MIT DEN AUGEN DES ANDEREN - Doris Althoff - E-Book

MIT DEN AUGEN DES ANDEREN E-Book

Doris Althoff

5,0

Beschreibung

Neun Mitarbeiter des Unternehmens Kämmerer finden sich eingesperrt in einem abgelegenen Herrenhaus wieder. Was sie zunächst für einen schlechten Scherz ihrer Vorgesetzten halten, entpuppt sich nach und nach als gefährliches Spiel mit einem Ultimatum – denn das Haus wird explodieren. Um zu entkommen, muss die Gruppe als Team zusammenarbeiten und ein Rätsel lösen, welches sie zwingt, sich mit ihrer eigenen Persönlichkeit und der ihrer Mitgefangenen auf Basis des Enneagramms auseinanderzusetzen. Unter der extremen psychischen Belastung treten schnell individuelle Stärken, aber auch Schwächen und verborgene Geheimnisse ans Licht. Spielt jeder in dem Haus mit offenen Karten? Und was steckt hinter diesem perfiden Plan? Die Uhr tickt.  

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Seitenzahl: 432

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Mit den Augen des anderen

Psychothriller

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-812-6

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Mit den Augen des anderen
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Epilog
Mitwirkende
Nachwort
Danke …
Die Autorin
Man kennt ja niemals einen Menschen. Man kennt nur
die eigenen oder fremden Vorstellungen von ihm.
Neun Menschen eingesperrt in einem 
abgelegenen Haus mitten im Wald. 
Jeder geht anders damit um, dass es kein 
Entkommen gibt. Und im Hintergrund ziehen 
zwei Brüder, für die es um alles geht, die Fäden.

Mitwirkende

Mitarbeiter der Kämmerer AG

Magda Bruns

Assistentin der Geschäftsleitung nach BWL Studium, 39 Jahre, 1,80 m, schlank, sportlich, grün-braune Augen, mittellanges, brünettes Haar, tiefe Stimme, spricht betont akzentuiert, sehr gepflegtes Äußeres, trägt meistens Hosenanzüge, flache Schuhe, wenigen, aber wertvollen Schmuck, achtet sehr auf ihre Haltung, hat sich von ihrem Partner getrennt, kinderlos, raucht selten. Roter Golf GTI.

Sabine Lohmann

Sanitäterin, 29 Jahre, 1,62 m, etwas pummelig, sehr weiche, kindliche Züge, stupsnasig, langes, blondes Haar, blaue Augen, redet viel mit schriller Stimme, flache Schuhe, dunkle Jeans, bunter Pullover, Modeschmuck, große Handtasche mit Erste Hilfe Artikeln, Nichtraucherin, verlobt. Kleiner Fiat.

Dirk Koffler

Produktionsleiter nach Ingenieurstudium, 42 Jahre, 1,78 m, etwas untersetzt, aber trainiert, braune Augen, volles, braunes Haar, markantes Gesicht, spricht ruhig, aber bestimmt, trägt teure Anzüge, weißes Hemd, Krawatte, eine Breitling am Handgelenk, verheiratet, 3 Kinder, Raucher. Gelber Porsche.

Kevin Wonder

Marketing Quereinsteiger nach abgebrochenem Kunststudium, 52 Jahre, 1,68 m, graue Augen, weiche Gesichtszüge, schmalbrüstig, feingliedrig, kleiner Bauchansatz, graues, im Nacken langes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar, tiefe Geheimratsecken, redet ausschweifend, theatralisch, Lederjacke, Designerjeans, Cowboystiefel, geschieden, kinderlos, malt in seiner Freizeit erfolglos, Raucher. Ohne Auto.

Karl Mund

Entwicklungsabteilung nach Chemiestudium, 49 Jahre, 1,86 m, schlank, blaue Augen, schütteres, braunes, kurz geschnittenes Haar mit grauen Ansätzen, unauffällige Brille, Anzug von der Stange, dunkelblaues Hemd, keine Accessoires, unverheiratet, kinderlos, spricht kaum, Nichtraucher. Grauer Ford.

Sabine Bauer

Sekretärin, 38 Jahre, 1,65 m, unauffällige Erscheinung, dunkelblaue Augen, mittellanges, braunes Haar mit grauen Strähnen, graues Kostüm, randlose Brille, unverheiratet, kinderlos, Nichtraucher. Blauer Mazda.

Carmen Suarez

Zuständig für Firmenzeitung nach Germanistikstudium, spanischer Herkunft, 45 Jahre, schlank, braune Augen, attraktiver Typ, bunte Kleidung, kurzer Rock, hohe Schuhe, schwarze Locken, lange Ketten, mehrere Ringe, geschieden, eine Tochter, ständig in Bewegung, Nichtraucherin. Rotes, flaches Cabrio,

Markus Steinwehr

Betriebsratsvorsitzender, 55 Jahre, 1,90 m, massiv, fast Glatze, helle Augen, spricht sehr laut, Anzug von der Stange, verwitwet, kinderlos, starker Raucher, viel Alkohol. Jeep.

Ulrich Feinberg

Rechtsabteilung nach Jurastudium, 35 Jahre, 1,75 m braune Augen, kurzes, schwarzes Haar, schlank, Radfahrer, verheiratet, 2 Kinder, spricht ruhig mit schwacher Stimme, Nichtraucher. Dunkelgrauer Audi A8.

Die Brüder Kämmerer

Prolog

Alles war vorbereitet. Das Spiel konnte beginnen. Auf den ersten Blick wirkte das verlassene Anwesen der Familie Kämmerer durchaus malerisch. Ließ man die letzte Kurve des Waldweges hinter sich, sah man zunächst einige jahrhundertealte Linden. Die bereits abgeworfenen, herzförmigen Blätter sammelten sich um ihre mächtigen Stämme. Zwischen den Bäumen hatten sich wild gewachsene Weißdornbüsche zu einer dichten Wand ausgebreitet. Erst auf den zweiten Blick erkannte man dahinter die über zwei Meter hohe Bruchsteinmauer ähnlich einer mittelalterlichen Festung. Auf dem Mauerwerk gespannte Drähte und Stacheldrahtrollen muteten eigenartig bizarr in diesem friedlichen Grün an. Blitze und Totenköpfe auf Schildern wiesen darauf hin, dass die Drähte unter Strom standen, von ihnen eine tödliche Gefahr ausging. Unweigerlich überkam einen das beklemmende Gefühl, sich in einem ostdeutschen Teil des Landes vor der Wende anstatt im Sauerland zu befinden. Näherte man sich dem dichten Buschwerk, erfasste der Blick das vermooste, schmiedeeiserne Tor in der Hecke. Durch die eng gesetzten Stäbe war ein gemauerter Brunnen mit verwittertem Holzdeckel zu erkennen. Dahinter führten die ausgetretenen Stufen einer breiten Steintreppe zu einer Villa. Ihr war anzusehen, dass sie ihrer Funktion als Jagdschloss schon lange nicht mehr nachkam. Geheimnisvoll und verschwiegen hatte das Anwesen wohl Jahrhunderte überdauert. Unter jedem Stein vermutlich ein ungelöstes Rätsel.

Kapitel 1

6. September 2019, 19.30 Uhr

Ulrich Feinberg stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Jetzt wusste er, warum in der Einladung der Weg so genau beschrieben war. Sowohl sein Handy als auch sein Navigationssystem hatten auf dem letzten Stück des Weges ihren Dienst versagt. Weder GPS noch die Kommunikationsnetze schafften es in diesen abgelegenen Teil der Welt. Er war der letzte Gast, der seinen Wagen am Rand des schmalen Weges hinter denen seiner Kolleginnen und Kollegen abstellte. Er nickte seinem Beifahrer Kevin Wonder zu und stieg aus seinem dunkelgrauen A8. Als Justiziar des Unternehmens konnte er sich über sein Einkommen nicht beklagen und sparte nicht an materiellen Dingen, auch wenn ihm diese nicht übermäßig viel bedeuteten. Mit seinen 35 Jahren hatte er es bereits zu einer liebevollen Frau, zwei Kindern und einigem gebracht, von dem andere noch mit 50 träumten. Wichtig waren ihm ein angenehmer Umgang mit Kollegen, ein sicherer Arbeitsplatz und Gesundheit. Deshalb war er, wann immer es seine Zeit zuließ, mit dem Rad unterwegs. Nachdem sein Kollege sich im Rückspiegel den grauen Pferdeschwanz gerichtet hatte und dann ebenfalls ausgestiegen war, verriegelte er sein Fahrzeug und sah zu den mächtigen Linden.

