erstarktes Selbstvertrauen und meine wiedererwachte Selbstachtung, die mir die Energie und Kraft gaben, neue Ziele zu verfolgen. Doch nun hat Gleichmut den lebendigen Tatendrang betäubt. Tretmühlenartig erfülle ich in einer Marketingabteilung meine beruflichen Pflichten. Den ganzen Tag vor dem Computer hocken, Werbestrategien und Kampagnen entwerfen, dann wieder verwerfen und von vorn anfangen, kein Vorwärtskommen, zu wenig Bewegung. Perspektivlosigkeit. Kein Wunder, dass ich unter Bluthochdruck leide. Tief in mir rebelliert etwas gegen das scheinbar unausweichliche Schicksal, weiterhin eine unbestimmte Zeit in fremdem Büromief verbringen zu müssen. So habe ich mir mein zukünftiges Leben nicht vorgestellt.
Vom nahen Bach dringt munteres Entengeschnatter zu mir herüber, vermischt mit fröhlichen Kinderstimmen. Sonne streichelt mein Gesicht. Der Schrei eines Bussards bahnt sich einen Weg durch meine Gedankenwolke in mein Gehör, und in diesem Moment spüre ich eine tiefe Sehnsucht nach den Rufen der Pfauen und Kraniche. Ja, ich sehne mich nach der Unbeschwertheit von damals, nach der kindlichen Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Während ich am Himmel den kreisenden Greifvogel beobachte, wird mir bewusst, dass mir etwas in meinem Leben abhandengekommen ist. Irgendetwas ganz Entscheidendes fehlt mir, das spüre ich, kann es aber nicht richtig fassen.
Am Abend scrolle ich mich gelangweilt durch die Bilderflut auf Instagram. Da weckt ein Foto aus dem Nationalpark Hunsrück-Hochwald meine Aufmerksamkeit. Zu sehen sind Bäume. Einfach nur Bäume. Lebendig und weich wirken ihre mit Moos überzogenen Wurzeln, die wie ineinander verschlungene Arme aus dem Boden herausragen. Schwache Sonnenstrahlen machen feinen Dunst zwischen den Baumstämmen sichtbar und verleihen der Atmosphäre einen mystischen Hauch. Natur im ursprünglichen Zustand, unangetastet und frei. Ein Sog geht von diesem Foto aus, zieht mich regelrecht in die Szenerie hinein. Fast kann ich die feuchte Luft riechen und die Waldgeräusche hören. Ein Sehnsuchtsort. Da wäre ich jetzt gerne. Erwacht aus meiner Lethargie, fange ich an zu recherchieren.
Der Nationalpark Hunsrück-Hochwald ist gar nicht so weit von mir entfernt. Mit jeder weiteren Information, die ich zu diesem naturnahen Waldgebiet und dem Konzept der Nationalparks finde, wächst mein Wunsch, diese einzigartigen Naturräume kennenzulernen. Insgesamt gibt es in Deutschland sechzehn solcher großflächigen Schutzgebiete, in denen die Natur weitgehend sich selbst überlassen wird. Der Hunsrück-Hochwald, der 2015 seinen Nationalparkstatus erhielt, ist das jüngste unter ihnen. Bis spät in die Nacht versinke ich in Berichten über die wildesten Gebiete Deutschlands, die alle eines gemein haben: eine sogenannte Kernzone. In diesen nutzungs- und eingriffsfreien Gebieten sollen sich Ökosysteme ungestört herausbilden können, selbst wenn das eine Veränderung in der Vielfalt und der Verteilung der Arten zur Folge hat. Ganz gleich, was sich entwickeln wird, es wird weder bewertet noch beeinflusst. Losgelöst von der menschlichen Vorstellung, wie Naturräume auszusehen oder zu sein haben, darf sich dort Natur frei entfalten, darf wild sein, darf sich selbst erschaffen. Diese Wildnisflächen sind Bestandteil unseres nationalen Naturerbes und sollen es für immer bleiben.
Was ich lese, berührt mich. Wie sich das wohl anfühlt, solch eine Natur um sich zu haben, die eine eigene Dynamik hat und sich fern von jeglichen Eingriffen des Menschen gestalten kann? Was würde es in mir auslösen, wenn ich dieser ungezähmten Lebendigkeit und Urenergie begegnen würde? Welche einzigartigen Naturschätze beherbergen die deutschen Nationalparks? Es ist bereits tiefe Nacht, als ich meinen Laptop zuklappe und einen Entschluss fasse: Ich möchte sie sehen, all die Landschaften und Gebiete zu Fuß erkunden, die unser Land in seiner einstigen Ursprünglichkeit abbilden werden. Grob rechne ich mir die Zeit aus, die ich in etwa benötigen werde, um einmal quer durch Deutschland zu reisen und alle Nationalparks zu besuchen. In meinem Bauch kribbelt es angenehm bei dem Gedanken, einfach alles hinter mir zu lassen, einfach weg zu sein und nichts als Natur um mich zu haben. Schon sehe ich mich am Wattenmeer stehen oder in einem alten Buchenwald oder auf einem Berggipfel in einer mir noch unbekannten Region. Am liebsten würde ich sofort meinen Koffer packen. Pfeif auf alles, jubelt mein inneres Kind, lass uns einfach abhauen! Wie schön sie sich anfühlt, diese kindliche Abenteuerlust, und wie gerne ich ihr nachgeben werde. Müde sinke ich in mein Bett und lasse meine Träume in die Nacht gleiten.
