Wenn du meine Geschichte hörst - Roni Baerg - E-Book

Wenn du meine Geschichte hörst E-Book

Roni Baerg

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Beschreibung

Zwölf Menschen erzählen, wie sie aus ihren Heimatländern geflohen sind und wie es dazu kam, dass ein Aufbruch ins Ungewisse unausweichlich wurde. Sie schildern, wie sie nun in der Schweiz leben und wie sie ihre Zukunft sehen. Die Autorin Roni Baerg zeichnet die Gespräche nicht nur auf, sie beschreibt auch, wie die Gespräche auf sie wirken, wie die Begegnungen mit den Interviewpartnern zustande kommen und wie man sich annähert. ‹Wenn du meine Geschichte hörst› ist ein Protokoll einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht. Ein Protokoll einer Autorin auch, die selbst in den Neunzigerjahren in die Schweiz geflüchtet ist.

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Seitenzahl: 221

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RONI BAERGWENN DU MEINE GESCHICHTE HÖRST

Roni Baerg

Wenn du meine Geschichte hörst

Geflüchtete erzählen

Mit einem Vorwort von Markus Mader

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.

© 2018 Zytglogge Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Bild: Fateme Akbari

Layout/Satz: Melanie Beugger

e-Book: mbassador GmbH, Basel

Inhalt

Es geht um Menschlichkeit

Vorwort von Markus Mader, Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes

«Es ist ein Wunder, dass wir noch leben.»

Mehmet, Zahra, Amit, Milad und Nesrin, Afghanistan

«Ich verlor meine Sprache.»

Mushtaq, Afghanistan, 16 Jahre

«Ich will einfach nur leben.»

Ronî, Syrien, 18 Jahre

«Die Schweiz hat mir ihre Hand gereicht und mich vom Boden aufgehoben.»

Amar, Afghanistan, 23 Jahre

«Leben hat mich krank gemacht.»

Mutter, Vater, Aleksander und seine fünf Geschwister, Serbien

«Ich schaute in den Himmel und sagte meinen Eltern Adieu.»

Dawit, Eritrea, 19 Jahre

«Wenn ein Mensch Respekt hat, hat er alles.»

Salem, Eritrea, 18 Jahre

«Niemand flüchtet ohne Grund.»

Alli, Afghanistan, 16 Jahre

«Ich bin so müde.»

Mostafa, Afghanistan, 17 Jahre

«Vater sagte: ‹Du bist klein, aber Allah ist gross.›»

Assad, Afghanistan, 19 Jahre

«Nachts, wenn ich einschlafe und träume, verbinde ich mich mit meinen Eltern. Dann sind sie mir ganz nahe.»

Tenzin, Tibet, 21 Jahre

«Ich will vergessen, was gewesen ist.»

Yusuf und Mert, Onur und seine Frau mit ihren fünf Kindern, Irak

Es geht um Menschlichkeit

Vorwort von Markus Mader,Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes

Zwölf Geschichten der Flucht, der Not und der Heimatlosigkeit vernehmen wir durch Roni Baerg. Sie ist durch ihr eigenes Leben prädestiniert, festzuhalten, was Menschen empfinden und wahrnehmen, die der einen Gefahr entronnen sind und eine andere Gefahr auf sich genommen haben, um Sicherheit zu finden. Diese Wahrnehmung zählt, weil sie das Leben dieser Menschen und ihren Bezug zur neuen Umgebung prägt. Auch wenn die Sicht einer Behörde im einen oder anderen Fall anders sein mag – diese Wahrnehmung muss auch für uns zählen, weil sie für unseren Bezug zu diesen Menschen wichtig ist.

Die Geschichten mögen sich zum Teil ähnlich sein, sie enthalten aber Schilderungen, die durch eine grosse Zahl von Erfahrungen anderer Geflohener bestätigt werden und die grundsätzliche Erkenntnisse zum Umgang mit ihnen ermöglichen. Eine Reihe solcher Erkenntnisse scheint mir besonders relevant und über die hier aufgezeichneten Lebensgeschichten hinaus unbedingt bedenkenswert.