»Wie lauschig«, bemerkte Kevin Wonder, der nach einem abgebrochenen Kunststudium als Quereinsteiger in der Marketingabteilung der Kämmerer AG untergekommen und allseits als Theatraliker bekannt war. Er zog eine Packung Zigaretten aus seiner Lederjacke, kramte in den Taschen seiner Designerjeans, für die andere einen Wochenendurlaub machten, nach seinem Feuerzeug.

»Ist ja wie früher im Osten hier«, bemerkte Feinberg und zeigte mit dem Zeigefinger auf den Stacheldraht. Wonder zündete sich eine Zigarette an und blies genussvoll den Qualm zum Himmel.

»Dafür sind die Linden sehr eindrucksvoll.«

»Ich bin gespannt, was uns erwartet. Der Chef hat anscheinend nur ein paar Leute eingeladen. Was uns wohl zur Elite macht?«, fragte Feinberg.

»Hm. Kämmerer scheint Geschmack zu haben. Wem gehören denn die Autos?«

Sie blickten beide auf die sieben, vor ihnen parkenden Fahrzeuge. Der schwarze Chevrolet des Vorstandsvorsitzenden stand direkt vor dem Eingang.

»Also die Beule gehört der Lohmann, und …«

»Welcher Lohmann?«, unterbrach Wonder Feinbergs Aufzählung.

»Ich weiß nicht, wie sie mit Vornamen heißt. Die junge, mollige Sanitäterin mit den langen, blonden Haaren.«

»Ach die«, sagte Wonder und zeigte auf den gelben Porsche. »Der ist unschwer zu erkennen, das ist Kofflers. Produktionsleiter müsste man sein.«

»Also, ich frage mich, was uns hier alle verbindet, wenn ich mir die Autos so ansehe.«

»Den besten Geschmack hat zweifelsohne die Spanierin, die für die Firmenzeitung zuständig ist«, antwortete sein Kollege und bestaunte das rote, flache Cabrio.

»Wie heißt die noch?«

»Carmen Suarez.«

»Stimmt. Den Ford da kenne ich nicht.«

»Ich glaube, der gehört einem aus der Entwicklung. Komm, lass uns gehen.«

Sie gingen Richtung Tor und während Kevin Wonder seinen Blick nochmal zu den Linden schweifen ließ, sagte Ulrich Feinberg: »Der Jeep gehört dem Steinwehr.«

Wonder fiel die Kinnlade runter.

»Markus Steinwehr, dem glatzköpfigen Betriebsratsvorsitzenden? Wer holt sich denn selbst die Ratten ins Haus?«

»Vielleicht plant Kämmerer was und will ihn im Vorfeld sanft stimmen.«

»Hm.«

Sie gingen an den letzten beiden Fahrzeugen, einem roten Golf GTI und einem blauen Mazda, vorbei.

»Der Golf gehört der Bruns, oder?«, fragte Wonder.

»Die mit dem Ordnungstick und den Hosenanzügen, oder?«

»Ja, die geht immer so gerade, als hätte sie einen Stock im Hintern. Aber vielleicht muss man das als Assistentin der Geschäftsleitung. Und der Mazda gehört der grauen Maus.«

»Graue Maus?«, fragte Wonder und seine weichen Gesichtszüge ließen ihn dabei wie ein hilfloses Kind aussehen.

»Sabine Bauer, die Sekretärin mit den grauen Strähnen.«

»Ach die.«

Kapitel 2

6. September 2019, 19.40 Uhr

Ludwig Kämmerer öffnete zum letzten Mal an diesem Abend die Haustür und bat seine beiden Gäste herein.

»Dann sind wir ja vollzählig«, sagte er, gab beiden die Hand und zeigte auf die anderen sieben Personen, die sich mit Sektgläsern in den Händen in der Empfangshalle verteilt hatten.

»Nehmen Sie sich doch ein Glas und gesellen sich zu Ihren Kollegen.«

Auf einem an der Seite des Raumes aufgestellten Tisch standen gefüllte Gläser. Außerdem war dort ein Buffet aufgebaut, das keine Gaumenfreuden ausließ. Die beiden nahmen sich jeder ein Glas und traten zu Carmen Suarez, die mit Dirk Koffler in der Mitte des Raumes stand. Zur Begrüßung nickten sie einander zu und blickten dann erwartungsvoll zu Kämmerer, der sich vor die noch geöffnete Haustür gestellt hatte.

»Als Erstes möchte ich Ihnen stellvertretend für die gesamte Belegschaft für das großzügige Geschenk danken, das sie mir alle zu meinem sechzigsten Geburtstag gemacht haben. Dass so viel Geld für das Kinderhospiz zusammenkommen würde, hätte ich nicht gedacht. Gleich zu Beginn der nächsten Woche werde ich den Scheck übergeben. Das wird mir in Ihrem Namen eine große Freude sein. Danke nochmals dafür.«

Den kurzen Applaus wartete er lächelnd ab, bevor er fortfuhr.

»Es wird Sie sicher wundern, warum ich ausgerechnet Sie neun zu dieser Feier eingeladen habe. Aber, glauben Sie mir, das wird nicht das Einzige sein, worüber Sie sich an diesem Wochenende wundern werden.«

Als würde er die Wirkung dieses Satzes auf seine Gäste auskosten wollen, schwieg der Firmeneigner für einen Moment. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und sah jedem Anwesenden kurz in die Augen.

»Ich werde Sie gleich verlassen, da ich auf einer weiteren Feier in meiner Stadtvilla erwartet werde. Deshalb wünsche ich Ihnen jetzt noch interessantes Wochenende. Bis bald.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und zog beim Hinausgehen die Haustür hinter sich zu. Draußen eilte er die Stufen hinunter auf seinen schwarzen Chevrolet zu, hinter dessen dunkel getönten Scheiben sein Bruder Hans ihn schon mit laufendem Motor erwartete. Er stieg ein, und mit durchdrehenden Reifen wirbelte der Wagen den Kies auf, als sie durch das schmiedeeiserne Tor, das sich hinter ihnen automatisch schloss, das Anwesen verließen.

***

»Und?«, fragte sein Bruder Hans. »Wie haben sie es aufgenommen?«

»Das schauen wir uns am besten direkt mal an.«

Ludwig Kämmerer beugte sich vor und schaltete einen Bildschirm in der Mitte des Armaturenbretts an.

»Ich wusste gar nicht, dass wir auch im Wagen zuschauen können. Du hast aber auch wirklich nichts ausgelassen.«

Hans Kämmerer lachte kurz auf.

»Alter Perfektionist.«

»Das hat uns auch eine Menge gekostet. Aber, wie sagst Du immer: Man gönnt sich ja sonst nichts.«

Ludwig war seit jeher in geschäftlichen Dingen noch ein wenig engagierter als sein Bruder. Während Hans es eher vorzog, sich mit dem ererbten Vermögen ein angenehmes Leben zu machen, ohne allerdings die Existenz des traditionsreichen Unternehmens zu gefährden, war Ludwig eher der spartanische und disziplinierte Typ. Nicht ohne Grund war Hans Finanzvorstand der Kämmerer AG, mit Geld wusste er umzugehen. Genauso wie er verstand, es auszugeben, verstand er auch, es einzunehmen. Soweit war auch er ein echter Kämmerer. Und denen wurde seit Generationen nachgesagt, dass ihnen letztlich nichts über das Geschäft ginge. Ludwig war nicht nur Vorstandsvorsitzender, sondern auch Personalvorstand, der sich für einen Menschenkenner hielt.