Ein paar Wochen später sind meine Reisevorbereitungen abgeschlossen, die berufliche Auszeit genehmigt und mein privates Umfeld über meine mehrwöchige Abwesenheit informiert. Auf meiner Terrasse sitzend nehme ich Abschied von meinem »alten« Leben. Etwas Neues wird kommen, dessen bin ich mir sicher. An der Tür lehnt mein Rucksack, fertig gepackt und startbereit. Es kann losgehen.
Einsteigen ins Grau. Bilder rasen im Takt der Gleise an mir vorüber. Meine Augen möchten verharren, möchten ruhen. Zu viele Gerüche und Düfte vermischen sich zu einem Dunst aus Menschen- und Maschinenmief. Ein Baby schreit, Herr Müller schreit, sein Handy schreit, die Ansage schreit, das Metall der Gleise schreit, meine Seele schreit. Niemand spricht, niemand kommuniziert, jeder tippt, liest, spielt oder hört, niemand schaut weg vom leuchtenden Bildschirm mit seinen vielen Verheißungen. Ich bin in einer Welt, die nicht die meine ist.
Aussteigen. Gedränge überall, jeder möchte den ersten Schritt nach draußen setzen. Gleich habe ich es geschafft, gleich bin ich sie los, die Bildschirmzombies, die In-die-virtuelle-Welt-Abgetauchten. Hastig, Schritt für Schritt: Beton, Pflastersteine, Beton, Schotter, Gras, Sand, Erde, Laub. Angekommen.
Einsteigen ins Grün. Meine Augen sind neugierig, lernen Farben, erkennen Formen, verlieben sich. Ein tiefer Atemzug. Gierig nehme ich Gerüche wahr, die sich zu einem Nadelwald-Laub-Moos-Gemisch verbinden, speichere sie ab in meinem Duftgedächtnis. Ein Falke schreit, das Grün schreit, der Wind schreit, die Bäume schreien mir ihre Ruhe entgegen. Ich lausche den Waldgesprächen, höre sie flüstern, die Bäume, die Blätter, den Wind und die Gräser, höre die Naturwesen in Laub und Gebüsch rascheln. Ich sehe, rieche, spüre den Wald. Meine Sinne tanzen, hüpfen, umarmen und küssen sich. Ich bin in einer Welt, die meine ist.
Im nebligen und regennassen Morgengrau breche ich auf zur Traumschleife Börfinker Ochsentour im Nationalpark Hunsrück-Hochwald. Wie glitzernde Perlen hängen klitzekleine Tautropfen in der Luft, zerplatzen auf meiner Haut und kühlen mein Gesicht. Neugierig sammle ich Eindrücke, atme das Naturaroma ein und schlendere gemütlich auf einem Holzsteg durch das geschützte Hangmoor, das Ochsenbruch genannt wird. Die Bewegung tut mir gut, ebenso die Farben und Geräusche, die ich wahrnehme. Rings um mich herum ist der Boden mit einem hellgrünen, krautähnlichen Teppich überwuchert. Einen Augenblick verweile ich, nehme ein paar tiefe Atemzüge und schaue in das nasse Grün. Wie schön ruhig es hier ist. Ab und zu ein Vogellaut, sonst nichts. Was für einen Kontrast die Natur doch zum Büroalltag bietet, vor allem, wenn man wie ich viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt. Schon allein die räumliche Tiefe, in die nun meine Augen wandern können, ist eine Wohltat. Allmählich wird mir bewusst, wie sehr mich die Unruhe im Büro gestört hat, die ständigen Telefongespräche, das monotone Klackern der Tastaturen. Acht Stunden am Tag im Großraumbüro sind definitiv nichts für mich. Für solch einen vorgegebenen Takt bin ich nicht geeignet, das spüre ich im Moment sehr deutlich. Um mein Potenzial entfalten zu können, brauche ich Freiraum und natürliche Weite, in die ich mit meinen Augen und Gedanken eintauchen kann. In letzter Zeit war ich abends immer völlig ausgelaugt, hatte keine Energie mehr für irgendwas. Immerhin hat sich die Pflegesituation meines Vaters verbessert, sodass ich damit gegenwärtig nicht mehr belastet bin. Noch einmal tief einatmen. Ich möchte das alles jetzt hinter mir lassen. Ausatmen.
Am Ende des Holzstegs erreiche ich einen großflächig angelegten Rastplatz mit einem steinernen Kunstobjekt davor. Dort habe ich mich mit Sandra verabredet, einer Nationalparkführerin, die ich beruflich über den Tourismus kennengelernt habe. Nachdem ich ihr von meinem Reisevorhaben erzählt hatte, war sie spontan bereit, mich bei der ersten Wanderung meiner Nationalparktour durch den Hunsrück-Hochwald zu begleiten. Neugierig laufe ich einmal um den künstlerischen Steinberg herum und studiere die Infotafeln.
»Dieses Gestein hier«, Sandra deutet auf das Kunstwerk, »ist der sogenannte Taunusquarzit. Er ist mitverantwortlich für die Bildung unserer Hangmoore, die wir auch Hangbrücher nennen. Sowohl der Quarzit als auch die Moore sind typisch für den Nationalpark.« Gemeinsam wandern wir auf dem Holzsteg weiter durch die Moorlandschaft.
