Mit dem Narbenherz - Julia Krawitz - E-Book

Mit dem Narbenherz E-Book

Julia Krawitz

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Beschreibung

Tess ist nur ein Mädchen wie viele andere auch. Sie hat es nicht immer leicht, stolpert hier und da über ihre kleinen und größeren Schwächen und möchte gerne besonders sein. Eines Tages trifft sie diesen Jungen. Er ist ihr seltsam vertraut. Und er gibt ihr das unglaubliche Gefühl, genau das zu sein, was sie immer hat sein wollen. Es muss die große Liebe sein. Was sonst?! In diesem Buch geht es um die toxische Beziehung eines jungen Mädchens mit einem narzisstischen / psychopathischen Mann und die Folgen dieser Beziehung.

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Die Autorin

Julia Krawitz studiert Schauspiel in der Schweiz und arbeitet viele Jahre als Schauspielerin und Trainerin. Danach studiert sie Psychologie an der Universität Heidelberg und an der Universität Zürich und schließt mit einem Master of Science ab.

Als Psychologin bietet Julia Krawitz Training und Beratung an, um toxische Beziehungen zu erkennen, mit toxischen Beziehungen umzugehen und sich vor weiteren toxischen Beziehungen zu schützen.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.juliakrawitz.com

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Teil 2

Nachwort

Teil 1

Für alle jungen Menschen. Auf dass sie achtsam sind, wem sie ihr Herz schenken.

Er war ihre erste Liebe, und Tess war sich nicht sicher, ob sie nach ihm noch einmal lieben würde. Sie würde sich nie wieder unbeschwert verlieben können. Die Wunde, die er in ihrem Herzen hinterlassen hatte, schmerzte wie eine wetterabhängige Narbe, mal unerträglich, mal nur ganz leicht. Aber sie war immer da. Wenn sie an ihn dachte, fühlte es sich in ihrer Brust an, als würde sie in einen Abgrund fallen. Ähnlich wie in Alpträumen, aus denen man während des Sturzes aufwacht. Der Unterschied war, Tess träumte nicht.

Tess war stark, und sie war verletzlich. Wäre sie ihm nicht begegnet, sie wäre eine Andere geworden. Sie hatte sich damit abfinden müssen, niemals wirklich begreifen zu können, was passiert war und was in ihm vorgegangen war. Immer und immer wieder hatte sie versucht mit ihrer Gedankenwelt die seine zu verstehen, was unmöglich war.

In der Zeit ihres Zusammenseins hatte Tess versucht, sich mit ihrem ganzen Sein in ihn hineinzuversetzen; sie hatte eine unsichtbare Grenze überschritten und sich irgendwo auf der anderen Seite im Nichts verloren. Es hatte Monate gebraucht, bis sie sich nach und nach und Stückchen für Stückchen wieder gefunden hatte, bis sie einigermaßen heil war.

Tess mit dem Narbenherz.

Sie hatte sich ein Bild von ihm gemacht, das nur ihre eigene Innenwelt widerspiegelte, nicht aber die seine. Nicht ihn. Er hat sich ihr nie gezeigt. Er war wie weißes Papier, auf das man alles Mögliche schreiben oder zeichnen konnte. Alle Farben hatte sie darauf getan. Das Bild war ihr schönster Traum geworden, der niemals in Erfüllung gehen würde. Und es war ihr schlimmster Alptraum, der Wirklichkeit geworden war.

Immer wieder hatte sie sich gefragt, ob es seine Absicht gewesen war, sie zu verletzen, sie zu zerstören und ob es ihm Freude bereitet hat, bis sie sich sicher war, dass es nur so gewesen sein konnte. Erst als sie die grausame Wahrheit begriffen hatte, fügten sich alle Puzzleteile wie von selbst ineinander und es ergab sich ein schlüssiges Bild. Er hat ihr Leid genossen. Es hat ihm Freude bereitet, sie zu verletzen, oder er hat es aus Langeweile getan. Es war genau das, was er von ihr wollte, es war das, was er von all den anderen Mädchen wollte.

