Mit der Geschwindigkeit des Sommers - Julia Schoch - E-Book

Mit der Geschwindigkeit des Sommers E-Book

Julia Schoch

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Beschreibung

Was weiß diese Zeit von einer anderen? Eine Wiederentdeckung Zwei Schwestern, zu DDR-Zeiten aufgewachsen in Eggesin, einer Garnisonsstadt im mecklenburgischen Nirgendwo nahe der polnischen Grenze. Die eine bereist nach dem Mauerfall den Westen, die andere bleibt, führt mit Mann und Kindern und Liebhaber ein eher freudloses Hausfrauendasein. Bis sie eines Tages den Entschluss fasst, nach New York zu fahren, und ihrem Leben dort ein Ende setzt. Der Schwester lässt das keine Ruhe: »Vielleicht hätte ich ihre tragische Entscheidung rückgängig machen können, wäre ich nur ein wenig aufmerksamer gewesen.« Nuanciert und präzise erzählt Julia Schoch vom Untergang der DDR und dem Zerplatzen aller Träume. Ein großes, bewegendes Buch über eine Frau zwischen den Zeiten, verloren zwischen den Systemen.

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Seitenzahl: 142

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Julia Schoch

Mit der Geschwindigkeit des Sommers

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Warum gehn wir nicht ein Stück und

reden über den Wilden Westen und

wie zum Teufel man da rauskommt?

 

Jane (Kathleen Lloyd) zu Tom (Jack Nicholson)

in ›Duell am Missouri‹

Was weiß diese Zeit von einer anderen.

 

Bevor meine Schwester sich in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf.

Bis ich von ihrem Selbstmord erfuhr, sah ich, wenn ich an sie dachte, meine Schwester abends vor das Einfamilienhaus treten, in dem sie während der letzten Jahre mit ihrem Ehemann und den Kindern wohnte. In beiden Händen schwere Plastiksäcke tragend, tritt sie bei Regen und Dunkelheit vors Haus, läuft durch die Pforte hindurch auf die Straße, wo sie die Säcke abstellt, gegen den Zaun. Trotz des Regens bleibt sie einen Moment dort stehen, geht nicht sogleich wieder zurück, sondern blickt hinüber zum Wald, an den die aufgereihten Häuser grenzen. Erst nach einigen Minuten geht sie langsam, ohne den Kopf einzuziehen, durch den Vorgarten zurück ins Haus. Und dann nur noch der Anblick der in der Dunkelheit zurückgelassenen Säcke, des Regens, gleichmäßig und stark.

Jahrelang, in großer Unbeweglichkeit, dieses Bild, in dem alles beschlossen schien. Und das sich inzwischen immer mehr entfernt, mitsamt dem nördlichen Himmel und seinen eintönigen Nachtfarben, vor denen sich der Körper meiner Schwester abhebt. Schmal, überlegend.

Während an die Stelle ein anderes tritt.

 

Anstatt wie die meisten Menschen die Dinge des Lebens in Glück und Unglück einzuteilen, habe ich seit jeher nur eine Unterscheidung gekannt: Etwas geschieht, oder es herrscht die vollkommene Abwesenheit jeden Geschehens.

Als Kind hatte ich oft das Gefühl, zu spät geboren worden zu sein, sogar als Allerletzte. Die Porträts des Staatsoberhauptes in den öffentlichen Gebäuden hingen immer schon so, der Frieden war ein ewiger, der Mittag hörte nicht auf. So kam es, dass mir jeder Vorfall allein dadurch schon günstig erschien, dass er das Gegenteil der Unbewegtheit, der äußeren Stille war. Ich gewöhnte mir an, nach Geschehnissen zu gieren. Wie versunken malmende Tiere durch die Witterung ruckartig aufmerken, nahm ich jeden veränderten Umstand sofort als DAS LEBEN wahr. Und obwohl sich das aus der Kinderzeit mitgeschleppte Gefühl längst und nach dem, was sich ereignet hat, ins Gegenteil zu verkehren beginnt (ich bin um Jahrzehnte, vielleicht um Jahrhunderte zu früh, natürlich!), hat sich doch dies gehalten: dass ich allem, was geschieht, mit einer seltsam stumpfen Neugier zusehe.