»Dieses krautähnliche Gewächs, das du hier überall siehst, ist Torfmoos, es bildet einen Grundbaustein für das Moor und funktioniert wie ein riesiger Regenwasserspeicher.« Gebannt lausche ich Sandras Bericht über die herausragende Bedeutung der Moore. Wie ein Schwamm saugen sie den Niederschlag auf, um das Wasser nach und nach wieder an die Umgebung abzugeben. Selbst in heißen Sommern gibt das Hangmoor noch Feuchtigkeit an die Bäche ab. Ganz nebenbei ist somit auch für Hochwasserschutz gesorgt, denn gäbe es kein Moor hier oben, würde das Regenwasser viel zu schnell hinunter in die Traun und weiter in die Nahe fließen. Erstaunlich finde ich die Tatsache, dass Torf im Laufe eines Jahres nur einen Millimeter in die Tiefe wächst. In einem Meter Torf stecken also tausend Jahre Vegetationszeit. Fast ehrfürchtig schaue ich auf den grünen Teppich vor meinen Füßen.
Torfmoos produziert außerdem ein saures Milieu, das ideale Wuchsbedingungen für Wollgras und den seltenen Rundblättrigen Sonnentau bildet. Beeindruckt von den vielen neuen Informationen inspiziere ich die Moosfläche. Wie sieht denn dieser Sonnentau eigentlich aus?
»Gerne würde ich dir den Sonnentau zeigen, aber leider befinden wir uns gerade an einer Stelle, an der keiner wächst«, erfahre ich von Sandra. Aus ihrem Rucksack holt sie eine kleine bebilderte Broschüre heraus und gibt sie mir. Darin sind die wichtigsten Pflanzen der Hangmoore abgebildet, mit vielen Erläuterungen. »Damit kannst du dich ein wenig ins Thema einlesen. Wenn du wieder einmal in einem Moor unterwegs bist, wirst du mit Sicherheit ein paar der beschriebenen Moorbewohner entdecken.« Begeistert nehme ich die Broschüre entgegen und verstaue sie in meinem Rucksack.
Vom Moorsteg aus gelangen wir in einen ehemaligen Fichtenwaldabschnitt. Ehemalig, weil hier der Borkenkäfer ganze Arbeit geleistet hat. Wie Zahnstocher ragen abgestorbene Fichtengruppen aus dem grünen Waldgemisch hervor. Was ich aus der Distanz bisher nur als braune Flecken im Waldbild wahrgenommen habe, sehe ich nun aus nächster Nähe. Manche Fichten haben bereits ihre Rinde komplett abgeworfen. Nackt und kahl stehen sie beieinander, ein trauriger Anblick. Mit der Hitze und der Trockenheit von 2018 kam die Fichte nicht zurecht und war dadurch stark geschwächt. Da hatte der Borkenkäfer leichtes Spiel, wie man in vielen deutschen Wäldern sehen kann. Neugierig bleibe ich stehen und schaue mir ein Stück heruntergefallene Rinde genauer an. Deutlich sind auf der Innenseite Fraßspuren des »Buchdruckers« zu sehen. Vom sogenannten Muttergang aus führen die Spuren seitlich nach links und nach rechts. Von oben draufgeschaut, ähnelt das Fressmuster einem aufgeschlagenen Buch. Ob eine Fichte vom Borkenkäfer befallen ist, kann man auch direkt an der Rinde am Baum erkennen. Der Käfer bohrt nämlich ein Loch in die Rinde, um darunter eine sogenannte Rammelkammer anzulegen. Schätzungsweise zwei Millimeter Durchmesser haben die Bohrlöcher. Wenn man nah an die Rinde herangeht, sind sie gut zu erkennen. Nach der Paarung legen die Weibchen ihre Eier entlang eines Muttergangs ab. Sobald die Larven schlüpfen, fressen sie sich an den Leitbahnen des Baumes, die sich unter der Rinde befinden, satt. Je nach Stärke des Befalls ist dies das Todesurteil für die Fichte, denn die Leitbahnen sorgen für den Nährstofftransport von der Wurzel bis zur Baumkrone.
»Da sind ja ganz schön viele Löcher drin, in diesem Stück Rinde«, stelle ich erstaunt fest.
»Ja, das Fatale dabei ist, dass ein einziges Weibchen in einer Vegetationsperiode bis zu hunderttausend Nachkommen haben kann. Diese Menge kann man sich nur schwer vorstellen, sie macht aber ganz gut deutlich, warum sich der Käfer so schnell ausbreiten kann.«
Noch habe ich keine großen Waldschäden gesehen, in meiner Heimat gibt es wenig Fichtenwälder. Aber wenn ich so auf die sterbende Fichtengruppe vor uns schaue, möchte ich mir das nicht auf einer großen Fläche vorstellen.
Mittlerweile sind wir auf einer Lichtung angekommen. An einem quer liegenden vermodernden Baumstamm bleiben wir stehen. Etliche Baumpilze, die aussehen wie gestreifte Zipfelmützen, haben sich auf ihm angesiedelt.
