Mit den Wolken fliegen - Roni Baerg - E-Book

Mit den Wolken fliegen E-Book

Roni Baerg

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Beschreibung

Das andere Leben -Das Leben in einer Mennonitenkolonie in der Gegenwart -Geschichte eines grossen Aufbruchs -Eindringliches Debüt: persönliche Erlebnisse vor jahrhundertealtem historischem Hintergrund Seit über zehn Jahren lebt die ehemalige Mennonitin Roni Baerg mit ihrem Schweizer Ehemann in der Deutschschweiz. Auf Reisen in die Stätten ihrer Kindheit und Jugend stellt sich Roni der Vergangenheit. Paraguay in den 1970er Jahren: Armut und harte Arbeit prägen den Alltag der Familie Baerg im Trockenwaldgebiet des Chaco. Die Familie mit den acht Kindern lebt ausserhalb der Siedlung, der nächste Nachbar ist nicht in Sichtweite. Man spricht Plattdeutsch wie die Vorväter, die mennonitische Gemeinde schaut genau hin und sanktioniert fehlerhaftes Verhalten. Roni wächst als Mitglied einer Religionsgemeinschaft auf, die Verwebungen mit der Religiosität sind dicht und prägen den Alltag des Kindes. Wie stark aber die Gemeinschaft über ihr Leben bestimmt, wird jäh deutlich, als ihr erster Ehemann sie missbraucht. Als sich Roni wehrt, wird sie von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die meisten Familienmitglieder wenden sich von der eigensinnigen Roni ab. Roni muss fliehen. ‹Mit den Wolken fliegen› ist ein grossartiger autobiographischer Bericht vor dem Hintergrund einer jahrhundertealten Tradition. Und es ist eine literarische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und einer aussergewöhnlichen Tochter-Vater-Beziehung.

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Roni Baerg

Mit den Wolken fliegen

Roni Baerg

Mit den Wolken fliegen

Bericht aus einem fernen Leben

Zum Buch

Paraguay in den 1970er Jahren: Armut und harte Arbeit prägen den Alltag der Familie Baerg im Trockenwaldgebiet des Chaco. Die Familie mit den acht Kindern lebt außerhalb der Siedlung, der nächste Nachbar ist nicht in Sichtweite. Man spricht Plattdeutsch wie die Vorväter, die mennonitische Gemeinde schaut genau hin und sanktioniert fehlerhaftes Verhalten. Roni wächst als Mitglied einer Religions­gemeinschaft auf, die Verwebungen mit der Religiosität sind dicht und prägen den Alltag. Wie stark aber die Gemeinschaft über ihr Leben bestimmt, wird jäh deutlich, als ihr Ehemann sie missbraucht. Als sich Roni wehrt, wird sie von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die meisten Familienmitglieder wenden sich von der eigensinnigen Roni ab. Sie muss fliehen. Es folgt eine lange und entbehrungsreiche Zeit. Aber Roni weiß, was sie will.

‹Mit den Wolken fliegen› ist ein autobiografischer Bericht über die eigene Vergangenheit als Mitglied einer von Bigotterie und Anma­ßung geprägten mennonitischen Religionsgemeinschaft. Und es ist eine literarische Auseinandersetzung über eine unnachgiebige Erforschung der eigenen Vergangenheit und einer außergewöhnlichen Tochter-Vater-Beziehung.

Über die Autorin

Roni Baerg

Geb. 1973 in einer Mennonitenkolonie in Paraguay, Kindheits- und Jugendjahre in der Kolonie Neuland, Kunststudium in Asunción, Kunsttherapiestudium in der Schweiz. Heute lebt die Autorin im Kanton Aargau.

‹Mit den Wolken fliegen› ist ihr erstes Buch.

Zum Schutz der Privatsphäre wurden die meisten Personennamen in diesem Buch abgeändert.

© 2016 Zytglogge Verlag AG, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Cover: Padre e hijo contemplando la sombra de un día, Roberto Aizenberg,

Museo Nacional de Bellas Artes de Buenos Aires

Gesetzt aus: Frutiger LT Std, Garamond Premier Pro, Palatino LT Std

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel

eISBN: 978-3-7296-2104-6 (epub)

eISBN: 978-3-7296-2105-3 (mobi)

 

www.zytglogge.ch

Dieses Buch widme ich all jenen Menschen,die mir auf irgendeine Weise geholfen haben,mein Leben zu bewältigen.

Reise in die Vergangenheit

«Pa, wir machen uns auf den Weg nach Brasilien. Wir wollen Witmarsum und den Krauel suchen. Ich will die Stelle finden, wo du geboren bist.»

Pa schaut mich fragend an und denkt kurz nach. Dann sagt er: «Ich bin nicht mehr dort gewesen. Ich hatte nie mehr die Gelegenheit. Weißt du überhaupt, wo das ist? Glaubst du, du findest den Krauel?»

«Pa, wi moakä onns oppem wach no Bresilie. Wi welli Witmarsum in den Krauel setchä. Etj well deu Sted fine, wue dü jibueri bäst.»

«Etj si nimols meua doa jiwesi. Etj hod ni meua de jileainhet. Weutst dü iwerhopst, wuo dot äs? Jleuwst dü, dü finst den Krauel?»

Wir unterhalten uns in Plattdeutsch, der Sprache unserer Urväter, der Mennoniten. Ich beruhige ihn:

«Ich glaube schon, Pa. Du hast mir viel erzählt. Bruno und ich finden den Fluss sicher.»

«Roni, denk daran, es ist die Stelle, wo der Cambará in den Krauel fließt, dort habe ich gefischt. Orientiere dich an der Brücke, die den Fluss überquert. Sie wurde von den Mennoniten gebaut. Da fällt mir noch ein, es gab da eine Familie Grazmik. Mit denen verkehrten meine Eltern. Vielleicht leben die noch dort.»

Dann nehmen wir Abschied. Ich drücke meine Eltern fest an mich und bin froh, den Ort meiner Kindheit und die Probleme, die wie Aasgeier über diesen Ort schweben, wieder hinter mir zu lassen. Als ich mich auf dem Hof noch mal umdrehe, sehe ich, wie mein Vater in Gedanken versunken unter dem Schattendach steht und uns nachblickt.

Ich werde dir alle Antworten bringen, Pa. Und auch mir, denke ich mit Tränen in den Augen. Ich werde mich auf die Suche nach mir selbst machen.

Es ist bis jetzt die schönste Reise, die Bruno und ich zusammen unternehmen. Auch wenn uns ständig die Frage quält, wie es mit unserem gemeinsamen Leben weitergehen soll, genießen wir jede Minute, in der wir zusammen die Gegenden erkunden. Wir fahren von der ­Kolonie Neuland durch den Chaco nach Ostparaguay, dann über die Ruta uno nach Argentinien. Dort besuchen wir das Naturschutzgebiet Ibera. Dann geht es nach Südbrasilien, immer weiter, bis Santa Catarina. Dieser Wechsel von Flachland, Sümpfen, Bergland, Tälern und Eukalyptuswäldern, von lauten Städten und einsamen Strecken, das ist unglaublich für mich, denn ich hatte bis jetzt in meinem Leben nie das Geld und die Zeit, um zu reisen. Bisher habe ich überlebt und nicht gelebt, ich habe geschuftet und meine Hauptsorge war immer, ob ich bis Ende Monat genug zu essen habe, und nicht, welche Orte ich mir anschauen könnte. Seit drei Jahren bin ich mit Bruno zusammen. Endlich kann ich genug schlafen, habe genug zu essen und brauche keine Angst mehr zu haben. Und doch ist die Ehe mit ihm unendlich schwer, weil wir unsere Welten nicht zusammenbringen. Wir sind wie von zwei verschiedenen Planeten und oft habe ich Angst, dass trotz der großen Liebe, die uns verbindet, unsere Ehe zerbricht.

Wir erreichen das Departement Santa Catarina und halten zuerst im Dorf Ibirama an. Hier beginnen wir, die Menschen nach dem Krauelfluss zu fragen, doch niemand kennt ihn. Deshalb suchen wir im Internet nach dem Fluss. Endlich finden wir den Rio Krauel und Bruno zeichnet eine Karte seines Verlaufs. Ich verspüre eine unbeschreibliche Erleichterung, als ich den Plan in der Hand halte und mir bewusst werde, wie nahe ich meinem Ziel bin.

Wir fahren mithilfe unserer Zeichnung weiter, bis wir Witmarsum ­erreichen. Bruno und ich haben es dringend nötig, uns einige Tage zu trennen, denn wir sind auf unserer Südamerikareise wochenlang Tag und Nacht zusammen gewesen. Wir haben beide das Bedürfnis, ein paar Tage für sich alleine zu verbringen.

«Wo gehst du hin, wenn ich hier alleine zurückbleibe? », frage ich ihn.

«Ich glaube, ich fahre nach Blumenau. Es ist bekannt für sein ­Oktoberfest. Ich würde es mir gerne ansehen.»

Wir fahren langsam durch das Dorf. Die Straße, die durchs Dorf führt, ist lang. Weitläufig stehen die Häuser und Geschäfte. Ich entdecke ein Museum, und als wir das Dorf schon fast hinter uns haben, sehe ich einen Fluss. Ob das der Krauel ist?

