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Lydia, Melanie, Tomas, Kati. Sie alle sind Schüler eines Elitegymnasiums der DDR. Während sie mit glühenden Augen Boris Vian lesen und abends im "Reimans" ihr neues Theaterstück diskutieren, erleben sie, wie der Mauerfall sie schlagartig von ihrer Vergangenheit trennt. Schwankend zwischen Hass, Verweigerung und Euphorie hören sie die Beteuerungen ihrer Eltern, dass alles ganz normal sei, die Politik, der Zusammenbruch. Jeder von ihnen reagiert anders auf die Explosion im Herbst 1989, Demut, Suizid und erwachendes Selbstbewusstsein stehen auf verwirrende Weise nebeneinander. Als wir den jugendlichen Helden dreißig Jahre später wieder begegnen, stellen sich angesichts unterschiedlichster Schicksale große Fragen: Welcher Freiheit jagen wir eigentlich nach? Und wie lange bleibt die Vergangenheit für jeden einzelnen von Bedeutung? - Julia Schoch macht den historischen Umbruch in privaten Leben erfahrbar. Und schreibt damit einen beeindruckenden Gesellschaftsroman für unsere Zeit.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deSämtliche im Roman auftretende Personen sind literarische Figuren wurden von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Mit der Stadtlandschaft von Potsdam habe ich mir einige Freiheiten erlaubt, wie auch Cafés, Schulen oder Wohnsiedlungen von mir verändert worden sind.Das Motto stammt aus: Georges Perec, »Ein Mann der schläft«, aus dem Französischen von Eugen Helmlé, diaphanes, Zürich 2012, S. 110.Mit freundlicher Genehmigung des VerlagsISBN 978-3-492-97772-2Februar 2018© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenDatenkonvertierung: Tobias Wantzen, BremenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Inhalt
Cover & Impressum
Zitat
Prolog
Lydia Gebauer
Stefanie Kuhn
Ruppert Klose
Alexander Wagenthaler
Kati Viehweg
Rebekka Wendlandt
Tomas Krohn
Franziska Stellmacher
Lydia Gebauer
Falk Brandtmeier
Cornelia Tessmann
Franziska Stellmacher
Bodo Stamm
Vivien Korbus
Martin Hehnlein
Christoph Zietow
Alexander Wagenthaler
Britta Peters
Falk Brandtmeier
Ellen Röder
Lydia Gebauer
Vivien Korbus
Lydia Gebauer
Ruppert Klose
Rebekka Schönrock
Bodo Stamm
Kati Viehweg
Alexander Wagenthaler
Franziska Meyerholdt
Bodo Stamm
Thomas Krohn
Britta Peters
Stefanie Barthel
Falk Brandtmeier
Bodo Stamm
Christoph Zietow
Cornelia Tessmann-Flügge
Martin Hehnlein
Vivien Wagenthaler
Bodo Stamm
Ellen Röder
Viviens Nachricht
Schau! Schau sie an! Sie sind Tausende und Abertausende, schweigsame Wachposten, unbewegliche Erdbewohner, längs der Kais stehend, der Uferböschungen, längs der im Regen ertränkten Bürgersteige … mitten in einer Ozeanträumerei, und sie warten auf den Nieselregen, auf die Brandung der Gezeiten, auf den rauen Ruf der Seevögel.
Georges Perec
Der Kalender liefert keine gute Antwort auf die Frage, welcher Zeit man angehört. Vielleicht streifen wir die Gegenwart nur, vielleicht sind wir in Wahrheit nur die imaginären Zeitgenossen unserer Gegenwart. Zeitgenossen ihrer Fiktionen, aber nicht ihrer Geschichte, von der wir nur den auf und ab tanzenden Widerschein bewohnen … Zurückblickend schauen wir in ein Archiv vergangener Aufgeregtheiten, das zugleich ein Museum der Flüchtigkeit ist. In diesem Punkt ähnelt die Geschichte der Liebe. Man erinnert sich. Stärker aber als an die Liebe selbst erinnern wir uns an ihre Vergänglichkeit, schon jetzt.
Teil Eins
1989–1992
It started out so nice.
Rodriguez
LYDIA GEBAUER
Im Ernst, wer will schon ein Pferd spielen. Ein Pferd! Ich war sofort dagegen. Ein Stück, in dem Tiere reden, Schweine und Hunde und Pferde. Bei jedem anderen hätte ich gewettet, dass es um Lacher geht, aber die Idee stammt von Rebekka. Sie hat das Stück ausgewählt. Eine Parabel auf die Zustände, wie sie uns mit wichtiger Miene mitteilte. Drunter geht’s bei ihr nicht. Rebekka ist der Ansicht, sie sei die einzig reife Person weit und breit. Tolle Sache, sagte ich, als abgestimmt wurde. Falk muhte aus der letzten Reihe, hob dann aber natürlich wie wir alle den Arm. Was hätte Protest geholfen. Rebekka hatte sogar schon einen Regisseur aufgetrieben, und zwar einen richtigen, wie sie mindestens zehn Mal betonte. Es ist ihr enorm wichtig, dass alle wissen, dass sie die richtigen Leute kennt. Ehrlich gesagt, fragte ich mich, warum ein richtiger Regisseur mit einem Haufen Schüler wie uns ein Stück einstudieren sollte. Ich frage es mich immer noch. Auch wenn ich inzwischen andere Gründe habe, Arno wiederzusehen.
In der Straßenbahn auf dem Weg nach Babelsberg, wo er wohnt, schärfte uns Rebekka alle möglichen Anstandsregeln ein. Wir waren zu siebt, eine Gruppe Auserwählter, von ihr zusammengestellt, damit nicht gleich die gesamte Klasse bei ihm einfiel. Wir, die Barbaren. Vermutlich hatte sie Angst, sie müsse sich dann immerfort entschuldigen. Vor allem sollten wir ihm keine kindischen Fragen stellen. Ihre Ansprache sorgte dafür, dass ich Lust bekam, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Einfach raus. Aber ich bin nicht Ruppert. Ruppert traut sich, mitten im Unterricht aufzustehen und den Raum zu verlassen. Jedenfalls hat er das letzte Woche getan. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte zur Rehwald: Es wird immer immer schlimmer. Einfach so. Ein Wahnsinniger.