 

Die sogenannten letzten Gespräche, die im Moment, da man sie führt, noch keine sind.

Bei ihrem Anruf sagte sie nicht, dass sie aus Deutschland abreisen wolle, auch nicht, dass sie, wie es immer heißt, schon alles hinter sich gelassen hatte, schon herausgefallen war aus jeder Zeit. Dass sie jemanden brauche, der, was sie erzählte, ohne Einwurf hinnahm. Besser noch: aufhob, denke ich jetzt. Ohne Besorgnis, ohne Trost. Sie kannte mich.

An diesem Tag im Oktober ergab ihre Ausführlichkeit keinen Sinn.

Ich musste am Abend nach Asien fliegen, sie erinnerte sich, fragte mich kurz nach dem Land, der Reiseroute. Nur das, kein Zögern, keine Pause folgte. Sie überging meinen Wink, fing sofort an, von sich und ihrer Entscheidung zu erzählen.

Sie hatte den Soldaten wiedergesehen. Allerdings zum letzten Mal.

Während ich, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, nach meinem Pass suchte und Unterlagen ordnete, die ich in den nächsten Wochen benötigen würde, hörte ich ihrer Stimme zu. Es war mir recht gewesen, dass vor allem sie gesprochen hatte, gleichförmig, in einem wie scheppernden Ton, den ich einmal von der alten Jeanne Moreau gehört hatte.

Sie hatten sich also wiedergesehen, nach einem halben Jahr. Oder etwas mehr.

Dieser Abstand zwischen den Treffen mit dem Soldaten war nichts Ungewöhnliches. Es vergingen oft Monate, bevor sie sich wiedersahen. Manchmal wollte sie sich nicht mit ihm verabreden. Wenn alles ruhig lief, alles: die Ehe. Dann wollte sie nicht aufwühlen, was sie mühsam in sich vergraben hatte, dann wartete sie ab. Bis ihr wieder nach einem Chaos war, das sich über Wochen oder wenigstens Tage hinweg in Ordnung bringen ließ. Eine Art Zeitvertreib – diese Bemerkung von mir hatte sie einmal mit einem kurzen, ärgerlichen Lachen pariert.

Und diesmal nun hatten sie sich zum letzten Mal getroffen. So hatte sie es gewollt.

 

Im Gegensatz zu mir – ich war ständig mit Abfliegen oder Ankommen beschäftigt – war sie nie gereist. Nicht einmal den Plan zu einer Reise hatte es bei ihr gegeben. Nie ein heimlicher Traum (einmal die Antarktis, die Pyramiden sehen!). In meiner Gegenwart jedenfalls hat sie für kein Land geschwärmt, sich kein Abenteuer ausgemalt. Die zweiwöchigen Jahresurlaube in türkische oder bulgarische Strandregionen waren immer nur Reisen für die ganze Familie gewesen, auf denen man sich im Gemeinschaftspulk herumführen ließ, grüppchenweise gings durch Freiluftmuseen, Folklorewerkstätten, zu Ruinen und Grotten, wie sie auf Touristenkarten eingezeichnet sind.

Auch zu Hause fuhr sie mit dem Auto für Einkäufe oder besondere Arztbesuche höchstens bis zur nächstgrößeren Stadt, die dann trotzdem noch eine kleine war.

Selbst wenn dies nicht ganz richtig ist – manchmal, selten, hatte sie mich besucht –, so stimmt doch die Tatsache, dass ich bis vor Kurzem noch kein Bild zur Verfügung hatte, auf dem ich sie allein, in einem anderen Land, umgeben von fremdländischen Menschen und Lauten, sah. Dass mir die Vorstellung nicht gelang: sie allein, womöglich ziellos schlendernd, in irgendeinem Treiben.