»Dass wir das letzte Mal so gebannt auf einen Bildschirm gestarrt haben, war als Vater uns unseren ersten Computer geschenkt hat. Weißt Du noch? Von Texas Instruments war der, glaube ich.«

»Dass du den Wagen fährst, vergisst du dabei hoffentlich nicht.«

»Alter Spielverderber.«

»Der warst damals du. Ich habe nicht vergessen, wie du das Ding beinahe aus dem Fenster geworfen hast, nur weil ich dich immer bei diesem komischen Videotennis geschlagen habe.«

»Dafür hattest du beim richtigen Tennis nie eine Chance gegen mich.«

Kapitel 3

6. September 2019, 19.45 Uhr

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, kehrte für einen Augenblick absolute Stille ein. Verwunderte Blicke wurden ausgetauscht. Sabine Bauer strich verlegen den grauen Rock ihres mäßig sitzenden Kostüms glatt und wich einen Schritt zurück. Carmen Suarez lachte auf.

»Ist der wieder witzig heute«, sagte Markus Steinwehr, verdrehte die Augen und trat vor, um die Türklinke herunterzudrücken. Kevin Wonder sah sich in der Eingangshalle um. Sein Blick blieb an einem, ihm geschmacklos erscheinenden Jagdmotiv von Helmut Erxleben hängen. In dem Moment, als alle bemerkten, dass die Tür verschlossen war, wurde es lauter.

»Hat der 'ne Macke?«, fragte Steinwehr entrüstet. Ulrich Feinberg wendete sich an Magda Bruns, die mit enganliegendem Hosenanzug und gerader Körperhaltung trotz flacher Schuhe noch die meisten der Anwesenden überragte.

»Wissen Sie etwas darüber, Frau Bruns?«

»Ich?«, fragte die Assistentin der Geschäftsleitung und tippte sich mit dem Finger auf die Brust. »Nein, glauben Sie mir, ich bin genauso überrascht wie Sie und finde das nur mäßig witzig.«

»Hat jemand eine Erklärung für diesen Mist hier?«, mischte sich Steinwehr wieder ein, der immer noch die Türklinke in der Hand hielt und nun durch die Runde blickte.

Carmen Suarez warf ihre langen schwarzen Locken zurück, machte mit ihren hohen Absätzen zwei geschickte Schritte zum Tablett mit den Sektgläsern und tauschte das leere gegen ein volles Glas.

»Ich denke, Herr Kämmerer sucht interessantes Material für meine nächste Firmenzeitschrift«, sagte sie lachend. Steinwehr verdrehte die Augen, sprach dann die kleine, etwas korpulente Sanitäterin an: »Kannst du dir das hier erklären, Sabine?«

Sabine Lohmann schüttelte ihr langes blondes Haar und antwortete: »Nein, ich habe mich überhaupt gewundert, warum nur so wenige eingeladen wurden und ausgerechnet ich dabei bin.«

Steinwehrs Blick wanderte weiter zu Karl Mund, der sich auf einer Treppenstufe niedergelassen hatte und auf sein Handy tippte.

»Wer sind Sie eigentlich?«

Der schlanke, 1,86 Meter große Mann mit schütteren braunen, kurz geschnittenen Haaren und unauffälliger Brille sagte ruhig: »Ich heiße Karl Mund, arbeite in der Entwicklung und stelle fest, dass man hier keinen Empfang hat. Das war aber zu erwarten, nachdem die Navigationssysteme versagten.«

Unverzüglich holten alle ihr Handy aus der Tasche und suchten vergeblich nach einem Empfang.

»Das kann der doch nicht machen«, platzte es aus Steinwehr heraus, der noch einmal erfolglos mit seiner kräftigen Hand die Klinke nach unten drückte und dann gegen die Haustür trat. Die Sekretärin zuckte zusammen. Steinwehr ging zum Fenster direkt neben der Tür, von dem aus man den Eingang im Blick hatte, und versuchte es zu öffnen.

»Das gibt es doch nicht. Das blöde Ding geht auch nicht auf.«

Er rüttelte an dem Knauf, drehte ihn in jede Richtung, aber nichts tat sich.

»Na, ja. Raus kämen wir hier sowieso nicht. Die Fenster sind, wenn ich das richtig gesehen habe, alle vergittert«, bemerkte Karl Mund.

»Das ist doch Freiheitsberaubung«, mischte sich Magda Bruns ein. »Oder nicht?«, fügte sie mit einem Blick auf den Justiziar hinzu. Alle blickten nun auf Feinberg, der, offensichtlich um Ruhe bemüht, sagte: »Also, ich finde momentan auch noch keine Erklärung für diesen seltsamen Spaß. Sicher kommt Herr Kämmerer gleich zurück und klärt alles auf.«

Carmen Suarez kicherte. Wonder fuhr sich fahrig durch seinen Pferdeschwanz: »Ein Marketinggag sieht anders aus.«

Nun trat Dirk Koffler, groß, braunes Haar, teurer Anzug, weißes Hemd, nach vorne, wobei er seine Krawatte richtete. Jeder kannte ihn und wusste, wie wichtig der Ingenieur als Produktionsleiter für das Unternehmen war. Der immerwährende Erfolg war dem durchtrainierten Mann in sein markantes Gesicht geschrieben. Augenblicklich zog er die Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf sich, als er ruhig, aber bestimmt sagte:

»Ich gehe davon aus, dass Herr Kämmerer sich anlässlich seines runden Geburtstages einen fragwürdigen Spaß gönnt und wir sollten uns der Situation adäquat verhalten. Wahrscheinlich wird irgendwo in diesem Haus ein Telefon stehen, von dem aus er unseren Anruf erwartet.«

Die Sekretärin Sabine Bauer hatte sich gänzlich der Gruppe entzogen, lehnte an einer Wand und nahm eine Tablette aus ihrer Tasche. Sie schluckte sie und nickte zustimmend, während sie Koffler über ihre randlose Brille beobachtete. Magda Bruns betonte jedes ihrer Worte, während sie zwischen beiden hin und her blickte. Ihr Gesicht war ein wenig gerötet.

»Ich gebe Ihnen recht, Herr Koffler, wir sollten mit Verstand an die Sache gehen, um dieses seltsame Spiel zu beenden. Aber ich für meinen Teil werde das nicht auf mir sitzen lassen. Lassen Sie uns die Gruppe aufteilen und im Haus umsehen.«

Karl Mund saß immer noch schweigend auf der Treppe, beobachtete das Geschehen.

»Mein Gott, jetzt machen Sie es nicht schlimmer als es ist. Wir werden die Zeit schon rumkriegen bis Kämmerer kommt. Und für das leibliche Wohl ist ja nun wirklich gesorgt«, sagte Carmen Suarez und nahm sich ein Lachshäppchen vom Silbertablett. Steinwehr schnaubte verächtlich und zog eine Packung Zigaretten aus seiner Jacke. Wonder griff ebenfalls in sein Jackett.

»Bitte«, mischte sich Magda Bruns ein. »Sie können hier nicht einfach rauchen, meine Herren.«

»Ich wüsste nicht, warum nicht, wenn ich nicht nach draußen kann«, entgegnete Steinwehr und entzündete seine Zigarette.

»Wir wissen doch noch nicht mal, ob hier Rauchmelder installiert sind«, bemerkte Sabine Bauer.

»Umso besser«, lachte Steinwehr auf, »dann kommen wir mit der Feuerwehr hier raus. Und Sie haben noch mehr Futter für die Firmenzeitung. Nicht wahr, Frau Suarez?« Er nahm sich nun auch einen weiteren Sekt und kippte ihn in einem Zug hinunter. Suarez quittierte die Bemerkung mit einem Lächeln.

»Rauchen oder nicht rauchen?«, rief Wonder theatralisch in die Runde und wedelte mit seinem Feuerzeug hin und her.