Aber selbst wenn ich mich getraut hätte. Auszusteigen wäre Unsinn gewesen, kein Mensch hätte es verstanden, schließlich habe ich den Vorschlag gemacht, zum Abschluss des Schuljahres ein Stück aufzuführen. Allerdings verfolgte ich gänzlich andere Absichten als Rebekka. Eigentlich ging es mir nur um einen einzigen Satz. Er steht in dem Stück, das ich ins Auge gefasst hatte. Es heißt Die Fliegen, ich hab’s aus dem Bücherregal meiner Mutter. Zugegeben, Fliegen sind auch Tiere, aber sie sprechen nicht in dem Stück. Es geht darum: Eine Frau überredet einen Fremden, ihre Eltern umzubringen. Was sie nicht weiß, ist, dass der fremde Mann in Wahrheit ihr Bruder ist, und er weiß es auch nicht. Zuerst sträubt er sich, den Mord zu begehen, und sie beginnt ihn regelrecht zu hassen, was sie natürlich nicht tun würde, wenn sie wüsste, wer er ist, und so weiter. Dieses Stück hätte ich liebend gern gespielt. Leider bin ich nicht rechtzeitig genug damit rausgerückt. Ich dachte, erst mal das eine, dann das andere. Ich hatte das Gefühl, die anderen würden mich durchschauen, wenn ich ihnen sofort mit diesem Stück komme. Dass sie dann wüssten, dass ich nur wegen Tomas auf die Bühne wollte. Ich hatte mir vorgestellt, ich würde die Schwester spielen. Dann hätte ich in Tomas’ Richtung schreien können: Geh, schöne Seele. Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen: einen Komplizen wollte ich. Im Buch steht nichts von schreien, aber ich stelle es mir so vor. Eigentlich kann ich nicht schreien. Es klingt schauerlich, ungefähr so, wie wenn Taubstumme brüllen. Das Verrückte ist, dass ich glaube, auf der Bühne könnte ich es. Manches ist leichter, wenn man es vor zweihundert Leuten tut.
Wie dem auch sei, es ist zu spät, Rebekka hat gewonnen. Nachdem wir aus der Straßenbahn ausgestiegen waren, musste unser Trupp noch ein ganzes Stück durch die Kälte bis zu dem Haus, in dem ihr Regisseur wohnte. Es sah aus, als würde es jeden Moment zusammenstürzen. Eigentlich sieht jedes Haus in diesem Viertel so aus, kein Wunder, dass es mich so gut wie nie dorthin verschlägt. Natürlich konnte Vivien sich nicht zurückhalten und fasste jede einzelne Katze an, die uns in dem räudigen Treppenhaus über den Weg lief. Damit wir nicht vergaßen, wer hier die Chefin war, ging Rebekka vor. Beim Reingehen umarmte sie Arno. Das Erste, was mir auffiel, waren seine Augen. Sie waren von Schatten umgeben, als würde er schlecht schlafen, und zwar seit Jahren. Wie ich vermutet hatte, war er ziemlich alt, mindestens dreißig. Obwohl es im Wohnzimmer ein Sofa und Stühle gab, ließen wir uns auf dem Fußboden nieder, wo schon eine Kanne mit Tee und japanische Schälchen standen. Überall waren Papierstapel, Bücher und Schallplatten verstreut, sogar im Schaukelstuhl lagen welche, trotzdem fand ich es gemütlich. An der Wand zwei Masken aus Holz. Bei Tomas hängt ein Plakat mit einem zähnefletschenden Hund, darunter steht Make my day. Während der Tee in die Schälchen plätscherte, versuchte jeder von uns, locker zu tun, erbärmlich. Nur Rebekka schaute ernst, die übliche Falte zwischen den Augenbrauen, als würde sie den bösen Blick üben.
Wie sich herausstellte, war Arno doch kein richtiger Regisseur, sondern Heizer in einer Schule in Werder. Das wunderte mich. Ich habe mir Heizer immer klobiger vorgestellt. Arno erklärte, das Stück sei in Wahrheit ein Roman. Die Theaterfassung hatte er selbst auf der Schreibmaschine getippt. Jeder von uns bekam einen Durchschlag. Leider konnte man so gut wie nichts entziffern von dem, was da stand, er hatte mindestens zwanzig Lagen Blaupapier dazwischen gelegt. Während er uns den Aufbau und alles erklärte, fuhr er sich ununterbrochen durch die Haare. Er sagte, das Stück würde wie ein Schraubenzieher funktionieren, der sich tiefer und tiefer hineinbohrt, und zwar in die Wahrheit. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren. Keine Ahnung wieso, aber ich starrte auf seine Schlüsselbeine. Sie waren gut zu erkennen, weil das Hemd, das er trug, ziemlich weit geöffnet war. Die ganze Zeit über dachte ich, dass es schöne Schlüsselbeine sind. Plötzlich wollte Arno wissen, was wir von dem Stück hielten. Solche Fragen finde ich absurd. Was spielt es für eine Rolle, was man über eine Sache denkt, die längst beschlossen ist? Das Schreckliche war, dass er es wirklich wissen wollte, von jedem. Ich sagte, dass ich es mir noch nicht genau vorstellen könne, mit den Tieren und so weiter. Arno sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich wäre liebend gern gestorben. Wahrscheinlich konnte er es nicht fassen, dass ich bei diesem Projekt mit von der Partie war. Zum Glück übernahm Rebekka. Sie sagte, sie fände nicht nur das Stück unglaublich mutig, sondern auch ihn, Arno.