Dass sie sich noch immer gegen die Erinnerung sperrt.

Aber ich gebe zu, dass ich mit vielem falschgelegen habe. So hatte ich, wenn ich mit ihr sprach, regelmäßig gedacht: noch immer dieser Ton einer Offizierstochter, der doch gar nicht mehr angebracht war. Wie wenn man etwas loswerden und es sich gleichzeitig verbeißen will. Und erst seit Kurzem muss ich denken: dass ich genauso bin.

(Also gibt es fürs Schreiben auch diesen Anlass: Scham. Darüber, dass man sich geirrt, dass man jemanden gewisser Gedanken und Handlungen nicht für fähig gehalten hat und dass man die Bilder, mit denen man sich umgab, über die Jahre hinweg mutwillig in einer Starre belassen wollte. Erst jetzt, da ein anderes sich plötzlich aufdrängt, wird klar, dass diese leblosen Arrangements nur der eigenen Trägheit dienten anstatt der Wahrheit des anderen. Der Wahrheit, na!)

 

Es ließe sich vieles behaupten angesichts ihres ungewohnten Aufbruchs, dieser Reise über den Atlantik. Zum Beispiel könnte man sagen, dass sie Lust hatte, sich mit diesem Schritt gegen mich zu wehren. Sich gegen die Gesetzmäßigkeit zu stemmen, die seit meinem ersten, unabänderlichen Fortgehen hieß: Ich breche auf, sie, die Ältere, bleibt. Vielleicht wollte sie mich daran erinnern, dass diese Gesetzmäßigkeit nur eine scheinbare war, und wollte so alles, was zwischen uns bestand, zuletzt noch einmal verdrehen. Eine allerletzte Verkehrung der Rollen, damit es wurde, wie es in der Vergangenheit schon gewesen war: Ich war ihr nicht nur gelegentlich nachgelaufen als kleines Kind, nein, ich hatte mich selbstverständlich an ihre Fersen geheftet. Als hätte jemand den ständigen Auftrag erteilt: Sammeln!, gab es für mich kein Alleinsein. Wenn sie mir, meist nur mit einer Geste, Anweisung gab, ihr zu folgen, sie mich auf den Gepäckträger ihres Fahrrades huckte und mir mit grimmiger Miene befahl, mich anzuklammern, kam mir diese Aufteilung zwischen uns als etwas ganz und gar Natürliches vor. Sie lief voraus, ich ging nach. Dass mich jemand wegführte, mir einen Weg aufzwang, nahm ich mit halb geschlossenen Lidern wohlig hin. Mir würde etwas zustoßen, in jedem Fall.

So war es, jahrelang, bevor es irgendwann vorbei gewesen war damit.

Ich ging, und sie blieb, wo sie immer gewesen war, in dem Ort, in dem wir unsere Kindheit und unsere Jugend verbracht haben und meine Schwester nun sogar ihr ganzes Leben.

 

Von alldem aber haben wir bei unserem letzten Telefonat nicht gesprochen. Und es ist auch nicht zu glauben, dass es bei dem Vorgefallenen um mich gegangen wäre, um eine Rache, einen Rollentausch, um etwas derart Nebensächliches. Sie redete von etwas anderem.

Dem Soldaten.

Dieser Gestalt, die durch ihre Erzählung mit einem Mal exklusiv wird, einzigartig. Ein leuchtendes Fähnlein, das in der Lebensgeschichte meiner Schwester steckt wie ein Markierungspfeil.

Jetzt denke ich, sie sagte, sie werde ihn nicht wiedersehen. Ich werde ihn nicht wiedersehen, hatte sie gesagt, ein schlichter Satz. Kein: niemals mehr wieder oder nie mehr in diesem Leben, das Drama war keins, eine einfache Tatsache bloß.