»Das sind Zunderschwämme«, erklärt Sandra. »Sie wachsen vor allem an Buchen, die bereits geschwächt sind. Der eigentliche Pilz sitzt im Baum, und der Zunderschwamm ist sein Fruchtkörper. So ein Schwamm kann bis zu dreißig Jahre alt werden. Schau ihn dir mal genau an, fällt dir etwas auf?« Kopfschüttelnd gebe ich mich geschlagen. »Sobald der Baum am Boden liegt, ändert der Schwamm seine Wuchsrichtung. Er dreht sich so, dass seine Sporen nach unten fallen können.« Tatsächlich, jetzt erkenne ich es auch: Die Zunderschwämme haben sich an die neue Lage angepasst und sich um neunzig Grad zum Boden hingedreht.
»Komm mal mit, ich möchte dir noch etwas zeigen.« Mit einem vielsagenden Blick bedeutet mir Sandra, ihr zu folgen. Wir verlassen den Wanderweg und laufen einen schmalen Pfad entlang, der uns weg vom Hangmoor und hinein in den Wald führt. Sofort spüre ich die atmosphärische Veränderung, als wir immer tiefer in den Wald gelangen. »Das hier ist mein Lieblingsplatz. Wir befinden uns hier ganz nah an der Kernzone des Nationalparks. Lass uns kurz stehen bleiben«, schlägt Sandra vor. Dicht stehen die Nadelbäume beieinander, durch ein paar gefallene Bäume haben sich vereinzelt Lichtinseln gebildet. Um uns herum ist der Boden bedeckt mit leuchtend grünem Moos. So weit mein Auge reicht, überall Moos. Aus dem grünen Teppich ragen abgebrochene Baumstämme und Äste heraus – ein Sinnbild für die beginnende Wildnis. Friedliche Stille umgibt uns.
»Hier darf Natur Natur sein. Es wird nicht mehr eingegriffen, und das für alle Ewigkeit«, vernehme ich Sandras Flüstern und meine, Ehrfurcht in ihrer Stimme wahrzunehmen.
Ich nicke nur und drehe mich einmal langsam um die eigene Achse. Tief in mir regt sich eine Empfindung, die ich noch nicht richtig beschreiben kann. Am liebsten hätte ich mich auf das Moos gelegt und meinen Kopf am Fuße eines Baumes in die schützende Weichheit gebettet. Tränen steigen mir in die Augen. Dieser Ort ist besonders, er berührt mich. Sandra lächelt mir zu, wissend und verstehend.
»Möchtest du gerne mehr von unserem Nationalpark sehen?«, fragt sie mich nach einem Moment gemeinsamen Schweigens.
»Unbedingt, zeige mir bitte mehr davon«, antworte ich, noch immer tief beeindruckt von der Umgebung und etwas verwirrt über meinen Gefühlsausbruch. Was war das eben? Wieso hat mich dieser Platz so berührt? Versunken in meine Gedankenwelt, folge ich Sandra wieder zurück auf den Wanderweg. Noch eine ganze Weile wandern wir zusammen durch schönen Mischwald und am Traunbach entlang. Sandra erklärt und berichtet, ich höre aufmerksam zu und nehme alle Infos begierig auf. Bisher war ich der Meinung, ich wüsste ganz gut Bescheid über die Natur und den Wald. Immerhin bin ich ja Wanderführerin und komme gut zurecht »da draußen«. Am Ende unserer Wanderung jedoch muss ich feststellen, dass ich von vielem noch keine Ahnung habe. Insbesondere sind mir manche Zusammenhänge noch nicht klar. Wie funktioniert das System Wald eigentlich? Welche Eingriffe haben welche Auswirkungen auf dieses System? Wie kann ich aus einem Stück Wald oder einer Landschaft Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Entwicklung ziehen? Fragen über Fragen geistern durch meinen Kopf. Wo sonst, wenn nicht in den Nationalparks werde ich die Antworten darauf finden?
»Das Besondere an der Mörschieder Burr ist das Gestein und die Art, wie es hier liegt«, leitet Sandra am nächsten Morgen unsere Wanderung auf einer Etappe des Saar-Hunsrück-Steigs ein. Wir sitzen inmitten einer sogenannten Rosselhalde, die sich von oben über den gesamten Hang ins Tal erstreckt und durch den Wanderweg in zwei Hälften geteilt wird. Ein Standort, der typisch für den Nationalpark Hunsrück-Hochwald ist, wie ich erfahren habe. Felsbrocken unterschiedlicher Größen liegen wie hingeworfen auf dem schrägen Berghang. Dort, wo das Gestein nicht so dicht beieinanderliegt, haben sich Bäume und niedriges Buschwerk angesiedelt. Insgesamt eine wundervolle Atmosphäre, die mich ein wenig an Südfrankreich erinnert. Am Wegesrand haben wir es uns auf zwei größeren Felsblöcken gemütlich gemacht, sitzen in der Mittagssonne und packen unsere Rucksackverpflegung aus.
»Alles, was du hier an Gestein siehst, ist Taunusquarzit«, knüpft Sandra an unsere Unterhaltung über diese Besonderheit des Nationalparks an. Wie sich im fortlaufenden Gespräch herausstellt, ist sie Diplom-Geografin. Mit großem Interesse lausche ich ihren aufschlussreichen Erklärungen zur Entstehung der Blockschutthalde. Was für mich wie ein riesengroßer Geröllhaufen aussieht, ist das Ergebnis eines Prozesses, der vor etwa zehntausend Jahren während der letzten Eiszeit begonnen hat und bis heute andauert. Entstanden ist der Taunusquarzit aber schon viel früher, schätzungsweise vor dreihundertachtzig Millionen Jahren. Wir sitzen hier also auf einem Haufen richtig alter Steine. Infolge tektonischer Bewegungen ist der Quarzit irgendwann aus der Erde herausgefaltet worden. Extreme Temperaturschwankungen haben das Gestein über Jahrtausende zum Platzen gebracht. Im Sommer gibt es hier eine außergewöhnliche Thermik. Oberhalb der Steine herrscht große Wärme, unter den Steinblöcken dagegen Kälte. Dadurch entsteht eine Luftzirkulation, die zur Folge hat, dass sich an diesem Standort eine charakteristische Vegetation entwickeln kann.