Später, nach der Verabschiedung, wir waren schon im Treppenhaus, rief er mich noch einmal zurück. Ich stieg wieder hinauf, und er schwenkte den Roman, die Vorlage für das Stück. Vielleicht käme ich damit besser zurecht, sagte er. Aber anstatt es mir zu geben, ging er mit dem Buch in die Wohnung zurück. Meine Hand wie festgeklebt daran, folgte ich ihm bis in die Küche, in der zu meiner Verwunderung eine Duschkabine stand, ein ziemliches Monstrum, das den halben Raum einnahm. Mindestens eine Stunde standen wir so da, jeder ein Ende des Büchleins in der Hand. Ich fing an zu lachen, vor Verlegenheit, versteht sich. In den meisten Fällen hilft es, in diesem hier leider nicht. Ganz langsam, fast in Zeitlupe, ließ Arno das Buch schließlich aus seinen Händen gleiten, und ich steckte es in meine Tasche. Das Ganze war ungeheuer peinlich. – Dir gefällt das Stück also nicht?, sagte er, nachdem wir noch einmal eine Stunde schweigend voreinander gestanden hatten. – Doch, doch, sagte ich. Arno: Warum nicht? Ich lachte wieder. – Ich finde es gut, wirklich! (Leider bin ich eine schlechte Lügnerin.) Arno gab einen wütenden Ton von sich, als wäre meine Antwort eine Zumutung. Ich dachte an die vielen Stunden, die er wegen uns über seiner Schreibmaschine zugebracht haben musste, fast tat er mir leid. – Na gut, ich finde es schrecklich, gab ich zu. Arno lehnte sich lächelnd an den Küchentisch, mit einem Gesicht, das auszudrücken schien: Schon besser. – Ich finde sprechende Tiere albern, ich meine, sprechende Tiere auf der Bühne. Das Publikum wird die ganze Zeit nur darauf achten, dass es Tiere sind. Ich versuchte, beim Reden die Schalter an der Duschkabine in den Blick zu bekommen. Arno schüttelte den Kopf. – Keine Angst, niemand wird mit einem Pferdekopf herumlaufen, im Gegenteil. – Trotzdem, sagte ich, die Tatsache, dass es Tiere sind, lenkt ganz einfach ab. – Wovon? (Versuchte er tatsächlich, eine Unterhaltung mit mir zu führen?) – Keine Ahnung, vom Text, sagte ich unwillig, jeder weiß doch, die Tiere sind bloß ein Vorwand, dass die eigentliche Geschichte darunter versteckt ist. Sie werden glauben, wir halten sie für beschränkt. Arno legte kurz den Kopf in den Nacken, als würde er über das, was ich gesagt hatte, nachdenken müssen. – Manchmal lassen sich die Dinge auf Umwegen besser ausdrücken, sagte er und schaute mich von unten her an, als wollte er mich trösten, genau das macht Orwell in seinem Buch. Er konnte es nicht direkt sagen, er musste es verschlüsseln, anders hätte er den Leuten die Wahrheit nicht zeigen können. – Das verstehe ich ja, sagte ich (ich verstand es wirklich), aber muss man für die Wahrheit unbedingt ins Theater? Arno nickte: Wenn es der einzige Ort ist, wo man zu den Menschen sprechen kann. (Dieses Gespräch brachte mich um, ich war wirklich am Ende.) – Versteh ich nicht, gab ich zurück, zu den Leuten sprechen lässt sich doch überall. Arno lachte schallend los. – Ist das dein Ernst? Er griff sich an den Kopf, anscheinend konnte er es nicht fassen, ganz schön naiv, murmelte er. Vermutlich sollte ich das als Beleidigung auffassen, aber es klang nicht so. Ich zuckte mit den Schultern. – Ich glaube, ich mache nicht mit, sagte ich matt. Plötzlich tat Arno einen Schritt auf mich zu und schob mich an der Duschkabine vorbei durch die Küche, bis ans Fenster. Seine Schlüsselbeine waren ungefähr zehn Zentimeter von mir entfernt. Mein Herz schlug wie wild. – Ich könnte dich zwingen, sagte Arno, ich bin der Regisseur. Ich wollte das Gesicht verziehen, um ihm zu demonstrieren, dass ich keine Ahnung hatte, was er meinte, aber da küsste er mich. Das heißt, er presste mich gegen das Fenster und rammte mir seinen geöffneten Mund auf die Lippen. Ich klammerte mich mit beiden Händen ans Fensterbrett hinter mir. Während Arno mich küsste, hielt er mein Kinn fest, als hätte er Angst, ich könnte den Kopf wegdrehen. Nach ungefähr einer Stunde lockerte er den Schraubstock. Er trat ein Stück zurück. Mein Gesicht puckerte. Ich hatte Lust, in Ohnmacht zu fallen, stattdessen fragte ich, na, immer noch naiv? Keine Ahnung, was in mich gefahren war. Arno kam mit seinem Gesicht noch einmal ganz nah an meins. – Muss ich erst noch rausfinden, sagte er. Ich bekam mein pochendes Herz kaum noch unter Kontrolle. Muss ich erst noch rausfinden! Als ich mich an ihm vorbeidrängte, stieß ich gegen die Duschkabine. Meine Tasche, unten auf dem Boden, erwischte ich erst beim zweiten Mal. Mir war wirklich furchtbar schwindlig. – Ich gehe jetzt, sagte ich und versuchte, den Reißverschluss meiner Jacke zuzubekommen. Das Seltsame war, dass Arno gar nichts mehr machte. Er stand einfach nur da und sah mir beim Gehen zu. Am liebsten wäre ich die Treppe hinunter gerast, aber ich wollte nicht, dass er denkt, ich würde flüchten.