Die Menschen, die sich Roni Baerg anvertraut haben, sind nicht hier, weil sie hier sein wollen, sondern weil sie durch Gewalt, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. «Niemand flüchtet ohne Grund», sagt in der achten Geschichte der junge Alli aus Afghanistan, und wir dürfen dies stellvertretend für alle in diesem Buch erwähnten, ja generell für alle geflüchteten Menschen verstehen. In ihren Herzen sind sie mit ihrer Heimat und ihren dort verbliebenen Angehörigen verbunden geblieben. Und sie würden wohl alle lieber morgen als erst in Monaten oder Jahren wieder nach Hause zurückkehren. So sollten wir alle, Individuen, Institutionen und Behörden, ihnen auch begegnen: als Opfer für uns zum Teil ganz und gar unvorstellbarer Umstände.

Menschen wollen generell nicht zu Untätigkeit verurteilt sein und so von Sozialhilfeleistungen abhängig bleiben. Das wird auch aus den Geschichten in diesem Buch deutlich. Die Menschen, deren Geschichten wir hier lesen, wollen vielmehr die Sprache lernen, um sich zu integrieren, und sie wollen einen Beruf erlernen, um zu arbeiten und ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wir müssen ihnen die Gelegenheit dazu geben. Integration durch Sprache, Ausbildung, soziale Kontakte und Arbeit ist eine Voraussetzung, sich als ernst genommen zu empfinden. Sie ist Voraussetzung, sich selber als Mensch mit seiner Würde wahrzunehmen. Ohne Sprache ist Integration nicht möglich, und ohne Integration entsteht Isolation. Berufsintegration ist der beste Weg, Abhängigkeit und deren negative Konsequenzen zu vermeiden. Schliesslich ist sie – hoffentlich! – der beste Weg, dereinst, wenn es die Umstände zulassen, die Rückkehr in die Heimat mit einer besseren Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben zu erleichtern. Dazu können und sollen verschiedene Stellen beitragen: Behörden durch die Ausgestaltung der rechtlichen Voraussetzungen, Unternehmen und Organisationen durch die Schaffung entsprechender Ausbildungsund Beschäftigungsmöglichkeiten. Dabei handelt es sich nicht um eine theoretische Forderung. Wir haben beim Asylzentrum im Kanton Uri und mit der Ausbildung zu Pflegehelferinnen und -helfern in verschiedenen Kantonen praktische Erfahrung mit Berufsintegration erworben und wissen, dass solche Ausbildungen die Chancen auf einen Einstieg ins Berufs- und Erwerbsleben massiv verbessern.

Sprache und Ausbildung sind das eine. Sie helfen, eine längerfristige Perspektive zu finden. Im Alltag nicht weniger wichtig ist, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Das geht vom Kontakt mit Nachbarn über den Verkehr mit Amtsstellen und Unternehmungen bis zum Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das ist auch für viele Menschen, die ihr ganzes Leben hier verbracht haben, manchmal eine Herausforderung. Menschen, die erst vor kurzem aus ganz anderen Systemen hierhergekommen sind, müssen sich oft wie in einem Labyrinth vorkommen. Zur Integration muss deshalb auch gehören, ihnen aufzuzeigen, wie sie sich möglichst selbständig zurechtfinden können. Hier kann die Begleitung nicht nur durch spezialisierte Organisationen, sondern durch Menschen, die sich freiwillig als Mentorin oder Mentor engagieren, ganz besonders hilfreich sein, weil sie nicht nur Orientierung geben kann, sondern weil daraus oft auch ein menschlicher Bezug entsteht. Einen solchen Austausch mit ‹Einheimischen› 1:1 zu erleben, wie es die Rotkreuz-Kantonalverbände in verschiedenen Angeboten ermöglichen, wirkt dem emotionalen Unbehaustsein entgegen.