Wir halten vor einem einfachen Holzgebäude, an dem ein Schild mit der Aufschrift «Hotel» hängt. Es ist gerade Mittagszeit. Wir treten ein. Es gibt einen Essraum mit einer kleinen Bar, in der im Moment viele Gäste beim Essen sitzen. Ein Gang führt weiter nach hinten, links liegt die Küche und der Küchentür gegenüber das erste Zimmer. Im Ganzen sind es fünf aneinandergereihte Gästezimmer. Vor den Zimmertüren liegt eine überdachte Bocciabahn. Nur ein schmaler Weg führt den Gang entlang zu den Türen. Ich erkläre dem Besitzer, dass ich für einige Tage alleine bei ihnen übernachten will.

«Was machen Sie hier?» fragt er neugierig.

«Mein Vater ist hier geboren. Ich will das Dorf kennenlernen.»

Er schaut mich nachdenklich an und sagt: «Ich gebe Ihnen das erste Zimmer», und zeigt auf eine Tür neben uns.

«Werden Sie auch hier essen?»

«Ja, gerne», sage ich.

«Ist gut. Frühstück gibt’s vorne ab sieben und mittags gibt es zu einem Fixpreis ein Büfett. Sie können so viel nehmen, wie Sie wollen. Für Ihr Abendessen müssen Sie halt etwas einkaufen, da kochen wir nicht», erklärt er.

Ich packe im Auto alles zusammen, was ich für fünf Tage benötige, und verabschiede mich von Bruno. Bei dem, was ich jetzt vorhabe, ist es besser, wenn ich ohne ihn unterwegs bin. Ich will nicht nur den Ort besuchen, an dem Pa geboren ist, sondern auch nach Menschen aus der damaligen Zeit suchen, die nie weggezogen sind, wie Kornelius und Margret, auch Nicolai und Anganeta und viele andere Mennoniten.

Nachdem Bruno weggefahren ist, beziehe ich mein Zimmer. Es ist sehr einfach und unbeheizt. Draußen sind es nur neun Grad, und so wie es aussieht, können wir die Sonne in den nächsten Tagen vergessen, denn der Himmel ist mit dichten Wolken verhangen. Zum Glück habe ich den warmen Schlafsack aus dem Auto genommen. Den werde ich jetzt dringend brauchen. Als ich mich aufs Bett setze, spüre ich, dass mein Hals schmerzt und eine Grippe im Anzug ist. Ich schließe die Augen. Mein Kopf ist so voll und meine Arme und Beine fühlen sich bleischwer an. Es überfällt mich das starke Bedürfnis, ganz lange zu schlafen. Ich denke an das Zimmer meiner Kindheit. Mein Bett stand an der Ostseite des Hauses. Weil wir keinen Strom hatten, gingen wir immer sehr früh schlafen. Ich schlief gerne auf dem Bauch. Dabei drehte ich die Beine so, dass die Füße nach innen gewinkelt waren und sich die Zehen berührten. Diese Position fand ich unglaublich entspannend. Der Kopf lag seitwärts, so, dass das linke Ohr nach oben zeigte. Die Arme lagen im Winkel nach oben, wie bei einem Baby. Ein Kissen brauchte ich nie, das stellte ich neben das Bett. Die Kissen machte meine Ma. Die Entendaunen waren so fest in den Bezug gestopft, dass man sie wie Skulpturen aufstellen konnte. Diese Erinnerungen lassen mich schmunzeln. Ich frage mich, wann ich diese entspannte Schlafstellung aufgegeben habe. Sie stritten so viel, meine Eltern. Ma weinte und Pa sprach mit seiner lauten Stimme auf sie ein: «Ihr seid alle so verlogen! Immer hinten durch! Immer hinter meinem Rücken!», schallte es ins Zimmer. Die Zimmertüre war aus Holztäfer, ganz dünn und hellblau gestrichen. Nachts bei Neumond wirkte sie wie ein schwarzes Loch, das mich zu verschlucken drohte. Ich kauerte mich zusammen, zog die Decke schützend an mich und schlang meine kleinen Arme um meine Beine. So schlief ich manchmal sitzend ein und rutschte mit der Zeit auf die Seite, zusammengekrümmt wie ein Tier, das Schmerzen hat.

Es ist schon ein Uhr nachmittags. Ich nehme meine Fotokamera und ein wenig Geld, um im Dorf einkaufen zu gehen, damit ich am Abend etwas zu essen habe. Neben dem Hotel ist eine katholische Kirche und hinter ihr befindet sich ein Friedhof. Es zieht mich zum Friedhof und lange schaue ich mir die Gräber an. Doch ich finde keinen einzigen mennonitischen Nachnamen. Also ist in dem Fall kein Mennonit in Witmarsum Katholik geworden, denke ich und lächle.

Dann gehe ich weiter und komme zum Museum. Vor dem Eingang steht ein Denkmal. Wie überrascht ich bin. Auf einem großen dunklen Felsbrocken ist eine Tafel befestigt, auf der mit goldener Schrift auf schwarzem Grund die Geschichte der Mennoniten festgehalten ist: Mennoniten – 70 Jahre Mennoniten in Brasilien 1930–2000. Ich betrachte lange nachdenklich das Museumgebäude. Es ist ein braunes Holzhaus. Im Garten auf der linken Seite stehen mehrere alte Maschinen. Ich gehe zum Eingang, doch er ist verschlossen. Auf der Straße geht eine Frau vorbei, die mir auf Portugiesisch erklärt, dass das Museum erst um zwei öffnet und ich noch ein wenig zu früh bin. Als ich mich in meinem schlechten Portugiesisch bedanke, betrachtet sie mich von oben bis unten und fragt:

«Deutsch?»

«Ja», sage ich dankbar.

Sie lächelt und spricht auf Portugiesisch weiter: «Die Frau vom Museum kann Deutsch. Nachher können Sie deutsch reden.»

Ich setze mich draußen auf eine Bank, nehme mein Heft aus der Tasche und schreibe:

Ich bin sehr froh, dass Bruno mich für einige Tage losgelassen hat, auch wenn ich ihn jetzt schon vermisse. So kann ich ein wenig zur Ruhe kommen. Mein Kopf ist so wirr und ich weiß eigentlich nicht, was ich hier will, und dieser Aufenthalt in Witmarsum macht mir großen Respekt. Am liebsten würde ich die Flussstelle finden, wo Pa Onkel Hans das Leben gerettet hat. Auch würde ich gerne mit jemandem über die damalige Zeit reden wollen, über die Zeit, als Pa klein war.

Wenn ich mich gehen lassen würde, würde ich die ganze Zeit weinen. Ich habe ein Gefühl der Trauer, das ich sehr gut kenne. Es ist dieses bodenlose Gefühl der Heimatlosigkeit, das mit dem Wunsch gekoppelt ist, endlich ­irgendwo zu Hause zu sein. Und doch gibt es nichts, was mir mehr Angst macht, als mich festzulegen und zu entscheiden, an einem Ort zu bleiben. Zu sagen: Das ist mein Zuhause.

Dann sehe ich eine fröhliche junge Frau um die Ecke kommen, sie grüßt mich freundlich.

«Ich bin schon informiert worden, dass du hier wartest. Ich heiße Fernanda», stellt sie sich vor.

Ihre direkte und sprudelnde Art tut mir sehr gut. Wir betreten das Gebäude und sie stößt die Fenster auf, damit frische Luft hereinströmen kann. Ich stehe völlig verloren in der Mitte des Raumes, schaue um mich und habe die Tränen zuvorderst. Ich verstehe selber nicht, was mit mir geschieht.

Liebevoll wendet sie sich mir zu und fragt: «Suchst du etwas Bestimmtes?»

Ich lache mit Tränen in den Augen: «Ich suche die Vergangenheit und weiß nicht, wo anfangen.»

Dann erzähle ich ihr, dass mein Pa hier geboren ist, aber schon mit achteinhalb Jahren weggezogen ist. Sie schaut zuerst unschlüssig um sich, zeigt dann aber auf ein Nebenzimmer mit vielen Fotos:

«Schau dich dort mal um. Vielleicht erkennst du jemanden.»

Ich stehe lange vor der Stellwand und betrachte die Fotos, doch wie soll ich jemanden kennen? Es sind keine Namen darunter. Doch dann sehe ich eins, bei dem geschrieben steht: Erster Männerchor aus Waldheim.

War nicht mein Opa Mitglied in einem Männerchor gewesen und war das nicht in Waldheim gewesen? Das hatte ich doch in seinen Tagebüchern gelesen. Ich ziehe meine Kamera aus der Tasche und fotografiere das Bild. Es war purer Zufall, dass ich bei Ricarda die Bücher fand. Man könnte es aber auch Schicksal nennen. Eins ist klar, für mich ist es ein großes Geschenk, dass sie in meine Hände gelangt sind. Es war beim Besuch bei meiner Familie, als ich ihnen das erste Mal Bruno, meinen dritten Ehemann, vorstellte. Die einen wollten nichts mit uns zu tun haben. Wieder andere freuten sich für uns. Wohl fühle ich mich nur bei Ricarda. Sie ist die Schwester, mit der ich immer am meisten Zeit verbracht habe, und bis heute verkrieche ich mich immer gerne bei ihr, wenn mir alles rundherum zu schwer wird. An jenem Tag saßen wir in ihrer Stube auf dem Boden und schauten alte Fotos und Bücher an. Während ich ihre Sachen durchwühlte, hielt ich plötzlich Opa Kornelius’ Hefte in der Hand. Überrascht fragte ich:

«Was machen die Tagebücher von Opa bei dir?»