Erst draußen fing ich zu rennen an. Ich weiß nicht, warum ich so rannte. Ich war erleichtert. Vor allem darüber, dass die anderen nicht auf mich gewartet hatten. Zuerst überlegte ich, den Straßenbahnschienen zu folgen, aber dann ging ich in Richtung Stadtautobahn, stieg die Böschung hoch und lief an der Leitplanke entlang. Ich bildete mir ein, diese gewagte Aktion würde Eindruck auf Arno machen. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, er würde neben mir herfliegen und mich voller Bewunderung betrachten. So schizophren bin ich. Ich stellte mir sogar vor, auf der anderen Seite würde Tomas schweben. Die Erklärung dafür ist leicht. Tomas und ich haben uns auch geküsst. Es war nach dem Vortrag über Vietnam. Wir sollten die Stühle hochstellen und das Klassenzimmer fegen. Alle verdrückten sich, nur er und ich blieben übrig. Natürlich war das Absicht. Draußen wurde es immer dunkler, aber wir hatten keine Lust, Licht zu machen. Wir fegten ohnehin nicht, sondern alberten mit dem Besen herum. Als er mich küsste, tat er es dermaßen vorsichtig, dass ich das Gefühl bekam, ich würde ihn küssen. Wir sind ein Paar seitdem, aber was heißt das? Worin besteht es? Wir blicken uns verstohlen an, nichts geht voran. Ich verstehe nicht, wie man so etwas auf sich beruhen lassen kann. Was soll ein Kuss, der nicht wiederholt wird? Alles gerät in Vergessenheit, und man muss von vorn anfangen. Dagegen Arno. Die Sache heute Abend mit ihm war die Rache für Tomas’ Vorsicht. Diese Sicht der Dinge gefällt mir.
Als ich durch die Auensiedlung auf unseren Wohnblock zulaufe, wird mir zum ersten Mal bewusst, warum ich diesen Ort verachte. Sand, Stein, Betonklötze, diese ganze Geometrie, die macht, dass es kein Geheimnis gibt, kein Drama, ich meine ein wirkliches Drama. Jetzt, wo es Arno gibt, ist es mir erst recht peinlich, dass ich hier wohne. Leute wie ihn gibt es in der Auensiedlung nicht. Und sie würden auch niemals hierherziehen. Für eine komfortable Zweizimmerwohnung in einem Neubaublock hätte er mit Sicherheit nur einen spöttischen Kommentar übrig. Ich stelle es mir romantisch vor, in der Küche zu duschen. Am liebsten würde ich mich unbemerkt in unsere Wohnung schleichen, aber meine Mutter macht abends ihre Übungen im Flur. Als ich hereinkomme, setzt sie, schon im Nachthemd, gerade zu einer Runde Hula-Hoop an. Es gibt einen ganz bestimmten Punkt, an dem man stehen muss, sonst schabt der Reifen an der Wand entlang. Zum Glück brennt nur das Schummerlicht. Ich habe das Gefühl, alles an mir ist auf schreckliche Weise verräterisch. Nachdem ich kurz Bericht erstattet habe, steigt meine Mutter aus dem Reifen, küsst mich auf die Wange, ein paar Zentimeter neben der Stelle, an der eben noch Arno gewesen ist, und sagt Gute Nacht.
Später, in meinem Zimmer, schaue ich mir im Spiegel mein Gesicht an. Der Anblick haut mich um. Meine Wangen glühen immer noch, mein feuerrotes Kinn. Ich frage mich, wie ein unsichtbarer Bart so etwas anrichten kann. Ich habe so viel gelesen und weiß nichts. Ich befühle meine brennende Haut, den Abdruck von Arno. Ich will, dass er bleibt. Ich will, dass er verschwindet. Ich wickle mir probehalber ein Tuch um den Hals. Natürlich werden morgen alle darauf starren. Es ist schön, den Verrat im Gesicht zu tragen. Ich glaube, mit Verrat fängt alles an.
STEFANIE KUHN
Wir waren im Garten seiner Eltern, in der Laube. Irgendwann macht Michael Tee. Er gießt kochendes Wasser in die Kanne und hängt einen Teebeutel rein. Ich gucke stumm, und er fragt: Was ist? – Ein einziger Teebeutel für die ganze Kanne?, sage ich, und er: Ich verschwende doch hier nicht den ganzen Tee, Steffi! Die Art, wie er meinen Namen hinten dranhängt, das entnervte Seufzen, erinnert mich an meinen Vater. Merkwürdig, dass Stimmen länger leben als die Menschen selbst. Michael macht die Packung mit dem Früchtetee zu und stellt sie zurück in das Hängeschränkchen über der Spüle. Seine Eltern wissen, dass wir hierherkommen. Trotzdem tut er jedes Mal so, als wären wir Einbrecher. Nur keine Spuren hinterlassen. Sogar die gestrickten Kissen auf der Sofalehne knetet er hinterher durch und schlägt einen Keil oben rein, alles soll seinen gewohnten Anblick bieten. Zugegeben, das ist komisch, trotzdem machen mir solche Kleinigkeiten nichts aus. Jedenfalls rege ich mich nicht darüber auf. In der Liebe muss man verzeihen können. Glaube ich. Ich habe mich schließlich nicht in den Tee-Michael, sondern in den Gitarren-Michael verliebt. Am Anfang machte es mich ziemlich verlegen, wie feierlich er sich vor mich hinsetzte, wenn er mir etwas vorspielte, mit demselben Ernst wie beim Appell, als stünde der ganze Schulhof vor ihm. Inzwischen nicht mehr. Seitdem wir zusammen sind, hat er drei Lieder für mich geschrieben, Verfallen ist mein liebstes.
Wenn wir hierher, zur Laube seiner Eltern, fahren, weiß ich, dass wir versuchen werden, es zu machen. Ich nenne die Angelegenheit für mich immer nur es. Versuchen heißt nicht, dass es nicht klappen könnte. Es würde klappen. (Außerdem sorge ich seit drei Monaten dafür, dass nichts passieren kann, falls es passiert.) Aber aus irgendeinem Grund bleiben wir jedes Mal in der Mitte hängen. Was mich nicht stört, wir haben Zeit. Das heißt, eigentlich ist es mein Körper, der sich Zeit lässt. Fünf Wochen hat es gedauert, bis meine linke Brust aufgewacht ist, und noch mal zwei Wochen für die rechte. Als hätten sie kein Zutrauen gehabt.