Die Menschen, die hier von ihrem Leben erzählen, sind zu einem guten Teil Jugendliche. Unbegleitete minderjährige Asylsuchende werden sie amtlich genannt. Eine unbeschwerte Kindheit ist ihnen durch die Umstände ihres Lebens meist verwehrt worden, und die Wärme und der Schutz eines familiären Zuhause ist bestenfalls Erinnerung an eine weit zurückliegende Vergangenheit. Die jüngste Vergangenheit hingegen ist geprägt von Gewalt, Not, Unmenschlichkeit, Ausbeutung. Daraus entstehen seelische Wunden, die ein Leben zerstören können. Diese Jugendlichen, die sich Roni Baerg anvertraut haben und die nicht mit ihren Eltern geflohen sind, leben allein in Umständen, die ihnen keine altersgerechte Umgebung und keine ihrer Lebenssituation entsprechende Betreuung gewähren. Wir haben beispielsweise im Zentrum für unbegleitete minderjährige Asylsuchende des Roten Kreuzes im Tessin erfahren, wie wichtig, aber auch wie anspruchsvoll es ist, diesen jungen Menschen einen Rahmen zu geben, in dem sie sich geborgen fühlen, in dem sie sich aber auch entwickeln und vielleicht etwas an Sozialisierung nachholen können, was die meisten von uns in unseren Familien ganz natürlich miterhalten haben. Wir wissen auch, wie wünschbar es ist, dass Jugendliche, die die Last einer so schwierigen und von Unmenschlichkeit geprägten Vergangenheit mit sich tragen müssen, durch Menschen betreut werden, die über Wissen zu Trauma verfügen und entsprechend handeln. Idealerweise erhalten sie eine professionelle, auf Junge spezialisierte psychologische Betreuung und Begleitung. Nur so kann verhindert werden, dass ein Trauma lebenslang zerstörerisch wirkt.

Wer der Gefahr zu entfliehen suchte, hat auf der Flucht vielerorts nichts als neue Gefahren erlebt. Die Menschen, denen wir hier durch ihre Geschichten begegnen, wurden zum Teil auf verschiedene Weise ausgebeutet, und sie nahmen auf ihrem Weg in den meisten Fällen höchste Gefährdung von Gesundheit und Leben in Kauf. Es ist deshalb unabdingbar, dass die beteiligten Kräfte, staatliche Stellen und nichtstaatliche Organisationen, alles daran setzen, auf den Migrationsrouten Würde, Gesundheit und Leben dieser Menschen zu schützen. Das gilt ganz speziell und dringend für besonders verletzliche Flüchtende: gebrechliche, kranke, behinderte Menschen, Frauen, Kinder. Dazu braucht es einen koordinierten Kampf gegen Schlepper und andere Kriminelle, und es braucht die Bereitstellung einer Infrastruktur, die Schutz, Unterkunft, Verpflegung und Gesundheitsversorgung gewährleistet. Dafür braucht es den nötigen politischen Willen und eine wirkungsvolle internationale Koordination. Der Grund, weshalb diese Menschen auf der Flucht sind, darf aufgrund der Grundsätze der Menschlichkeit und der Unparteilichkeit keine Rolle spielen, da es um Leben und Gesundheit von Menschen geht. Umgekehrt darf der hier postulierte Schutz aber nicht so ausgestaltet sein, dass er zur unbedacht angetretenen Flucht verleitet – eine Gratwanderung. Das Schweizerische Rote Kreuz schafft deshalb zusammen mit seinen Partnerorganisationen in rund 30 Ländern auch Perspektiven, die ein Leben in Würde vor Ort ermöglichen.

Ins fremde Ausland geflüchtete Menschen, wir spüren es in Roni Baergs Aufzeichnungen, hängen an ihrer Heimat. Liessen es die Umstände zu, würden sie bestimmt zurückkehren, um ein neues Leben zu beginnen und zum Wiederaufbau ihres Landes beizutragen. Die Geschichten in diesem Buch weisen deshalb über individuelle Aspekte hinaus. Sie mahnen Verantwortliche auf der ganzen Welt, Verantwortliche in Staaten, internationalen Organisationen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, sich dafür einzusetzen, dass Menschen überall Bedingungen finden, die ihnen ein Leben in Frieden und Sicherheit, Gesundheit und Würde ermöglichen. Das ist eine Utopie, gewiss. Die Alternative aber bedeutete Resignation. Sie wäre keine Lösung. Wir sind es uns und allen Menschen, die wie jene in Roni Baergs Geschichten die Hoffnung nicht aufgegeben haben, schuldig, für diese Utopie zu kämpfen. Schliesslich geht es um eine lebenswerte Welt. Es geht, in einem Wort gesagt, um Menschlichkeit.

 

Ich widme dieses Buch meinem verstorbenem Vater Rodolfo.Er hat mir beigebracht, hinzuschauen und nicht wegzuschauen.

«Es ist ein Wunder, dass wir noch leben.»

Mehmet, Zahra, Amit, Milad und Nesrin, Afghanistan

«Vor achtunddreissig Jahren begann meine Flucht. Meine Fluchtgeschichte ist lang und ich habe sehr viel zu erzählen. Du wirst weinen, wenn du meine Geschichte hörst.»