Ricarda antwortete: «Er hat sie alle Roland vererbt, doch den interessieren sie nicht. Deshalb habe ich gefragt, ob ich sie mal lesen könne. Sie liegen schon einige Monate bei mir. Noch fand ich keine Zeit, sie zu lesen. Das ist auch nicht einfach, denn die Schrift von Opa Kornelius ist schwer zu entziffern, und dann schreibt er in einer Mischung aus Plattdeutsch, Deutsch und Portugiesisch. Manchmal sind sogar russische Ausdrücke darunter, die sowieso niemand versteht. Auch Pa kann sie nicht lesen. Er findet das sehr schade. Er würde gerne wissen, was da drinnen steht. Ich sollte sie ihm vorlesen, doch ich habe keine Zeit.»

Ich dachte lange nach. Dann fragte ich: «Ricarda, kannst du sie mir mit in die Schweiz geben? Ich werde die Texte abschreiben und für Pa ausdrucken.»

Ricarda fand, dass das kein Problem sei. Roland habe sicher schon vergessen, dass die Hefte bei ihr sind. So nahm ich die Hefte mit. Ein halbes Jahr lang saß ich in meiner freien Zeit an den Texten und erarbeitete sie. Seite für Seite übersetzte ich ins Hochdeutsche. Als wir im November desselben Jahres meine Eltern zu ihrer goldenen Hochzeit in Paraguay besuchten, legte ich Pa ein gebundenes Heft mit den Texten hin:

«Das ist für dich, Pa, damit du endlich weißt, was dein Vater in seinem Leben so alles erlebt hat.»

Wie Pa sich freute!

So kam ich an Opas Lebensgeschichte. Durch sie entstand der Wunsch, mich in Witmarsum auf Spurensuche zu begeben.

Mein Blick streift über die anderen Fotos. Wie lange ich in dem Raum stehen bleibe, nehme ich nicht mehr war. Meine Gedanken gehen in die Zeit, in der alles begann. «Wiedertäufer» wurden sie von der katholischen und der lutherischen Kirche genannt, im 16. Jahrhundert ein übles Schimpfwort für eine Gruppe von Menschen, die sich gegen die Ausbeutung von Kirche und Staat wehrten, die die Kindertaufe ablehnten, die Taufe im Erwachsenenalter einführten und sich für einen demütigen und bibeltreuen Glauben starkmachten. Die Wiedertäufer waren allen ein Dorn im Auge, die Katholiken wie die Lutheraner ­fühlten sich durch sie bedroht. Sie wurden des Aufruhrs beschuldigt und man verfolgte sie, es drohte ihnen die Todesstrafe. Viele starben den Märtyrertod. Ständig auf der Flucht vor den Obrigkeiten, verbreiteten sich die Wiedertäufer über weite Teile Europas. Erst Menno Simons aus Holland, ein katholischer Priester, der sein Priesteramt mit vierzig Jahren aufgab, um sich den Wiedertäufern anzuschließen, schaffte es, die verstreuten Gläubigen in ganz Europa neu zu organisieren, auch wenn er selbst ständig auf der Flucht war. Deshalb nannte man die Gruppe bald «Mennoniten». Was am Anfang eine Beleidigung sein sollte, wurde später der offizielle Name der Glaubensgruppe. Jetzt stehe ich hier in diesem Raum mit den vielen Fotos. Ich verspüre eine große Einsamkeit und auch eine große Leere, während ich in die einzelnen Gesichter blicke. Die Gesichtszüge sind hart, einige wie aus Stein gemeißelt. Der Ausdruck in den Augen ist oft leer, als ob der Blick hängen geblieben ist, in einer anderen Welt, und als ob ihnen die Kraft fehlt, sich der neuen Welt zuzuwenden. Die Kinder auf den Fotos sehen aus wie kleine Erwachsene. Ernst und müde blicken sie den Fotografen an. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran denke, dass diese Personen die Grauen und Hungersnöte der Russischen Revolution erlebt haben und von Russland über Deutschland nach Brasilien flüchten mussten. Ich sinne darüber nach, wieso Menno Simons die Wiedertäufer zu Pazifisten erklärte. Hätten sie sich mit Waffengewalt gegen die Verfolgungen aufgelehnt, hätten sie als kleine Gruppierung Andersdenkender keine Chance gehabt. Deshalb kam Menno Simons auf die Idee, die Glaubensgruppe zu Kriegsverweigerern zu erklären. Dogmen mussten her, die sie als Gemeinschaft einten und schützten. Sie dienten aber auch dazu, die Gläubigen in der Gruppe besser zu kontrollieren. Menno Simons verurteilte den bewaffneten Kampf gegen jegliche Obrigkeit und ernannte die Wehrlosigkeit zum Gottesgebot. Er lehnte jegliche Gewaltanwendung ab und verlangte vom Staat die Befreiung vom Militärdienst. Treue und unbedingter Gehorsam der regierenden Obrigkeit und auch den Ältesten gegenüber, die als von Gott eingesetzt galten, wurden zur Pflicht eines jeden Christen. Über ungehorsame Gemeindeglieder verhängte man einen Bann. Der Bann bedeutete eine vollständige Isolierung der Geächteten. Die betroffenen Personen wurden aus der Gemeinde ausgestoßen und den Gemeindegliedern war verboten, mit dem Verstoßenen religiösen, geschäftlichen oder irgendeinen anderen Verkehr zu pflegen, ja, ihn auch nur zu grüßen. Selbst die Familienangehörigen mussten sich vom Geächteten distanzieren. Die Dogmen sind schuld daran, dass ich heimatlos bin. Die Verbannung aus der Gemeinschaft, das wurde mein Fluch. Oder ist es mein Segen? Das ist die Frage, die ich mir heute stelle. Meine Scheidung wurde zur Sünde erklärt, auch wenn sie mein Leben rettete. Sie war der Grund, dass ich verstoßen wurde. Es gibt kein Zurück mehr. Nun werde ich gemieden. Menschen wechseln die Straßenseite und tun so, als ob sie mich nicht mehr kennen, auch wenn ich jahrelang neben ihnen in der Schulbank gesessen habe. Von der eigenen Mutter, von den eigenen Geschwistern und von den besten Freunden wie eine Aussätzige behandelt zu werden, nur weil ich ihre Glaubenseinstellung nicht mehr teilen will und mich gegen körperliche und seelische Misshandlung auflehne, das tut weh, sehr weh. Es ist ein Schicksal, das ich heute mit allen verstoßenen Mennoniten auf der Welt teile. Auch wenn die Ältesten in der Glaubensgruppe nicht so hart durchgreifen können wie früher, bleibe ich eine Verstoßene in meinem Heimatland. Ich werde geduldet. Ich darf meine Eltern sehen. Aber wie lange noch? Diese Dogmen lassen mich aber auch erkennen, dass vieles, was ich in meinem Leben bis jetzt als Wahrheit empfunden habe, eine Lüge ist. Und diese Erkenntnis macht mir den Weg frei in ein neues Leben, mein Leben, das ich bestimme.

3. Oktober 1931, Santa Catarina, Brasilien

Die Pferde zogen den Wagen nur langsam vorwärts. Der Kutscher trieb sie immer wieder mit lauten Rufen an, doch es ging nicht schneller. So ließ er sie endlich im gemütlichen Schritt weitertraben und wandte sich den Menschen zu, die mit ihm auf der Kutsche saßen. Sie sprachen über die Geschehnisse der letzten Tage. Johann und seine Frau Justina erzählten müde von der Schiffsreise. Hein quengelte, denn er hatte Hunger. Nach längerem Suchen fand Justina in den Bündeln ein trockenes Stück Brot, über das sich Hein hermachte. Kornelius hatte keine Lust zu reden. Er saß ganz hinten auf der Ladefläche und hatte sein Bein so gelagert, dass es sich einigermaßen schmerzfrei anfühlte. Seit seinem Sturz vom Pferd lebte er jeden Tag mit Schmerzen. Er war damals fünfzehn Jahre alt gewesen. Wenn nur nicht die Revolution ausgebrochen wäre, man hätte ihm vielleicht helfen können. Aber alle Ärzte in der Umgebung waren von den Kommunisten in die Verbannung geschickt worden. Jetzt musste er am Stock gehen und schlug sich ständig mit diesen Schmerzen rum. Kornelius war miss­mutig und dachte, dass ihn trotz seinen jungen einundzwanzig Jahren und seiner Gutherzigkeit sicher keine Frau als Mann haben wollte. Wie sollte er als Krüppel eine Wirtschaft führen? Er hatte den anderen den Rücken zugewandt und sein Blick lag auf der Landschaft hinter ihnen. Die Wälder Santa Catarinas zogen an ihnen vorbei. Immer wieder sah er hohe Palmen, Bananenstauden und fremdartige Blumen zwischen den grünen Laubbäumen. Nachts hatte es geregnet und die Wagenräder zogen tiefe Furchen in den Morast. Kornelius beobachtete, wie sich die tiefen Rillen, die sie zurückließen, langsam wieder mit Wasser füllten. Es war heiß und alles fühlte sich klebrig an. Das soll Frühling sein?, fragte sich Kornelius. Vor einigen Tagen waren sie noch auf dem großen Schiff gewesen, das sie von Kiel nach Brasilien gebracht hatte. Den ersten Landgang hatte es in Spanien gegeben, danach in Lissabon. Vom Deck aus hatte er beobachten können, wie große Holzkisten voller Obst und Gemüse auf das Schiff geladen wurden. Es waren an die 2000 Menschen an Bord, und täglich hatten sie dreimal zu essen bekommen. Auch hatten sie jeden Tag eine Dusche nehmen dürfen. Das hätte er nie gedacht, dass das möglich wäre. Bei Einbruch der Dunkelheit waren in den Sälen die Lichter angegangen und die Weltlichen hatten zu flotter Musik getanzt. Nur sie hatten nicht ­getanzt. Für sie war Tanzen verboten gewesen. Sie hatten nur aus der Entfernung das bunte Treiben beobachtet. Drei Wochen lang waren sie unterwegs gewesen, bis sie in der Ferne Land und einen großen Berg gesehen hatten.