Wir küssen uns, Michael beginnt mich auszuziehen, den Pulli hat er schon geschafft, inzwischen macht er sich an dem Knopf meiner Hose zu schaffen. Bevor er sie mir auszieht, legt er ein paar Zellstofftaschentücher auf das Sofatischchen. Plötzlich muss ich wieder an den Teebeutel denken, der einsam in dem vielen Wasser hängt. Trifft es mich doch, dass ich nicht zwei Teebeutel wert bin? Michael kann nichts dafür, denke ich, seine Mutter zählt die Vorräte durch. Sie hat ihn angesteckt mit ihrer Knausrigkeit. Letzte Woche im Reinholdts hat er mich mein Tonicwasser selbst bezahlen lassen. Es fiel ihm gar nicht auf, bis einer am Tisch anfing, ihn deshalb runterzumachen. Rebekka erklärte, im Reinholdts würden die Dinge anders laufen. Wir sind hier nicht in einem normalen Café, meinte sie, hier sind wir eine große Familie. Plötzlich regten sich alle auf. Wegen einem Tonicwasser! Ich gehe nie ins Reinholdts, Michael auch nicht. Alle da kommen sich wer weiß wie wichtig vor. Die meisten haben einen in der Krone. Kaffee, Bier und große Reden schwingen. Lauter Krakeeler, und immer zehn Mann an einem Tisch. Denen zuzuhören gibt mir gar nichts. Dazu die ekligen Tischdecken. Das Café Reinholdts liegt schräg gegenüber der Schule, gleich an der Ecke. Rebekka hat bestimmt, dass wir das Theaterstück dort durchgehen. Natürlich könnten wir es auch in der Schule besprechen, aber Rebekka denkt, dass ein Theaterstück nur im Reinholdts besprochen werden kann. Dann rauchen sie und tippen mit ungeheuer ernsthaften Gesichtern auf den Text. Nach spätestens fünf Minuten gibt jemand vom Nachbartisch seinen Senf dazu. Rebekka lässt sich jedes Mal auf ein Gespräch ein. Sie, Alexander und ein paar andere reden die Leute mit Spitznamen an. Klemmi, Schuppe, Sülze. Das machen sie extra. Damit ich kapiere, dass sie hier zu Hause sind und Leute wie ich oder Kati hier nichts zu suchen haben. Dabei will ich gar nicht dazugehören. (Kati auch nicht.) Ich mache mir nichts aus dieser verräucherten Laberbude. Ich bin ein Mensch, der Dinge bespricht und fertig. Ich kann nicht stundenlang reden, ohne zu wissen, worum es überhaupt geht. Für so was fehlt mir das Sitzfleisch. An dem Tag, als das mit dem Tonic passierte, hatte ich Michael zur Besprechung mitgenommen. – Können wir jetzt weitermachen?, fragte ich irgendwann, manche Leute haben noch was anderes vor. Inzwischen diskutierten sie nämlich über ein Stück, das mit unserem überhaupt nichts zu tun hatte, weil es irgendwann im Mittelalter geschrieben worden war. Irgendwer rief ständig, dass das wahre Paris hier sei. Das wahre Paris ist hier! Wirklich unbeschreiblich. Ich sagte also, ich hätte noch was anderes vor, da mischte sich der, der Sülze hieß, ein. – Was denn?, fragte er mich, etwa noch eine Wandzeitung basteln? Dummerweise fiel mir keine passende Antwort ein. Ich wäre gern schlagfertig, aber das gepfefferte Hin und Her von Diskussionen liegt mir nicht. Ich wollte nur weg, Michael auch, also zahlten wir. Jeder für sich. Da ging dieser Sülze ihn plötzlich an, und mit ihm das halbe Café. Natürlich verteidigte ich Michael. Wir stimmen in fast allem überein. Zwar ist er älter, aber wenn seine Zeit bei der Armee rum ist, habe ich wieder aufgeholt. Dann werden wir beide Lehrer. Vor der Armee hat er Angst, wegen seinen Haaren. Er sagt, vom Stahlhelmtragen würden die Haare ganz ausgehen, aber das finde ich nicht schlimm. Jedenfalls nicht so schlimm wie Mundgeruch oder hässliche Haut.
Als wir nach der Sache mit dem Tonic das Reinholdts verließen, kam Ruppert gerade rein, mit diesem seltsamen Käppi auf dem Kopf, wie der Kleine Trompeter, das hält er für witzig. Was die Theaterbesprechung anging, war er natürlich viel zu spät dran. Natürlich, weil Ruppert immer aus der Reihe tanzen muss. Keine Ahnung, wie er auf der Kollwitz landen konnte. Bei der Eignungsprüfung hat er das Käppi noch nicht getragen. Glaube ich jedenfalls, damals haben wir uns vor Aufregung ja alle nur von Weitem beäugt. Wenn ich gewusst hätte, wie leicht die Prüfung wird. Vielleicht hatte ich auch nur Glück mit dem Thema: Brieffreundschaft. Ich erzählte ihnen zehn Minuten lang von Julia in Swerdlowsk. Dann fragten sie mich nach meiner politischen Arbeit an der alten Schule, weiter nichts. Schwer zu glauben, dass Ruppert in der Hinsicht etwas vorzuweisen hatte. Manche Leute müssen immer dagegenhalten, alles stellt er infrage. Vor Kurzem bekamen wir die Deutschaufsätze zurück. Die Rehwald hatte seinen mit einer Fünf benotet. In der Pause empörten sich alle. Ehrlich gesagt, verstand ich die Aufregung nicht. Ich dachte nur, was hätte sie ihm denn sonst geben sollen? Natürlich sagte ich nichts. In dem Aufsatz ging es um das Buch, das wir im letzten Monat gelesen haben. Es spielt in einem KZ. Ein paar Häftlinge verstecken heimlich ein Kind, damit es nicht vergast wird. Dann verrät jemand die Sache. Das Thema, über das wir schreiben sollten, hieß Du bist ein Mensch, beweise es. Was tut Ruppert? Er sucht sich den Verräter aus. Dabei hatten wir in der Stunde vorher besprochen, dass nur der Held für den Beweis infrage kommt. Für mich war die Fünf gerecht. Als er die Arbeit zurückbekam, meldete er sich sofort. Er wollte wissen, wieso, vor der ganzen Klasse. Die Rehwald sagte, er hätte sich die falsche Figur gewählt. Ruppert hielt den Aufsatz in die Höhe und rief, er könne lesen. Offenbar stand der Satz genau so darunter. Jeder andere hätte die Sache auf sich beruhen lassen, aber Ruppert ließ nicht locker. Er fragte die Rehwald, ob Feigheit keine menschliche Eigenschaft sei. Es wurde ganz still im Raum. Die Rehwald guckte starr vor sich auf den Tisch. Mir klopfte das Herz wie wild, als hätte ich die Frage gestellt, dabei kapierte ich sie nicht mal. Frau Rehwald sagte, ein Verräter sei kein Held. Sie umklammerte das Klassenbuch. – Ein Verräter ist kein Held, sagte sie noch einmal, wie ein Automat. Es war dermaßen unangenehm, ich schwitzte richtig mit ihr mit. Ruppert kippelte und rief, vielleicht kein Held, aber ein Mensch.