»Solche Rosselhalden oder Blockhalden gibt es nur an wenigen weiteren Orten in Deutschland«, beendet Sandra unseren kleinen Exkurs in die Erdgeschichte.
Wissen verändert die Wahrnehmung und schafft ein neues Bewusstsein, wie ich nun feststelle. Noch vor ein paar Minuten saß ich auf einem warmen Stein in der Sonne. Jetzt sitze ich auf einem uralten Brocken Taunusquarzit aus dem Devon. Wie ich so über das Blockfeld schaue, fallen mir moosähnliche Gewächse auf den Steinen auf, die im Sonnenlicht in Grau- und Grüntönen leuchten.
»Was wächst denn dort für ein Kraut auf den Steinen?«, möchte ich von Sandra wissen. Meine Frage bringt sie zum Lachen.
»Das Kraut ist ein Sammelsurium aus Flechten und Moosen. Auch sie sind typisch für diese Rosselhalden. Wir waren einmal mit einer Flechtenforscherin hier unterwegs und haben einiges von ihr erfahren. Siehst du die hellgrünen Büschel? Das ist eine Unterart der Rentierflechte. Du kennst sie sicherlich als Dekomaterial für Gebinde oder Modelleisenbahnen.«
»Ja, genau! Damit haben wir früher immer die Weihnachtskrippe verziert. Ich kann mich sogar noch gut daran erinnern, dass sie sich weich anfühlte. Wir haben uns nie darüber Gedanken gemacht, wo das Zeug herkommt, geschweige denn, was das überhaupt ist.«
»Da bist du nicht die Einzige. Nicht umsonst sind sie in manchen Gebieten bedroht und deshalb schutzbedürftig. Manchmal beobachte ich die Leute, wie sie an diesem Blockfeld vorbeiwandern. Kaum jemand nimmt diesen Artenreichtum hier wahr. Man genießt die schöne Aussicht, macht kurz Pause und geht weiter. Aber die kleinen Dinge am Wegesrand bleiben unentdeckt. Dabei sind manchmal richtige Kostbarkeiten darunter, wie diese Flechten hier. Im Nationalpark Hunsrück-Hochwald ist dieses steinerne Meer etwas ganz Besonderes.«
Die kleinen Dinge am Wegesrand – da gebe ich Sandra recht. Oftmals sind das die tollsten Entdeckungen unterwegs. Normalerweise achte ich sehr auf diese Kleinigkeiten. Aber ich muss gestehen, dass ich für Flechten bisher keinen Blick hatte. Gebannt höre ich der Nationalparkführerin zu und lerne Grundlegendes zu den auf den ersten Blick unscheinbaren Gewächsen. Flechten sind Symbiosen aus Pilzen und Algen. Allein für sich könnte keines der beiden existieren. Erst durch die Lebensgemeinschaft können sie sich an diesem Extremstandort entsprechend ausbreiten. Eine Flechte kommt mir bekannt vor, die Landkartenflechte. Wie unzählige kleine Kontinente zeichnet sich das fein strukturierte Muster auf der Steinoberfläche ab. Mir ist, als schaute ich aus dem All auf einen weit unter mir liegenden Planeten. Was mich aber am meisten überrascht, ist die Tatsache, dass solche Flechten bis zu tausend Jahre alt werden können. Sie wachsen extrem langsam – im Jahr so zwischen einem viertel und einem halben Millimeter in der Fläche. Neugierig schaue ich mich um und versuche, noch weitere Arten zu entdecken. Gedankenlos mache ich ein paar Schritte hangabwärts und stelle mich auf einen Steinquader, um einen noch besseren Blick zu haben. »Vorsicht, im Nationalpark gilt Wegegebot!«, ruft mir Sandra zu. »In dem Moment, in dem du auf diese Flächen trittst, kannst du die Strukturen der Flechten zerstören. Denke bitte auch immer daran: Neben den Wegen beginnt das Naturreich, das wir hier im Nationalpark respektieren und schützen. Auch das Errichten von diesen unsäglichen Steinpyramiden ist hier nicht erwünscht.« Mit einem Anflug schlechten Gewissens hüpfe ich geschwind zurück auf den Weg.