Tess fühlte sich wie hundert Jahre, obwohl sie erst sechzehn Jahre alt war. Die Zeit mit ihm hatte ihre Unbeschwertheit mit einer mächtigen Woge ausgelöscht. Ein gieriges Monster, das in seinem Hunger kein einziges Stück ihrer kindlichen Unschuld hatte übrig gelassen. Tess sehnte sich nach der oberflächlichen Leichtigkeit der Jungen in ihrem Umfeld und gleichzeitig fühlte sie sich bei ihnen fehl am Platz. Zu früh hatte sie gelernt, was Liebe nicht ist, bevor sie lernen durfte, was Liebe ist.

Sehnsüchtig beobachtete sie händchenhaltende Paare, die sich zärtlich Worte ins Ohr flüsterten und ausgelassen herumalberten. Intuitiv wussten sie, wie es ist ein Paar zu sein. Tess würde es mühsam lernen müssen. So wie ein Schwerverletzter nach seinem Unfall das Laufen wieder erlernen musste.

Würde sie jemals wieder vertrauen?

Sie hatte ihm viel zu schnell und zu leicht vertraut. Sie hatte ihm jedes Wort abgenommen - ihm geglaubt, als er ihr sagte, dass er sie liebe, dass er immer für sie da sein wolle und dass sie gemeinsam alles erreichen würden. Sie hatte ihm geglaubt, weil es für sie die einzig denkbare Erklärung gewesen war, für das, was zwischen ihnen war, und weil ihr Denken und Fühlen sich nichts mehr als das gewünscht hatte.

Würde er es wieder tun? Würde er ein anderes Mädchen über die unsichtbare Grenze locken, dorthin wo man seine Seele verlor? Tess hatte Glück. Sie hat überlebt. Und sie war stark, stärker als jemals zuvor. Diese Kraft würde sie ein Leben lang begleiten.

Sie erinnerte sich an jedes kleinste Detail. Immer wieder hatte ihr verliebtes Herz ihr die Szene ihrer ersten Begegnung vorgespielt. Damals wusste sie noch nicht, dass sie diesen allerersten Tag eines Tages verfluchen würde. Immer wieder hatte sie sich an das wohlige Kribbeln in ihrem Bauch, das später zu einem unerträglichen Brennen geworden war, zurück erinnert. Sie hatte versucht, sich seinen Geruch einzuprägen, um ihn irgendwo tief drinnen im Geruchszentrum ihres Gehirns zu versiegeln. In der Hoffnung, ihn auch dann riechen zu können, wenn er nicht bei ihr war.

Sein Geruch war ihr zuallererst aufgefallen und zog sie vom ersten Augenblick magisch an. Geradezu betrunken machte es sie, wenn sie neben ihm stand, heimlich tiefer durch die Nase einatmete und ihn einsaugte, oder wenn er kurz wegging und sie schnell ihre Nase in den Stoff seiner Jacke steckte. Vielleicht war sein Geruch das Einzige, woran er sich unverwechselbar zu erkennen gab. Alles andere war nur das, was sie in ihm hatte sehen wollen und was er ihr wie ein gut einstudiertes Theaterstück vorspielte. Vielleicht war sein Geruch das einzig Echte an ihm. Sie hatte versucht, ihm so nahe wie möglich zu kommen, doch er war immer nur ein Fremder geblieben. Bei ihrer letzten Begegnung, als er sie ungeschickt umarmte, löste sein starker Körpergeruch einen leichten Brechreiz bei ihr aus und ihr Körper löste sich schnell aus seiner kalten Umarmung.

Ihr Körper war schlauer als ihr Verstand.

Vielleicht hatten ihre grellbunten Gefühle versucht, das komplette Nichts bei ihm wettzumachen. Ein Vakuum, das sich mit einem kräftigen Sog auf ihre Seele gesetzt hatte.

Und sie verlor dabei jede Kraft.

Ein Vampir, der auch den letzten Tropfen Gefühl aus ihr herausgepresst hatte, um seiner leeren Seele Nahrung zu geben.

„Hey! Ist das etwa die neue Single von Selah Sue?“, fragt Tess den Jungen an der Theke des CD-Ladens begeistert, während er ihr den Pappbecher mit Kaffee herüberreicht.

Er hebt den Kopf, lächelt und sagt:

„Selah Sue passt zu dir.“

Tess ist überrascht und der durchdringende Blick dieses Jungen, den sie hier noch nie zuvor gesehen hat, bringt sie aus dem Konzept.