Sie hatte eine Entscheidung gefällt, die Entscheidung, ihren Liebhaber nicht mehr zu sehen.

Sie habe ihm aber nichts davon gesagt, erzählte sie. Während des ganzen Nachmittags mit ihm habe sie geschwiegen von diesem Entschluss, und ich lachte. Lachend fragte ich, ob er gar nichts bemerkt habe. Immerhin, einen ganzen Nachmittag lang! Sagte sie was darauf? Ich lachte auch, um sie ein wenig anzutreiben beim Reden, vor mir das Gepäck schon halb fertig. Meine Schwester allerdings ließ sich nicht beirren. Gleichförmig, beinahe trotzig, erzählte sie.

Von diesem Tag mit ihm, Anfang Oktober.

 

Die Zeit, das Geschehen, der Ort des Geschehens. Dieser Ort, an dem sich für meine Schwester bis zuletzt alles abgespielt hat: eine Garnisonsstadt.

Ein Militärstützpunkt, ein künstliches Gebilde in einer abgeschiedenen Gegend. Ein aus dem Nichts gestampfter Ort nahe der polnischen Grenze.

An dem Tag, als sie zum letzten Mal mit ihrem Liebhaber zusammen ist, ist dieser Ort allerdings schon verändert. Ist er nur noch ein Überbleibsel seiner selbst, eine Geisterstadt, dass man sich schon anstrengen muss, um sich zu erinnern, wie es war, zu Beginn, bei unserer Ankunft dort. Wir sind noch klein. Alle hier sind aus demselben Grund anwesend. Die Kinder sind mit den Frauen gekommen, die Frauen sind ihren Männern gefolgt, die Männer einem Befehl. Und obwohl wir noch klein sind, als das Leben in dieser Stadt beginnt, ist sie schon zu spüren, die stille Enttäuschung bei manchen der Frauen. Man kann die kurzen gesenkten Blicke sehen, die Niedergeschlagenheit auf ihren Gesichtern angesichts der neu errichteten Siedlung, der Wohnblocks aus Beton. Alles an ihnen vermittelt den Eindruck, sie hätten ein Leben in der Bezirks- vielleicht sogar der Hauptstadt aufgegeben für das hier, hätten etwas zurückgelassen, das nun nicht mehr zurückzutauschen war. Rauschende Feste, Studentenpartys, Faschingsbälle, all das würde hier nicht stattfinden, höchstens noch der übliche Tanz zu den Nationalfeiertagen.

Doch dieses Gefühl vergeht, mit den Jahren wird Trägheit daraus. Irgendwann ist es geschafft, sie nehmen ihn hin, diesen Ort, loben den Komfort, das Wasser direkt aus der Wand, die Heizungswärme im Winter, die Annehmlichkeiten, sogar die Ruhe; war es nicht ein Glück, dass man so leben konnte? Und dann die Natur!

 

Die war: viel flaches Land, Greifvögel, Felder und Wald und in den Wäldern zugewachsene Seen, Tümpel. Die satte, üppige Landschaft stand in seltsamem Gegensatz zu der Armut, die zu früheren Zeiten unter den Leuten in dieser Gegend geherrscht hatte. Fischer und Ackerbauern. Die Dörfer, die nie mehr gewesen waren als eine lose Ansammlung von Katen und schilfgedeckten Fachwerkhäusern, hatten weder Marktplätze noch Festwiesen. Die ewig unterspülten Felder machten das Bewirtschaften schwer. Während anderswo die Landwirte dickbäuchig auf dem Kutschbock durchs Dorf gefahren waren, lief man hier neben den Fuhrwerken her, schonte die klapprigen Pferde.