Das meine ich, immer muss er provozieren. So was finde ich schade. Ich glaube, er hat absichtlichdie falsche Person in dem Buch gewählt. Manche Menschen wollen falsch denken. Sogar wenn alles eindeutig ist, wie in dem Buch. Bücher, bei denen man ewig rätseln muss, worum es überhaupt geht, hasse ich. Vor so was habe ich richtig Angst. Glücklicherweise sitze ich in Deutsch neben Lydia. Obwohl es mich verrückt macht, wenn sie bei Aufsätzen sofort wie wild zu kritzeln beginnt. Sieben Seiten, einfach so. Einmal war ich bei ihr zu Hause. Sie schläft mit Büchern im Bett, an der Wand hing ein Zettel: Alle Fragen, die aus der Welt entstehen, werden auch in der Welt beantwortet. Oder so ähnlich. Ich sagte, ist doch logisch. Sie war beleidigt. Wahrscheinlich hatte es einen Hintersinn. Um die Sache geradezubiegen, fragte ich, ob sie sich den Satz ausgedacht habe. Sie tippte sich an die Stirn und zeigte auf das Foto, das über ihrem Schreibtisch hing. Ein Schriftsteller aus Frankreich, den Namen habe ich mir nicht gemerkt. Er war hässlich wie eine Kröte, ich weiß nicht, wieso man sich so was aufhängt. Sie behauptet, sie würde später nach Paris gehen. Überkandidelt. Zum Schluss gab sie mir ein Buch mit, Der Schaum der Tage. Sie sagte, ich müsse es unbedingt lesen. Allein der Titel, und dazu der trostlose schwarze Einband. Ich fühlte mich schon verloren, bevor ich es überhaupt aufgeklappt hatte. Es liegt immer noch bei mir. Wenigstens ist es nicht dick.
– Der will bloß Aufmerksamkeit, sagt Michael, als ich ihm das mit dem Aufsatz und Ruppert erzähle. Er findet es genauso unlogisch wie ich, nicht den Helden zu nehmen. So ist es mir am liebsten. Wir liegen aufeinander. Michael hat mir die Hose doch nicht ausgezogen, jedenfalls nicht ganz. Er hat es vor allem auf meine Brüste abgesehen. Das ist mir recht. Es ist schön, ausgepackt zu werden. Im BH kommen einem die eigenen Brüste wichtiger vor. Er steht auf und zieht sich eine frische Unterhose an, legt die nasse zusammen und verstaut sie in seiner Tasche. Dann schafft er die zerknüllten Taschentücher zum Komposthaufen. Als er zurückkommt, entdeckt er einen Fleck auf der Steppdecke. Offenbar ist das untergelegte Handtuch verrutscht. So was regt ihn auf. Ich schlage vor, die Decke einfach umzudrehen. – Davon wird der Fleck wohl kaum verschwinden, Steffi! Er fängt an, wie wild daran herumzureiben. – Bei dem Blumenmuster fällt er doch gar nicht auf, sage ich. Michael schweigt. Dann kriecht er zu mir und küsst mich. – Ich bin stolz auf dich, sagt er. Der Satz ist mir ein bisschen peinlich, trotzdem sage ich, ich auch, und küsse zurück. Dann wäscht er unsere zwei Teetassen aus, ich trockne sie ab, und er stellt sie in die kleine Schrankwand zurück.
RUPPERT KLOSE
Wie der Mörder hieß, von dem Klemmi im Reinholdts erzählt hat, hab ich vergessen. Aber ich weiß, was er kurz vor der Hinrichtung gesagt haben soll: Auf Wiedersehen, meine Herrschaften. Nur das, dann bliesen sie ihm die Lichter aus. Er hatte über zehn Menschen oder so umgebracht, irgendwann in den Zwanzigerjahren. Auf Wiedersehen, meine Herrschaften. Im Reinholdts hab ich darüber gelacht. Jetzt, wo ich in Simizecks Büro sitze, kommt es mir nicht mehr so komisch vor. Vor mir Simizeck und die beiden Männer. Wieso fällt mir die Sache überhaupt hier ein, in Simizecks Büro? Vielleicht hatten die, die den Kerl hingerichtet haben, auch solche Anzüge an. Simizeck schwitzt wie ein Affe. Aber er zieht das Jackett nicht aus, wahrscheinlich darf er es nicht, weil der Lulatsch neben ihm es auch nicht ausgezogen hat. Geheime Hierarchien. Hier ist Simizeck nicht mehr der Chef. Geschieht ihm ganz recht. Allerdings sieht der Lulatsch auch nicht so aus, als sei ihm warm. Er sieht sogar ziemlich entspannt aus, jedenfalls schwitzt er nicht so blöde.