Er sitzt vor mir, reibt seine Hände und knackt mit den Fingern. Mehmet ist der Vater einer afghanischen Familie. Seine Frau heisst Zahra und sie haben drei gesunde Kinder. Während der älteste Sohn eine Lehre als Krankenpfleger macht, geht der zweitälteste in die Primarschule und die kleine Nesrin besucht den Kindergarten. Sie sehen wie eine normale Familie aus. Sie bewegen sich ganz entspannt in ihrer Wohnung. Sie haben mich freundlich begrüsst. Der Fernseher läuft leise im Hintergrund und vor mir steht eine heisse Tasse Schwarztee. Dass diese Menschen eine Flucht hinter sich haben, in der sie immer wieder knapp mit dem Leben davongekommen sind, sieht man hier niemandem an. Doch es wird ein langer Nachmittag, denn sie haben mir viel zu erzählen. Ich befinde mich im Wohnzimmer der Familie, einem hellen, sauberen Raum. Mit einfachen Mitteln haben sie die kleine Sozialwohnung liebevoll eingerichtet. Ich fühle mich wohl bei ihnen.

Wo soll ich nur anfangen? Ich tue mich schwer. Ich weiss bereits, dass der Vater eine lange Fluchtgeschichte zu erzählen hat. Doch die Mutter war bis jetzt sehr verschwiegen gewesen. «Leben ist sehr schwer, Roni», hatte sie ab und zu gesagt, aber ich hatte sie nie dazu bewegen können, mehr zu erzählen. Ihre Gesichter sind ernst, denn ich verlange von ihnen, ihre Flucht zu erzählen. Nur nicht zu viel denken, denn dann fällt alles noch schwerer: die Deutschkurse, der Neuanfang und die Arbeitssuche. Vor siebzehn Jahren hatte auch ich funktioniert. Bis zu vierzehnstündige Arbeitstage hier in der Schweiz, nichtlegale Arbeit, kein geschütztes Umfeld, in einer Welt, in der alles neu war. Ein Herz schwer von Trauer schleppte ich jeden Tag mit mir herum und ich hatte Angst vor jedem neuen Schritt. Es war mir in der Situation unmöglich, meine Situation jemandem anzuvertrauen. Ich schwieg und funktionierte. Jetzt sitze ich hier und verlange von ihnen, zu reden. Wie brutal von mir, denke ich.

Nur eine lacht und spielt. Es ist die kleine fünfjährige Nesrin. Sie hat keine Bilder von der Flucht, sie war noch ein Baby. Ich habe das Gefühl, dass sie die einzige Unbeschwerte in dieser Wohnung ist, und empfinde ihre Anwesenheit wie einen Sonnenschein, der alle zum Lachen bringt.

«Mehmet, wie war deine Kindheit?»

«Ja, normal. Ich hatte eine gute Kindheit. Wir lebten im Dorf Behsud. Meine Eltern waren Bauern und verkauften ihre Erzeugnisse auf dem Markt. Wir sind Hazara. Schon seit achtzig, neunzig Jahren bekämpfen sich die zwei Volksgruppen der Hazara und Paschtunen. Für die Paschtunen sind wir Ungläubige, auch wenn wir Muslime sind. Denn wir sind Schiiten, die Paschtunen sind Sunniten. Deshalb werden wir bedroht, bekämpft und getötet. In meiner Kindheit verbündeten sich die Paschtunen mit den Russen. Die Paschtunen verbündeten sich immer mit ausländischen Mächten. Nur so konnten sie stark bleiben. Ich war zehn Jahre alt, als mein Vater eines Tages von zu Hause wegging, um Früchte, Tomaten und Reis zum Markt zu bringen. Unterwegs wurde er gefangen genommen. Er ist nie mehr nach Hause gekommen. Wir blieben aber weiterhin in Behsud, meine Mutter und meine Schwestern, die eine ist älter als ich, die andere jünger. Ich war zwölf, als meine Mutter eines Tages zu uns sagte: ‹Ihr müsst flüchten.› Wir waren nicht die einzigen Kinder. Da waren viele Kinder, die sich auf die Flucht machten. Mutter buk uns Brötchen aus Öl, Zucker und Mehl, eine Spezialität der Hazara. Einer unter uns kannte den Weg und machte den Gruppenführer. Nachts liefen wir von Berg zu Berg und tags schliefen wir in Höhlen. Zum Essen hatten wir nur diese süssen Brötchen der Mutter, die wir einteilten. Zehn Tage und zehn Nächte brauchten wir, bis wir im Iran ankamen. Als wir den Iran erreichten, griffen sie uns auf und behandelten uns wie Kranke. Wir bekamen viele Medikamente. Sie wurden uns mit Gewalt verabreicht. Wer sich wehrte, dem wurden sie einfach in den Mund gestopft. Meine Schwestern und ich gingen weiter. Wir liefen bis zur Hauptstadt Teheran.»