»Steinpyramiden mag ich auch nicht besonders«, antworte ich. »Warum müssen die Leute überall ihre Spuren hinterlassen? Wenn es keine aufgeschichteten Steinhaufen sind, dann sind es Kritzeleien auf Bänken oder eingeritzte Initialen auf Felswänden. Von dem weggeworfenen Abfall überall an den Wanderwegen ganz zu schweigen.«
»Du hast recht, das ist ein weitreichendes Problem, leider auch hier im Nationalpark. Vielen ist nicht bewusst, dass wir uns als Besucher im Wohnzimmer der Natur befinden und es genauso hinterlassen sollten, wie wir es betreten haben.«
Etwas mehr Achtsamkeit und Respekt vor den Geschöpfen des Naturreichs wäre vielerorts wünschenswert, darüber sind wir uns einig, während wir uns wieder auf die Wanderung begeben. Kaum losgelaufen, bleibe ich erstaunt an einem großen, flachen Gesteinsbrocken stehen. Es ist unglaublich, was sich auf diesem Stein alles tummelt. Stolz analysiere ich den Bewuchs: verschiedenfarbige Landkartenflechten, unterschiedliche Moose und eine hellgrüne Flechte mit roten Punkten. Bei näherer Betrachtung sieht ihre hellgrüne Oberfläche körnig aus. Insgesamt erinnert das Gewächs an eine ausgestreckte Hand, deren Fingerspitzen rot gefärbt sind. »Sandra, schau mal, was ich entdeckt habe. Weißt du, was das für eine Flechte ist?«
»Oh, du hast eine Scharlachflechte gefunden. Das Rote auf den Flechtenspitzen sind die Fruchtkörper.« Unfassbar, welch kleine Welten sich auf nur einem Stein auftun können. Eine richtige kleine Wohngemeinschaft ist hier entstanden.
»Es haben sich auch ein paar Trompetenflechten dazugesellt«, stellt Sandra fest und macht sich wieder auf den Weg, während ich mir noch einen Moment lang fasziniert die schlanken, zartgrünen, trompetenförmigen Flechten anschaue, bevor ich mich ihr anschließe.
Auf einem wild anmutenden Pfad wandern wir an schroffen Felsgebilden entlang. Mir fällt ein Unterschied zu den üblichen Waldpfaden auf, die ich bisher während meiner Wanderungen kennengelernt habe. Abgebrochene Äste, mit und ohne Blätterwerk, liegen über den Boden verteilt. Umgefallene Bäume lehnen an Felswänden oder sind in Nachbarbäume gestürzt. Ganz klar, hier entsteht Wildnis. Gefangen von der Atmosphäre bleibe ich stehen, möchte wahrnehmen und mich hineinfühlen in diese neue Aura. Angenehmer Holzgeruch und Blätterduft hängen in der Luft. Vor Kurzem erst muss hier ein Sturm durchgerauscht sein, denn die Bruchstellen sind noch frisch. Dazwischen erkenne ich auch schon älteres Totholz, von dem ein erdiges Aroma ausgeht und das nahezu komplett mit Moos überwuchert ist. Und inmitten des ganzen Durcheinanders streben junge Bäumchen dem Licht entgegen. Ein paar Birken, Eschen und kleine Fichten werfen ihr sattes Grün in das von Brauntönen dominierte Gesamtbild. Solche Kontraste und Gegensätze bringt wohl nur die Natur zustande. Im Schlendergang folgen wir dem Wanderweg, und ich bin erstaunt, als sich nach wenigen Metern das Waldbild komplett verändert. Mächtige Fichten mit tief hängenden Ästen heißen uns willkommen in einem mystischen Zauberwald.
»Das ist ja hier wie im Märchen«, rufe ich Sandra zu.
»Ja, das finde ich auch, ich mag diesen Abschnitt sehr. Wir befinden uns jetzt in einem über neunzig Jahre alten Fichtenwald, der sich langsam zur Wildnis entwickelt«, erzählt Sandra.
Etwas zerzaust sehen die Bäume aus, manche Äste sind bereits kahl und ragen wie Skelettarme aus dem Nadeldickicht. Herumliegende Steinbrocken tragen Mäntel aus Moos und bieten kleinen Pilzgeschöpfen eine Lebensgrundlage. Das ist absolut kein Vergleich zu den Nadelwäldern, die ich bisher gesehen habe. Tief inhaliere ich das Waldparfüm, eine Mischung aus Harz- und Nadelduft, mit einem Hauch würziger Erde. Ach, könnte ich doch diesen Wohlgeruch mit nach Hause nehmen.
Zum Abschluss unserer Wanderung steigen wir auf den Turm der mittelalterlichen Wildenburg, die aus dem hiesigen Quarzitgestein erbaut wurde. Von der Plattform des Turms aus bietet sich ein großartiges Panorama. Im fernen Dunst ist auch der Erbeskopf zu sehen, die höchste deutsche Erhebung westlich des Rheins und zugleich der höchste Berg in Rheinland-Pfalz. Mein Blick schweift, meine Gedanken ebenso. Ich bin erst zwei Tage unterwegs und fühle mich schon ein Stück erholter und entspannter. Kein gestresster Puls zu spüren, die Atmung tief und ruhig, meine Gedanken fangen an, sich zu ordnen. Natur wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus, das ist mir bekannt. Umso unbegreiflicher ist es mir, dass ich mich so verloren habe, dass ich nicht schon viel früher dieser inneren Leere gewahr wurde.
Am nächsten Tag bin ich mit Natur- und Landschaftsführer Gerhard zu einer Wanderung auf dem Trauntal-Höhenweg verabredet. Hangmoor und Rosselhalde habe ich bereits kennengelernt. Nun geht es um das Thema »Buchenwald«. Diese drei besonderen Lebensräume auf der doch relativ kleinen Nationalparkfläche sind ein Alleinstellungsmerkmal des Hochwalds. Etwa achtundvierzig Prozent des Waldes im Schutzgebiet bestehen aus Rotbuchen, manche davon sind um die zweihundertfünfzig Jahre alt. Solche hochbetagten Bäume werden wir im Verlauf unserer Wanderung sehen. Vor dem Treffen mit Gerhard vertiefe ich noch etwas mein Wissen über die Struktur des Nationalparks.