»Nicht jeder verträgt den Rauch«, sagte Sabine Lohmann.

»Aber dafür haben wir doch Sie, verehrte Sanitäterin«, antwortete Wonder und steckte nun auch seine Zigarette an. Feinberg brauchte zwei Anläufe, bevor er sich Gehör verschaffen konnte, da sich ein Stimmengewirr im Raum breitgemacht hatte.

»Bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns doch vernünftig miteinander umgehen. Vielleicht gehen die Raucher in einen separaten Raum«, versuchte er es versöhnlich.

»Und«, riss nun Koffler die Aufmerksamkeit aller wieder an sich, »dann können wir gleich testen, ob alle Fenster verschlossen sind.«

Kapitel 4

6. September 2019, 21.25 Uhr

Ludwig Kämmerer hielt zur Begrüßung der Gäste in seiner Stadtvilla nur eine kurze Rede. Er bedankte sich auch bei ihnen für die großzügigen Spenden, die sie in seinem Namen an das Kinderhospiz überwiesen hatten, obwohl er dachte, dass diese, angesichts der Vermögensverhältnisse der anwesenden Geschäftsfreunde und Politiker, durchaus hätten höher ausfallen können. Er wünschte allen einen schönen Abend und zog sich, den missbilligenden Blick seiner Frau ignorierend, in sein Arbeitszimmer zurück. Im Augenblick hatte er Wichtigeres zu tun, als eine oberflächliche Party zu feiern, auch wenn diese anlässlich seines Geburtstages stattfand. Seine Aufregung konnte er kaum unterdrücken, als er sich hinter den wuchtigen Schreibtisch setzte und die beiden Bildschirme einschaltete. Zwar hatte er alle neuen Installationen, die aus dem alten Jagdschloss eine Art Hightech Bunker gemacht hatten, vor wenigen Tagen noch selbst überprüft. Aber ob alle automatischen Verriegelungen jetzt, da es darauf ankam, auch wirklich funktionierten, wollte er einfach direkt überprüfen. Was er sah, stellte ihn aber sofort zufrieden. Offensichtlich hatte niemand das Haus verlassen. Und dafür konnte es nur den Grund geben, dass es ihnen nicht möglich war. Sie standen auch nicht mehr im Foyer zusammen, sondern hatten sich im Haus verteilt, schienen, genau wie er es erwartet hatte, nach einem Ausweg zu suchen. Er fühlte, dass er damit schon zu Beginn des Spiels seinem Bruder gegenüber einen kleinen Vorsprung herausgeholt hatte. Alles würde sich in seinem Sinn entwickeln. Er rief das Menü auf und zappte durch die einzelnen Räume. Alle Kameras funktionierten, die Bilder waren gestochen scharf. Dass die Suarez sich weiterhin am Buffet aufhielt und abscheulichen Prickelwein in sich hinein kippte, hatte er genauso vorausgesehen wie Steinwehrs Erregung. Als sein Bruder Hans das Arbeitszimmer betrat, konnte er sich ein siegessicheres Lächeln nicht verkneifen.

»Und? Wie läuft es?«, fragte Hans, ging um den Schreibtisch herum und stellte sich neben ihn.

»Genau wie es laufen soll, genau wie ich es gesagt habe.«

Hans lachte kurz auf.

»Ist es für eine solche Aussage nicht noch etwas früh? Ich meinte, ob alles funktioniert.«

Wortlos führte Ludwig seinem Bruder die Sicht in die verschiedenen Räume vor. Dieser nickte anerkennend, klopfte ihm auf die Schulter.

»Gut gemacht, altes Haus. Und die Uhr?«

Daran, dass er ihn »altes Haus« nannte, obwohl er nicht einmal zwei Jahre älter war, hatte Ludwig sich gewöhnt, aber an den überheblichen Tonfall, in dem er nur allzu gerne mit ihm sprach, würde er sich nie gewöhnen. Auch deshalb musste er diesmal gewinnen.

»Die werde ich gleich starten.«

Die Tür öffnete sich abermals, diesmal nur einen Spalt breit und seine Frau steckte ihren Kopf durch den Spalt.

»Kommst du jetzt?«, fragte sie unwirsch.

»Nur einen Moment noch. Wir sind hier gleich fertig.«

»Deine Gäste warten.«

»Ich weiß.«

»Dann komm auch!«

»Gleich.«

»Ja, ja«, sagte sie mehr zu sich als zu ihm und schloss die Tür wieder.

Wie oft hatten er und seine Frau schon solche nichtssagenden Worte miteinander gewechselt? Sie würde ihn sicher nie verstehen. Aber wer tat das schon?

Ludwig sah auf die Systemuhr des Rechners, sie zeigte 21:40 Uhr an. Er tippte auf die Anzeige. Ein Fenster öffnete sich, in dem auch die Sekunden der aktuellen Uhrzeit angezeigt wurden. Wenn er die Uhr starten würde, sollte sie auch auf die Sekunde genau die verbleibende Zeit anzeigen. Er rechnete kurz aus, wie lange es von 21:42 Uhr an bis Mitternacht am Sonntag dauern würde. Dann trug er 50 Stunden, 18 Minuten, 0 Sekunden in den Videochat des Überwachungsprogrammes ein, wartete, bis die Systemuhr genau 21:42:00 Uhr anzeigte und drückte genau in diesem Augenblick die Entertaste.

Kapitel 5

6. September 2019, 21.30 Uhr

Innerhalb weniger Minuten verteilten sich alle im Haus. Jeder suchte sich seine Position und versuchte sich auf seine Art und Weise an den Gedanken zu gewöhnen, vorübergehend in diesem Haus eingeschlossen zu sein.

Markus Steinwehr begann in der Küche Schubladen und Schränke zu durchsuchen, hoffte darauf, einen Schlüssel zur Haustür zu finden. Tassen, Teller, Besteck, Vasen, sinnlose Dekorationsartikel. Laut knallte er die Schranktüren wieder zu, zügelte sich bei dem Gedanken, Befriedigung darin zu finden, einen der Tellerstapel fallen zu lassen. Sabine Lohmann blieb mit ihm in der Küche, legte ihre Tasche auf dem Tisch ab und begann in den Unterschränken zu suchen, während sie zu Steinwehr sagte: »Ich helfe Dir hier in der Küche, Markus. Obwohl man nicht so richtig weiß, wonach man sucht, oder? Wenn Kämmerer hier einen Schlüssel liegen haben würde, hätte er uns nicht einzuschließen brauchen.«

»Ich weiß echt nicht, was dieser Idiot vorhat. Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank mit seiner ganzen Kohle. Die sollte er mal besser unter den Mitarbeitern verteilen.«

Er knallte die Schublade mit einem Ruck zu.

»Aber irgendetwas muss man ja tun.«

Koffler hatte sich einen Teller aus dem Schrank genommen und seine Zigarette darin ausgedrückt. Dann hatte er sich in der Runde umgesehen und war wortlos in das angrenzende Nebenzimmer gegangen, das als Esszimmer zu erkennen war. Magda Bruns schritt hinter ihm her. Seine Vorgehensweise war ihr allemal lieber als sich in der Gegenwart der flatterhaften Suarez aufzuhalten, der es offensichtlich daran mangelte, den Ernst der Lage zu erfassen. Sie hatte Probleme mit Menschen, für die alles immer nur Spaß, Spiel und Leichtigkeit bedeutete. Das brachte niemanden weiter.

»Haben Sie einen Plan?«, fragte sie Koffler und sah sich im Raum um.