Mehmet atmet tief durch. Seine Hände entspannen sich und liegen jetzt müde in seinem Schoss. Es ist bewundernswert, mit welcher Ruhe sein zwanzigjähriger Sohn die Geschichte des Vaters übersetzt. Die Mutter steht währenddessen immer wieder auf und verrichtet kleine Arbeiten. Es ist, als ob sie es nicht aushält, all diese Grausamkeiten zu hören, die wir wieder aufrollen.

«Was geschah dann?», frage ich. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, denn Mehmet ist heute siebenundvierzig.

Er erzählt in sich versunken, spricht die Sätze langsam: «Wenn ich zurückschaue, ist es interessant zu beobachten: In Afghanistan waren wir die verhassten Hazara und wir flüchteten davor, nicht getötet zu werden. Doch dann kamen wir in den Iran und dort waren wir plötzlich die verhassten Afghanen. Es lief der Krieg zwischen dem Irak und Iran. Schon vierzehn-, fünfzehnjährige Afghanen wurden aufgegriffen und in den Krieg geschickt. Ich war noch zu jung, nur zwölf Jahre alt. Ich suchte mir Arbeit, denn ich hatte eine Familie zu ernähren, ich musste für meine Schwestern sorgen. Tagsüber arbeitete ich, abends trainierte ich in einem Fitnesszentrum, bis zum Kriegsende. Als ich fünfzehn war, hörten wir, dass sie unsere Mutter getötet hatten. Ab da hatte ich nur noch meine zwei Schwestern.

Ganz schlimm wurde es im Iran für uns Afghanen, als der Krieg zu Ende war. Ohne Grund wurden wir beschuldigt und geschlagen. Afghanen mussten für die Schulbildung dreimal mehr zahlen als Iraner. Deshalb sind viele von uns Analphabeten geblieben. Wenn kleine Kinder Brot kaufen gingen, nahm man ihnen das Geld ab, aber gab ihnen dafür nur das alte Brot. Wir hatten nie Ruhe im Iran. Afghanen waren immer an allem schuld. Hatten wir gute Kleider an, sagte man uns, uns gehe es zu gut. Trugen wir schlechte Kleider, wurden wir verachtet. So ging unser Leben weiter. Ich habe gearbeitet und trainiert. Meine Schwestern lebten immer drinnen. Nur am Freitag ging ich mit ihnen zusammen raus, ein wenig spazieren oder in die Moschee.

Als ich achtzehn war, wurde ich auf offener Strasse angegriffen. Ich fragte, was los sei, doch sie sagten nur: ‹Du bist Afghane.› Erst schlug einer zu, ich schlug zurück, dann schlugen zwei. Doch ich wehrte mich. Plötzlich hielten sie mir eine Karte vor die Nase. Auf der stand, dass sie Zivilpolizisten sind. Sie nahmen mich fest und brachten mich in ein Polizeibüro. Dort schlugen sie mich, bis mein linker Arm gebrochen war. Der Knochen stand raus. Sie packten mich und steckten mich in eine Zelle. Am Morgen kam ein anderer Mann und meinte: ‹Lasst ihn frei. Der muss ja ins Spital.› Also liessen sie mich frei. Doch ich hatte kein Geld und Afghanen wurden im Iran nicht versichert. Wir mussten immer alles zahlen, wenn wir ärztliche Hilfe brauchten. So ging ich zu einem Mann, der mir den Arm, so gut er konnte, wieder gerade bog. Er wurde mir eingebunden und ich liess ihn so heilen. Schau her», sagt Mehmet und zieht den Ärmel seines Pullovers nach oben.

Der Arm ist ganz schief zusammengewachsen. Es sieht nicht gut aus.