In den ersten dreißig Jahren ist ein Nationalpark in drei Zonen unterteilt. Neben der Kernzone gibt es noch die Entwicklungszone, die durch gezielte Maßnahmen später in Kernzone übergehen wird, und die Pflegezone. In der Kernzone herrscht Prozessschutz, das bedeutet, die Natur wird sich selbst überlassen. Angestrebt wird ein urwaldähnlicher Zustand, damit eine größtmögliche Biodiversität entstehen kann. Es gibt Arten von Insekten, Pflanzen und Pilzen, die verrottendes Holz oder mehrere Hundert Jahre alte Bäume benötigen, um existieren zu können. Doch ein Urwald baut sich ja nicht innerhalb von fünfzig oder hundert Jahren auf, er benötigt mehrere Hundert oder gar tausend Jahre. Dafür werden solche Zonen geschaffen, die über Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg unangetastet bleiben. Ziel eines Nationalparks ist, innerhalb von dreißig Jahren fünfundsiebzig Prozent seiner Fläche in eine Kernzone zu überführen und somit dem Prozessschutz zu überlassen. Bis das so weit ist, werden dafür in den Entwicklungszonen aktiv potenzielle Wildnisflächen vorbereitet. Um benachbarte Kulturlandschaften und Siedlungsgebiete vor negativen Einflüssen (wie dem Borkenkäfer) zu schützen, gibt es rund um die Nationalparkgrenze eine Pflegezone. Sie macht etwa fünfundzwanzig Prozent der Schutzfläche aus. Hier dürfen schonende Maßnahmen und Eingriffe vorgenommen werden.
Jede Landschaft, jeder Wald erzählt eine Geschichte, die ihren Ursprung in den Bedürfnissen heutiger und früherer Generationen hat. Das Ergebnis der jahrhundertelangen wirtschaftlichen Nutzung des Hochwalds sind Fichtenmonokulturen, trockengelegte Moore und ein dichtes Wegenetz. Natürliche Waldentwicklung war auf den »Nutzflächen« nicht vorgesehen. Lediglich Gebiete, die schwer zugänglich waren (wie etwa die Rosselhalden) oder die aus anderen Gründen nicht genutzt werden konnten, sind annähernd ursprünglich geblieben. Daraus entwickelten sich Standorte für seltene und spezialisierte Arten, die es heute zu schützen gilt. Solange sich der Nationalpark noch in der Entwicklungsphase befindet, dürfen Maßnahmen für die Waldentwicklung, die Renaturierung der Moore und Gewässer sowie für den Wegerückbau durchgeführt werden. Fünfzig Prozent Kernzone hat der Hunsrück-Hochwald bereits erreicht. Mit seinen sieben Jahren ist der Nationalpark noch jung und hat für die geplanten Maßnahmen Zeit bis 2045. Nach Ablauf der Frist geht die Entwicklungszone in die Kernzone über. Schade, dass man nicht ein paar Jahrzehnte in die Zukunft schauen kann, um einen Blick auf die fortgeschrittene Wildnis zu werfen.
Am vereinbarten Treffpunkt an der Traun entdecke ich Gerhard, der bereits auf mich wartet. Er wird mich in die Buchenwald-Kernzone führen, zuerst aber unternehmen wir eine Wanderung durch das Trauntal. Unser erster Stopp ist am Eisenhüttenwehr, einem Gewässersturz an der Traun. »Der Fluss Traun ist ein Referenzgewässer, wenn es um das Thema ›naturnahe Gewässer‹ geht«, erklärt mir Gerhard. Damit Kleinstlebewesen und Fische den Höhenunterschied überwinden können, wurde mit großen Steinbrocken eine sogenannte Sohlrampe geschaffen. Von Gerhard erfahre ich, dass sich Deutschland verpflichtet hat, die EU-Wasser-Rahmenrichtlinien umzusetzen und die Gewässer in einen guten Zustand zu überführen. Das ist recht schwierig, besonders bei kanalisierten Flüssen wie der Mosel oder dem Rhein mit seinen Staustufen. Bei kleineren Gewässern gestaltet sich das etwas einfacher.
»Wie du sehen kannst, hat die Traun hier viel Platz, darf sich erweitern und ihren Lauf verändern. Genau so sollte ein naturnahes Gewässer aussehen. Eisvögel, Wasseramseln und Schwarzstörche haben sich hier angesiedelt, ein Zeichen dafür, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht.«
Idyllischer kann ein Gewässer kaum sein, stelle ich fest. Durch das breite Flussbett wirbelt in kleinen Strudeln kristallklares Wasser. Begleitet vom besänftigenden Rauschen der Traun erreichen wir die Abentheurer Hütte, ein gut erhaltenes Zeugnis der einstigen Hunsrücker Eisenindustrie. In der ehemaligen Eisenhütte wurden bis ins 19. Jahrhundert Eisenwaren hergestellt. Über ein gut ausgeklügeltes und weitverzweigtes Kanalsystem wurde Wasser ins Hüttengelände geführt. Das waren richtige Baukünstler damals, denn sie mussten ein Gefälle einkalkulieren, damit das Wasser immer abwärtsfließen konnte. Die saarländische Hüttenindustrie nahm an diesem Ort ihren Anfang. Erzvorkommen, Wasserreichtum und ausgedehnte Wälder waren die Grundlage für die Entstehung der Eisenindustrie. Für die Hochöfen und die Verarbeitung des Eisens wurden große Mengen Holzkohle benötigt, was den Raubbau an den Wäldern durch die Köhlerei einleitete. Noch heute findet man in den Wäldern kreisförmige Mulden, dort, wo sich einst die Kohlenmeiler befanden. Der abgeholzte Wald wurde mit Fichten wieder aufgeforstet.