»Noch nicht konkret«, antwortete er, »aber, wenn wir systematisch das Haus erkunden, kommen wir weiter, als im Foyer durcheinanderzureden oder abzuwarten. Finden Sie nicht?«

Er blieb stehen und sah sie an. Trotz ihrer flachen Schuhe war sie ein wenig größer als er. Das verwirrte ihn etwas. Aber davon abgesehen, ist sie schon eine attraktive Frau, ging es ihm durch den Kopf. Dass sie ihm vorher nie aufgefallen war. Er mochte sportliche Frauen mit braunem Haar und dunklen Augen. Obwohl sie ein wenig steif auf ihn wirkte. Er lächelte sie an, während sie nickte und ihm zustimmte: »Sicher. Nichts zu tun, bringt uns gar nicht weiter. Und ein Plan macht immer Sinn.«

Kevin Wonder hatte gewartet, bis die Gruppe sich aufgelöst hatte, und schlug dann die andere Richtung ein. In dem großen, hinter dem Foyer liegenden Salon standen alte Mahagonimöbel mit grünen Polstern. Er schätzte sie auf Anfang des vorherigen Jahrhunderts. Ein imposanter Kronleuchter mit unzähligen Glastroddeln daran hing mitten über einem großen Tisch, dessen Beine mit filigranen goldenen Verzierungen versehen waren. Es war nicht sein Geschmack, aber hatte durchaus Stil. Das musste er dem Kämmerer lassen. Er ließ sich auf das Sofa fallen, legte die Füße auf den Tisch und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Er wunderte sich selbst ein wenig darüber, dass er ausgerechnet jetzt an seine verstorbene Großmutter denken musste und ihn ein leichtes Gefühl der Traurigkeit überkam.

Carmen Suarez hatte die Kollegen um sich herum beobachtet und nacheinander verschwinden sehen. Steinwehr war zumindest jemand, der sich nicht gleich in die Hose machte, ihr jedoch zu aggressiv erschien. Dem erfolgreichen, attraktiven Koffler hatte sich die Bruns angehängt. Alle anderen erschienen ihr verbissen und langweilig. Der Künstler wirkte noch irgendwie lockerer als die anderen, aber seltsam verträumt und abwesend. Sie hatte nicht vor, sich von diesen Typen das Wochenende vermiesen zu lassen, auf das sie sich gefreut hatte. Sicher würde Kämmerer bald zurückkommen, herzhaft lachen und sie mit zur Feier in seine Stadtvilla nehmen. Sie steckte sich ihre Kopfhörer in die Ohren, schaltete ihre Charts ein, nahm sich einen weiteren Sekt und tänzelte die Treppe hoch nach oben. Mal sehen, was dieses Häuschen noch so hergab.

Feinberg hatte sich, ohne selbst zu wissen, was er dort zu finden hoffte, dem Bücherregal an der Rückseite des Foyers gewidmet. Von jeher hatten Bücher ihm Zuversicht verliehen und als Jurist gehörten sie zu seinem Alltag. Kämmerer hatte Bücher sämtlicher Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts dort stehen. In einer separaten Ecke standen mehrere psychologische Bücher über Typenprofile, Philosophie und Spiritualität. Wahllos zog er eins heraus, ließ die Seiten durch seine Finger fliegen, legte es zurück, nahm ein neues. Er fragte sich, ob diese Bücher Kämmerer oder vielleicht einem anderen Familienmitglied gehörten. Vielleicht gaben ein handschriftlicher Name oder eine Widmung darüber Auskunft. Die Bücher wirkten allesamt sehr ordentlich, aber gebraucht. Persönliche Notizen fand er keine, aber als er das dritte Buch aus dem Regal nahm, fiel ein kleiner Zettel heraus. Feinberg hob ihn auf und besah ihn. Einige unterschiedlich angeordnete Striche waren mit Bleistift aufgemalt. Er drehte das Blatt, begutachtete es von allen Seiten, konnte aber keinen Zusammenhang ausfindig machen. Er legte es zurück in das Buch und stellte es wieder an seinen Platz.

Sabine Bauer stand immer noch an die Wand gelehnt im Foyer in der Nähe der Haustür und fragte sich, was ihr Chef wohl von ihr erwartete. Sie wusste nicht, wonach sie in diesem fremden Haus suchen sollte, hatte auch Hemmungen, in den Schränken zu wühlen. Was, wenn der Chef gleich zurückkäme und genau das wissen wollte, eben wie sie sich in seiner Abwesenheit benehmen würden? Sie hatte sich all die Jahre nichts zuschulden kommen lassen und hatte nicht vor, nun ihren Job aufs Spiel zu setzen, obwohl ihr die Situation beängstigend erschien. Sie blickte weiter auf die verschlossene Haustür, in der Hoffnung, dass Kämmerer augenblicklich zurückkäme. Hin und wieder drehte sie sich um und beobachtete den Justiziar am Bücherregal oder den Mitarbeiter aus der Entwicklungsabteilung, der immer noch auf der Treppe saß und sich etwas zu notieren schien.

Karl Mund war froh, dass endlich Ruhe eingekehrt und er fast alleine war. Die Sekretärin stand in einiger Entfernung zu ihm an der Haustür und schwieg. Das war gut so. Er hatte sich in seinem Notizbuch die genaue Uhrzeit und die exakten Worte Kämmerers und der Mitarbeiter notiert. Dann hatte er ein Foto des Türschlosses gemacht und wiederholt versucht, eine Netzverbindung mit dem Handy herzustellen, dabei jedoch feststellen müssen, dass diese definitiv tot war. Das konnte er sich nicht wirklich erklären, weil das Anwesen zwar mitten im Wald, aber in der Entfernung nicht sehr weit entfernt von dem Nachbarort war. Dazwischen lagen weder große Berge noch Hochhäuser. In den meisten Regionen Deutschlands war unter diesen Umständen wenigstens eine vorübergehende, wenn auch schlechte Verbindung möglich. Diese hier war einfach tot. Nachdem Mund sich intensiv im Foyer umgesehen und Details eingeprägt hatte, wollte er sich eigentlich mit den Büchern beschäftigen, vor dessen Regal jetzt jedoch Feinberg stand. Er stand auf und ging zu dem großen Bildschirm, der über einem kleinen Sideboard an der hohen Decke hing. Trotz seiner Größe musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, um an den Einschaltknopf zu kommen. Er drückte die Taste. Nichts passierte. Er zog die Schublade des Sideboards auf, suchte nach einer Fernbedienung. Eine Glasschüssel mit Puzzleteilchen stand neben einem Paket mit Batterien und einem Schraubenzieher. Ein kleiner, abgewetzter Teddybär klemmte zwischen Lade und Boden. Karl Mund zog ihn heraus, bückte sich, um in die Ecke sehen zu können, fand aber außer ein paar losen Büroklammern nichts. Er ging hinter den Bildschirm und verfolgte das lange Kabel, das hinter einer alten, hölzernen Truhe endete. Er zog sie einige Millimeter von der Wand ab und konnte sehen, dass das Kabel nicht in der dahinter liegenden Steckdose steckte. Mund beugte sich über die Truhe und versuchte den Stecker in die Dose zu stecken, aber der Platz dafür reichte nicht aus. Dann versuchte er erneut, die Truhe von der Wand zu schieben, um sich mehr Platz zu verschaffen, aber sie war zu schwer. Bevor er einen weiteren Versuch startete, stand Feinberg neben ihm und nahm den Griff auf der anderen Seite in die Hand.

Kapitel 6

6. September 2019, 23.00 Uhr

Koffler zog einen kleinen Karton aus der Schublade der Esszimmervitrine und öffnete den Deckel.

»Hier sind einige Schlüssel drin, aber keiner, der zur Haustür passt. Alles nur Kleine wie für Schmuckdosen oder Ähnlichem.«

Magda Bruns legte einen Teller zurück in den Schrank, kam aus der Hocke hoch und ging zu ihm.

»Stimmt, die könnten eher zu kleinen Schatullen gehören. Ich fürchte, so kommen wir nicht weiter«, sagte sie missmutig. Koffler blickte in den Schrank, den sie kurz zuvor aus- und dann wieder eingeräumt hatte, und lachte auf.

»So ordentlich war der ja vorher nicht. Wahrscheinlich hat Kämmerer uns hier in der Hoffnung eingesperrt, dass wir das Haus mal auf Vordermann bringen.«

Bruns lächelte.