Seitdem die beiden hier drin sind, wirkt Simizeck wie ein Gast in seinem eigenen Büro. Die beiden kamen rein, ohne anzuklopfen. Simizeck sofort hoch und ihnen die Tür aufgehalten. Sie griffen sich jeder einen Stuhl (die beiden gepolsterten) und winkten Simizeck, er solle sich ebenfalls setzen (jetzt waren nur noch zwei Holzstühle da), als Letzter durfte ich. Die beiden sind wirklich ziemlich groß. Vermutlich will Simizeck sie beeindrucken, denn er legt gleich los: Ihnen dürfte ja klar sein, Freund Klose, warum Sie hier – , da fährt ihm der eine in die Parade. – Lassen Sie mal, wir machen das schon, Kollege Simizeck. Simizeck entschuldigt sich. Wie man dermaßen schwitzen kann … mit hochrotem Gesicht, genau wie vorhin, als er mich in Schöneiche abgeholt hat. In Schöneiche ist das Wehrlager. Wir waren gerade bei einer dieser hirnverbrannten Marschierübungen, und ich dachte, nach dem Anschiss gestern von dem Oberst Clown wäre alles ausgestanden, aber da lag ich falsch. Plötzlich stand Simizeck da, auf dem Schotterplatz, und pfiff mich aus dem Trupp raus. Henne trat mir zum Abschied noch mal ordentlich in die Hacken. Es dauerte ewig, bis ich kapierte, dass Simizeck wegen mir in das verfluchte Lager gekommen war. Jedenfalls habe ich sein Auftauchen nicht sofort in Verbindung gebracht mit meinem Hefter. Besser gesagt, mit dem, was ich vor ein paar Tagen auf meinen Hefter geschrieben habe. Typisch ich. Das Logische fällt mir immer zuletzt ein. Danach musste ich die ganze Fahrt in dem elenden Wolga neben ihm sitzen und sein Gebrüll über mich ergehen lassen. Schöneiche – Potsdam, das dauert eine Ewigkeit.
Seltsamerweise holt jetzt der zweite Riese meinen Hefter aus seiner Tasche, offenbar wandert das Ding. – Der gehört dir, oder? Fragen nur so zum Spaß, dämlicher geht’s nicht. Ich nicke, und er blättert ihn einmal ganz durch, seelenruhig, dabei steht nur auf der ersten Seite was. Dann hält er ihn mir plötzlich vor die Nase und möchte, dass ich den Spruch, den ich selbst darauf geschrieben habe, vorlese. Keine Ahnung wieso, aber ich strecke den Kopf vor und tue, als würde ich ihn kaum entziffern können. Solche Einfälle kommen mir ganz spontan. Ich lese mit Erstklässlerstimme: Gegen – die – Mili – tari – sierung – des – Volkes. Schweigen. Simizeck fährt sich durch seine Petersilienhaare. Die beiden Riesen scheinen den Satz nicht besonders schlimm zu finden. Sie wiederholen ihn sogar ein paarmal, als würden sie überlegen, wo sie ihn schon mal gehört haben. – Von wem hast du das?, fragt Riese Nr.1. Und ich: Von mir. Schon beim Sprechen merke ich, dass meine Antwort witzig klingt. Das passiert mir ständig. Immer hört es sich an wie ein Witz, was ich sage, sogar ganz normale Sachen, Sachen, die stimmen. – Da bist du doch nicht von selbst draufgekommen!, meint Nr. 2 und zwinkert mir zu. Er will wissen, ob ich den Satz im Reinholdts aufgeschnappt habe. Wenn ja, bei wem. Es kommt mir komisch vor, noch einmal zu beteuern, dass er von mir stammt. Das würde wahrscheinlich noch witziger klingen. Wieder das Zwinkern (Nr. 2): Wer schweigt, hat was zu verbergen, oder?, sagt er. Er lacht sogar ein bisschen. Und Nr. 1 gleich hinterher: Wir können dich hier ewig schmoren lassen, Bürschchen. Simizeck schaltet sich ein: Wenn Sie Probleme mit unserem Staat haben, Herr Klose, können wir sie gemeinsam lösen. Sagen Sie es ruhig – es bleibt unter uns. Ich betrachte das Muster der Tapete, Bögen wie Hufeisen. Ich fange sogar an, sie zu zählen, keine Ahnung, was mit mir los ist. – Bitte, ruft Simizeck und springt auf, aber dann müssen Sie auch die Konsequenzen für Ihr Verhalten tragen! Ich soll plötzlich raus, auf den Flur. – Wiedersehen, sage ich, das Herrschaften verkneife ich mir. Die Tür klappt.
Im Schulgebäude ist es ganz still. Ich frage mich, wie die letzten Stunden vor der Hinrichtung aussehen. Man sitzt da, hört sein Herz schlagen und zählt jeden einzelnen Schlag mit, noch achthundertfünfzig Mal, achthundertneunundvierzig, achthundertachtundvierzig. Wahrscheinlich nimmt man sich vor, noch einmal alles ganz bewusst zu erleben. Und dann ist man so darauf konzentriert, dass man gar nichts erlebt. Am Ende denkt man wahrscheinlich nur noch Jetzt! Jetzt! Jetzt!, weil man es endlich hinter sich haben will. Störtebeker, der Pirat, hat es geschafft, ohne Kopf noch an zwölf seiner Leute vorbeizulaufen. Ich stelle mir vor, wie mich Connie in der Todeszelle besuchen würde, oder doch besser Lydia. Irgendwie ist es Connies Körper mit Lydias Kopf obendrauf. Sie würde mich bitten mitzukommen (ihr Vater ist der Chef des Gefängnisses, und sie hat bei ihm eine Begnadigung für mich rausgeschlagen). Ich würde ganz ruhig auf meiner Pritsche liegen bleiben. Sie würde mich anflehen, ihr zu folgen. Schließlich greift sie nach meiner Hand und legt sie sich auf die Brust, damit ich fühlen kann, wie wild ihr Herz schlägt. Plötzlich fällt mir ein, was Lydia auf meinen Biohefter geschrieben hat: Freiheit – das ist wie Fliegen und niemand entdeckt dich. Wahrscheinlich aus irgendeinem Buch. Lydias Monsterschrift. Warum haben sie nicht den Hefter genommen? Vor ein paar Monaten fand ich den Spruch noch ziemlich einmalig. Den Spruch und Lydia. Das war im Winter. Ich sah jeden Morgen zu, dass ich sie erwischte auf dem Weg in die Schule. Einmal hatte sie eine Brille auf. Es war keine dieser dicken, die man wirklich braucht, sondern eine mit blauen Gläsern. Wir standen in der Straßenbahn, und sie sagte, sie würde die Welt erträglicher finden, wenn sie sie so ansah. Ich weiß nicht, plötzlich hauchte ich ihr ins Gesicht, die Gläser beschlugen. Lydia zuckte zurück. Sie sagte nichts, nahm nur die Brille ab und steckte sie angeekelt ein. Bei jedem anderen hätte die Hauchattacke verführerisch gewirkt. Aber was das angeht, habe ich keinerlei Wirkung auf Mädchen. Ich rasiere mich, um das mit dem Bart in Gang zu bringen, aber nichts. Früher nannte mich meine Mutter Rumpelstilzchen, wegen dem Grübchen auf dem Kinn. Wenn ich in den Spiegel gucke, denke ich: Scheiße. Alle Welt redet von inneren Werten, dass es darauf ankommen würde. Aber das ist Blödsinn, kein Mädchen küsst eine lächerliche Hülle, selbst wenn ein Goldklumpen darin steckt, sie lachen bloß.