Immer wieder überraschte er sie. Es war genau das, was ihr anfangs so an ihm gefiel. Kleine Aufmerksamkeiten, mit denen sie nicht rechnete, durch die sie sich wie der Mittelpunkt der Welt vorkam, Komplimente, nur ein Wort, ein Satz, ein Tonfall, der sie ungewöhnlich stark berührte, und immer wieder Geschenke, die ihr zeigten, dass er sich an all das erinnerte, was sie ihm über sich erzählte.

Seine ungewöhnliche Ruhe und Selbstsicherheit entwaffneten sie vom ersten Augenblick an. Immer reagierte er anders, als sie es erwartet hatte.

Bald wurden seine Überraschungen zu einer schwindelerregenden Achterbahn, auf der sie bei rasender Geschwindigkeit nirgends Halt fand und nie auch nur einen Augenblick durchatmen konnte. Nie wusste sie, was in der nächsten Sekunde auf sie zukommen würde. Seine Überraschungen bestanden darin, blitzschnell von unvergleichlicher Zärtlichkeit, wie Tess sie noch nie zuvor erlebt hatte, zu roher Gemeinheit überzuwechseln, die ihr den Atem abschnitt. Kaum war sie auf dem glücklichsten Höhepunkt ihrer Gefühle angelangt, wurde sie schon in den nächsten Abgrund gestoßen. Hin und her, immer wieder, immer weiter, bis sie keinerlei Kontrolle mehr über sich hatte und ohnmächtig im Wechselbad ihrer Gefühle taumelte.

Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Tess empfand alles um ein Vielfaches deutlicher und stärker als sie es je für möglich gehalten hatte. So unsagbar glücklich er sie machen konnte, so unglücklich, wütend und verzweifelt machte er sie nur eine Sekunde später. Tess wurde zu seiner Marionette, auf der er spielte, wie es ihm gefiel. Sie tat immer das, was er von ihr wollte und dachte dabei doch ihrem eigenen Willen zu folgen.

In den 90ern war der CD-Laden ein kleines Geschäft in der Innenstadt, das Rock- und Popmusik im Angebot hatte. Als kaum noch CDs und Schallplatten gekauft wurden, hat man den CD-Laden zu einem Café umgewandelt, das sich auf die Fahne schreibt, aktuelle Musiktrends abzubilden. Es laufen immer die neusten Titel, an den Wänden hängen überall Ankündigungen für Musikveranstaltungen und auf den schwarzen Bistrotischen liegen kreuz und quer Flyer. Tess holt hier oft einen Kaffee vor dem Nachmittagsunterricht und freut sich an der Musik, die gerade läuft. Das Café ist unter der Woche meistens wie ausgestorben. Für die Wochenenden organisiert man Liveauftritte mit Bands aus der Region. Die Verkaufstheke hat man belassen, wie sie zu Zeiten des CD- und LP-Verkaufs ausgesehen hat und an einer Wand in der hinteren Ecke des Raumes kann man sich wie schon in den 90ern mit Kopfhörer über Knopfdruck Songs anhören. Von der Straße aus lässt sich das Innere des Cafés durch seine Glasvitrine hindurch vollständig überblicken.

Tess ist wie gebannt von dem Jungen an der Theke des CD-Ladens. Sie erzählt ihm ohne Scheu, dass sie ihrer Freundin Kim genau dieses Album zum Geburtstag schenken wird. Aber eigentlich sei Kim gar nicht mehr ihre Freundin, denn vor ein paar Wochen habe sie ihr einen Jungen weggeschnappt, für den sie sich interessiert habe. Der Junge an der Theke des Cafés hört ihr aufmerksam zu, er ist sehr nett, zugewandt und dabei wirkt er irgendwie verletzlich.

Er schaut sie aus den Augenwinkeln heraus, ein wenig verschmitzt an.

Wenn Tess sich diesen Augenblick, als sie ihm das erste Mal begegnet war, aufmerksam in ihrer Erinnerung zurückholte, fiel ihr doch auf, dass er ihr immerhin einen kurzen Moment lang seltsam vorgekommen war. Anders. War es genau das, was ihr so gut an ihm gefiel?