An schroffen Felsengebilden wandern wir bergauf, hinein in einen lichtdurchfluteten Buchenwald. Fasziniert blicke ich mich um, nehme wahr, erfreue mich an der schüchternen Wildheit um mich herum. Gefallene Altbäume, mit Moos bewachsen, leuchten auf, sobald ein Sonnenstrahl auf sie fällt. Frisches, junges Grün sprießt zwischen kräftigen Buchen und stehenden Totholzstämmen. Jungbäume wachsen um die Wette. Nur die schnellsten werden mit ihren Baumkronen einen Dauerplatz im Tageslicht bekommen. Vermutlich sind durch Trockenheit und Windwurf Lichtungen entstanden, die nun neu bevölkert werden. Als ob Gerhard meine Gedanken lesen könnte, beginnt er, die vorhandenen Baumgenerationen zu analysieren.
»Auf dieser Fläche sehen wir hauptsächlich junge, gleich hoch heranwachsende Buchen und sehr viel höhere Altbuchen. Dazwischen ist viel Leere. Durch einen ideal aufgebauten Mischwald kannst du normalerweise nicht hindurchschauen, denn der besteht aus drei Altersklassen: Jungbäumen, erwachsenen Bäumen und Altbäumen. Gibt es nur junge und alte Bäume, kann man daraus ableiten, dass vorher eine Monokultur herrschte, in der nichts anderes wachsen konnte. Wenn dann, wie hier, eine Lücke entsteht – sei es durch Windwurf oder andere Einflüsse –, wachsen junge Bäume heran. Die mittlere Altersklasse allerdings fehlt.«
Wie dankbar bin ich für dieses Wissen! Zukünftig kann ich mir die Entstehungsgeschichte eines Waldstücks anhand seiner Generationenverteilung herleiten. Während ich noch weiter darüber nachdenke, erreichen wir einen neuen Abschnitt unserer Wanderung. Hohe, schlanke Buchen beherrschen das Areal. Am Boden wächst kaum etwas. Lediglich dort, wo Lücken entstanden sind und Licht bis zum Boden gelangen konnte, sind junge Bäumchen gewachsen. Kleine grüne Inseln im vorherrschenden Braun verwelkter Blätter. Zwischenzeitlich haben wir den Bergrücken erreicht. Vor uns taucht eine merkwürdige Konstruktion auf: ein aufgespanntes Netz und mehrere Behälter mit Flüssigkeiten, die von Ästen herunterbaumeln – hier wird Forschung betrieben. In den Behältern befinden sich Substanzen, die über eine gewisse Zeit spezielle Insektenarten anlocken.
»Über die Anzahl der gesammelten Insekten in den Flüssigkeiten lassen sich dann Rückschlüsse auf den Lebensraum und die darin befindliche Artenvielfalt ziehen«, klärt mich Gerhard auf.
Wenige Wanderminuten später gelangen wir auf eine flache Bergkuppe. Sprachlos schaue ich mich um. Haufenweise trockenes Geäst liegt herum, kahle Baumkronen ragen empor, hier und da ein umgeknickter Baum – was für ein wildes Szenario. Spontan ziehe ich einen Vergleich zu den ausgebleichten Gebeinen eines Elefantenfriedhofs. Nur, dass es sich hier um Bäume handelt.
»Willkommen in der Buchenwald-Kernzone«, raunt Gerhard mir zu, »ein ganz besonderer Platz, wie ich finde.«
Dem kann ich mich nur anschließen. Werden und Vergehen – in sehr eindrücklicher Weise. Etwas Vergleichbares habe ich noch nie gesehen und ist in Wirtschaftswäldern wohl kaum zu finden. Mächtige Totholzstämme, von Spechten durchlöchert und übersät mit Baumpilzen, stehen zwischen aufstrebenden Jungbäumen. Inmitten des ganzen Chaos ragt der riesige nackte Stamm einer uralten Buche auf. Wir schätzen ihr Alter auf etwa dreihundert bis dreihundertfünfzig Jahre. Nicht einmal zu zweit können wir sie komplett umfassen. An einer anderen Stelle winden sich dicke moosige Äste wie Riesenschlangen übereinander und bilden ein wirres Geflecht. Dennoch zieht uns dieser Platz an. Auf einem moosweichen, von der Sonne gewärmten Stamm machen wir es uns bequem und packen unsere Brotzeit aus. Essen unter freiem Himmel ist etwas Feines. Alles schmeckt viel besser, finden wir. Sonnenwärme, Vogelgezwitscher, der Duft des Waldes – mich durchströmt ein angenehmes Gefühl von Zufriedenheit und Zuversicht. Alles wird gut. Ich lächle. Gerhard ebenso.