«Hast du Schmerzen?», frage ich.

«Nur, wenn es kalt ist», erklärt er mir.

Ich wende mich seiner Frau zu, die inzwischen wieder Platz genommen hat und uns still zuhört.

«Was kannst du mir von deiner Kindheit erzählen? Erinnerst du dich noch an Afghanistan?», frage ich sie.

Sie spricht nur wenig, widerwillig, als ob sie sich fragt, was das bringen soll. Nur missmutig formt sie ihre Gedanken zu Wörtern und schaut dabei ihren Sohn an, der ihr versucht, Mut zu machen. Soviel ich verstehe, erklärt er ihr, dass mein Buch Sinn macht. Wie sollen die Menschen sonst erfahren, wer sie sind und dass sie sich hier integrieren wollen?

«Ich weiss nur wenig von Afghanistan. Ich war sehr klein, als meine Eltern in den Iran flüchteten. Ich bin im Iran gross geworden und durfte nicht in die Schule. Ich lebte immer zu Hause. Das war eine lange und schwere Zeit, von der ich nichts zu erzählen weiss. Was soll man von einem Leben erzählen, wenn man immer drinnen war?»

Ich bin betreten. Was soll ich darauf antworten? Doch Zahra spricht weiter: «Deshalb sind wir hier. Erst durfte ich nicht in die Schule gehen, dann auch meine Kinder nicht. Ich war schon eine Frau ohne Bildung, aber doch nicht auch meine Kinder! Ich wollte nur noch weg vom Iran. Zurück nach Afghanistan ging nicht. Dann blieb nur noch Europa.»

Zahra schweigt, und weil ich sie nicht dazu bewegen kann, mehr von sich zu erzählen, wende ich mich wieder ihrem Mann zu.

«Wann hast du daran gedacht, weiter zu fliehen?», frage ich.

«Ich wollte schon immer, aber ich konnte meine Schwestern nicht davon überzeugen. Sie hatten Angst, wieder ins Ungewisse zu gehen. Deshalb blieb ich. Alles änderte sich, als die älteste Schwester einen Afghanen heiratete. Endlich konnte ich meine Verantwortung für sie abgeben, denn auch die jüngere Schwester zog jetzt zu ihr. Ich hatte nur noch die Verantwortung für mich. Als ich Zahras Familie kennenlernte, war ich sechsundzwanzig und Zahra zwanzig. Wir heirateten und zogen in eine sehr kleine Einzimmerwohnung. Unser ganzes Leben spielte sich in diesem kleinen Raum ab. Er war ungefähr so gross wie unser Schlafzimmer hier in der Schweiz. Mal hatte ich Arbeit, mal nicht. Ich konnte mir für meine neue kleine Familie nichts Besseres leisten.

Seit ich vierzehn war, hatte ich als Schuhmacher gearbeitet. Mein ganzer Lohn reichte knapp für die Miete dieses Zimmers und fürs Essen. Als ich siebenundzwanzig Jahre alt war, wurde unser ältester Sohn geboren, Amit. Da nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und eröffnete mein eigenes Schuhmachergeschäft. Es lief gut. Mit der Zeit hatte ich zehn Angestellte. Doch eines Tages wurde ich von Iranern betrogen und verlor mein ganzes Geld. Ohne mir viel dabei zu denken, zeigte ich sie wegen Betrugs an. Doch plötzlich hiess es, als Afghane hätte ich kein Recht, selbstständig zu arbeiten und ein eigenes Geschäft zu führen. Innerhalb weniger Tage schlossen sie mir meine kleine Fabrik und nahmen mir alle Maschinen weg. Ich stand ohne Geschäft da und sass auf einem grossen Berg Schulden. In dieser Zeit kam mein zweiter Sohn zur Welt, Milad. Ich arbeitete Tag und Nacht, tagsüber als Schuhmacher und nachts als Koch, drei Jahre lang.»

Mehmet atmet tief durch und fährt fort: «Als mein ältester Sohn acht Jahre alt war, machten wir uns auf den Weg, zu Fuss, in die Türkei. Wir gingen dreissig Stunden.»

Ich wende mich dem Sohn zu: «Kannst du dich noch daran erinnern?»