«Das ist der Zuckerhut!», hatten die Menschen um ihn herum gerufen und einige Männer hatten laut gebetet. Die Frauen hatten Tränen in den Augen gehabt.

Vor uns liegt der Urwald, der undurchdringlich scheint, dachte Kornelius, aber hoffentlich ist es eine Welt voller Frieden, wo wir so viele christliche Versammlungen abhalten können, wie wir wollen. Der Schrecken der Revolution und die Angst lagen hinter ihnen. Kornelius spürte eine große Erleichterung und konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass wirklich alles vorbei war, dass ihnen niemand mehr drohen würde. Niemand würde mehr kommen und ihm mit dem Flintenkolben über den Buckel schlagen, wenn er nicht schnell genug arbeitete. Vater Johann schaute sich nach seinem Sohn um und legte ihm die Hand auf die Schulter.

«Jetzt fangen wir nochmal von vorne an, ja?», sagte er zu ihm.

Doch Kornelius antwortete ihm nicht. Sein Blick ruhte weiter auf dem Wald, auch wenn er ihn eigentlich nicht wahrnahm. Er dachte an Russland, an die schweren Anfänge, die sie auf der Krimhalbinsel eins ums andere Mal hatten machen müssen. Und immer, wenn sie gedacht hatten, dass es wieder aufwärts ging, waren die Russen gekommen und hatten ihnen alles weggenommen. Aber Kornelius konnte sich nicht vorstellen, sich jemals an einem neuen Ort zu Hause zu fühlen. Adschi-Mambet war seine Heimat gewesen. Dort war er geboren worden. Seine Eltern Johann und Justina waren 1905 mit seinen älteren Geschwistern Jakob, Johann und Tina von Rosenort, Molotschna, hergekommen. Vater Johann hatte in Molotschna als Schreiner gearbeitet und dem Schwiegervater auf dem Hof geholfen. Dort seien sie arm ­gewesen, hatte sein Vater erzählt. Aber als Kornelius fünf Jahre später zur Welt gekommen war, war es der Familie in Adschi-Mambet schon sehr gut gegangen. Das Land hatten sie gepachtet, weil ihnen für eine eigene Wirtschaft das Geld gefehlt hatte, doch sie hatten sofort erfolgreich gewirtschaftet. Eine gute Ernte war der nächsten gefolgt. Kornelius hatte noch zwei Geschwister bekommen, den Willi und die kleine Justina. Er erinnerte sich daran, wie plötzlich alle davon sprachen, dass ein großer Krieg ausgebrochen sei. Aber er konnte noch nicht verstehen, was das hieß, er war noch so klein gewesen. Das war 1914 gewesen, als der Erste Weltkrieg begonnen hatte. Viele hatten finanzielle Schwierigkeiten bekommen, aber die Baergs selber hatten nicht viel vom Krieg gemerkt. Juden waren gekommen und hatten ihnen Getreide abgekauft, um es mit Eisenbahnwaggons in die großen Städte zu transportieren. Auch hatten sie Schlachtvieh verkaufen und Pferde zum Markt bringen können. Doch immer wieder hatten sie schlimme Nachrichten aus anderen Mennonitensiedlungen vernommen. Vielen war es sehr schlecht ergangen. Es war eine Deutschenhetze in Russland losgegangen. Die Deutschen hatten plötzlich schuld sein sollen, dass Russland den Krieg nicht gewonnen hatte. Viele Mennoniten hatten ihre Geschäfte auf russische Namen umgeschrieben, um sich zu schützen. Mühlen, die vorher Getreide gemahlen hatten, hatten auf Waffenproduktion umgestellt. Söhne der reichen Landwirte waren ins Militär geschickt worden. Zum Wohle der Gemeinschaft war das ­Gebot der Wehrlosigkeit vorübergehend auf die Seite gestellt worden. Aus Angst hatten sich einige Mennoniten auf ihren Gründer Menno ­Simons berufen und sich als Holländer ausgegeben. Doch vielen hatte alles nichts geholfen. Manch reichem Landwirt war sein Hof weggenommen worden. Und dann war plötzlich die Revolution ausgebrochen. Lenin hatte den Zaren gestürzt. Ob das Besserung bedeutet?, hatten sich viele Mennoniten gefragt. Viele hatten aufgeatmet, denn sie hatten gehofft, dass jetzt die Deutschenhetze und die Liquidierungen ihrer Höfe vorbei seien. Die Baergs hatten in dieser Zeit aber in ihrer eigenen Welt gelebt. Mutter Justina war wieder schwanger geworden und hatte den kleinen Hein zur Welt gebracht. Jetzt waren sie sieben Geschwister und ihr Leben hatte weiterhin aus Säen und Ernten bestanden. Vertrauensvoll hatten sie jeden Abend ihr Leben in die Hände des Herrn Jesus gelegt und daran geglaubt, dass, wenn sie ein anständiges und aufrichtiges Leben führten, alles gut kommen würde. Dann war das schreckliche Jahr 1919 gekommen, in dem der älteste Sohn, Jakob, im Fluss ertrunken war, als er mit dem Pferd einen Fluss hatte überqueren wollen und die Strömung ihn mit sich gerissen hatte. Wie die Familie getrauert hatte! Mutter Justina schien ihr Lachen für immer verloren zu haben. Zum Glück war da der kleine Hein gewesen, der nach ihr verlangte hatte und sie wieder ins Leben zurück­geholt hatte. Kornelius’ Augen füllten sich mit Tränen, als er an Jakob dachte. Doch das war nicht der letzte Schicksalsschlag gewesen. ­Eines frühen Morgens war das Militär auf den Hof gekommen und hatte ­alles beschlagnahmt, was sich auf dem Hof befunden hatte. Sie hatten die Pferde, den Wagen, die Dreschmaschine und auch das ­Getreide mitgenommen. Die Familie war daneben gestanden und hatte zuge­sehen, wie alles abtransportiert wurde. Innerhalb weniger Stunden war aller Fleiß und Mut dahin gewesen. Kornelius dachte an das lahme Pferd, das ihnen geblieben war. Mit ihm hatten er und seine Brüder versucht, das Feld zu bestellen. Und eine Kuh hatten sie zur Milchversorgung behalten dürfen.

Kornelius wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er hörte, wie der Kutscher erzählte: «Bei uns gibt es die Krökers. Die sind auch aus Adschi-Mambet. Die haben die Flucht vor euch geschafft und schon ein Haus gebaut. Bei denen dürft ihr vorübergehend wohnen.»

Erfreut antwortete Justina: «Ja, die Krökers. Wir kennen sie von der Kirche. Das ist schön, dass sie uns aufnehmen wollen.»

Es war tröstlich zu wissen, dass Bekannte und eine warme Mahlzeit auf sie warteten. Kornelius dachte an die geschwollenen Pennerskinder in Adschi-Mambet. Jeden Tag waren weniger Kinder in den Unterricht gekommen. Irgendwann hatte der Lehrer gesagt:

«Es ist zu kalt. Ihr könnt nach Hause gehen.»

Zu Hause war es aber langweilig gewesen, deshalb war er zu den Penners gegangen. Er hatte mit ihnen spielen wollen. Als er geklopft hatte, hatte ihm Frau Penner geöffnet:

«Geh wieder nach Hause. Meine Kinder wollen heute nicht spielen.»

Doch er hatte ihre Stimmen im Zimmer gehört. Deshalb war er an die Schlafzimmertür geschlichen und hatte sie langsam geöffnet. Welcher Schock! Er war so schnell wie er konnte gelaufen und als er zu Hause die Auffahrt hochgerannt kam, schrie er:

«Bei Penners sind die Kinder alle geschwollen im Gesicht!»

Mutter Justina hatte ihn mit aufgerissenem Mund angestarrt, sich ihr Halstuch geschnappt und war zum Dorfschulzen gerannt. Danach hatte es auf dem mennonitischen Dorfplatz eine große Küche gegeben und die armen mennonitischen Familien hatten etwas zu essen bekommen. Zum Glück haben wir Mennoniten immer zusammengehalten, dachte Kornelius. Auch an die russische Krankenschwester, die eines Tages aufgetaucht war, dachte er.

«Was sagt die, sollen wir tun?», hatten sich die mennonitischen Männer gefragt und sich ratlos angeschaut, denn nicht alle hatten russisch gesprochen.

«Ihr sollt mir helfen, die Toten zu begraben», hatte sie ihnen erklärt. Dann war sie mit den Männern mit zwei Wagen losgefahren. Beim nächsten Dorf hatten sie beim ersten Haus angehalten. Als die Krankenschwester dem Hausbewohner erklärt hatte, was sie wolle, hatte dieser nur mit der Hand gezeigt, ohne rauszukommen:

«Hier, der Nachbar öffnet schon seit drei Tagen seine Tür nicht. Ich gehe da nicht hin, aber da ist etwas nicht in Ordnung.»

