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Hera Lind

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Beschreibung

Erst ein dramatischer Unfall, dann die waghalsige Flucht aus der DDR: Im Tatsachenroman »Mit dem Mut zur Liebe« erzählt Nummer-1-Bestseller-Autorin Hera Lind die wahre Liebesgeschichte der Artisten Dieto und Johanna. Es ist Liebe auf den ersten Blick, als sich Johanna und Dieto 1957 in Dresden zum ersten Mal begegnen. Ihre Väter waren zusammen in russischer Kriegsgefangenschaft, und beide bringen ihren Kindern die artistischen Kunststücke bei, die ihnen den sicheren Tod im Arbeitslager erspart haben. Doch als das junge Artistenpaar nach hartem Drill schließlich Weltniveau erreicht, muss Dieto sich drei Jahre beim Militär verpflichten. Das junge Paar flieht Hals über Kopf in einem Schlauchboot über die Adria, wo sie nur mit Badesachen bekleidet nach 36 Stunden völlig erschöpft ankommen .Da wird ihnen bewusst, dass sie ohne ihr Equipmentkeine Existenz aufbauen können. Dieto lässt Johanna bei Fremden zurück und versucht es ein zweites Mal. ... Ergreifend und voller Hoffnung erzählt der dramatische Tatsachenroman von Bestseller-Autorin Hera Lind die wahre Geschichte eines ganz normalen Paares aus der DDR, dessen Liebe über alle Grenzen trägt.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Hera Lind

Mit dem Mut zur Liebe

Roman nach einer wahren Geschichte

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Erst ein dramatischer Unfall, dann die waghalsige Flucht aus der DDR: Im Tatsachenroman Mit dem Mut zur Liebe erzählt Nummer-1-Bestseller-Autorin Hera Lind die wahre Liebesgeschichte der Artisten Dieto und Johanna. Es ist Liebe auf den ersten Blick, als sich Johanna und Dieto 1957 in Dresden zum ersten Mal begegnen. Ihre Väter waren zusammen in russischer Kriegsgefangenschaft, und beide bringen ihren Kindern die artistischen Kunststücke bei, die ihnen den sicheren Tod im Arbeitslager erspart haben. Doch als das junge Artistenpaar nach hartem Drill schließlich Weltniveau erreicht, muss Dieto sich drei Jahre beim Militär verpflichten. Das junge Paar flieht Hals über Kopf in einem Schlauchboot über die Adria, wo sie nur mit Badesachen bekleidet nach 36 Stunden völlig erschöpft ankommen. Da wird ihnen bewusst, dass sie ohne ihr Equipment keine Existenz aufbauen können. Dieto lässt Johanna bei Fremden zurück und versucht es ein zweites Mal … Ergreifend und voller Hoffnung erzählt der dramatische Tatsachenroman von Bestseller-Autorin Hera Lind die wahre Geschichte eines ganz normalen Paares aus der DDR, dessen Liebe über alle Grenzen trägt.

Inhaltsübersicht

Motto

Widmung

Vorbemerkung

Dresden, Februar 1945

Im zerbombten Dresden, 1. März 1945

Clausnitz, April 1945

Clausnitz, Ende April 1945

Clausnitz, 4. Mai 1945, mein fünfter Geburtstag

Clausnitz, wenige Tage später, Mai 1945

Von Clausnitz nach Chemnitz, Ende Mai 1945

Chemnitz, Juni 1945

Dresden, Sommer 1945

Dresden, Winter 1945/46

Dresden, September 1946

Dresden, Drei-Zimmer-Mansarde, 4. Februar 1947

Dresden, Frühling 1947

Sommer 1948

Dresden, 1953

Dresden, 1957

Von Dresden nach Halle an der Saale, drei Monate später, Sommer 1957

Salzburg, drei Wochen später, Sommer 1957

Dresden, Ende 1959

Ost-Berlin,Friedrichstadtpalast, Probebühne, Ende 1959

Dresden, Sommer 1960

Ost-Berlin, Bühne des Friedrichstadtpalastes, einige Wochen später, Sommer 1960

Dresden, Weihnachtszeit 1960

Albanien, Sommer 1961

Dresden, 12. August 1961

Bratislava, eineinhalb Jahre später, Silvester 1962/1963

Auf Tour von Dresden aus, etwa anderthalb Jahre später, 1964

Dresden, einige Wochen später

Dresden, Musterungskommission, drei Wochen später, 1964

Nordvietnam, drei Monate später, Winter 1964

Zagreb, Jugoslawien, 4. Mai 1965

Grenzkontrollpunkt zwischen ČSSR und DDR, bei Bad Schandau, zwei Monate später, 15. Juli 1965

Dubrovnik, Jugoslawien, 6. August 1965

Fünf Tage später, Mittwoch, 11. August 1965, Mitternacht

Zagreb, 14. August 1965

Piran, Istrien, Freitag, 20. August 1965

Wien, Ende August 1965

Alpenpassstraße Richtung Jezersko, einen Tag später

Salzburg, noch am selben Abend

An Bord der SS France, Sommer 1966, ein Jahr später

Tokio, knapp zwei Jahre später, April 1968

Tokio, zwei Monate später, Sommer 1968

Lugano, Schweiz, vier Wochen später, Sommer 1968

Tokio, 1990

Tessin, Mai 2015

Nachwort Dieto, 3. August 2022

Nachwort Hera Lind

Roman- und Schreibwerkstatt

Was kann ich für Frieden und Freiheit tun, außer immer wieder wahre Geschichten über Krieg und Diktatur zu schreiben?

Hera Lind

Nach der wahren Geschichte von Dieto Kretzschmar

Gewidmet meiner lieben Frau Johanna, die leider viel zu früh von mir gegangen ist

Meinen lieben Eltern und Geschwistern

Dieto

Vorbemerkung:

Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht.

Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leserinnen und Leser erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagenhaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen. 

* Im Text kommen in Dialogen die Wörter »Judensäue«, »Neger«, »Untermensch« vor. Sie sind jeweils am Ende des Wortes mit einem *versehen. Diese Bezeichnungen gelten heute als hochgradig despektierlich und abwertend bzw. stehen für das unmenschliche nationalsozialistische Regime und werden nicht mehr verwendet. In den Dialogen werden sie jedoch wiedergegeben und weder umschrieben noch vermieden oder nur angedeutet, da es ja gerade das Anliegen der Autorin ist, durch die ausdrückliche Benennung und Wiedergabe die Zeit und die Zustände in dem kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch stehenden NS-Staat und auch danach darzustellen.

Dresden, Februar 1945

Nebenan arbeiteten viele magere schmutzige Frauen an langen Tischen im Freien.

»Was machen die denn da?« Neugierig lugte ich durch das Loch im Fenster, das ich mit meinem warmen Atem frei gehaucht hatte. »Die frieren doch!«

»Das sind polnische Zwangsarbeiterinnen.« Mein zwölfjähriger Bruder Manfred versuchte, mich an den Hosenträgern von der Fensterbank zu zerren, auf die ich vierjähriger Bub geklettert war. »Lass das nicht die Mama sehen, du kleiner Akrobat!«

»Was ist ein Akrobat?« Energisch schüttelte ich die brüderlichen Hände ab. Viel zu spannend war das gruselig schaurige Geschehen dort hinter dem Stacheldraht. Es schneite in dicken nassen Flocken, der eiskalte Wind bog die wenigen hässlichen kahlen Sträucher unbarmherzig zu Boden und gab den Blick auf ärmlichste der trostlosen Baracken frei. Ab und zu huschte eine der armen, ausgemergelten Frauen an eine Mauer, um auf einem Eimer ihre Notdurft zu verrichten. Ihre Mäntel und Jacken waren zerschlissen, zerrissen und glichen eher Lumpensäcken als Kleidung. Manche wateten sogar barfuß durch den grauschwarzen Schlamm und Schnee. Schon beim Hinsehen erschauderte ich. Zwischen Stacheldraht und den Bahngleisen, die direkt an unserem Hinterhaus vorbeiführten, bewacht von bewaffneten Soldaten, schufteten die armen Frauen erbärmlich frierend und sichtbar unterernährt im Stehen vor sich hin. Die Eisenbahnlinie Dresden–Berlin war das nächtliche Ziel der Bomber, und ich spürte, nicht nur wir waren in Gefahr, sondern auch diese armen Frauen. Aber die hatten nicht mal eine kleine Wohnung im ersten Stock, so wie wir.

»Ein Akrobat ist ein Künstler, der Tricks kann!« Manfred zerwuselte mir das störrische Haar, das schon lange keinen Kamm oder Bürste mehr gesehen hatte. »Und die Frauen da draußen arbeiten für die Fabrik Essig-Kühne. Die müssen Gurken in Gläser füllen und für die Soldaten an der Front verpacken.«

»Aber die dürfen sie nicht essen?!« Schon war ich wieder auf die Fensterbank gekrabbelt und drückte mir die Nase platt. »Die sehen so verhungert aus!«

»Nee, Kleiner. Dürfen die nicht. Das sind Kriegsgefangene aus Polen.« Manfred lugte nun auch durch das Guckloch in der zugefrorenen Scheibe. »Wer denen hilft, kriegt selber Ärger. Manche Leute sagen sogar Polackenpack zu ihnen und spucken vor denen aus.«

»Wir aber nicht, oder?«

»Natürlich nicht. Das sind doch Menschen.«

Mein Herz zog sich vor Mitleid zusammen. »Können wir denen denn nicht heimlich was zu essen reinschmeißen? Wir sind doch keine Feiglinge, oder?«

»Du hast recht, kleiner Mann.« Manfred hob mich energisch von der Fensterbank. »Hör zu, Brüderchen. Wir gehen jetzt raus auf den Hof und spielen mit dem Ball, und wenn die Aufseher nicht hingucken, lasse ich den Ball einfach auf das Gelände rollen. Du schlüpfst dann durch das kleine Loch im Zaun und heulst laut und machst Theater und suchst den Ball, und in der Zeit lasse ich ein halbes Brot ins Gestrüpp fallen.«

»Was habe ich da gerade gehört, Kinder?« Wie aus dem Nichts stand plötzlich unsere Mama in der Tür. Sie rieb sich die eiskalten Hände, die in abgerissenen Strickhandschuhen steckten, und blies hinein. Sie hatte noch ihren Mantel an, war sie doch gerade mit den letzten Essensmarken einkaufen gewesen. Das Netz mit den kümmerlichen Habseligkeiten, die sie ergattert hatte, lag auf dem wackeligen Küchenstuhl.