»Ich hatte die Sachen ja ohnehin in der Hand, da konnte ich sie auch ordentlich zurückstellen. Irgendwie muss man ja die Zeit totschlagen. Es ist wirklich unglaublich, oder?«

Sie klopfte sich die Hände ab, als könne noch Staub daran kleben.

»Allerdings. Wie lange arbeiten Sie schon bei Kämmerer?«

»Acht Jahre«, antwortete sie, »aber fragen Sie mich jetzt nicht, wie lange noch. Wenn ich gleich ein Blatt Papier und einen Stift hier finde, könnte es sein, dass ich meine Kündigung schreibe.«

»Ja«, stimmte er ihr zu und sah auf seine Breitling. »Mitarbeitermotivation sieht anders aus. Jetzt hocken wir schon über drei Stunden hier fest. Ich hatte meinen Kindern versprochen, dass ich sie anrufen werde. Das glaubt einem ja niemand, so etwas.«

Magda Bruns setzte sich auf einen Stuhl und atmete laut aus.

Sie sitzt genauso gerade wie sie steht, dachte er, und für eine Frau hat sie eine ziemlich tiefe Stimme. Irgendwie sexy. Wenn sie nicht so steif wäre, wäre sie überhaupt eine sehr attraktive Frau.

»Haben Sie Kinder?«, fragte er und setzte sich zu ihr.

»Nein«, antwortete sie und zupfte die Tischdecke zurecht.

»Wenn Sie schon so lange als Kämmerers Assistentin arbeiten, müssten Sie ihn doch gut kennen. Können Sie sich keinen Reim auf diesen Mist hier machen?«

»Leider nicht, ich spreche ausschließlich über berufliche Dinge mit ihm. Ich finde es einfach ungeheuerlich. Aber was mich noch viel mehr verwundert als dieses seltsame Spiel, ist die Zusammenstellung der Mitarbeiter. Warum Sie? Warum ich? Warum die anderen?«

»Ja, da haben Sie recht. Vielleicht sollten wir versuchen, unsere gemeinsame Schnittstelle herauszufinden, um weiterzukommen. Ich schaue jetzt noch eben in diesen Uhrenkasten und hoffe, dass kein Geißlein drinsteckt, dann rufe ich alle mal zusammen.«

Er drehte den Schlüssel der alten braunen Tür und starrte auf das goldene Pendel, der stillstand. An ihm hing ein Zettel mit den Worten: »Zeit ist ein kostbares Gut. Vielleicht das kostbarste.« Er starrte seine Kollegin an. »Hat das jetzt was zu bedeuten?«

Steinwehr hatte mittlerweile eine Flasche Cognac im Küchenschrank entdeckt und sich ein halbes Wasserglas voll eingeschenkt. Dann hatte er sich die Krawatte vom Hals gerissen und auf die Spüle geschmissen. Er ging zum Kühlschrank, und als er die Tür des kleinen Eisschrankes öffnete, um zu sehen, ob Eiswürfel eingefroren waren, fiel ihm eine CD vor die Füße.

»Was ist das denn?«, knurrte er und begutachtete sie, um festzustellen, dass sie nicht beschriftet war. »Seit wann bewahrt man CDs in Eisfächern auf?«

Er warf sie auf den Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Sabine Lohmann sah eine Zeitlang gedankenverloren aus dem Küchenfenster, leerte dann den Teller mit den Zigarettenkippen im Mülleimer, stellte ihn Steinwehr hin und lächelte ihn besänftigend an.

»Danke«, murrte dieser. »Wenn ich den in die Finger kriege, bereut er. Das schwöre ich dir.«

»Wird schon«, sagte Lohmann, legte kurz ihre Hand auf seinen Arm. »Ich gehe mal nach den anderen sehen.«

Carmen Suarez hatte sich für einen der im Obergeschoss liegenden Schlafräume entschieden und sich darin umgesehen. Weniger auf der Suche nach einem Schlüssel zur Haustür, als aus Neugier, was sich in den Schränken befand. Sie hatte eine gute Wahl getroffen. Es schien ein Damenschlafzimmer zu sein. Nachdem sie die Spiegeltür eines großen Kleiderschrankes geöffnet hatte, stand sie vor einer Kleiderstange mit unterschiedlichen Jacketts, bunten Tüchern und Hüten. Sie probierte ein Jackett nach dem anderen an, stellte es in unterschiedlichen Kombinationen mit Hut und Tuch zusammen und betrachtete sich damit in dem Spiegel. Dabei versuchte sie sich an ihre einzige Begegnung mit Kämmerers Frau zu erinnern. Es war schon eine Zeitlang her, aber sie hatte Frau Kämmerer etwas pummelig und kleiner in Erinnerung. Wem mochten diese Jacken in Größe 38 gehören, die ihr perfekt passten? Als sie das letzte Jackett zurück in den Schrank hängen wollte, fühlte sie etwas Längliches, Schweres. Sie griff in die Taschen, die beide leer waren, nahm das Jackett noch einmal vom Bügel und besah es genauer. Ein Gegenstand, der sich halb so groß wie eine Zigarettenschachtel anfühlte, war in das Futter eingenäht. Als sie gerade darüber nachdachte, das Futter aufzutrennen, klopfte es an der Tür.

Kevin Wonder hatte sich aus seinem, etwas melancholischen Zustand gelöst und nacheinander alle Schränke und die Bar durchsucht. Er hatte nicht die Hoffnung, dort einen Schlüssel für die Haustür zu finden, suchte überhaupt nicht konkret, sondern ließ sich mehr von seinen Gefühlen leiten. Für ein Künstlerherz gaben die Schränke einiges her. Er fand altes Meißner Geschirr, eine Tasse für Schnäuzerträger aus Kaiser Wilhelms Tagen, eine Dose, in der mal ein Dresdner Stollen gewesen war und in der sich jetzt jede Menge Schwarzweißfotos befanden. Wonder blätterte sie durch, kannte natürlich niemanden, war aber von der Kleidung fasziniert. In mehreren Schränken standen kleine, hölzerne Truhen, die verschlossen waren. Er schüttelte sie, konnte aber keine Geräusche vernehmen und sie fühlten sich leicht an. Er stellte alles an seinen Platz zurück, ging zum Fenster und sah in die Dunkelheit. Hier und dort waren vereinzelt Sterne an dem sonst wolkenbehangenen Himmel zu sehen. Irgendwie vermittelt das Haus seinen Besuchern eine schaurig schöne Atmosphäre, dachte er. Der Gedanke daran, ihm im Moment nicht entfliehen zu können, trug sein Übriges dazu bei.

Nachdem die Männer vergeblich versucht hatten, den Monitor ans Laufen zu bringen, hatte Karl Mund wortlos das Foyer verlassen und war die Kellertreppe hinuntergegangen. Unten angekommen musste er jedoch feststellen, dass die Tür, die offensichtlich in den Kellerraum führte, verschlossen war. In einem kleinen Erker gegenüber der Tür stand ein schmaler Schrank, in dem sich einige Werkzeuge sowie Putzutensilien befanden. Er kippte die Kiste auf dem Boden aus und überlegte, was sich damit anfangen ließe. Dann räumte er den ganzen Schrank leer, fand einen Schaltplan der Stromleitungen des Hauses, den er zunächst zur Seite legte und suchte sich einen entsprechenden Schraubenzieher, um zu versuchen, damit die Schrauben des Türschlosses zu lösen. Vielleicht führte von dem Kellerraum ein Fenster oder sogar eine Tür nach draußen. Obwohl diese dann wahrscheinlich auch verschlossen sein würde, dachte er. Als er gerade den Schraubenzieher ansetzte, hörte er eine Stimme seinen Namen rufen.

Der Justiziar hatte sich zu der grauen Maus gesellt, der die Situation offensichtlich am meisten zu schaffen machte. Er spürte, dass seine Gesellschaft ihr guttat. Und da er im Augenblick nichts Sinnvolles zu unternehmen wusste, bestückte er sich einen Teller mit Lachshäppchen und kleinen Frikadellen, nahm sich ein Sektglas und setzte sich auf die Treppe, auf der zuvor Mund gesessen hatte.