Der Junge im CD-Laden ist ihr weder sympathisch noch unsympathisch. Keines von beidem. Oder beides zugleich? Komisch. Sie kann sich kein Urteil über ihn bilden. Ihre Eindrücke heben sich seltsam gegeneinander auf. Es bleibt nichts zurück. Das hat sie so noch nie zuvor erlebt. Normalerweise konnte sie Menschen innerhalb weniger Minuten einordnen, in mag ich oder in mag ich nicht.

Bei diesem Jungen geht das nicht.

Er war wie ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier. Da hatte sie noch nicht angefangen, Farben aufzutragen, all das in ihm zu sehen, was ihre Wünsche und Sehnsüchte ihr diktierten. Und er hatte noch nicht begonnen sich in ihre Träume hineinzuarbeiten.

Schon bei ihrem zweiten Treffen fühlte sich Tess in seiner Gegenwart mehr sie selbst als jemals zuvor. Mit ihm konnte sie sich plötzlich seinlassen. Es war, als liebe er ausgerechnet ihre Schwächen und Unsicherheiten, und als fülle er den Teil in ihr aus, der bisher gefehlt hatte. Den Teil, den sie immer so sehr vermisst hatte. All die Zweifel, die sie mit sich herumtrug, lösten sich in seiner Gegenwart einfach auf. Wie ein mächtiger Zauberer verwandelte er Tess in das, was sie immer hatte sein wollen. Vielleicht war es sein liebevoller Blick, vielleicht war es seine leidenschaftliche Bewunderung für sie?

Innerhalb kürzester Zeit war sie süchtig nach ihm.

„Dann vergiss einfach den Geburtstag von Kim und geh am Freitag mit mir aus“, sagt er, mit dieser Zärtlichkeit in der Stimme, die Tess durch Mark und Bein geht.

Sie kennen sich doch gar nicht und doch kommt er ihr so vertraut vor. Tess lacht. Dabei wirft sie ihre lockigen Haare in den Nacken und sagt:

„Mal sehen. Gib mir einfach deine Handynummer.“

Sie nimmt den bunten Werbeflyer, auf den er die zwölf Zahlen kritzelt und verabschiedet sich, indem sie kurz die Hand hebt. Er schaut ihr ruhig nach, beobachtet, wie sie mühsam die Glastür des Cafés hinter sich zuzieht, weil die eigentlich ohne Hilfe und langsam ins Schloss fallen will.

Als Tess noch am gleichen Abend ihr Fahrrad bei der Eisdiele abstellt, wo sie sich mit Jenny verabredet hat, hört sie ihn plötzlich hinter sich:

„Du hast mir gar nicht gesagt, wie du heißt!“

Wieder liegt diese ungewöhnliche Zärtlichkeit in seiner Stimme. Tess dreht sich schnell zu ihm um. Seine Hände stecken in den Taschen einer grauen Sweatshirtjacke, die Kapuze hat er sich über den Kopf gezogen. Sie fragt sich kurz, ob ihm kalt ist. Es ist Sommer. Tess trägt nur eine kurze Jeans und dazu ein ärmelloses T-Shirt. Er schaut sie wieder aus den Augenwinkeln an. Tess ist erstaunt und ein wenig durcheinander.

„Tess“, sagt sie.

Er lächelt. Dann dieses kurze Flackern seiner Augen; vielleicht nur eine Millisekunde lang. Sie denkt, er hat sich in sie verliebt, daher das Augenblitzen. Dann geht alles ganz schnell. Tess lässt ihr Fahrrad neben der Eisdiele stehen, schaut sich kurz nach Jenny um, und macht sich mit ihm auf den Weg zum Rhein. Sie wollen spazieren gehen. Sie denkt, er ist zufällig vorbeigekommen. Sie betrachtet es als romantische Fügung.

Später kam sie darauf, dass seine Aufmerksamkeit, ab dem Augenblick, als sie in seiner Anwesenheit das erste Mal den CD-Laden betreten hatte, wie ein durchdringender Scheinwerfer die ganze Zeit auf ihr gelegen hatte. Er beobachtete sie, wie ein Raubtier seine Beute beobachtet, ließ seine geballte Konzentration auf sie nieder, ließ keine Sekunde von ihr ab,