»Wir wollen den armen polnischen Zwangsarbeiterinnen helfen, Mama!« Manfred blickte sie aus seinen grauen Augen bittend an. »Wir können doch nicht zusehen, wie sie vor unseren Augen verhungern!«

»Nein, das können wir nicht.« Mama machte ein ernstes Gesicht. »Ich überlasse euch die Entscheidung.« Ihr Blick fiel auf das halbe Brot im Einkaufsnetz, das in grobes Papier gepackt war. »Dann haben wir heute Abend eben nichts zu essen.«

»Wir haben nicht so viel Hunger wie die Zwangsarbeiterinnen da draußen.« Das schwierige Wort wollte mir so recht noch nicht über die Lippen. Eifrig griff ich nach dem Brot und roch daran. Es war alt und schwer, die Erwachsenen nannten es Kommissbrot. Mein Magen zog sich vor Hunger zusammen, aber mein Gerechtigkeitssinn war stärker.

»Bitte, Mama, lass es uns zu den armen Frauen bringen.«

»Dann mache ich euch ein paar handliche kleine Päckchen.« Die Mama war schon auf unserer Seite. Während Manfred mir half, die knöchelhohen Schnürschuhe zu binden, schnitt Mutter das Brot in kleine Stücke, packte jedes in altes Zeitungspapier und steckte es Manfred zu. »Dass ihr mir an dem Bahngleis aber aufpasst! Nicht auf die Schienen laufen, klar? Und lasst euch nicht erwischen!«

Mit Tränen in den Augen blickte sie uns hinterher, wie wir durch das Treppenhaus hinunter in den Hof rannten, dort ein paarmal den kaputten alten Lederball hin und her schossen, und dann … mit Wucht … über den Stacheldrahtzaun in hohem Bogen auf das Gelände der Essig-Fabrik, wo die schäbigen Baracken standen. Gerade quietschte und jammerte ein Güterzug schlingernd über die Schienen im Hintergrund, da konnte ich kaum lauter heulen.

»So, Kleiner. Dein Auftritt. Je lauter du schreist, desto mehr sind die Wachposten abgelenkt.«

Ich pumpte meine Lungen voll mit der eiskalten Luft und plärrte los.

»Mein Ball! Mein schöner Ball! Du hast ihn weggeschossen!«

Manfred streckte die Hand nach mir aus und tat so, als wolle er mich trösten. Alle Blicke der Aufseher waren auf uns gerichtet.

»Los!« In Windeseile rannten wir über den Schotter, überkletterten die Hofmauer und standen schon am hohen Stacheldrahtzaun.

»Mein BALL!«, jammerte ich bühnenreif. »Wo ist mein BALL?«

Die Frauen arbeiteten in gebückter Haltung dicht beieinanderstehend weiter. Keine wagte es, sich nach uns umzudrehen. Der Güterzug wand sich wie eine nasskalte Schlange aus unserem Blickfeld.

»Ihr schon wieder!« Einer der Wachposten polterte mit seinen dicken Stiefeln heran. Er sah zum Fürchten aus, mit seinem riesigen Gewehr, das in einem Lederriemen über seine Brust hing, und machte ein finsteres Gesicht.

»Könnt ihr denn nicht aufpassen, ihr blöden Bengels!«

»Der Manfred hat ihn mir weggeschossen«, plärrte ich noch lauter, und zu meinem Erstaunen quollen echte Tränen über meine Wangen. »Die Mama haut mich, wenn ich ohne Ball wiederkomme! Den hat mir der Papa geschenkt, und der ist in Russland an der Front!«

»Na, dann kommt schon rein!«

Der Wachposten schob das rostige Tor zum Arbeitslager ein wenig auf, und während ich ihm dankbare Blicke aus feuchten Kinderaugen zuwarf, ließ Manfred unauffällig die Brotpäckchen ins Gestrüpp fallen. »Hier müsste er sein … ich hab ihn … vielen Dank, Herr Lageroffizier.«

»Ab mit euch, ihr Lausejungen!« Der gebauchpinselte Wachmann schob uns unwillig wieder hinaus. Hinter ihm glitt quietschend das Lagertor ins Schloss. »Und grüßt eure Mama.«

Ich setzte noch ein paar gekonnte Schluchzer ab, während Manfred mir mit einem Taschentuch die Rotznase wischte. »Ja, machen wir, Herr Offizier. Sie lässt Sie auch schön grüßen.« Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie die Frauen sich blitzschnell bückten und die Päckchen unter den Arbeitskitteln verschwanden. Dankbare Blicke glitten zum Küchenfenster unserer Mutter herauf, während Manfred mich an die Hand nahm und zurück über die Hofmauer hievte.

Neben der Wäscheleine und den Mülltonnen angekommen, drückte er mich an sich: »Gut gemacht, Kleiner. Aus dir wird noch mal ein großer Bühnenstar.« Und dann spielten wir, als wenn nichts gewesen wäre, in der Nachbarschaft in den Trümmern.

»Schau mal, Manfred, das hier sieht aus wie Sand! Ich backe einen Kuchen für die Mama!«

Es war festes gelbes Schießpulver, das in der abgerissenen Hälfte einer Bombe steckte, ein rund und spitz zulaufender Trichter. Da wir Kinder kaum noch etwas anderes kannten, war uns die Gefahr auch gar nicht bewusst. Mit den bloßen Händen kratzten wir den vermeintlichen Sand aus dem Stahlmantel des Bombentrichters und formten daraus »Kuchen« und »Plätzchen«.

»Da wird sich die Mama freuen! Jetzt haben wir doch noch was zu essen für heute Abend!«

Wenig später polterte es bei uns oben im ersten Stock an die Tür.

Unsere kleine dunkle Wohnung lag über dem Gemeindesaal der evangelischen Kirche. Zu Friedenszeiten waren hier Seminare und Chorproben abgehalten worden, aber daran konnte ich mich nicht mehr erinnern.

»Auweia!« Ich presste die Hände vor den Mund. »Jetzt haben sie es entdeckt!«

Mutter legte einen Finger auf die Lippen. »Kein Wort, ihr zwei. Ich regele das.«

Mit klopfendem Herzen drückte ich mich hinter ihr herum, und auch Manfred stand die Angst ins Gesicht geschrieben. »Ein Schupo«, wisperte er leichenblass.

»Guten Tag. Sie wünschen?« Mit gefasstem Gesicht öffnete Mutter die Tür. Im spärlich beleuchteten Treppenhaus stand ein Uniformierter mit Hakenkreuzbinde auf dem Arm.

»Heil Hitler. Frau Kretzschmar?«

»Ja?«

Nach dem obligatorischen Hitlergruß, den unsere Mama nur halbherzig erwiderte, zog der dicke ältere Mann einen Schrieb aus seiner Tasche und hielt ihn unserer Mama vor die Nase. »Ich habe hier eine Anzeige gegen Sie. Sie haben gegen das Kriegsrecht verstoßen.« Mein Herz polterte wie der soeben vorbeifahrende Güterzug, der sich lärmend und quietschend über die Gleise hinter dem Arbeitslager schlängelte. Selbst durch den fadenscheinigen Mantel, den unsere Mutter auch in der Wohnung trug, konnte ich ihre Beine zittern fühlen.

»Aber Herr Wachtmeister, es sind doch Kinder …«

»Sie haben gegen die Verdunklungsregeln verstoßen und somit der Anglo-Amerikanischen Luftwaffe während der nächtlichen Bombenangriffe Lichtsignale gegeben! Das ist Kollaboration mit dem Feind und Hochverrat!« Die kleinen Augen des Mannes glänzten machtlüstern. »Mitkommen!«

Rüde packte der Kerl meine Mama am Arm. Was ich begriff, war, dass es nicht um unsere versteckten Brote ging. Sondern dass Mama schon wieder neuen Ärger hatte. Sie war leichenblass geworden.

»Aber Herr Wachtmeister, ich verdunkle pflichtgemäß jeden Abend die Fenster, schauen Sie, wir haben ja nur diese zwei …« Mutter zeigte dem Möchtegern-Kriegshelden der Pantoffelgruppe, wie sie diese Männer heimlich nannte, unsere beiden kleinen Küchenfenster, vor die sie bereits die schwarze Wolldecke gespannt hatte, und auch die beiden Luken, die zum Treppenhaus hinausführten. Sie waren mit schwarzer Pappe abgedeckt.

»Und was ist das da oben?«

Der Kriegsheld zeigte auf die milchglasverkleidete Dachluke oben in der Decke. Dieser schmale Schacht war der einzige Lichtquell, der in diesen trüben Wintertagen noch ein bisschen Tageslicht in unsere Küche warf.