Nach dem Krieg hatte der sozialistische Staat den Landstrich entdeckt, dieses dünnbesiedelte Land, dessen Nutzlosigkeit ein strategischer Vorteil war. Unter dem Grün des Pflanzendickichts ließ sich einiges verbergen, Panzer und Geschütze, eine halbe Armee, auch die Schüsse von Übungsgefechten verloren sich in der Weite dieser Ebene.

Das Militär hatte das Dorf in eine kleine Stadt verwandelt. Man baute nicht nur Kasernen in die Wälder und Häuser, auch eine Schule, ein Kino, eine Sporthalle, bis es alles gab, was zu einer rasch errichteten Phantasiewelt gehört. Der spöttische Ton meiner Schwester, wenn sie sagte: Stadt. Erst später, als sie schon übrig geblieben ist, als Einzige von uns dort, und auch der Ort schon ein anderer geworden ist, wird mir die Künstlichkeit dieses Gebildes auffallen, das gleichermaßen aus Gehöften, kleinstädtischen Geschäften und einer Ziegelei bestanden hatte, aus Kopfsteinpflaster und betonierten Wegen und, wie als Krönung, den Inseln der Modernität.

 

Ich weiß nicht, ob es da schon anfing, so früh. Schon beim ersten Anblick der Wohnsiedlung, die man für die neuankommenden Familien errichtet hatte. Aber ich stelle mir vor, dass meine Schwester die fünfzehn oder zwanzig vollkommen identischen Blöcke nicht anders als verächtlich hat anschauen können. Wo ein Wald oder ein Feld gewesen war, hatte man fünfgeschossige Häuser gebaut. Grau-braun-weiß. Übereinandergestapelte Boxen. Es muss in dieser quadratischen, aus einheitlichen Platten hergestellten Welt gewesen sein, dass sie mit dem gelegentlichen Starren begann, mit dem sie ihre Verachtung ausdrückte. Statt abfällig zu reden oder sich abzuwenden, starrte sie die zu verachtende Person oder den Gegenstand nur an, die Backenzähne aufeinandergepresst, sodass die Kiefer hervortraten. So steht sie auf einem Foto neben mir, in dem abgezirkelten Karree aus Häusern, an denen das 21. Jahrhundert schon abzulesen war. Das Urbild einer Zukunft, die aus dem gleichförmigen Stein bereits herüberleuchtete zu uns.

Ich glaube, meine Schwester bezweifelte, dass sich in dieser Art Beton etwas einnisten, dass hier irgendetwas würde zurückbleiben können von uns.

 

Möglicherweise hat es ihn gegeben, einen exakt bestimmbaren Augenblick, den Zeitpunkt, an dem das Bild meiner Schwester sich zu verändern begann. Ich kenne ihn nicht.

Ich könnte von Ahnungen reden, von Vorgefühlen bei unserem letzten Gespräch, davon, dass sie sich da bereits verwandelte, vor meinem inneren Auge, wie es immer heißt. Ihre Stimme, der Ton. Dass all das sie schon entfernter wirken ließ, und heller auch, eine Bewegung weg aus der Dunkelheit. Aber das wäre leichthin gesagt. Nein, erst seitdem ich zurückgekehrt bin (zu spät), seitdem ich versuche, die drei, vier Wochen, in denen ich nichts von ihrem Tod wusste, die Wochen also meines arglosen, sträflichen Vergessens, dieses alltäglichen Vorgangs, wieder einzuholen und dem Halbgehörten sein wahres Gewicht zu geben, schiebt sich allmählich ein Bild über das andere. Denn die Bilder verschwimmen nicht. Sie liegen ausgestanzt nebeneinander, jedes in seine Zeit gehörend, jedes vom nächsten getrennt. Man muss das richtige sich vordrängen lassen, bis dem letzten, endgültigen, Platz gemacht ist.