«Ich erinnere mich daran, dass wir über tote Pferde stiegen. Es war dunkel und unter unseren Füssen waren Kadaver. Menschen waren wohl auf Pferden über die Grenze geflüchtet. Warum hätte es dort sonst tote Pferde gegeben? Ich denke, sie haben auf die Menschen und die Pferde geschossen. Oder auf die Pferde und dann die Menschen festgenommen. Danach hat man die Pferde einfach liegen gelassen. Ich weiss auch noch, dass ich sehr müde war und die ganze Zeit grosse Angst hatte.»

Der Vater fügt hinzu: «Eigentlich wollten wir in der Türkei bleiben. Das war der Plan. Doch Schiiten sind auch dort keine Muslime. Wir hatten Angst vor weiterer Unterdrückung. Deshalb entschieden wir uns, nach Griechenland weiterzuziehen. Du kannst dir nicht vorstellen, was wir durchmachten.»

Alle sind still und ich wage nicht weiterzufragen. Mutter, Vater und Amit unterhalten sich in ihrer Heimatsprache und in ihren Augen erkenne ich Entsetzen. Milad sitzt still daneben und schaut auf seine Hände. Doch Nesrin sitzt am Boden und singt für sich alleine und spielt mit einer Puppe, die sich widerspenstig verhält, als sie ihr ein Kleidchen anzuziehen versucht. Dann ist es still. Auch Nesrins Gesang verstummt, bis Mehmet wieder zu erzählen anfängt. Seine Frau umschlingt ihre Knie, als ob sie friert, während er spricht. Amit schaut mich währenddessen fragend an. Mehmet gibt auf Deutsch wieder, was sie erzählt, erst stotternd, einzelne Wörter, er gibt Zahlen an, Zeiten, dann werden es zusammenhängende Sätze. Der Sohn übersetzt, Wort für Wort: «Fünf Meter lang, Boot, schwarzes Boot, Schlauchboot, erst dreissig Menschen, sie schrien uns an, dann nur noch fünfzehn. Erst gingen wir durch Schlamm, zwei Stunden lang. Es war kalt, sehr kalt, der Boden war gefroren und sehr rutschig. So gingen wir ins Meer hinaus. Der Schlamm reichte uns bis zur Brust. Wo es war? Ich weiss nicht. Es war Januar, es war Nacht und es regnete. Starker Wind blies und es war bitterkalt.»

Mehmet schweigt. Der Fernseher im Hintergrund läuft weiter. Ich schaue auf den Bildschirm. Es kommt Jodelmusik und ich sehe Bilder von satten Alpentälern.

«Dort ist Griechenland, wurde uns gesagt und man zeigte auf kleine Lichter in der Ferne. Da müsst ihr hin. Ich fühlte mich schon tot, denn ich wusste, dass neunzig Prozent auf diesen Überfahrten sterben. Nur der Glaube, dass meine Kinder dort vorne eine Zukunft haben, gab mir Kraft.»

«In welchem Jahr war das?»

«2009. Wir fuhren los. Vor uns sahen wir einen Berg, dachten wir, doch das war eine Welle, ganz hoch. Wir schrien alle und wurden hochgeworfen und dann fielen wir. Es war schlimm. Diese Angst, und wir waren fast tot vor Kälte. Milad wurde ohnmächtig. Wir dachten, er stirbt, und versuchten ihn zu beleben. Nach dreieinhalb Stunden erreichten wir endlich die Insel Patmos. Die Polizei war da. Ich rief: Meine Kinder sind nass. Uns ist kalt. Doch sie schauten weg, einfach weg. Milad war danach lange krank.»

Amit fügt hinzu: «Diese Angst und diese Kälte werde ich nie vergessen. Ich bin mir bewusst, dass es ein Wunder ist, dass wir noch leben.»

«Und was geschah dann?»

«Erst wurden wir mit vielen anderen zusammen in einem Zimmer eingesperrt. Da waren um die vierzig Männer und Kinder. Wir versuchten, unsere Kleider irgendwie zu trocknen. Der Schlamm trocknete und bröselte ab. Sechs Tage hielt man uns so fest.»

«Und die Frauen? Wo war deine Mutter?», frage ich.