»Aber Herr Wachtmeister, das ist so hoch oben, wie soll ich das verdunkeln, ich komme da ja gar nicht dran, und die Kinder erst recht nicht! Wir haben nicht mal eine Leiter!«

»Sie haben dem Feinde Lichtsignale gegeben!« Der Wichtigtuer beharrte auf seiner kruden Theorie. »Sie sind verhaftet! Mitkommen!« Er zerrte Mutter am Arm aus der Wohnung, und sie stemmte sich mit Händen und Füßen in den Türrahmen. »Nicht ohne meine Kinder!«

Jetzt fing ich wirklich an zu weinen. Meine Panik steigerte sich ins Unermessliche, als in diesem Moment auch noch markerschütternd die Sirenen losheulten: Fliegeralarm! Das hysterische Heulen ging mir durch Mark und Bein. Ich warf mich an Mutters Bauch, und Manfred an ihre Brust. Der Schupo kam ins Taumeln. Schon hörten wir die ersten Tiefflieger über der Stadt herandonnern, und erste Explosionen erleuchteten wie ein Feuerwerk die Nachbarschaft. Fenster klirrten, Türen sprangen aus ihren Angeln. Die Erde erbebte.

»Lassen Sie mich los, die Kinder sind auf mich angewiesen!« Mutter trat dem Kerl einfach ans Bein. Vom Radio dröhnte die ewig gleiche Ansage: »Feindliches Bombengeschwader nähert sich im Tiefflug dem Stadtrand Dresdens! Suchen Sie unverzüglich die Luftschutzkeller auf!« Weiter kam das hysterische Geschrei aus dem schnarrenden Apparat nicht. In diesem Moment fiel der Strom aus, der Radioapparat verstummte, und die Wohnung lag in stockdunkler Finsternis.

»Warum sollte ich dem Feinde Lichtsignale senden, als hätte ich keine anderen Sorgen!«

Mit dem Mut der Verzweiflung riss sich unsere Mutter von diesem Widerling los, packte uns beide am Schlafittchen und drängte uns durch das nunmehr stockdunkle Treppenhaus vorbei am abgeschlossenen Gemeindesaal hinunter auf den Hof, durch krachende Einschüsse hinüber in das Vorderhaus und dort in den Keller, wo sie uns in die hinterste Ecke drängte. Hier lag schon unsere alte Matratze und die kratzige Decke, auf die wir uns immer zusammenkauerten.

Panisch keuchend warf sich unsere Mutter über uns und bedeckte uns mit ihrem Körper.

Der Schupo hatte wohl Reißaus genommen, jedenfalls war er nicht mehr zu sehen.

Unter Geschrei und Geheul strömten nun auch die Bewohner des Vorderhauses in den Luftschutzkeller, und gleichzeitig brummten und dröhnten die Geschwader der Tiefflieger direkt über unseren Köpfen. Jedes Mal, wenn sich die Kellertüre öffnete und eine neue Gruppe panischer Nachbarn sich hereindrängte, sah ich die lodernd brennenden Dächer und Hausfassaden, die den Himmel gespenstisch rot färbten. Wir waren in der Hölle. Mutter breitete schützend ihre Arme über uns und klammerte sich mit beiden Händen an uns fest.

Die Erschütterungen waren so groß, dass der gesamte Keller erzitterte und bebte. Holzbalken der Regale krachten herunter, Gläser mit Eingemachtem klirrten, Fenster sprangen aus ihren Verankerungen. Der beißende Rauch fraß sich schwarz und giftig in unsere Lungen. Alle husteten und röchelten um ihr Leben. Es herrschte ohrenbetäubender Lärm. Panisches Schreien, Wimmern und lautes Beten durchdrang in Fetzen den dunklen Raum, bevor der nächste Granatsplitter in unmittelbarer Nähe einschlug und es krachte.

»Na, Frau Kretzschmar, Sie haben sich ja die sicherste Ecke ausgesucht! Erst nicht verdunkeln und dann die besten Plätze einnehmen!«

In der Schwärze des Kellers, mitten in der giftigen Rauchwolke, stand auf einmal wieder der widerliche Wachmann vor uns. Durch die Finger lugte ich angstvoll aus meiner Deckung hervor. Konnte er uns nicht einmal in dieser grauenvollen Hölle in Ruhe lassen? Manfreds Lippen zitterten. Jeden Moment würde er anfangen zu weinen, und das sollte was heißen bei meinem großen Bruder! Unsere Gesichter waren kohlrabenschwarz.

»Sie haben doch sicher zu tun«, kanzelte Mutter ihn ab. »Wenn Sie frontuntauglich sind, dann haben Sie doch die Aufgabe, die Trümmer am Kellereingang wegzuräumen und Menschenleben zu retten, nicht wahr?« Mutter hielt uns beide Buben fest in ihren Armen und schaute selbstbewusst zu diesem Knilch hinauf, der doch tatsächlich nichts Besseres zu tun hatte, als uns sogar in dieser Situation noch zu drangsalieren!

»Für dieses Mal lasse ich es gut sein!«

Schon krachte der nächste Bombenabwurf in nächster Nähe auf ein Nachbarhaus, sirrend stoben Leuchtkugeln durch die Nacht, und klirrend zerbarsten Scheiben, Menschen schrien und kreischten, Staub wirbelte auf wie ein riesiges schwarzes Gebirge und drang durch unsere eigenen kaputten Fenster, und wieder lagen wir im Keller verzweifelt hustend unter einer Rauchwolke. Ich hatte als Vierjähriger schon viele Bombennächte erlebt, aber so nah wie jetzt waren die Einschläge noch nie gewesen. Der ganze Keller bebte. Es donnerte und krachte wie bei einem entsetzlichen Unwetter. Schwarze Tiere aus Ruß und Staub krochen gefräßig durch den Raum und schnappten mit ihren Riesenzähnen nach uns Kindern. Mutter stülpte die zerrissene Wolldecke über uns.

Jetzt waren die umliegenden Häuser aufgrund der Detonation offensichtlich mit eingestürzt.

»Volltreffer«, murmelte Manfred, der genau wie ich sein Gesicht auf Mutters Schoß vergraben hatte.

»Mama, ich habe Angst!« Zitternd presste ich mir die schmutzigen Hände auf die Ohren.

Mutter hatte sich mit ihrem ganzen Körper über uns geworfen und wiegte uns beide hin und her. »Ich bin bei euch, macht euch keine Sorgen, alles wird gut …«

Woher unsere Mutter diese Zuversicht nahm, diesen Mut, sich auch noch dem Widerling entgegenzustellen, und uns Kindern immer noch das unerschütterliche Vertrauen einflößte, bei ihr in Sicherheit zu sein, war mir nicht bewusst. Sie war da, das reichte mir. Ich konnte mich an Friedenszeiten ja nicht mehr erinnern. Dieses nächtliche Spektakel, der Terror, der Lärm und die Todesangst, so dachte ich, seien normal, gehörten zum Leben.

Als nach stundenlangem Beschuss endlich Entwarnung ertönte, schoben sich die Menschen stöhnend und wehklagend die Kellertreppe wieder hinauf.

Der wichtigtuerische Widerling war mit anderen Wachmännern damit beschäftigt, riesige Steinbrocken und quer liegende Balken vom Kellereingang wegzuhieven. Unter seinem Kommando »Hau ruck, hau ruck und zugleich!« gelang das nach mühevoller Anstrengung. Jemand hielt ihnen eine Lampe. »Da ist eine Hand! Vorsicht!«

Mutter sprang schon auf, um zu helfen. Manfred und ich hockten zitternd mit angezogenen Beinen auf der Bank, die Ärmel vor Mund und Nase gepresst. Das Atmen fiel zusehends schwerer. Immer noch husteten wir und rangen nach Luft. Doch es gab noch kein Entkommen aus der schwarzen Hölle.

Mit bloßen Händen gruben die Erwachsenen den Schutt weg, bis ächzend eine weitere Wand knirschte und der Putz klackernd herunterbröckelte.

»Achtung! Die Fassadenteile stürzen ein! Wir können das nicht riskieren!«

»Aber da liegt ein Mensch!« Unsere Mutter scharrte mit bloßen Händen immer weiter.

»Es ist eine Kinderhand!«

»Frau Kretzschmar, gehen Sie zur Seite! Sie behindern die Bergungsarbeiten!«

»Der liegt im Nachbarkeller, den kriegen wir hier nicht frei.«

»Außerdem ist er tot.« Jemand fühlte am Puls des schlaffen Kinderarmes, der aus dem Staub herausragte wie eine tote Schlange.

»Das ist Niese!« Manfred starrte auf den Arm, und nun erkannte ich ihn auch: Die Hand und der bloßgelegte Kinderarm gehörte zu unserem Spielgefährten, der im Nachbarhaus wohnte. Ich erkannte unter Dreck und Blut seinen zerschlissenen Hemdsärmel.

Heute Nachmittag hatten wir noch gemeinsam »Kuchen gebacken«. Er wollte seinen seiner Mama schenken.

Unter Schockstarre verharrten wir auf der Steinstufe, bis die Erwachsenen schließlich den Kellereingang so weit freigelegt hatten, dass wir schaudernd hindurchkriechen konnten.

Die eisige Morgenluft fraß sich in unsere ausgemergelten zitternden Körper, doch ich sog sie gierig in meine Lungen ein. Wie Skelette ragten die Balken und Verstrebungen der völlig zerstörten Nachbarhäuser in den dämmrigen Morgenhimmel, überall stiegen Rauchsäulen auf, als wollten sie dem trostlosen Schicksal noch hinterherwinken. In vielen nackt dastehenden Zimmern brannte es noch. Es kam mir vor wie bei einer Puppenstube, bei der man hineinsehen kann. Nur dass überall Tote unter dem Schutt herumlagen, und keine lieblichen Puppen, die man mit seinen Kinderhänden beliebig formen konnte.

Das Tor des Arbeitslagers, der Essig-Fabrik hinter den Schienen, war klaffend weit geöffnet und hing neben dem Stacheldrahtzaun, als hätte ein wütendes Monster es herausgerissen.

Aber wo waren die Arbeiterinnen?