 

Wir haben später nie gesagt, wir würden von dort stammen. Wie auch hätten wir den Zufall unserer Anwesenheit vergessen können. Zu Kinderzeiten war der Gedanke fortzugehen leicht erschienen. Ruhig und gleichmütig sprach man davon, wie man verkündet, man werde sich im nächsten Jahr das Haar lang wachsen lassen oder Fahrradfahren lernen. Eine Selbstverständlichkeit, die weniger war als ein Plan, schon gar keiner, den man sich faustschüttelnd schwor. Man war hineingeraten in diese Landschaft, irgendwie, und genauso rasch und unspektakulär würde man sie wieder verlassen. Noch dazu, wo uns nichts gehörte, nichts hier hatte mit uns zu tun. Diese Armseligkeit, die nicht auffiel, niemandem. Kein Erbe, kein Besitz. Bis auf eine Garage oder eine Gartenparzelle besaßen die meisten nichts. Die einzigen – letzten, wie es hieß – Besitzer im Ort waren oft trunksüchtige Einzelgänger: der Säufer von der Tischlerei, der dauerkranke Eisbudenbetreiber. Auch Umsiedler, die nach dem Krieg hier hängen geblieben waren, verstörte Alte, die mit Handkarren voll Holz durch den Ort zogen. Sie würden bald aussterben, sie gehörten in eine andere Zeit. Die überwunden war, die aus Besitzern und Besitzlosen bestand, aus Herren und Knechten, aus Unterdrückern und Unterdrückten, allem Möglichen. Die jedenfalls für immer überwunden war, wie man uns sagte.

 

Genau wie andere Menschen hatte auch meine Schwester Vertrauen gehabt, dass ihre Zukunft, das für sie Vorgesehene, etwas gänzlich anderes wäre. Dies hier war nur ein etwas unpassender Beginn. An diesem Ort. Man würde nur abwarten müssen, die Schule beenden. Sich im richtigen Augenblick einfädeln in die Ordnung der Welt. Sich so fügen, dass es sich leben ließ. Mit dem Auftrag und an einem Platz, den es doch zu geben schien, für jeden. Man musste sich nur fallen lassen in die vorsortierten Möglichkeiten. Würde sich auf den fertigen Bahnen bewegen, sich dort einrichten, wo es denkbar war. Was hieß: wo man vom Staat, der Gesellschaft, erwartet wurde.

Sie beendete die Schule. Sie beendete eine Ausbildung in der Kreisstadt (sie war jetzt Schaufenstergestalterin). Bevor sie anfangen konnte zu arbeiten, wurde sie schwanger. Sie heiratete. Sie bekam ein Kind. Sie blieb. Punkte eines tabellarischen Lebenslaufs. Zu denen, nehme ich an, auch der Soldat zu rechnen ist.

Dies noch vielleicht soll erwähnt sein: Im selben Jahr, in dem die Hochzeit meiner Schwester stattfand, ging es mit dem Kommunismus in Europa zu Ende. Im Frühjahr 1989 wusste sie davon allerdings ebenso wenig wie die übrigen Menschen in der Welt. Jetzt, fast zwanzig Jahre später, könnte man sagen, dass der Umsturz damals den Zeitstrahl ihres Lebens teilte, ihn glatt zerschnitt, sodass er in zwei gleich große Hälften zerfiel.

Dieser Blick, der erst funktioniert, wenn etwas ganz und gar zu einem Ende gekommen ist.

Plötzlich der Gedanke: Eine schillernde Saga über all das zu schreiben (sich also in dem Stoff zu aalen), würde bedeuten, sich damit auszusöhnen. Was wiederum hieße: Verrat.

 

Er war immer der Soldat.

Jahrelang haben meine Schwester und ich von ihrem Liebhaber gesprochen, als wäre er ein fester Bestandteil auch meines Lebens: Was macht der Soldat?, fragte ich beiläufig, wenn ich mit ihr telefonierte, oder sie, in einem ironischen Geständniston: Letzte Woche hat er wieder angerufen, der Soldat.