»Eine wirklich blöde Situation, nicht wahr?«, sagte er.

Sabine Bauer war für den Moment dankbar, ihrer Einsamkeit zu entkommen. Eigentlich war es für sie unabdingbar, Teil einer Gruppe zu sein. Auch hatte sie das Gefühl, ihrer Pflicht nicht nachzukommen, indem sie da einfach herumstand. Feinberg hielt ihr seinen Teller entgegen, aber sie lehnte ab. Ihr flaues Gefühl hinderte sie an der Nahrungsaufnahme, aber ohne Nahrung würde sie bald Bauchschmerzen bekommen. Sie hatte vor lauter Aufregung auf dieses Wochenende seit dem Frühstück nichts gegessen.

»Ja«, sagte sie. »Was hat Herr Kämmerer nur vor? Und was machen wir nur, wenn er sich nicht bald meldet?«

Feinberg spürte ihre Mutlosigkeit und so lenkte er das Gespräch auf neutrales Terrain. Sie unterhielten sich eine Zeitlang über Firmenangelegenheiten und Alltagsthemen. Schon bald hatten beide ein ganz klein wenig das Gefühl, sich auf einer normalen Einladung zu befinden. Kurz darauf erschien Sabine Lohmann und fragte beide nach ihrem Befinden.

»Alles gut«, sagte Feinberg. »Die Häppchen schmecken ausgezeichnet.« Er grinste und auf Lohmann machte er dabei einen fast zufriedenen Eindruck.

»Geht es Ihnen nicht gut, Frau Bauer?«, wandte sie sich der Kollegin zu. »Sie sind ziemlich blass.«

Die Sekretärin blickte Lohmann mit ihren dunkelblauen Augen an und zog schweigend die Mundwinkel nach unten, so als wolle sie sagen: »Gut kann es unter diesen Umständen doch niemandem gehen.«

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« Bauers Ablehnung ging in dem Erscheinen Kofflers unter, der gefolgt von Steinwehr, mitten im Foyer stehen blieb und einen Zettel in die Runde hielt, während Karl Mund die Kellertreppe hoch, und Magda Bruns, gefolgt von Carmen Suarez, die Treppe von oben herunterkam. Kurz darauf erschien auch Kevin Wonder mit einem Cocktail in der Hand.

»Zeit ist ein kostbares Gut«, las Koffler laut, aber bestimmt vor. »Vielleicht das kostbarste.« Er blickte in die Runde.

Kapitel 7

7. September 2019, 0.15 Uhr

Ludwig Kämmerer war froh, die Feier überstanden zu haben und sich endlich auf die Geschehnisse im Haus konzentrieren zu können. Er hatte geduldig die Reden des Bürgermeisters und einiger Geschäftspartner ertragen, hatte sich an sinnlosem Smalltalk beteiligt und war für sein Verhalten sogar von seiner Frau mit einem Kuss belohnt worden. Als der letzte Gast verabschiedet war, hatte er seiner Frau gesagt, dass er noch ein wenig aufbleiben und den gelungenen Tag bei einem guten Glas Wein mit seinem Bruder ausklingen lassen wolle, während sie direkt ins Bett ging.

»Siehst du«, sagte Ludwig, »genau wie ich es vorhergesagt habe. Sie durchsuchen das Haus nach Hinweisen zu einem möglichen Ausweg.«

Die Brüder saßen eng nebeneinander auf zwei Stühlen hinter dem Schreibtisch in Ludwigs Arbeitszimmer.

»Abwarten, altes Haus. Sie werden bald die Nase voll davon haben und es sich lieber gemütlich machen. Die werden davon ausgehen, dass Du irgendwann auftauchen wirst und alles sich in Wohlgefallen auflöst. Da sind alle Menschen gleich, alle sind faul und vergnügungssüchtig.«

Ludwig rümpfte die Nase und rückte ein wenig von ihm ab.

»Nicht alle sind so wie du, Brüderchen.«

Hans kommentierte diese Bemerkung nur mit einem Lächeln, wusste er doch genau, dass die Bezeichnung Brüderchen nur eine Retourkutsche war. Er beugte sich vor und nahm einen der neun Schnellhefter, die auf dem Tisch lagen, in die Hände, lehnte sich zurück und schlug ihn auf.

»Das war klar. Dass die Bruns von dir die Eins bekommt. Du und deine Theorien.«

Amüsiert schüttelte er den Kopf.

»Was willst du? Sie ist zuverlässig, ordnungsliebend, immer pünktlich, verfügt über einen scharfen Verstand.«

»Ja, ja, und geht einem mit ihrer Penetranz und Rechthaberei schon mal mächtig auf die Nerven.«

»Du wirst doch nicht so langsam verstehen, worum es geht? Mach mir keine Angst, Brüderchen.«

»Wichtig ist, dass wir die Polizei heraushalten können«, sagte Hans.

»Verlass dich auf mich. Ich habe für alles gesorgt.«

Hans blätterte weiter in dem Schnellhefter.

»Obwohl sie ja wirklich klasse aussieht. Aber so richtig lächeln hat sie auch nie gelernt. Das Bewerbungsfoto hätte auch für ein Beerdigungsinstitut gepasst.«

»Müssen ja nicht alle so dämlich und nichtssagend in die Kamera grinsen wie deine ganzen Liebschaften.«

»Nur keinen Neid.«

Ludwig fasste sich an die Stirn, rieb sich die Schläfen mit Daumen und Mittelfinger, konzentrierte sich dann wieder auf die Bilder aus dem Haus, während Hans noch immer in den Schnellhefter vertieft war.

»Sie fangen an, sich zu fragen, warum ich ausgerechnet sie Neun eingeladen habe. Das ist gut. Siehst du?«

Hans reagierte gar nicht darauf, fast so als würde ihn das alles nichts angehen. Das war immer schon seine Masche, dachte Ludwig, den Erhabenen spielen, über den Dingen stehend, von anderen nur gelangweilt. Hans schnitt eine verächtliche Grimasse.

»Die hat ja wirklich ein Musterleben hinter sich. Abitur, BWL Studium mit Bravour abgeschlossen, Auslandsaufenthalt, in zwei Firmen Erfahrungen gesammelt, um jetzt bei uns durchzustarten. Ob die auch ein Privatleben hat?«

»An der würdest Du Dir die Zähne ausbeißen. Für Typen wie dich hat die nichts übrig.«

»Ich habe wenigstens noch alle, altes Haus. Außerdem bin ich doch auch ihr Chef, oder?«

»Ich bin ihr Chef. Und nur ich.«

Als es darum gegangen war, wer von beiden den Vorstandsvorsitz übernehmen würde, hatte Hans freiwillig darauf verzichtet, ihm reichte es, Finanzvorstand zu sein, das erschien ihm Arbeit genug. Und damit, dass sein Bruder glaubte, ihm deshalb Vorschriften machen zu können, hatte er nicht gerechnet. Schon länger überlegte er, ob er nicht zur nächsten Ernennung gegen ihn antreten sollte.

»Ja, ja, keine Angst, ich nehme sie dir schon nicht weg.«

Er warf den Schnellhefter zurück auf den Haufen der anderen.

»Haben sie eigentlich schon die Uhr entdeckt?«

»Nein, noch nicht.«

»Dann wird es aber langsam Zeit.«

Kapitel 8

7. September 2019, 1.00 Uhr

Carmen Suarez streckte sich, trat abwechselnd von einem Bein auf das andere, als würde sie sich zum Joggen aufwärmen und sagte: »Ich will niemandem zu nahe treten, aber ich kann beim besten Willen keine Ähnlichkeiten zwischen uns feststellen.«

Es sollte wohl ein wenig aufmunternd und witzig klingen, kam aber etwas überheblich rüber.