»Kommt, Kinder!« Die Mutter fasste uns an den Händen und eilte wieder zurück in das Hinterhaus, durch das Treppenhaus hinauf in unsere kleine dunkle Wohnung über dem Gemeindesaal. Wie durch ein Wunder stand unsere Behausung noch!

Außer dass Teile dünner Putzschichten der Decke in allen Räumen abgeblättert und Gipssplitter heruntergefallen waren, schien sie noch in Ordnung zu sein.

»Kommt rein, schnell!« Wir flüchteten auf das abgewetzte Küchensofa, den Mittelpunkt unserer kleinen Wohnung. Mutter schlief oft darauf und überließ uns Kindern ihr ohnehin verwaistes Ehebett.

Keuchend, zitternd und völlig aufgewühlt ließen wir uns von Mutter die Füße warm reiben.

Geistesgegenwärtig hatte sie sofort einen Kessel mit Wasser auf die Gasflamme gestellt, um uns einen heißen Tee zu kochen. Als der Flötenkessel anfing zu pfeifen, hielt ich mir die Ohren zu und fing selbst gellend an zu schreien.

»Dieter, ganz ruhig, es ist kein Fliegeralarm, es ist nur der Wasserkessel! Ganz ruhig, mein Kleiner, alles ist gut …« Mutter wiegte mich verzweifeltes kleines Kind in den Armen.

»Wie es wohl unserer Inge geht«, versuchte sie, mich taktisch klug abzulenken. »Eure große Schwester hat ja bei ihrer Freundin übernachtet, an der Oschatzer Ecke Leipziger Straße, da ist die Eisenbahnlinie weiter weg, und da sind die Luftangriffe nicht so stark gewesen, da bin ich mir ganz sicher.« Unauffällig wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Tatsächlich ließ ich mich auf diese Weise beruhigen. »Die Inge soll wiederkommen!«

»Natürlich kommt die Inge wieder. Sie ist nur im Moment dort besser aufgehoben.« Die Mutter schüttete zwei Tassen voll mit heißem Tee und gab noch etwas Milch und Zucker dazu. »Hier, meine beiden Schätze. Schön vorsichtig, erst pusten. Das wird euch guttun. Für heute Nacht ist der Spuk vorbei.«

So saßen wir drei, in eine Decke gehüllt, kuschelten uns aneinander und pusteten in unsere Tassen. Der heiße, süße Tee füllte allmählich meinen entwöhnten Magen, und eine wohltuende Wärme strömte in mein Inneres und breitete sich aus wie ein mäandernder Fluss, der sich durch die verdorrte Wüste kämpft. Ich konnte wieder atmen. Mein Kopf sank schwer gegen die Schulter meiner Mutter.

Draußen ertönte noch immer Wehgeschrei, manchmal drang das verhaltene Jubeln der Menschen ganz dicht in eine Wolke des Weinens und Jammerns, dann hatten sie jemanden lebend unter den Trümmern gefunden.

»Was war das?« Mutter war zusammengezuckt und versteifte sich. »Hat es geklopft?«

Wir spitzten die Ohren und lauschten. »Ja. Da klopft jemand!« Flüsternd hob ich den Kopf und starrte meine Mama angsterfüllt an. »Kommt jetzt der böse Schupo und sperrt dich ein?« Schon wieder fing mein kleines Herz panisch an zu hämmern. Was sollten wir nur tun, wenn unsere Mama nicht mehr da war?

»Der klopft anders. Viel lauter. Dieses Klopfen ist zu schüchtern.« Zögerlich stand Mutter auf, legte unsere beiden Kinderköpfe auf das abgewetzte rote Sofa und schlich zur Tür. Sie legte ihr Ohr an das Holz: »Ja, bitte?«

Doch statt eines gebellten Befehls »Sie sind verhaftet« oder »Sie kollaborieren mit dem Feind!« klopfte und scharrte es ganz leise weiter.

»Mir schwant etwas.« Mutter öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte hinaus in die Schwärze des Treppenhauses. Ein angstvolles Augenpaar starrte ihr entgegen.

»Das habe ich mir gedacht. Wie viele seid ihr?« Mutter öffnete die Tür nun vollends und zog eine abgemagerte zerlumpte Frau herein, die eindeutig zu den Zwangsarbeiterinnen drüben gehörte. Ihr gelber Judenstern prangte auf der Brust ihres schäbigen Arbeitskittels.

Bebend vor Angst stand sie da, ihre Lippen formten Unverständliches.

Mutter schnappte sich die brennende Kerze vom Tisch und spähte ins Treppenhaus hinaus.

»Sechs! Ihr seid sechs! Ich kann euch unmöglich hier in der Wohnung verstecken!«, gestikulierte sie der armen Frau, die vor Zittern gar nichts herausbringen konnte.

»Wir werden beobachtet!« Mutter zog mit dem Zeigefinger ihr Augenlid herunter und machte Zeichen nach draußen. »Ein ganz besonderer Schupo hat es auf uns abgesehen!«

»Proszę bardzo!« Die magere Frau warf einen zuckenden Blick auf uns Jungen und schien uns erkannt zu haben. Wir waren die mit dem Brot! Mutter verstand auch ohne polnische Kenntnisse, dass diese armen Seelen ein vorübergehendes Versteck und Schutz suchten. Ob das Tor zum Arbeitslager durch den Bombenhagel zerstört worden war oder ob die Frauen in ihrer Todesnot ein wenig nachgeholfen hatten, blieb wohl immer deren Geheimnis. Die Baracken qualmten und brannten jedenfalls, und keine der Zwangsarbeiterinnen war wohl freiwillig im Lager geblieben.

Mutter legte den Finger auf die Lippen, stellte sich auf einen Stuhl und fischte den Schlüssel zu dem evangelischen Gemeindesaal vom Küchenschrank.

Dann löschte sie die Kerze und machte der Frau Zeichen, ihr lautlos zu folgen. Uns beide ließ sie im Dunkeln sitzen.

Mein Herz polterte schwer und hart während der wenigen Minuten, in denen sie wegblieb.

»Wo geht sie hin?«

»Ich glaube, sie lässt die Frauen in den Gemeindesaal unten!«

»Aber der Schupo? Wenn er sie findet, sperrt er die Mama ein!« Mein klägliches Wimmern durchschnitt die Stille.

»Sei leise, Dieter, halt die Klappe! Die Mama weiß schon, was sie tut!«

In dem Moment schlüpfte die Mama schon wieder herein. Wortlos huschte sie in das hintere Zimmer, das sonst Inge gehörte, und wühlte dort im Schrank herum.

»Das können wir entbehren.« Sie hielt ein Bündel Kleider von sich selbst, von Inge, aber auch alte Sachen von unserem Vater in den Händen. »Das gebe ich ihnen, damit sie ihren verdammten Judenstern ins nächstbeste Feuer werfen können!«

Schon wieder huschte sie hinaus und schlich lautlos durch das dunkle Treppenhaus. Ich biss mir auf die Lippen und zwang mich, nicht vor Angst zu schreien.

Jeden Moment würde dieser Schupo hier wieder auftauchen! Mein Herz hämmerte metallisch in meiner kleinen Brust.

»Wieso hat die Mama den Schlüssel zum Gemeindesaal?«

»Der Pfarrer hat ihn ihr gegeben, als es mit den Bombenangriffen schlimmer wurde.« Manfred legte mir die Decke wieder um die Schultern, weil ich so sehr schlotterte vor Angst.

»Er sagte zu Mama, es finden sowieso keine Seminare und Chorproben mehr statt, und er selbst muss auch weg aus Dresden, weil die Nazis ihn nicht mögen. Er meinte, Mama soll den Schlüssel in Verwahrung halten, für Notfälle.«

»Und das ist ein Notfall«, piepste ich, mit den Zähnen klappernd.

»Du hast es erfasst.«

Ein drittes Mal kam Mutter nun lautlos zurück, machte sich in der Küche an unseren letzten Lebensmittelvorräten zu schaffen und schleppte Brot, Tee, Geschirr und Besteck hinunter.

»Die Mama ist die mutigste Mama der Welt«, befand ich, und Manfred gab mir recht.

»Die Mama lässt niemanden im Stich, so klein sie ist, so mutig ist sie auch.«

Unsere Mutter war nur eins zweiundsechzig groß. Für mich als Vierjährigen war sie trotzdem die Größte.

 

Vier Tage und Nächte lang folgte weiterer heftiger Beschuss auf Dresden, und immer wenn wir in den Luftschutzkeller flohen, kamen wir an dem abgeschlossenen Gemeinderaum vorbei, hinter dem die sechs Frauen versteckt waren. Mutter brachte ihnen regelmäßig Essbares von unseren eh schon wenigen Rationen, die es gegen Lebensmittelmarken gab, aber natürlich durfte sie die armen Frauen nicht mitnehmen in den Keller. Da war ja der strenge Schupo, der uns sowieso schon mit Argusaugen beobachtete.

Jede Nacht verharrten wir schicksalsergeben auf unserer Matratze in der hinteren Ecke an der Wand, auf der unsere Decke lag, und jede Nacht warf sich unsere Mutter mit ihrem ganzen Körper über uns, wenn die Erde erbebte, die Flieger heulten, die Bomben alles um uns herum in Schutt und Asche legten und die Menschen starben.

Am Morgen des fünften Tages, wir hockten gerade wieder auf dem Küchensofa und pusteten in unseren Tee, reckte Manfred den Kopf und spähte aus dem Fenster:

»Da gehen zwei Reservesoldaten durch das Lager. Sie suchen die Frauen.«

Sofort kletterte ich auf die Fensterbank, pustete ein Guckloch in die Eisschicht und wischte mit dem Ärmel darauf herum. Tatsächlich. Zwei ältere Männer in Uniformen streiften suchend durch das Lager, öffneten Türen zu den zerstörten Baracken, schüttelten Säcke aus und warfen Tische um. Mit Entsetzen erkannte ich den widerlichen Schupo, der es ohnehin schon auf uns abgesehen hatte! Kopfschüttelnd stapften sie weiter, und meine Kopfhaut zog sich plötzlich zusammen wie mit tausend Nadeln angepickt, als ihre Blicke suchend zu unserem Fenster hinauf streiften. Blitzartig zuckte ich zurück, spähte aber neugierig durch das Guckloch. Der Schupo zeigte nach oben und erklärte dem anderen etwas.