Sie hatten sieben verschlossene Häuser gefunden. Überall, wo die Türe mit Gewalt hatte geöffnet werden müssen, hatten sie tote Menschen gefunden.

Kornelius wischte sich über sein Gesicht, um diese Bilder wegzubringen, aber es ging nicht. Sie waren in seine Seele eingebrannt. Er drehte sich nach vorne, um zu schauen, ob er irgendwo etwas anderes sähe als Weg und Wildnis. Dann kamen die Erinnerungen an die Hungersnot. Im Frühling und Sommer war es immer ein wenig besser gewesen, denn Mutter Justina hatte Kartoffeln und Gemüse anpflanzen können. Im Sommer war vieles eingemacht und für den Winter gelagert worden. Doch die Winter waren lang und sehr kalt gewesen. Das Gelagerte für den Winter hatte nicht gereicht und war eingeteilt und abgezählt worden. Kornelius erinnerte sich an das Hungergefühl, mit dem er oft eingeschlafen war. Dann hatten sie aus den Dörfern sowjetische Kommunen gemacht. Das war 1925 gewesen, als die Dörfer aufgelöst worden waren. Die sowjetischen Agenten hatten auf den Höfen die Hühner gezählt und ausgerechnet, wie viele Eier jede Familie ­abgeben musste. Aber das Allerschlimmste war das Glaubensverbot. Jegliche Versammlungen wurden verboten. Gott durfte nicht mehr ­erwähnt werden. Die Mennoniten hatten ihre Bibeln versteckt, sie nur noch heimlich gelesen und sich hinter verschlossenen Türen versammelt. Auch die Sonntagsschule für Kinder war verboten worden. Wegen seiner Behinderung hatte Kornelius die Aufgabe bekommen, die sowjetischen Agenten von der Eisenbahn abzuholen und zu den verschiedenen Dörfern zu kutschieren, das war gut mit seinem Bein machbar gewesen. Vor Ort hatte er sich um die Pferde gekümmert und die Kutsche in Ordnung gehalten. Hier war er auf viele Leute getroffen. Eines Tages hatte ihm ein junger Mann erzählt:

«In Karasan ist noch alles wie früher. Die haben noch richtig Sonntag und Versammlung.»

Kornelius war sehr verwundert gewesen, denn bei ihnen waren die Versammlungen schon lange verboten worden. In Karasan hatten Verwandte von ihnen gewohnt. Begeistert war er am Abend nach Hause gekommen und hatte seinen Eltern davon erzählt. Daraufhin hatten sie fürs nächste Wochenende eine Fahrt nach Karasan geplant. Wie Kornelius Angst gehabt hatte, als er beim Amt nach der Kutsche gefragt hatte, denn selber hatten sie ja keine eigene mehr gehabt. Ganz früh am Sonntagmorgen hatten sie das Dorf verlassen und einen großen Bogen über den Steppenweg geschlagen, um dann in Richtung Karasan weiterzufahren. Kornelius lächelte, als er daran dachte, wie glücklich alle gewesen waren, sich nach so langer Zeit wiederzusehen.

Vor der Kirche hatte er sich mit einigen Jungen unterhalten und als drei Mädchen kichernd vorbeigegangen waren, hatte er sie lachend gefragt:

«Na, wem gehören die schönen Mädels?»

Dann waren sie in die Kirche gegangen. Die Versammlung hatte schon begonnen. Der Älteste hatte sehr ernst gesprochen:

«Das Weltende ist nahe. Die Kirchen werden geschlossen. Die Menschen werden verbannt.»

Kornelius erinnerte sich an die weinenden Frauen und auch die Männer hatten verstohlen Tränen weggewischt. Als sie aus der Kirche gekommen waren, hatten sie die drei Mädels wieder getroffen und diese hatten die Baergs zum Mittagessen eingeladen. Es war so schön bei ihnen gewesen. Sie hatten zusammen gegessen und zusammen Musik gemacht, doch Kornelius hatte nur Augen für Tina gehabt. Der Nachmittag hatte mit Kaffee und Streuselkuchen geendet. Danach hatten sich die Baergs wieder auf den Weg nach Hause machen müssen. Um zur Kutsche zu gelangen, hatten sie ein Waldstück durchquert. Tina und Kornelius waren zurückgeblieben und versteckt hinter einigen Bäumen hatte er sie gefragt, ob er sie küssen dürfe. Leise hatte sie «Ja» gehaucht. Seine Wangen wurden ihm immer noch ganz heiß, wenn er an den Kuss dachte. Doch dann hatte Tina zu weinen angefangen und war davongerannt. Er hatte sie nie mehr wieder gesehen. Warum hatte sie geweint? Ob sie da schon gespürt hatte, dass sie sich nie wieder sehen würden? Er presste seine Hand zu einer Faust und hätte am liebsten laut geschrien. Warum nur war ihnen all das passiert? Zwei Wochen darauf, als er wieder mit der Kutsche unterwegs ge­wesen war, hatte ihm ein Mann erzählt, dass in Karasan mehrere Fracht­wagen mit Polizei gewesen waren. Die hätten viele Familien mitgenommen.

Kornelius hatte ein paarmal leer geschluckt. Dann hatte er leise gefragt: «Und die Bergens?»

«Ja, auch sie.»

Danach war bei den Mennoniten kein Halten mehr gewesen. Alle hatten versucht, Russland zu verlassen.

Als Kornelius sich umdrehte, sah er, dass der Vater eingeschlafen war und die Mutter sich müde an ihn lehnte. Der kleine Hein hatte den Kopf bei ihr auf dem Schoß. Ab und zu schnaubte eins der Pferde. Inzwischen stand die Sonne schon tief.

Plötzlich durchbrach der Kutscher die Stille: «Da vorne ist unsere Siedlung.»

Sie waren angekommen. Die Krökers empfingen sie herzlich und nur allzu gerne nahmen die Baergs das Angebot an, bei ihnen zu wohnen. Denn wo hätten sie sonst schlafen sollen? Sie hatten nichts und hätten in der freien Wildnis übernachten müssen. Am Abend saßen die zwei Familien zusammen und beteten und sangen. Sie dankten Gott für die Rettung und baten ihn um Kraft für den Neuanfang. Als die Zeit gekommen war, das Nachtlager aufzusuchen, sagte Johann zu Kornelius:

«Sohn, morgen gehen wir in den Wald und schlagen Zedernbäume.»

Gespräche

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Fernanda den Raum betritt.

«Wie kann ich dir denn weiterhelfen?», fragt sie mich.

«Gibt es denn Menschen von damals, die noch hier leben?»

«Mennoniten meinst du?»

«Nein, es müssen keine Mennoniten sein, aber ich wäre froh, wenn sie deutsch sprechen würden. Mein Portugiesisch reicht, um ein Hotelzimmer zu buchen und ein Bier zu bestellen. Ich konnte mal besser reden, doch inzwischen habe ich zwei weitere Sprachen gelernt und dabei vieles vergessen», erkläre ich ihr.

Sie schnappt sich die Autoschlüssel: «Komm mit.»

«Was, jetzt?», frage ich.

«Es läuft hier eh nichts. Gehen wir», meint sie und schließt kurzerhand das Museum. «Ich stelle dir einige Personen vor.»

Wir verlassen Witmarsum und erreichen noch kleinere Nachbardörfer. Ich bin still und höre Fernanda zu, die mir von ihrem Leben hier erzählt. Vergebens fahren wir zu vier Häusern, denn nirgends ist jemand zu Hause.

«Es findet gerade ein Begräbnis in der Kirche statt. Ein Mennonit ist gestorben. Wahrscheinlich sind alle dort. Mit Sicherheit sind alle dort», erklärt Fernanda.

Sie seufzt verzweifelt: «Jetzt bleibt noch eine Frau übrig. Hoffentlich ist sie daheim.»

Wir fahren wieder zurück nach Witmarsum. Ich schaue aus dem Fenster. Vor 80 Jahren also tauften die Mennoniten diese Gegend «Krauel-Siedlung» und teilten das Land in drei Teile, es entstanden drei Dörfer. Das erste Dorf hieß Witmarsum, dann wurden Waldheim und Gnadental gegründet. Was war geschehen, dass sie fast alle von hier wegzogen?

«Fernanda, weißt du, wie viele Mennoniten noch hier leben?»

«Keine Ahnung, Roni, aber schau da vorne. Erkennst du das sehr alte Haus, das man zu renovieren versucht hat?»

Mein Blick folgt ihr und ich sehe ein altes Holzhaus, das einen frischen mintgrünen Anstrich hat, doch die Dachziegel sind gräulich und mit Moosschichten bedeckt.

Fernanda erzählt weiter: «Das Haus ist über achtzig Jahre alt und hat mal einer Familie Neufeld gehört. Hier in Witmarsum wurden die Häuser aus einfachsten Materialien gebaut, meistens nur aus Holz. Es ist von damals nur wenig erhalten geblieben. Die Häuser verfaulten und verfielen, die Landstücke verwilderten.»

Ich höre still zu und denke mir, dass in dem Fall auch das Haus meiner Großeltern nicht mehr stehen wird.