Der Vater erzählt: «Die Frauen wurden separat untergebracht, ein kleines Zimmer, nicht grösser als unsere Dusche hier. Dort war Zahra zusammen mit zwei Frauen von Nigeria. Wir bekamen Papiere für dreissig Tage Aufenthalt. Als man uns freiliess, konnten wir mit einem grossen Schiff weiter nach Athen. Von dort ging es nochmals sieben Stunden mit dem Zug bis Thessaloniki. Dort wurden wir in einem Heim untergebracht. Wir erhielten eine rote Karte, die für einen sechsmonatigen Aufenthalt gültig war und die man immer wieder verlängern konnte. Doch dann schloss das Heim. Immer wieder stellte man uns Strom und Wasser ab. So hausten wir drei Jahre. Das Leben in Griechenland war sehr schwer. Es gab keine Arbeit. Die Kinder konnten auch hier nicht in die Schule. Im dritten Jahr wurde Nesrin geboren. Wir machten uns wieder zurück auf den Weg nach Athen und wollten versuchen, ob wir dort Arbeit fänden. Wir konnten ein heruntergekommenes kleines Zimmer mieten und ich verdiente Geld mit Abfallsammeln, Eisen und anderem. Dann kam der Tag, der alles veränderte.»

Ich schaue fragend auf und sehe, wie Vater und Sohn sich lange anschauen. Beide sind still, bis der Vater wieder seine Worte findet und der Sohn die Übersetzungen aufnehmen kann: «Ich war unterwegs am Abfallsammeln, als ich hörte, dass man meinen Sohn zusammengeschlagen hatte. Es waren die Chrysi Avgi. Sie heissen in Deutsch ‹Goldene Morgenröte›. Das sind Rechtsextreme, wie die Neonazis. Amit wurde ins Spital gebracht. Sein Kopf musste genäht werden. Die Narben sieht man heute noch. Dort lag er acht Tage. Ich blieb bei ihm, die ganze Zeit. Man wollte mir kein Bett geben, also legte ich mich neben seinem Bett auf den Boden. Ich habe viel nachgedacht. Meine Kinder hatten in Griechenland keine Zukunft. Doch ich hatte kein Geld, um ihnen zu helfen. Ich habe so viel nachgedacht. Ich wusste, ich musste meine Familie retten. Da habe ich mit mir abgemacht, dass wir weitermüssen, egal wohin, Hauptsache es wird besser. Als Amit wieder rauskonnte, ging ich auf die Suche nach einer Lösung. Ich beobachtete Lastwagen, die nach Europa fuhren.»

Mehmet atmet tief durch. Mit leiser Stimme geht es weiter: «In so einen steckte ich sie hinein. Meine Frau und die drei Kinder.»

«Einfach so?»

Der Sohn erzählt bereitwillig: «Ja, wir verkrochen uns hinter den Kisten. Es war sehr eng. Wir konnten die Beine nicht ausstrecken. Wir wagten nicht zu reden. Der Lastwagen fuhr lange, dann fuhr er auf ein Schiff. Dort parkte er. Wir hörten Polizei, auch Hunde. Es wurde mit einer Taschenlampe in den Lastwagen geleuchtet. Wir wagten nicht zu atmen. Dann war es wieder still und dunkel. Irgendwann startete der Lastwagen und fuhr vom Schiff runter und es ging weiter. Doch dann hielten wir es nicht mehr aus. Es war furchtbar, dieses lange Stillsitzen. Unsere Körper fühlten sich an, als ob sie abgestorben wären. Wir klopften laut an die Wand. Das hörte der Fahrer und er hielt an. Als er hinten aufmachte und uns sah, sprach er laut auf Englisch, doch wir verstanden ihn nicht. Aber er war gut zu uns, nicht aggressiv. Dann sagte er: ‹Das Europa›, liess uns stehen und fuhr weiter. Es brauchte einige Minuten, bis wir überhaupt Schritte machen konnten, denn unsere Beine waren vom langen Sitzen wie tot. Wir waren fünfunddreissig Stunden auf dem Lastwagen gewesen. Wir gingen los. Nach ungefähr zehn Minuten sahen wir eine Schweizer Flagge. Ich weiss nicht, über welchen Ort wir in die Schweiz hereingekommen sind. Schon bald wurden wir von der Polizei aufgegriffen und nach Kreuzlingen in ein Asylheim gebracht. Wir wurden immer weitergeschickt, erst ein Asylheim, dann ein anderes, dann wieder ein anderes, bis wir hier landeten und endlich zur Ruhe kamen.»

Ich schaue Zahra an und bitte sie, mir doch auch etwas dazu zu sagen. Es fällt ihr schwer, zu reden.