»Sie kommen!«

Mutter erstarrte. Ihre Hände krallten sich in die Tischplatte, die Knochen standen unter der weißen Haut hervor. »Wir wissen nichts von den Frauen. Hast du gehört, Dieter?«

Eifrig nickte ich und kletterte ebenso hastig wieder von der Fensterbank. Mein Herz raste wie eine Dampfmaschine, vor meinen Augen tanzten schrille Kringel. Sie durften die Mama nicht mitnehmen. Das war alles, was in meinem verwirrten Kopf hämmerte. Nicht. Die. Mama. Mitnehmen.

Da klopfte es auch schon. Diesmal herrisch und laut, fordernd und militärisch.

»Aufmachen!«

Mutter warf uns noch einen warnenden Blick aus ernsten Augen zu, dann nickte sie unmerklich. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft.

»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

»Heil Hitler heißt das!«

»Ja, natürlich. Wie konnte ich das vergessen.«

»Frau Kretzschmar, wir wissen, dass Sie sechs polnische Judensäue*verstecken.«

Polternd traten die beiden großen schweren Männer in ihren nassen Mänteln ein und stiefelten ungeniert in das kleine hintere Schlafzimmer, das Mutter sich normalerweise mit Inge teilte. Jedenfalls, seit unser Vater nicht mehr da war. Und der war, seit ich mich erinnern konnte, nicht mehr da.

Sie rissen die Schranktüren auf, schoben das Ehebett an die Wand und leuchteten mit ihren Taschenlampen darunter. Dann rissen sie die Decke und das Federbett und die Matratzen herunter und schleuderten alles mitsamt dem Nachthemd unserer lieben Mama auf den Boden und gegen die Wand. Sie rissen die Vorhänge ab, als wenn sechs Frauen dahinter Platz gefunden hätten, und wurden immer wütender. Zuletzt fegten sie Mutters Koffer vom Schrank, der zusammen mit zwei Hutschachteln auf die Erde krachte und sich im Fallen öffnete. Keine sechs Frauen darin! So ein Pech!

»Wo sind die Weiber?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Herr Huber!«

»Für Sie immer noch Herr Reserveoffizier! Los! Was ist da unten?«

Während der eine noch die Küche inspizierte und uns beiden Brüder vom Sofa stieß, hatte der scharfe Schupo bereits seine Fährte in Richtung Gemeindesaal eingeschlagen.

»Das gehört nicht zu unserer Wohnung, Herr Huber.«

»Aufmachen!« Der Schupo donnerte gegen die schwere dunkelbraune Doppelholztür unten, dass es krachte.

Ich bildete mir ein, die Herzen der armen Frauen bis hier oben pochen zu hören.

»Das gehört zur evangelischen Kirche, soviel ich weiß.« Mutter behielt eisern die Nerven und sah ihrem Peiniger direkt in die Augen. »Früher fanden dort Chorproben statt, und Religionsunterricht für die Konfirmanden …« Sie tat, als erginge sie sich in schönen Erinnerungen. »Aber seit Dresden unter so starkem Beschuss steht, ist alles verriegelt und verrammelt. Schauen Sie, Herr Huber, selbst die schweren Klappfenster sind von innen verschlossen, da hat jemand seine Verdunklungspflicht wirklich sehr ernst genommen.« Irrte ich mich, oder zuckten ihre Mundwinkel? »Da habe ich überhaupt keinen Zugang.«

»Das glaube ich Ihnen nicht!«

»Fragen Sie doch den Kirchenvorstand, der hat im Nachbarhaus gewohnt, aber Sie sehen ja selbst, das liegt in Schutt und Asche. Niemand weiß, ob der Mann noch lebt, Sie haben ja selbst die Leichen aus dem Nachbarkeller gezogen, Herr Huber …ich meine natürlich, Herr RESERVEOFFIZIER.«

Mutter sprach so laut und förmlich, direkt vor der Eisentür, dass die sechs polnischen Frauen sie sicher gehört hatten. Ich sah sie vor meinem inneren Auge dahinter hocken und zittern wie Espenlaub.

»Aber Herr OFFIZIER; wenn Sie sichergehen wollen, gehen Sie doch zur Hauptkirche beziehungsweise zur Verwaltung, die werden sicher einen Schlüssel haben, wenn sie nicht selbst Opfer der furchtbaren Angriffe geworden sind … es heißt ja, die Frauenkirche habe es am allerschlimmsten getroffen, nicht wahr, Herr OFFIZIER?! Ist das nicht ein Jammer um das schöne Wahrzeichen unserer Stadt?« Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen und machte ein solches Theater, dass ihre Warnung ganz sicher bei den Frauen angekommen war. »Aber der Endsieg ist ja nahe, unser FÜHRER hat ja eine Geheimwaffe, und daran glauben wir alle ganz fest, nicht wahr, Herr OFFIZIER!?« Unsere Mutter schien den Kerl zu verspotten wie eine Spottdrossel den Kater.

»Das wird noch ein Nachspiel haben, Frau Kretzschmar! Wer jüdisches Pack versteckt, wird auf der Stelle erschossen. Da machen wir bei Ihnen ganz bestimmt keine Ausnahme.«

Endlich zogen die beiden ab. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich mir die schweißnassen Hände vor den Mund gepresst hatte, um nicht loszuschreien.

»Mama, was wirst du tun?« Manfred und ich kauerten sprachlos vor Angst auf dem Küchensofa, das wir inzwischen wieder halbwegs aufgeräumt hatten, und starrten in die Verwüstung der Wohnung. Es war, als hätte auch bei uns eine Bombe eingeschlagen.

»Ich muss das Richtige tun.«

Stoisch begann unsere Mama, das Schlafzimmer wieder aufzuräumen, und ich sah eine Träne aus ihren Augen rollen, als sie das Nachthemd vom Boden aufhob, es faltete und ganz ordentlich wieder auf ihr Kopfkissen legte. Vielleicht wurde ihr in diesem Moment klar, welche Konsequenzen ihre Hilfsbereitschaft für uns alle gehabt hätte!

Als wir am selben Abend unter Sirenengeheul und herandonnernden Tieffliegern schlaftrunken in den Luftschutzkeller flohen, klopfte unsere Mutter in einem bestimmten Rhythmus an die schwere Doppelholztür des Gemeindesaales, die sich daraufhin einen Spaltbreit öffnete.

»Geht schon mal vor, Jungs!«

Doch wir gingen keinen Schritt mehr ohne unsere Mama!

»Ihr müsst weg hier«, redete sie mit deutlichen Gebärden auf die sechs armen Frauen ein, die inzwischen ihre und Inges und Vaters Kleider trugen. »Das Versteck ist nicht mehr sicher!« Während draußen die anderen Bewohner der Nachbarhäuser kreischend und schreiend in ihre Luftschutzkeller stürmten, umarmten die Frauen unsere Mutter unter Tränen der Dankbarkeit. Sie hatten verstanden. Mutter drückte den Frauen je noch ein Päckchen mit Brot in die Hände, und diese flatterten daraufhin wie Gespenster lautlos in das lodernde Inferno der von Bomben getroffenen Bürgerstraße.

Mama, Manfred und ich gelangten noch in letzter Sekunde in den Luftschutzkeller, als bereits wieder die Bombeneinschläge und Explosionen auf den nahe gelegenen Schienen ein Horrorszenario gestalteten. »Schnell, in die hinterste Ecke, auf unsere Matratze!«

»Da sitzt schon jemand!« Manfred prallte zurück.

Tatsächlich. Unser Freund, der Reserveoffizier, hatte es sich auf unserer Matratze und Decke gemütlich gemacht! Breitbeinig saß er da und stierte uns an.

»Na, Frau Kretzschmar? Hatten Sie noch was Wichtigeres vor? Da sag ich nur: Weggegangen, Platz vergangen!«

»Herr Huber, Sie wollen doch nicht den KINDERN ihren Platz abspenstig machen? Haben Sie nicht mit der Sicherung des Eingangs Ihre Pflicht zu tun?« Unsere Mutter stemmte die Hände in die Hüften. Mit offenem Mund verfolgten nicht nur wir Kinder, sondern auch die anderen Mitbewohner den Dialog, während draußen die Lichtkegel pfiffen und die Tiefflieger dröhnten. »Bitte seien Sie doch so freundlich und lassen Sie die Kinder auf ihr angestammtes Lager.«

Unsere Mutter war nicht größer als der zwölfjährige Manfred, aber sie bot dem Fiesling mutig die Stirn. Ich war fest entschlossen, sie zu heiraten, wenn unser Vater nicht wiederkäme und ich ein bisschen größer war.

Der gemeine Kerl ließ sich tatsächlich von Mutter einschüchtern und rappelte sich mühsam auf. Seine einst so schnieke Uniform stand vor Dreck, seine unrasierten Backen zitterten.

»Einsperren sollte man Sie, ich habe Sie eh schon auf dem Kieker! Frech wie Dreck! Dabei grüßen Sie noch nicht mal mit Heil Hitler!« Widerwillig machte der Alte uns Platz.

»Nein, das tun offensichtlich nur noch in ihrem Nazi-Fanatismus gekränkte alte Männer, die selbst nie an der Front waren!« Mutter murmelte zornig vor sich hin. »Fünfzehnjährige Buben schicken Sie als Kanonenfutter, aber Sie sitzen hier auf der Matratze der Kinder und machen sich wichtig! Schauen Sie sich doch mal um, was Ihr Heil-Hitler seinem Volk angetan hat! Tod, Zerstörung, Angst und Hunger!«

Zum Glück hatte der Widerling nicht den Mumm, darauf etwas zu erwidern. Wenn Blicke töten könnten! Die Mama traute sich was!