Kornelius wünschte sich nichts mehr, als die richtige Frau zu finden und ein eigenes Zuhause zu gründen. Trotzdem half er als Erstes seinen Eltern, ein Haus aufzubauen. Die Familie hatte ihre kleine Geldreserve beim deutschen Konsulat zurückgelassen, um sie unterwegs nicht zu verlieren. Als sie nun in Brasilien ansiedelten, bekamen sie ihr Geld wieder ausbezahlt. Johann und Justina kauften sich davon eine Kuh, einen Maulesel und einige Lebensmittel. So wenig brauchte es, um wieder Mut für einen Neuanfang zu fassen. Das Haus bauten sie aus frischgeschlagenem Zedernholz, dazu bauten sie noch einen Schuppen und ums Haus herum gab es eine Veranda, um hier an Regentagen den Mais zu trocknen. Auf dem frischen Waldboden gelang die Maisernte besonders gut. Sie pflanzten auch Bataten (Süßkartoffeln), Mandioca (Maniok), Kürbisse und Wassermelonen an und legten einen Obstgarten an. Während Mutter und Schwester sich um das Haus und den Garten kümmerten, bewirtschafteten Johann und Kornelius das Land mit dem Maulesel und Hein ging in die Schule. Einmal in der Woche ging Kornelius den Krauelfluss entlang bis nach Waldheim, um im Männerchor mitzusingen. Und er besuchte mit seiner Schwester Justina den gemischten Chor. Dort hatte er seit dem ersten Abend ein Auge auf Margret geworfen, eine selbstbewusste junge Frau aus gutem Hause, die viel lachte und erzählte. Margret genoss es, von dem sanftmütigen Kornelius umworben zu werden, und verliebte sich immer mehr in ihn.

Eines Tages rief der Vater vom Feld her ganz laut nach der Familie, denn der Hund hatte ein vorbeilaufendes Reh festgehalten, sie griffen es sich und schlachteten es. Endlich hatten sie mal was anderes als ­Maniok und Süßkartoffeln auf dem Teller. Das war ein guter Grund, seinen Eltern Margret vorzustellen.

Nach dem Essen setzten sich Kornelius und Margret vors Haus und genossen die Zweisamkeit. Über ihnen hatte der liebe Gott den schönsten Sternenhimmel ausgebreitet. Kornelius umschlang ihre Hand, die sich weich und trocken anfühlte. Er hatte den Wunsch, diese Frau nie mehr loszulassen. Deshalb fragte er schüchtern:

«Margret, ich habe dir nur wenig zu bieten. Ich bin arm und habe eine Behinderung. Doch ich verspreche, dich immer zu lieben. Willst du meine Frau werden?»

Nur zu gern willigte Margret ein. Es störte sie nicht, dass Kornelius arm war und an einem Stock ging. Sie wusste, dass sie in ihm den liebevollsten Mann weit und breit gefunden hatte.

So planten sie ihre Hochzeit auf Anfang Mai 1932. Margret fand ­Arbeit in einem Hotel außerhalb von Witmarsum, wo sie sich den Hausrat und die Wäsche abverdiente, und Kornelius konnte bei einer Familie Pankratz helfen, wo er für seinen Einsatz ein wenig Geld und Honig bekam. Das Hochzeitsdatum rückte immer näher und das junge Paar konnte es fast nicht mehr abwarten. In seiner Verliebtheit dachte Kornelius immer weniger an die Geschehnisse in Russland. Doch für seine Eltern waren sie immer präsent.

Als er an einem regnerischen Vormittag in die Küche kam, um etwas zu trinken, sah er seine Mutter weinen.

«Was ist, Ma?», fragte Kornelius.

«Nichts, ich habe nur an Willi gedacht», antwortete sie ihm, während sie sich abwandte und verstohlen die Tränen wegwischte.

Kornelius schämte sich dafür, dass er so glücklich war. Wie konnte er nur so verliebt und strahlend durch die Gegend laufen und übersehen, dass seine Eltern die Geschwister in der Ferne vermissten und heimlich weinten? Still trank er sein Glas Milch aus und verschwand wieder aus der Küche. Er ging zum Vater in die Werkstatt, der dabei war, am verregneten Tag Schreinerarbeiten zu erledigen.

Kornelius versuchte sich irgendwie nützlich zu machen. Seine Gedanken wanderten zur Krim. Plötzlich hatte es geheißen, dass man flüchten könne. Die Mennoniten hatten sich mit dem Roten Kreuz in Deutschland in Verbindung gesetzt und das Rote Kreuz hatte Hilfe vorbereitet. So waren Tausende innerhalb kurzer Zeit nach Moskau gereist. Einer hatte es dem anderen gesagt. Nur das Nötigste hatte man eingepackt. Die Hoffnung, dass es irgendwo besser sein würde, die Hoffnung auf ein Leben ohne Angst, war Antrieb genug gewesen, sich mit ­einer Handvoll Habseligkeiten auf den Weg zu machen. Auch die Familie Baerg hatte sich entschlossen zu flüchten. Man hatte sich in Gruppen aufgeteilt. Nachts hatte man Versammlungen abgehalten, in denen man heimlich die Flucht plante. Vater Johann war zum Verantwortlichen der dreizehnten Gruppe erklärt worden. Wie die Eltern Angst gehabt hatten! An eine Flucht Hals über Kopf war nicht zu ­denken gewesen, denn sie hatten ja ihn, den gehbehinderten Kornelius bei sich gehabt. Deshalb hatte alles gut geplant sein müssen. Sie hatten entschieden, die Brüder Willi und Johann mit Eiern und Butter nach Simferopol, der Hauptstadt der Krim, zu schicken, damit diese Fahrkarten besorgen. Das war den Brüdern gelungen, sie hatten Fahrkarten für die ganze Familie gekauft! Man hatte bestimmt, in der Nacht nach der Rückkehr der Brüder zu flüchten. Nur ein paar kleine Bündel hatten bereitgelegen. Und um vier Uhr morgens hatten sie ihr Haus verlassen. Sie hatten den Zug genommen und auf der Fahrt waren vier weitere Familien hinzugekommen. Sie hatten Moskau erreicht. Etwas außerhalb der Stadt hatten alle in einem Sommerhaus mit zwei Schlafzimmern Platz gefunden. Die schwierigste Aufgabe war nun gewesen, Ausreisegenehmigungen zu bekommen. Zwölftausend hatten bereits vor Ort auf ihre Papiere gewartet. Willi war alleine losgezogen, um die Dokumente zu besorgen. Er hatte gehört, dass Deutschland die Grenzen öffnen wolle, um die Leute aufzunehmen.

Die ersten zwei Gruppen hatte das Militär abreisen lassen, doch danach war jede weitere Ausreise von der Regierung verboten worden. Das Militär hatte versucht, die Masse der Verzweifelten zu überreden, nach Hause zurückzukehren. Sie hatten versprochen die Lage zu untersuchen und Verbesserungen einzuführen. Doch das hatte niemand mehr geglaubt und so hatten die Menschen vor dem Bahnhof weiter auf den Moment gewartet, der ihnen die Ausreise bringt.

Dann aber waren die Militärs zurückgekommen und hatten die Menschen mit Gewalt zur Umkehr gezwungen. Man hatte sie auf Lastwagen und in Zugwaggons gepackt. Wer sich geweigert hatte, war in die Verbannung nach Sibirien geschickt worden. Aber wo war Willi gewesen? Endlich war er im Getümmel zu den ängstlich Wartenden gekommen.

«Kommt, lasst uns alle davonlaufen! Irgendwie schaffen wir es bis zur Grenze», hatte Willi den Vater bestürmt.

Doch der Vater hatte in beruhigendem Ton erwidert: «Das kommt nicht infrage, Willi. Kornelius würde das nie bewältigen mit seinem Bein. Wir bleiben hier, aber gehe du allein.»

Da hatte Mutter Justina zu weinen angefangen. Dann hatte sie am Boden kauernd ein Bündel zu packen begonnen. Kornelius erinnerte sich, dass er in dem Moment auf ihre Hände gestarrt hatte, er erinnerte sich, wie ihre Hände etwas Geld, Unterwäsche, eine Decke und ein Kissen zusammenschnürten. Große Tränen waren ihr übers ihr Gesicht gelaufen, als sie sich erhoben hatte, um Willi das Bündel zu geben. Willi hatte es mit einer schnellen Handbewegung unter den stehenden Zug geworfen. Dann hatte er die Eltern ein letztes Mal umarmt. Kornelius hörte es immer noch, wie Vater stammelte: «Gottes Segen, mein Sohn», und dann hatten sie bereits im Zug gesessen, während Willi draußen zurückgeblieben war. Der Zug war davongefahren und sie konnten Willi bald nicht mehr ausmachen, denn es hatte heftig geschneit.

Willi war heil und gesund in Deutschland angekommen. Als die ­Eltern zwei Jahre später mit ihren Kindern Kornelius, Justina und Hein über Leningrad die Ausreise nach Deutschland wagten, war Willi mit einer Gruppe Mennoniten bereits nach Kanada ausgewandert. Deshalb hatten sie ihn nie wieder gesehen.

Kornelius wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Mutter Justina mit einem Brief in der Hand die Werkstatt betrat.

«Was ist?», fragte Johann, als Justina ihm weinend den geöffneten Brief überreichte. Johann und Kornelius beugten sich gemeinsam über den Brief und beide brachten danach kein Wort heraus. Er war von Agate, Johanns und Justinas Schwiegertochter. Sie schrieb:

Johann ist in die Verbannung nach Kasachstan geschickt worden und jetzt bin ich alleine mit meinen vier Kindern. Ich muss im Kolchos arbeiten, damit wir was zu essen haben.