»Es geht ja vielleicht weniger um Äußerlichkeiten als um gemeinsame Firmenangelegenheiten«, bemerkte Magda Bruns und straffte ihren Oberkörper.

»Und vielleicht um gemeinsame Bekannte, vorherige Arbeitgeber, Wohnorte etc.«, pflichtete Koffler bei.

Karl Mund hatte sich wieder auf die Treppe gesetzt und beobachtete alle schweigend aus dem Hintergrund. Wenn die jetzt glaubten, dass er hier sein Leben offenlegte, hatten sie sich getäuscht. Außerdem war er dafür heute zu müde.

Kevin Wonder nahm einen Schluck seines Cocktails. Er hatte eine Spur zu viel Wodka hineingetan. Ein Blick durch die Runde bestätigte den Eindruck seiner Kollegin. Sowohl rein äußerlich als auch vom Typ her konnte er so gar keine Parallelen zwischen sich und den anderen erkennen. Irgendwie war er wieder mal anders als alle anderen. Aber das ging ihm meistens so. Die Einzige, die ihm irgendwie ein wenig individualistischer erschien, dazu nicht unattraktiv, war die Suarez. Obwohl es der Dame augenscheinlich etwas an Tiefgang zu fehlen schien.

»Ja, sollen wir jetzt hier einen Sitzkreis machen und alle erzählen, was unser Lieblingsessen ist oder was?«, haute Steinwehr dazwischen.

»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«, konterte Koffler. »Wir suchen ja alle lediglich eine Möglichkeit, hier rauszukommen, in dem wir erfahren, warum Kämmerer ausgerechnet uns 9 hier eingesperrt hat.«

»Weil er 'ne Macke hat«, brummte Steinwehr.

»Aber das bringt uns ja auch nicht weiter, Herr Steinwehr«, ergriff Bruns das Wort, die von dieser Diskussion langsam genervt war. Das konnte man wirklich besser machen.

»Ich schlage vor, dass vielleicht jeder kurz die Wohnorte nennt, in denen er bislang gelebt hat, seine Hobbys und vor allem, besondere Ereignisse, seitdem er bei der Kämmerer AG beschäftigt ist. Ich fange auch gerne an.«

Steinwehr unterbrach sie: »Ich heiße Markus Steinwehr, arbeite in einem Laden, dessen Vorstand bekloppt geworden ist und mein Hobby wäre, ihm jetzt liebend gerne die Fresse zu polieren.«

Carmen Suarez lachte und auch Kevin Wonder konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Bruns Gesichtszüge verhärteten sich.

»Herr Steinwehr, ich würde vorschlagen, dass Sie, solange Sie keinen besseren Vorschlag haben, diese Runde zumindest nicht mit unqualifizierten Bemerkungen in ihrer Planung behindern.«

»Man wird ja wohl mal einen Witz machen dürfen, Frau Profilerin, oder?«

Steinwehr nahm eine Zigarette aus der Schachtel. Sabine Lohmann sagte: »Geh doch besser in die Küche, Markus. Ich glaube, Frau Bauer geht es nicht so gut.«

Alle blickten zu Sabine Bauer, die sich mittlerweile auf den Boden gesetzt, an die Wand gelehnt hatte und ziemlich bleich an ihrem Daumennagel zupfte. Sie brachte ein gequältes Lächeln zustande.

»Alles gut«, sagte sie, »ich bin nur sehr müde, weil ich heute so früh aufstehen musste.«

»Ja, ein wenig Schlaf täte wohl allen gut«, bemerkte Feinberg und gähnte. Sabine Lohmann holte ein Glas Wasser, das Bauer diesmal dankend annahm und Steinwehr verschwand zum Rauchen in die Küche.

»Vielleicht sind auch alle zu erschöpft«, versuchte Feinberg zu beschwichtigen. »Offensichtlich führt ja kein Weg daran vorbei, dass wir heute alle die Nacht hier verbringen, in der Hoffnung, dass der Spuk morgen vorbei ist. Rein faktisch verbindet uns im Augenblick ja nur, dass wir alle hier eingesperrt sind, keinen Handyempfang haben, und somit keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen können. Ich hoffe, dass Herr Kämmerer sein perfides Spiel bald auflöst. Sonst werden wir morgen früh, etwas ausgeruhter, das Thema nochmal aufgreifen. Ich …«

Frau Bauer fiel ihm ins Wort und wieder blickten alle zu dir, überrascht darüber, dass sie sich auch mal zu Wort meldete: »Und wenn nicht? Ich meine, was machen wir, wenn Kämmerer sich überhaupt nicht meldet?«

Die Worte hingen wie spitze Pfeile an Seidenfäden über ihnen. Niemand hatte diese Möglichkeit bislang in Betracht gezogen oder den Gedanken bewusst zugelassen. Sabine Lohmann kniete sich zu Bauer, legte ihre Hand auf deren Arm.

»Nun lassen Sie uns mal nicht von dem schlimmsten ausgehen. Warum sollte er das tun?«

Magda Bruns lief vor Zorn rot an. Es war unglaublich, wie naiv diese Sanitäterin war. Warum sperrte ein Mensch überhaupt neun seiner Mitarbeiter kommentarlos in sein Haus ein? Sie hätte die Lohmann am liebsten angeschrien, wollte sich jedoch die Blöße des Gefühlsausbruchs nicht geben und sagte anstelle dessen: »Also, wenn ich in die Runde sehe, wird mir bewusst, dass neun Menschen eigentlich unterschiedlicher als wir wirklich nicht sein können. Und zwar sowohl auf den Umgang mit der Sache als auch auf unseren Wirkungskreis bezogen. Was haben eine Sanitäterin, ein Produktionsleiter, ein Marketingmitarbeiter, ein Mitarbeiter der Entwicklung, eine Sekretärin, eine Germanistin, die für die Firmenzeitung zuständig ist, ein Betriebsratsvorsitzender, ein Jurist und meine Wenigkeit als Assistentin der Geschäftsleitung, gemeinsam? Augenscheinlich hat Herr Kämmerer seine Wahl willkürlich getroffen. Ich stimme Herrn Feinberg zu und meine, wir sollten uns ein Nachtlager suchen und die Sache morgen ausgeruht angehen.«

Koffler, dem es nicht gefiel, die Führung aus der Hand zu geben, sprach Suarez an: »Sie waren doch schon oben. Wie viele Schlafräume gibt es?«

»Fünf«, sagte diese. »Jedes hat ein Badezimmer. Was meine Freude auf die Nachtruhe ein wenig trübt, ist, dass ich keine Reisetasche dabeihabe. Sie werden mich wohl oder übel morgen mit der gleichen Kleidung, nur etwas knubbeliger wiedersehen?«

»Ich bin untröstlich«, sagte Steinwehr, der wieder zu den anderen stieß. Auch Magda Bruns hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht, wie ihr Hosenanzug, schlimmer noch ihre Haare wohl am nächsten Morgen aussehen würden.

»Vielleicht sind ja die Bäder wenigstens gut ausgestattet. Wie wollen wir die Schlafplätze verteilen?«, fragte Bruns, die sehr darauf hoffte, nicht auch noch mit jemandem das Bett teilen zu müssen.

»Ich würde mit Frau Bauer auf ein Zimmer gehen«, bot Sabine Lohmann an. »Das heißt, wenn Sie einverstanden sind.«

Bauer nickte mit einem gequälten Lächeln. Sie wollte nur noch liegen, obwohl sie mit Sicherheit kein Auge zu machen würde.

»Also, es ist mir ein wenig unangenehm, aber man sagt mir nach, dass ich entsetzlich unruhig schlafe und schnarche«, sagte Magda Bruns. Koffler überlegte, ob ihn das stören würde, schwieg dann aber.

»Also, dann nimmt Frau Bruns ein Einzelzimmer«, bemerkte Feinberg. »Dann sind noch drei Zimmer frei.«

»Ich hatte mich schon an ein Zimmer gewöhnt«, sagte Suarez. »Mir wäre egal, mit wem ich es teile.«