In diesem Moment donnerte eine Granate direkt neben der Fabrik in die Bahngleise. Eine Explosion nach der anderen erfolgte, ein widerliches Zischen schlich sich wie ein Raubtier an der Hausmauer entlang, Eisenschienen wurden unter Feuerfunken und züngelnden Flammen hochgeschleudert und krachten direkt in das gegenüberliegende Kellerfenster. Mehrere Menschen verglühten vor unseren Augen. Entsetzlicher Gestank nach verbranntem Fleisch füllte den engen überfüllten Raum, die Menschen schrien und kreischten durcheinander, die Hilferufe übertönten sich gegenseitig und verhallten im Zischen des Feuers.

Die Kampfflieger hatten eindeutig das Ziel, die Zugverbindung zwischen Dresden und Berlin zu zerstören, und sie würden nicht aufgeben, bis sie genau das geschafft hätten!

»Los, Jungs, raus hier!«

Mutter packte uns beide bei der Hand, und im panischen Gewühl der Flüchtenden riss sie uns die Kellertreppe hoch. Die schwere zweiteilige Eichentür, die sonst todsicher – im wahrsten Sinne des Wortes – den Eingang versperrte, hing brennend und glühend in ihren Angeln.

»Nicht hinschauen, schnell darüberspringen, los, rennt!«

So liefen Mutter, Manfred und ich durch die brennende, verwüstete Innenstadt Dresdens. In den Trümmern konnte man Leichen und Leichenteile im gespenstischen Licht der noch züngelnden Feuer und glimmenden Balken sehen.

»Nicht hinschauen, Dieter, nicht meine Hand loslassen! Nur rennen, Schatz!« Mutter hatte keine Hand frei, um sich ein Tuch vor die Nase halten zu können, wie andere das taten bei dem unfassbaren Gestank nach verbranntem Fleisch, denn sie ließ unsere Hände nicht los.

»Mama! Ich habe Angst! Müssen wir auch sterben?«

»Wir sterben nicht! Wir bleiben zusammen, Kinder, los, wir laufen runter zur Elbe!«

Mit meinen Kinderaugen musste ich mit ansehen, wie zahllose Menschen in ihren Blutlachen stöhnend verstarben, manchen fehlten ganze Gliedmaßen, verdreht lagen sie da, ihre Arme und Beine lagen ganz woanders, so weit weg waren sie geschleudert worden. Manche Leichen lagen auch ohne Kopf da, und aus ihren Rümpfen sickerte das Blut, so viel Blut. Kinder lagen bäuchlings auf Schuttbergen, zwischen kaputten Möbeln, herausgerissenen Fensterbalken, unter Scherben, unter Verstrebungen und Mauerresten. Bei einem Fahrrad drehte sich noch das Hinterrad, als wollte es weiterfahren. Ein Korbkinderwagen brannte lichterloh, eine Frau hatte das Bündel darin direkt vor unseren Augen noch herausgerissen und war damit weggerannt. Manche Leichen schienen auch unversehrt, ihnen fehlte rein äußerlich nichts. Aber ihre Lungen waren geplatzt, durch den Luftdruck der Bomben.

Schwarze Asche peitschte uns mit dem eisigen Nachtwind entgegen.

»Nicht hinschauen, Dieter, lass meine Hand nicht los und renn!«

Der süßliche widerliche Geruch verbrannten Fleisches waberte über dem grauenvollen Inferno und nahm mir die Luft zum Atmen.

»Hier ist die Straße versperrt, Jungs, wir müssen über die Trümmer klettern!«

Mutter hatte nichts dabei als ihre Handtasche mit unseren Dokumenten, und auf allen vieren krabbelten wir immer wieder über Schuttberge, auch über Leichen und Sterbende.

In der Morgendämmerung schälten sich die Bilder des Grauens noch viel drastischer aus dem Dunkel. Stundenlang liefen und krabbelten wir, rannten verzweifelt um brennende Häuserblocks herum und schlugen Haken um herabstürzende Brocken oder Fassadenteile, die nach wie vor von den rauchenden Trümmern fielen. Mutter ließ unsere Hände nicht los.

 

In der Abenddämmerung schlossen wir uns einem Flüchtlingszug von Hunderten Menschen an, die alle am Ufer der halb zugefrorenen, halb bedrohlich rauschenden Elbe entlangzogen.

Im Fluss türmten sich Trümmer, Wrackteile, Holz und unheimliche Figuren, die oft an Eisschollen zerbarsten oder sich festkrallten wie lebendige Wesen. Es klapperte und knirschte, es wehte und schaukelte, es stürmte und heulte. Ich war in der Hölle.

Ein nicht enden wollender Elendszug abgerissener Gestalten, denen der Schock und die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben standen, schob sich flussaufwärts. Die Frauen schoben überladene Kinderwagen vor sich her, andere zogen ihre Kinder oder auch ihre alten Eltern auf Schlitten durch den Schnee. Manche trugen einen Koffer, die meisten hatten nur einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, andere schoben oder zogen kleine Handwagen mit letzten Habseligkeiten. Aus allen Gesichtern schaute die nackte Angst, die Hoffnungslosigkeit und die Resignation heraus. Tausende und Abertausende traumatisierte Augen starrten ins Nichts.

Unsere starke kleine Mama hingegen verströmte immer noch Lebenskraft und Zuversicht.

»Schaut, Kinder. Sie alle versuchen, möglichst weit weg vom Inferno der Dresdener Innenstadt zu gelangen. Lasst uns mitgehen.« Mutter zog uns beide schon stoisch vor sich hin taumelnden Jungs hinter sich her. »Wir müssen unbedingt versuchen, bei Anbruch der Dunkelheit unter der Augustusbrücke Schutz zu suchen. Also beeilt euch. Es bleibt uns nichts anderes übrig.«

Wie in Trance ließ ich mich von meiner Mama mitziehen. Was meine unschuldigen Kinderaugen mit ansehen mussten, ist unbeschreiblich. Es galt nur das pure Überleben.

Im Schutze der Augustusbrücke warteten wir schließlich mit Hunderten von ebenso verzweifelten und verstörten Menschen die völlige Dunkelheit ab. Wir waren einen ganzen Tag gelaufen, durch dieses eiskalte Elend! Erschöpft ließen sich viele einfach auf dem zugefrorenen harten Boden nieder. Manche kramten letzte Essensvorräte aus ihren Rucksäcken, Babys wurden gestillt. Viele Kinder hatten vor Angst in die Hose gemacht und wurden notdürftig von ihren Müttern gesäubert und umgezogen. Alte Menschen hockten zitternd und fassungslos auf ihren Schlitten. Wir hatten noch nicht mal eine Decke mit.

»Warum gehen wir nicht weiter, Mama? Hier ist es so eng, und alle schreien und weinen!« Ich war so nahe an einen Brückenpfeiler gezwängt, dass ich Angst hatte, erdrückt zu werden.

Längst heulten wieder die Sirenen los. Nun waren wir seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, ohne etwas zu essen oder zu trinken, bei klirrender Kälte und beißendem Sturm.

»Warum ist Inge nicht bei uns?« Heulend vor Hunger und Kälte wischte ich mir den Rotz von der Nase. Mir klapperten die Milchzähnchen aufeinander.

»Sie wollte unbedingt bei ihrer Freundin bleiben.« Mama kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. »Komm, mein Herz. Einmal feste reinschnäuzen. Wir müssen jetzt ganz tapfer sein.« Schon näherten sich wieder die nächsten brummenden Tiefflieger, und die Stadt Dresden wurde erneut beschossen. Bei jedem Einschlag heulten und schrien die Menschen auf. In nächster Nähe zerbarsten Brückenpfosten, die schwere Brücke ächzte und knackte. Das schwarze Wasser schäumte; Eisplatten krachten, waren es Steine oder Menschen, die von der Brücke hineingefallen waren? Ich hielt mir verzweifelt die Ohren zu. »Mama, ich will hier weg!«

Panisch rannten die Menschen nun in die Dunkelheit hinein. »Kommt, Jungs, sie beschießen die Brücke! Lauft!« Wieder packte uns Mama an den Händen und riss uns mit sich.

Mit letzter Kraft rannten wir um unser nacktes Leben. Die Bomben sausten uns nur so um die Ohren.

Dresden stand in lodernden Flammen! Sie züngelten unter dem Pfeifen und Dröhnen der Flieger in den schwarzen schaurigen Himmel hinein. Die Frauenkirche, das Wahrzeichen der Stadt, stand wie händeringend als ausgebranntes Skelett da. Immer wenn die Flieger phosphoreszierende Leuchtraketen abwarfen, um neue Ziele zu entdecken, ragten die Pfeiler wie anklagende Hände und magere Finger gegen ihre Peiniger. Doch die Angreifer gaben noch lange nicht auf. Noch immer krachten neue Granaten in die ohnehin schon zertrümmerte Stadt hinein.

»Da vorne ist die Carolabrücke! Sie steht noch! Kinder, wir haben es gleich geschafft!«

Mutter spornte uns zu noch mehr Eile an. Mir brannten die Kniekehlen und die Füße vor Kälte und Schmerzen. Meine Strümpfe waren heruntergerutscht und verursachten in den eiskalten nassen Schnürschuhen Blasen. Wir hatten nun schon viele Flüchtende überholt und waren ganz vorne am Zug angelangt. Keuchend retteten wir uns unter die Brücke, als auch schon der nächste Einschlag mitten in die Menschenmenge krachte, die es noch nicht geschafft hatte. Es war eine Leuchtrakete, die mit giftigem Phosphor angereichert war.