Alle waren sehr traurig und es war keine Hochzeitsstimmung mehr im Haus. Jedem war bewusst, dass Verbannung für die meisten der Tod bedeutete. Warum waren sie nicht mitgekommen? Mutter Justina und Vater Johann brach es fast das Herz. Erst der Tod ihres Ältesten Jakob, der ertrank, dann Willi, von dem sie nicht wussten, wie es ihm in Kanada erging, und jetzt Johann. Würde er je wieder aus der Verbannung zurückkehren?

Die Hochzeit wurde trotzdem gefeiert, nur im kleinen stillen Rahmen. Nach der Hochzeit zogen sie zu Margrets Eltern, doch Kornelius fühlte sich dort nicht wohl. Sein Schwiegervater war ein ungeduldiger Mensch und nahm keine Rücksicht auf seine Behinderung. Sie packten ihre Sachen wieder zusammen und zogen zu Justina und Johann. Dort gefiel es dem jungen Ehepaar sehr. Justina und Margret arbeiteten gut zusammen und Kornelius konnte beruhigt mit seinem Vater die Feldarbeit erledigen. Margret erwartete bald darauf ihr erstes Kind. Es war der letzte Januartag 1933, als sich bei ihr die Wehen meldeten. Während Mutter Justina Margret ein Bett vorbereitete, ernteten Vater Johann und Kornelius den Mais hinter dem Haus. Kornelius war immer mit einem Ohr beim Haus, währenddem seine Hände den reifen Mais brachen. Einen Tag später, am 1. Februar, gebar Margret das Kind, einen gesunden Jungen. Sie nannte ihn Rudie. Dies war mein Vater: Rodolfo Baerg.

Fernanda und ich kommen bei Selma Zerna an, einer zweiundachtzigjährigen Frau. Fernanda erklärt Frau Zerna kurz, was ich will, und fährt wieder zurück zum Museum. Schüchtern folge ich der alten Frau ins Haus.

«Was wollen Sie wissen?», fragt sie mich.

Ich stottere ein bisschen vor mich hin, doch dann frage ich: «Können Sie mir von damals erzählen, als die Mennoniten Witmarsum gründeten?»

Sie lächelt: «Das ist ein Missverständnis. Die Mennoniten haben Witmarsum nicht gegründet. Die Siedlung wurde schon 1924 von einem Mann namens Paul Zerna gegründet, das war mein Schwiegervater.»

Ich bin sehr überrascht und starre sie mit offenem Mund an: «Bitte erklären Sie mir alles, egal was. Ich will alles wissen.»

Lange sitzen wir zusammen und Frau Zerna erzählt: «Damals war noch alles Urwald. Als 1930 die ersten Mennoniten kamen, war hier schon einiges gerodet und die Leute besaßen ihre eigenen Höfe. Doch die Siedlung hatte noch keinen Namen und so waren es die Mennoniten, die dem Ort einen Namen gaben. Sie nannten die Siedlung Witmarsum. Da kam ihr Gründer her, der Menno Simons. Die Mennoniten hielten es am Krauel nur zwanzig Jahre aus, nach zwanzig Jahren hatten die meisten Witmarsum bereits verlassen. Nur ein paar Vereinzelte blieben. Ich kam erst 1942 nach Witmarsum und fand Arbeit beim mennonitischen Arzt Peter Dyck. Dann lernte ich Paul kennen und wir heirateten später. Ich erinnere mich vor allem an die übertriebene Sparsamkeit der Mennoniten. Mann, konnten die sparen! Mein Schwiegervater baute für die jungen Leute einen Tanzsaal, doch er bekam sofort Probleme mit den Mennoniten, denn für ihre Kinder war das Tanzen ja verboten. Sie verlangten von ihm, den Tanzsaal zu schließen, was er aber nicht tat. Auch erinnere ich mich an ihre kirchlichen Streitigkeiten. Die Familie Zerna kaufte dann nach und nach den Mennoniten alles ab: die Mühle, die Molkerei, das Schulhaus und das Krankenhaus. Doch bevor mein Schwiegervater alles bezahlen konnte, verunglückte er tödlich mit seinem Lastwagen. Mein Mann Paul hat dann drei bis vier Jahre lang Mennoniten beim Umzug von hier nach Curitiba Paraná geholfen, um die Schulden abzuarbeiten.»

Langsam steht sie auf und geht ins Nebenzimmer, wo sie ihrer Angestellten einige Befehle gibt und sich geräuschvoll die Nase putzt.

Als sie zurückkommt, frage ich: «Warum, meinen Sie, sind die Mennoniten von hier weggezogen?»

Frau Zerna findet: «Für mich gibt es da eine ganz einfache Erklärung. Sie fühlten sich in den Bergen nicht wohl und konnten hier das Koloniesystem von Russland nicht umsetzen. Sie hatten wohl ihre Gemeinde und ihre Kirchenbesuche, aber sie hatten nicht ihre eigene Kolonie, denn wir lebten ja alle hier, Deutsche, Brasilianer und andere. Mennoniten wollten unter sich sein, sich selber verwalten. Niemand sollte ihnen dreinreden. Das haben sie ja fast überall in Südamerika geschafft. In Paraguay doch auch, oder? Auch die Form von Ackerbau, den sie von Russland her kannten, konnten sie hier nicht betreiben. Die paar Familien, die hier geblieben sind, sind mittlerweile keine richtigen Mennoniten mehr. Sie sind weltlicher als die, die es schafften, weitere Kolonien zu gründen.»

Dann erzähle ich ihr von Pa, dass er hier geboren ist und seine Kindheit am Krauelfluss verbracht hat:

«Mein Pa sprach viel vom Krauel. Dabei weinte er immer. Manchmal dachte ich, dass er sich die Geschichten bloß ausdenkt. Ich konnte mir das hier alles nicht vorstellen. Er musste ja schon mit achteinhalb Jahren mit seinen Eltern nach Curitiba umziehen. Er erzählte mir von einer undurchdringlichen Wildnis. Um zum Fluss zu gelangen, musste man ein Feld überqueren. Es gehörte Isaak Martens, erzählte er mir. Pa spielte oft am Ufer des Krauelflusses und sein Vater lernte ihn dort das Schwimmen, sein Onkel Hein brachte ihm bei, wie man fischt. Dann wurde sein Bruder Hans geboren. Als Hans gehen konnte, nahm Pa ihn immer mit zum Fluss. Dort fischten sie. Ihre Lieblingsstelle war dort, wo der Cambará in den Krauel fließt.»

Mir kommen die Tränen, als ich weitererzähle: «Wenn mein Pa das alles hier selber sehen könnte! In einer Nacht soll es sehr stark geregnet haben. Am Morgen nahm mein Pa seinen kleinen Bruder Hans an die Hand, um mit ihm fischen zu gehen. Der Fluss zog sehr stark. Es war mal ein Baum über das Ufer gestürzt und sein Stamm lag nun quer über den Fluss. Die Kinder von Witmarsum überquerten manchmal über diesen Baum den Fluss. An diesem Morgen kamen einige Nachbarsbuben und lachten meinen Pa aus, er sei ein Angsthase, weil er sich bei dem stark strömenden Wasser nicht nach drüben traue. Da dachte Pa kurz nach, schickte meinen Onkel Hans voranzugehen und er folgte ihm. Da rutschte Onkel Hans aus und stürzte ins Wasser. Pa sprang hinterher und nur mit größter Not konnte er ihn an Land ziehen. ­Dabei ­ertrank er selber fast.»

Ich halte inne und putze mir die Nase. Frau Zerna hört mir still zu, ohne mich zu unterbrechen.

Dann fahre ich fort: «Als sie an dem Tag durchnässt nach Hause kamen, schimpfte Kornelius sehr mit ihnen. Doch am Abend kam er und umarmte meinen Pa. Dann sagte er zu ihm: ‹Mein Sohn, das hast du gut gemacht, aber ihr hättet beide dabei ertrinken können.›»

Als Frau Zerna mir antwortet, hat ihre Stimme einen weichen Unterton bekommen: «Ihr Vater hat sich nichts ausgedacht. Der Krauelfluss, wie er damals aussah, den werden Sie aber nicht mehr vorfinden. Als die Mennoniten abzogen und die Leute anfingen, in Fabriken zu arbeiten, veränderte sich das Flussbett des Krauels. Stellenweise ist es von Pflanzen überwuchert und zugewachsen. Der Regen hat viel Äste, Stämme und Schlamm von den Bergen gebracht. Der Fluss ist schmaler als damals, als dein Vater an seinen Ufern spielte. Damals war er nach jedem heftigen Regen ein reißender Strom. Doch heute ist er stellenweise nur ein Schlammrinnsal. Von der alten Holzbrücke, die die Mennoniten gebaut haben, um Material von einer Seite zur anderen zu transportieren, stehen an beiden Seiten des Flusses nur noch Ruinen. Der Rest ist verfault und zerbrochen.»

Dann erklärt sie mir, wo sich die Stelle befindet, an der der Cambará in den Krauel fließt, wie ich gehen muss, um die Brücke zu finden, und wie ich den Fleck Erde erreiche, wo das Haus von Kornelius und Margret einst gestanden haben soll. Am nächsten Tag werde ich diese Stellen suchen, nehme ich mir vor. Dann fragt sie mich, ob ich einen Kaffee wolle.

«Ja, gern», meine ich.

Sie ruft eine junge Frau, die ihr den Haushalt macht, und beauftragt sie, uns einen Kaffee zu kochen. Doch dann hält sie inne und stellt mir ihre Haushälterin vor:

«Das ist ein Großkind von den Martens. Sie haben doch erzählt, dass Ihr Vater das Feld einer Familie Martens überqueren musste, um den Fluss zu erreichen. Ihren Großeltern gehörte dieses Feld.»