»Schaut nicht hin, Jungs, schaut nicht hin!« Mutter warf sich über uns und zog unsere Gesichter an ihren Körper, aber meine Augen sahen es doch, was Kinderaugen niemals im Leben sehen sollten: Mehrere Menschen hatten Feuer gefangen! Wie Fackeln rannten sie lichterloh brennend durch den Schnee. Gellende Schreie zerschnitten diese grauenvolle Szene.

»Hinwerfen«, brüllte jemand, »nicht weiterlaufen!«, und andere eilten helfend hinzu.

Zwischen meinen Fingern spähte ich hindurch und sah, wie diese armen Kreaturen sich vor Schmerzen brüllend im Schnee wälzten, während andere versuchten, ihre Mäntel über sie zu werfen und die Flammen damit zu ersticken. Manche Menschen überlebten diese Torturen, andere nicht. Manche taumelten noch einige Meter weiter, mit verbrannten Haaren und entstellten Gesichtern, um dann zusammenzubrechen. Mütter, Großmütter und Kinder schrien vor Entsetzen, Mitleid und Panik, konnten aber nichts mehr ausrichten.

»Kinder, schaut nicht hin!«, flehte unsere Mutter, die ja selbst noch eine junge Frau war und genauso traumatisiert wie wir. Sie hielt uns die Hände vor die Augen.

Doch wenn ich zwischen ihren Fingern in die andere Richtung spähte, sah ich die brennenden Christbäume wie ein schauriges Feuerwerk auf die Trümmer der Stadt niedersinken. Und die Flieger, die aus der Schwärze der Nacht herausschossen wie nimmersatte Raubtiere, die sich heulend und kreischend noch auf die letzten Ziele warfen, verstärkten Angst und Panik.

»Mama, sind wir in der Hölle?«

»Ja, das sind wir. Aber wir müssen weiter, Kinder! Sie beschießen auch diese Brücke!« Wieder trieb uns Mutter zur Eile an. »Los, lauft, weiter an der Elbe entlang!«

Auf meinen schon so müden schmerzenden Beinchen rannte ich weiter. Das Grauen und der Schreck trieben mich. Längst spürte ich die Blasen an meinen Füßen nicht mehr, die Kälte, den Hunger, die Angst. Wie ferngesteuert rannte ich an der Hand meiner Mutter, am rutschigen Ufer des Flusses entlang. Von dem schwarzen Fluss stiegen schaurige Geräusche auf, es trieben Gegenstände und Menschen darin, wenn sie nicht schon tot waren, so trieben sie zwischen den Eisschollen einem sicheren Tod entgegen.

»Mama, was bewegt sich da drüben, am anderen Ufer?« Manfred rannte keuchend neben ihr. »Das sieht aus wie Elefanten!« Geschockt blieben wir stehen. »Ja, und da sind Pferde!«

Unsägliche Schreie durchbrachen das Chaos und wehten mit dem eiskalten Nachtwind über die brodelnde Elbe. Manche hatten es über die Brücken geschafft und rannten uns mit letzter Kraft entgegen. Verendende Tiere, Hufe, die sich gegen den roten Himmel reckten, aufgerissene Mäuler, strampelnde und zuckende Gliedmaßen.

»Wir müssen da vorbei, Kinder, schaut nicht hin!«

Aber natürlich schaute ich hin. »Das sind die Tiere vom Zirkus Sarrasani!« Manfred schlug sich entsetzt die Hände vor den Mund. »Schaut mal, die Pferde haben sogar noch den Kopfputz von der Zirkusvorstellung auf!«

»Aber die werden doch in diesen Kriegstagen keine Vorstellung mehr geben?« Mama zog uns um einen von Granatsplittern zerrissenen Pferdeleib herum. Das Maul stand weit offen, es war, als würde dieses Pferd mit seinen riesigen gelben Zähnen in den Himmel grinsen. War es eben noch in einer Manege herumgerannt, unter dem Beifall des Publikums? Das konnte doch gar nicht sein! In der Hölle gab es keinen Zirkus!

»Doch, ich weiß es!« Manfred blieb erschüttert stehen. »Ich habe doch im Zirkus als Limonadenboy gearbeitet!« Tatsächlich hatte sich mein großer Bruder noch bis vor Kurzem ein paar Pfennige dazuverdient, indem er während der Zirkusvorstellungen in Pappbechern Limonade in die hintersten Ränge trug. »Die Direktorin Frau Stosch-Sarrasani hat gesagt, sie spielen weiter bis zum bitteren Ende!«

»Die Tiere müssen mitten in der Vorstellung von einem Bombenangriff überrascht worden sein!« Mutter schüttelte fassungslos den Kopf. »Sie werden sich instinktiv vor den brennenden Häusern runter zur Elbe geflüchtet haben.«

Ich unterdrückte einen Würgereiz und presste mir die Fäuste vor den Mund.

»Bitte, Kinder, schaut nicht hin!«

Doch beim Weiterlaufen stolperten wir regelrecht über weitere tote Tiere. »Das hier sind Affen! Und Zebras! Und da liegt eine Giraffe!«

»Diese hier müssen aus dem Zoo entlaufen sein!«

»Wahrscheinlich hat irgendein barmherziger Mensch in letzter Sekunde noch die Käfige geöffnet«, sinnierte Mutter, während wir versuchten, die Kadaver großräumig zu umrunden.

»Welche Schande, dass diese unschuldigen Wesen jetzt so grausam entstellt hier am Ufer der Elbe ihr sinnloses Ende finden.«

Inzwischen heulten wir alle drei vor Entsetzen. Auch Mutter, die die ganze Zeit über versucht hatte, so tapfer zu sein, brach bei dem Anblick der toten Tiere fast zusammen und schlug sich die Hände vor den Mund. Aber nur kurz, dann hatte sie ihre Fassung wieder. Die kleine Frau entwickelte ungeahnte Kräfte.

»Wir müssen weiter, Kinder.« Tapfer nahm sie uns bei den Händen und zerrte uns fort.

Vor meinem inneren Auge sah ich immer wieder verendete Tierleiber mit aufgerissenen Mäulern, auch wenn es nasse Steine oder kahle Sträucher waren, an denen wir in der gespenstischen Dunkelheit vorbeirannten. Nie würden Manfred und ich diese Nacht vergessen, sie brannte sich unauslöschlich in unsere Erinnerungen ein. Oft, wenn wir viele Jahre später noch darüber sprachen, deckten sich unsere visuellen Erinnerungen im Detail, und nichts davon entsprang unserer kindlichen Fantasie.

Im Morgengrauen erreichten wir das Blaue Wunder, die berühmte Stahlbrücke, die graziös die Stadtteile Blasewitz und Loschwitz verbindet und die Elbe überspannt. Wir waren über zehn Kilometer über Trümmer, Tote, vorbei an verendenden Menschen und Tieren, durch den harschen kniehohen Schnee und durch splitternde Eispfützen gelaufen. Wir waren am Ende. Ich hätte kein Beinchen mehr vor das andere setzen können. Lieber wollte ich sterben.

»Kinder, da vorne sind Schwestern vom Roten Kreuz!« Mutter stolperte die letzten Meter, bevor sie erschöpft gegen einen Brückenpfeiler sank. »Sie haben etwas zu essen und zu trinken für uns!«

Fassungslos betrachtete ich die Frauen mit den dunkelblauen Uniformen und den weißen Häubchen auf dem Kopf, die durch die Reihen der hilflosen Flüchtlinge huschten wie Engel und für jeden ein gutes Wort, eine Aufmunterung oder sogar einen Becher heißen Tee übrig hatten. Sie sahen nicht so aus, als wären sie seit sechsunddreißig Stunden durch Eis und Schnee, durch Trümmer und Tote gewatet. Sie kamen wie überirdische Wesen aus einem benachbarten Krankenhaus, für mich war es deshalb, als erlebte ich ein »blaues Wunder«.

»Sie sortieren die Mütter mit Kindern aus dem Flüchtlingszug aus«, wusste Manfred zu berichten. »Wir sollen uns dahinten in der Schlange anstellen.«

Mutter nahm mich auf den Arm und schleppte mich ans Ende der Schlange. Ich lag wie ein Häufchen Elend an ihrer Schulter und klammerte mich daran wie ein sterbendes Kätzchen.

Tatsächlich wurden Kranke und Gebrechliche weggeführt. »Da oben ist eine Schule. Bitte, kommen Sie.« Es musste ein Engel sein, der mit uns sprach! Die sanfte Stimme der Schwester, die mitleidig auf Mutter und uns beiden völlig verdreckten und verstörten Kinder einsprach, erschien mir nicht von dieser Welt. »Bitte folgen Sie meiner Kollegin. Es sind nur noch wenige Meter, dann können Sie sich ausruhen. Es gibt Suppe und für die Kinder je einen Becher heiße Milch.«

Mit letzter Kraft schleppten wir uns noch die rutschige Böschung hinauf. Als sich die Tore dieser Schule für uns öffneten, trauten wir unseren Augen nicht. In einem großen Saal, der sich Aula nannte, waren Strohlager aufgeschüttet worden. Und es gab für jeden eine Decke.

Eine Decke! Warmes Wasser, Tee, Handtücher! Und warme Milch! Jemand reichte mir einen Becher, und ich trank in durstigen Zügen.

Augenblicklich schlief ich an der Schulter meiner Mama ein.

Im zerbombten Dresden,1. März 1945

Wir verbrachten drei Tage und Nächte in dieser Schule, dicht gedrängt lagerten wir neben den anderen total erschöpften Familien, die hauptsächlich aus Frauen und kleinen Kindern bestanden. Mutter half, so gut sie konnte, und kümmerte sich noch um andere Kleinkinder, half, Decken und Lebensmittel zu verteilen, und tröstete, wo sie konnte. Von hinten sah sie selbst aus wie ein Kind. Doch sie war stark und zäh wie eine Löwin.

Aber auch dieser Stadtteil wurde inzwischen heftig beschossen.

»Sie haben es natürlich auf das Blaue Wunder abgesehen.« Mutter hatte uns Jungs wieder in ihre Arme genommen, in dieser dritten Nacht. »Wir dürfen leider nicht davon ausgehen, dass wir hier von den Luftangriffen verschont bleiben.«

Kaum hatte sie das gesagt, als auch schon die Wände der Schule erzitterten und der Putz von den Wänden rieselte. Das inzwischen bekannte Dröhnen der Tiefflieger, das Krachen und Bersten der Bomben in unmittelbar benachbarte Häuser ließ uns wieder um unser Leben fürchten. »Sie beschießen das Blaue Wunder!«

Natürlich wusste ich als echter Dresdner Junge, dass die kunstvoll geschwungene hellblaue Brücke, die sich hier am Ende der Stadt über die Elbe erstreckte, als »Blaues Wunder« galt. Es war die älteste Brücke Dresdens, und ein Meisterwerk der Ingenieurskunst und Architektur.

In Friedenszeiten, so hatte Mama erzählt, saß man hier in Weinlokalen und Ausflugsgaststätten und bestaunte das Monumentalwerk, das neben der Frauenkirche als Wahrzeichen der Stadt galt.

Mit den anderen Flüchtlingen rannten wir in den Keller unter der Turnhalle, wo wir unter dicken Röhren, Wasserleitungen und Heizungsrohren auf dem kalten Steinfußboden kauerten und unsere Köpfe mit den bloßen Händen schützten. Das Grauen in den Gesichtern all der Kinder und der Mütter spiegelte sich wohl in meinem eigenen Gesicht.

»Kinder, wir müssen morgen früh weiter. Es hilft nichts. Diese Schule wird es nicht mehr lange geben.«

Mutter drückte uns ganz fest an sich. »Wir müssen versuchen, nach Clausnitz zu kommen.«

»Was ist Clausnitz?« Schluchzend presste ich mich an sie. Hier wieder wegzumüssen, brach mir das Herz. »Ich will hier sterben, Mama, ich kann keinen Schritt mehr gehen!«

Wimmernd zeigte ich ihr meine blutigen Blasen an den Füßen, den Schorf an den Knien und meine vor Dreck und Urin starrende Hose.

»Aber Dieterchen, wir dürfen doch jetzt nicht aufgeben.« Die Mutter wiegte mich tröstend in ihren Armen. »Clausnitz ist unsere Zuflucht, glaube mir. Deine Schwester Inge wurde dort 1926 geboren, und dein Bruder Manfred 1933. Ich habe deinen Papa dort kennengelernt, und wir haben dort geheiratet.«

»Aber das ist doch alles schon so lange her!« Ich selbst war 1940 in Dresden geboren, das wusste ich, und was davor passiert war, war außerhalb meines Fassungsvermögens.

»In diesem Dorf haben wir möglicherweise noch Menschen, die sich an uns erinnern und die uns aufnehmen könnten.« Mutter rappelte sich schließlich auf und klopfte sich und uns den Mantel ab. Wir hatten tagelang im Mörtel und Schutt gesessen. »Es ist vierzig Kilometer von hier entfernt. Wir haben uns doch jetzt ausgeruht und gestärkt. Wir müssen es wagen!«

Und so stapften wir im Morgengrauen des 1. März 1945, versehen mit allen guten Wünschen der lieben Schwestern vom Roten Kreuz, die so rührend für uns gesorgt hatten, wieder weiter am Ufer der Elbe entlang. Diesmal allein, ohne Schutz und Begleitung der Gruppe.

»Erzähl uns von deiner Zeit mit Papa in Clausnitz!«, bat Manfred. »Dann wird uns die Zeit nicht so lang!«

Immer wieder nahm Mama mich auf den Arm, wo ich mein Gesicht in ihre Halsbeuge drückte, aber dann musste sie mich doch wieder absetzen, und ich musste laufen.

»Ja, Mama, bitte erzähl uns von Papa!«

»Also.« Die Mama wischte sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte zu mir herunter. »Eure Großeltern, die ihr noch gar nicht kennt, Papas Eltern, hatten ein Restaurant in Clausnitz, und ich bin als junges Mädchen dorthin gegangen, um für meinen Papa Bier im Krug zu holen. Euer Papa stand als junger Mann am Ausschank, und da hat es Klick gemacht.«

»Wie Klick?« Staunend sah ich zu ihr auf und stolperte neben ihr her.

»Also, vor vielen Jahren, da war ich selbst noch jung und schön …« Sofort wurden meine Schritte leichter. Vor meinem inneren Auge sah ich meine wunderhübsche Mama, nicht in ihrem abgerissenen Mantel und den derben Schnürschuhen, sondern in einem bunt geblümten Frühlingskleid. Ihre wunderschönen langen dunklen Haare steckten nicht unter einem Kopftuch, sondern fielen ihr glänzend auf die Schultern.

»Ich war ja immer die Kleinste, und als ich euren Papa sah …« Ihre Augen waren plötzlich von Lachfältchen umgeben.

»Euer Papa war auch ein verhältnismäßig kleiner Mann. Es war, als hätte eine Märchenfee uns zusammengebracht. Wir schauten uns an und mussten erst mal herzlich lachen!«

»Und da hat es Klick gemacht?« Manfred kickte einen Stein vor sich her.

»Da hat es Klick gemacht. So wie zwei Teile einer Eisenkette ineinanderpassen, wenn man sie zusammenschließt. Klick.« Mama ließ kurz meine Hand los, um ihre Finger ineinander zu verschlingen. Meine Augen leuchteten, und ich stellte mir zwei liebe Menschen vor, die füreinander gemacht waren. Für einen Moment waren wir nicht mehr in der Hölle, sondern irgendwo in einem Märchenland, zwischen Feen, Zwergen und fröhlichen Gestalten mit Musik.

»Als er mich zum Tanzen aufforderte, mussten wir beide lachen: Wir sind beide eher mittelgroß! So hat er sich ausgedrückt. Es war, als hätte der liebe Gott uns füreinander gemacht. Wir tanzten, und es war sofort um mich geschehen. Auf dem Tanzboden spielte eine Blaskapelle, und wir schwebten im Walzertakt im Kreis herum … Die anderen Leute haben gelacht und sich an uns gefreut, aber wir hatten nur Augen füreinander.« Sie stellte kurz entschlossen ihr Bündel ab, umschlang Manfred, der ja jetzt schon so groß wie sie war, mit den Armen und deutete ein paar Tanzschritte an, mitten auf den Eispfützen am schlammigen Ufer der Elbe. So entführte uns die Mama mit ihren wundervollen Erinnerungen an eine Zeit vor dem Krieg, die ich nie gekannt hatte. Vor meinem inneren Auge gingen Manfred, Mama und Bilder aus einer vergangenen Zeit ineinander über.

Ich sah meinen Papa in der Gestalt von Manfred, und ich wusste, ich würde ihn lieben.

»Der Papa war der lustigste Mann von allen, und ich wusste, den werde ich einmal heiraten.«

»Und wie habt ihr euch wiedergesehen?«

»Ganz einfach! Mein Vater hatte Gefallen am Bier gefunden und ich an Hans. Ja, wir heißen tatsächlich Hans und Grete, wie bei Hänsel und Gretel … Also ließ ich mich von meinem Vater jeden Abend um einen Krug Bier dorthin schicken. Alle waren glücklich, dachte ich zumindest. Aber dann wurde mein Vater plötzlich böse.«

»Wieso denn das?« Manfred löste sich etwas verlegen aus der Tanzpose und zog sich die Hosenbeine gerade.

Mama nahm ihr Bündel wieder auf. »Ich erzähle nur weiter, wenn wir weitergehen.«

Also setzten wir uns wieder in Trab. Sofort sicherte ich mir wieder die Hand von Mama.

»Mein Papa Wilhelm war ein sehr strenger Mann. Er trank eigentlich niemals Bier, und nachdem ich das dritte Mal gebettelt hatte, ihm einen Krug Bier bringen zu dürfen, gab er mir plötzlich eine Ohrfeige.«

»Oh, das war aber nicht nett von ihm!«

»Nein, er war noch Kanonier im Ersten Weltkrieg gewesen, und er kam sehr schwerhörig aus dem Krieg zurück. Irgendwann hat er gemerkt, dass ich nicht ihm, sondern mir selbst eine Freude machen will mit dem Bier. Solche Späße hat er nicht verstanden. Er hat immer geglaubt, wir machen uns über seine Schwerhörigkeit lustig. In Wirklichkeit ist mein Vater zwar sehr streng, aber auch ein gerechter Mann. Aber er lacht nicht so gerne wie euer Papa. Das stimmt.«

»Und wie hast du unseren Papa dann doch noch wiedergesehen?«

»Er arbeitete in einem Sägewerk. Und sein Chef war ein sehr netter Mann, er hieß Edmund Hunger.«

»Der hieß Hunger?« Plötzlich fühlte ich wieder dieses ziehende Nagen im Bauch, das ich über Mamas Geschichte fast ein wenig vergessen hatte.

»Ja, das ist ein seltsamer Name in diesen Zeiten, nicht wahr? Aber damals fanden wir den Namen nur lustig …«

Staunend folgten wir ihr mit großen Augen, und auf diese Weise brachten wir es wieder ein paar Kilometer weiter. Die Stadt Dresden lag nun, am fünften Tag unserer Flucht, in einer armseligen Silhouette aus rauchenden Trümmern und nackten schwarzen Balken hinter uns. Wie eine verlassene Theaterkulisse, bei der jemand vergessen hatte, den Vorhang darüber fallen zu lassen.