Ich bin sprachlos, wortlos gebe ich der jungen Frau die Hand. Bis jetzt habe ich schon mehr erfahren, als ich je zu träumen gewagt hatte, und es ist erst knapp ein halber Tag vergangen, seit ich in Witmarsum angekommen bin.

Die junge Frau bringt uns Kaffee und dazu gibt es Brot mit Marmelade und Schmand, wie in meiner Kindheit. Still trinke ich meinen Kaffee, esse meine Brotschnitte und höre Frau Zerna zu, die nun noch mehr aus ihrem Leben erzählt:

«Als ich hier ankam, ging es allen schon besser, aber angefangen hatte die Familie Zerna hier in größter Armut. Mein Schwiegervater kam in Deutschland zur Welt. Er kannte Adolf Hitler persönlich und demonstrierte als Jugendlicher mit ihm gegen die Juden. Doch als er merkte, was für eine extreme Richtung Adolf einnahm, zog er sich von ihm zurück. Adolf habe einen unglaublichen Hass gegen Juden entwickelt und einmal sogar vor ihm geschworen, dass es von denen keinen mehr geben würde, wenn er eines Tages Kanzler wäre. Paul heiratete später und entschied sich, nach Brasilien auszuwandern. Er wollte von Deutschland weg und ganz neu anfangen. Als er hier im Urwald erfuhr, dass Hitler Kanzler geworden war, sagte er zu seiner Frau: ‹Das kommt nicht gut in Deutschland. Das wird schlimm. Wir können froh sein, das wir hier sind.› Wissen Sie, mein Schwiegervater kannte auch Eva Braun. Er hat sie immer dafür bewundert, dass sie zu Adolf gehalten hat, auch wenn ihn der Hass zum Tyrannen gemacht hat. Hier im Urwald fingen die Zernas unter primitivsten Bedingungen ihr neues Leben an. Meine Schwiegermutter musste sehr schwer arbeiten und das Wasser vom Fluss holen. Im Winter, wenn die Kälte kam, banden sie sich Maisblätter unter die Füße, damit sie die Kälte aushielten. Auch ich bekam meine ersten Schuhe erst mit achtzehn. Ja, damals waren wir sehr arm.»

Frau Zerna atmet tief durch und lehnt sich seufzend im Stuhl zurück. Plötzlich sieht sie sehr müde aus. Ich lasse erst jetzt meinen Blick durch den Raum schweifen und erkenne, dass sie immer noch in recht einfachen Verhältnissen lebt. Alles ist schlicht, aber liebevoll eingerichtet. Dabei hatte Fernanda gesagt, Frau Zerna gehöre zu den wohlhabenderen Familien in Witmarsum. Ich bedanke mich herzlich bei ihr und will gehen, damit sie sich von meinem Besuch erholen kann.

Da sagt sie: «Sie haben Grazmiks erwähnt. Da lebt einer in Waldheim, zweites Haus an der rechten Seite. Vielleicht kann der Ihnen auch noch etwas erzählen. Aber kommen Sie ruhig nochmals auf einen Kaffee vorbei. Dann erzähle ich Ihnen noch mehr.»

Ich gehe zurück zum Hotel, um mich früh hinzulegen, denn ich spüre, wie die Grippe in meine Glieder kriecht. Das Zimmer ist eiskalt, und so schlüpfe ich tief in meinen Schlafsack hinein, um mit klammen Fingern noch schnell ein wenig in mein Tagebuch zu schreiben. Draußen an der Bar grölen betrunkene Männer bis spät in die Nacht, und immer wieder höre ich die Bocciakugeln aneinanderknallen. Doch der Krach hält mich nicht davon ab, selig zu schlafen.

Als ich am nächsten Morgen erwache, glüht mein Kopf fieberheiß, doch ich lasse mich von der Grippe nicht abhalten, springe aus dem Bett und mache mich fertig. Dann nehme ich mein Tagebuch und mache einen Strich auf die nächste leere Seite. Ich habe keinen Kalender bei mir und die Striche sollen mir helfen, nicht den Überblick über die Zeit zu verlieren. Dann gehe ich frühstücken. Es gibt pechschwarzen bitteren Kaffee, trockenes Weißbrot und Marmelade. Danach ziehe ich mich warm an, um zum Fluss zu gehen. Draußen hat es angefangen zu nieseln. Zuerst will ich die Reste der alten Brücke suchen. Frau Zerna hat es mir gut erklärt und plötzlich sehe ich sie, sie ist von Schlingpflanzen überwachsen. Das Ufer fällt steil ab. Auf beiden Seiten gibt es eine Mauer aus Backsteinen, doch von der Brücke selber sieht man nur noch einige verrostete Eisenstangen, die über das Ufer gehen und die Mauern verbinden. Als ich die Uferböschung hinabgleite, sinke ich tief in den Schlamm ein. Weil ich sowieso komplett nass und verdreckt bin, setze ich mich auf einige Pflanzenreste am Boden hin und halte inne. Ich versuche mir eine Vorstellung davon zu machen, wie schwer es für die Neuankömmlinge gewesen sein muss, hier in diesem feuchten Urwald Mais anzupflanzen. Ich berühre das Wasser des Krauelflusses, das langsam vor mir dahinfließt. Es ist glatt und lehmig. Als ich mich umdrehe, um eine Stelle ausfindig zu machen, wo ich mich einigermaßen unfallfrei wieder hochziehen kann, erblicke ich auf dem Boden einen Baumstumpf, der die Form eines Herzens hat. Mit meinen lehmverschmierten Händen wühle ich meine Kamera hervor und fotografiere ihn.

Völlig verdreckt und durchnässt erreiche ich das Hotel, dusche mich und krieche danach in meinen Schlafsack, um mich vor dem Mittagessen ein wenig aufzuwärmen. Auch wenn mir alle Glieder schmerzen, ist der Drang zu weinen verschwunden. Ich komme meinem Ziel, die Wurzeln meiner Vergangenheit zu finden, immer näher. Ich will endlich eine Verbindung von meiner Welt zu der Welt meiner Vorfahren aufbauen, denn ich brauche dringend Antworten, um ihre Handlungen zu verstehen. Nur wenn ich verstehe und das, was ich nicht ver­stehen kann, akzeptiere, kann ich es schaffen, nicht an meinen Erlebnissen zu verbittern, kann ich mich versöhnen und endlich auch in meinem Leben Wurzeln schlagen. Ich werde mich auf eine innere Reise machen, werde mich an alle Erzählungen meiner Eltern erinnern, werde alle Bilder von dem, was ich gesehen habe, neu aufkommen lassen, werde die Schmerzen, die meine Seele und meinen Körper geschunden haben, nochmals neu durchleben. Am Ende dieser Reise will ich vor mir stehen und zu mir «Ja» sagen können, das nehme ich mir vor.

Dann gehe ich Mittag essen. Es gibt Fleischeintopf, schwarze Bohnen, Reis und Orangensalat, wie in meiner Kindheit. Ich bin begeistert und schöpfe mir zweimal. Es schmeckt wie zu Hause bei Ma.

Den Nachmittag verbringe ich in der Nähe des Hotels und im Bett, denn die Grippe quält mich. Ich lass mir heißes Matewasser machen und wärme meinen vom Fieber geschüttelten Körper mit dem Tee auf. Dazu esse ich vor dem Einschlafen noch ein Stück Brot. Bei dem Regenwetter fängt das Saufgelage der Männer schon um zwei Uhr nachmittags an und sie spielen wieder Boccia bis spät in die Nacht.

Das kleine Mädchen Helena

Es war an einem Vormittag, als Bruno und ich bei meinen Eltern in Paraguay zu Besuch waren. Ich saß auf dem Bett in Mas Nähzimmer und blätterte in einer alten Burda-Zeitschrift aus den Achtzigerjahren, während sie in ihrer Kommode nach einem passenden Stoff suchte, um einen Rock fertig zu nähen.

«Pa hat sich sehr über das Tagebuch von Kornelius Baerg gefreut. Das war sicher sehr viel Arbeit, das alles abzuschreiben», meinte Ma plötzlich.

Ich blätterte weiter und sagte: «Ja, schon. Aber wie hätte er es sonst lesen können?»

Ma wühlte immer noch in der Kommode. Warum bewahrt sie auch immer jeden Stofffetzen auf?

Dann erzählte sie: «Meine Eltern waren auch in Witmarsum. Sie kamen auch mit einem von den Schiffen.»

Ich staunte mit offenem Mund: «Das habe ich ja gar nicht gewusst.»

«Ja, sie waren auch dort. Sie flüchteten über Harbin.»

«Ma, erzähl bitte. Was weißt du alles?»

Meine Ma hatte noch nie von früher erzählt. Sie blieb weiter mit dem Rücken zu mir bei der Kommode stehen. Während ihre Hände die vielen Gegenstände auf der Kommode ordneten, fing sie endlich an zu reden:

«Ja, 1912 kamen sie zur Welt, Mama und Papa, in Schönwiese, in der Nähe von Slawgorod in Sibirien. Sie waren gleich alt, meine Eltern. Meine Oma Katharina, mütterlicherseits, war fast blind. Sie hatte schon sieben Kinder, als ihr Mann während der Revolution erschossen wurde. Oma hat dann wieder geheiratet, einen Junggesellen, der Peter Reimer hieß.»

Dann war sie still.

«Das hast du mir alles nie erzählt?», fragte ich sie verwundert.