Vielleicht rettet mich das jetzt. Wenn ich Glück habe, verbuchen sie die Sache mit dem Hefter ganz einfach unter Ulk. Das Komische ist, dass ich tatsächlich nicht weiß, woher ich den Spruch auf dem Wehrkundehefter habe. Er kommt mir nicht mal mehr besonders verboten vor. Das ist so, wenn man sich etwas dauernd vorspricht, irgendwann verliert es seine Wirkung. Ich denke an meine Mutter. Sie weiß noch gar nicht, dass ich aus dem Wehrlager zurück bin. Oder vielleicht weiß sie es ja doch. Ganz sicher weiß sie es. Das ist der einzige Punkt bei der Sache, der mir wirklich leidtut. Sie war dermaßen froh, dass sie mich ohne Delegierung an die Schule gebracht hat. Per Beschwerdebrief an den Stadtschulrat. Aber das würde sie nie jemandem auf die Nase binden. Ich überlege, ob ich reingehen und ihnen das mit Lydias Spruch auf dem Biohefter sagen soll, sozusagen zu meiner Verteidigung. Aber in dem Moment kommt Simizeck raus, allein. Er sagt, ich solle für den Rest der Woche bei der Zivilverteidigung der Mädchen mitmachen. Nur das, ganz ruhig, sonst nichts. Unheimlich. Er lässt mich vor sich die Treppe runtergehen. Unten schickt er mich noch weiter runter, in den Keller, wo der Speisesaal ist. Dann sagt er, ich soll mich bereithalten. Er geht. Er ist nicht mehr rot und auf seine gemeine Weise drahtig, wie ein Terrier. Wenn einem jemand was anhaben will, muss man ihn sich als Skelett vorstellen, das hilft.
Im Speisesaal ist niemand. Die Mädchen haben einen Atombunker eingerichtet. Sandsäcke vor den Kellerfenstern, ein roter Plastikeimer (das Klo), Verbandszeug, Proviant (drei Äpfel und Zwieback). Eine Weile warte ich. Als keiner kommt, verdrücke ich mich über die hintere Kellertür nach draußen. Eine stille Ecke, zwischen Büschen und ein bisschen Gesträuch steht eine Bank. Ich mache es mir gemütlich. Weiter hinten, auf dem Schulhof, erkenne ich Connie, Kati und Ellen, in Uniform, ein Stück daneben Bodo Stamm. Ausgemustert, der Glückspilz, dafür bringt er keine Rolle vorwärts zustande. Plötzlich raschelt es hinter mir. Zuerst denke ich, ein Igel vielleicht, eine Katze. Aber als ich mich umdrehe, kriecht die Pannwitz aus den Büschen, in voller Montur, blauer Trainingsanzug, die Trillerpfeife um den Hals. Sie lauert den Mädchen beim Sport auf. Falls eine stehen bleibt, pfeift sie sie an. Ich rechne mit einem Wutanfall, angesichts meiner Wenigkeit, wie ich hier sinnlos auf der Bank herumfläze. Aber die Pannwitz setzt sich ohne ein Wort neben mich, ziemlich dicht sogar. Ich kann nicht anders, als blöd zu grinsen. Die Pannwitz rückt noch näher ran. Als wäre das nicht schon genug, greift sie auch noch nach meiner Hand und schüttelt sie. Das geht nicht besonders gut, weil wir ja nebeneinandersitzen. Während sie also meine Hand schüttelt, schaut sie immer wieder zu Simizecks Fenster hoch, wie um sicherzugehen, dass niemand zusieht. Und dann, nach einer Ewigkeit, sagt sie: Gut gemacht. Ich habe keinen Schimmer, was das Ganze soll. – Solche wie Sie brauchen wir, sagt sie, und ich frage: Was? Blöder geht’s nicht. Sie winkt ab, fuchtelt seltsam mit den Armen, als müsse sie irgendwelche Insekten verscheuchen, und springt auf. Und dann ruft sie plötzlich wie verrückt: Kommt, kommt, weitermachen, weitermachen, dabei sind die Mädchen doch drüben, auf der anderen Seite der Schule, aber die schräge Krähe ruft trotzdem immer weiter, an die fünfzig Mal.
ALEXANDER WAGENTHALER
Es war auf dem Dachboden, im Schießkabinett. Die Stunde war vorbei. Ich sammelte die Zielscheiben aus den Blechdosen und gab sie Klingsack. Klingsack macht eigentlich Sport und Geografie, aber einmal im Monat schießt er mit uns. Die andern liefen schon durchs Treppenhaus, nur er und ich waren noch da. Plötzlich sagt er, wir müssen noch mal wegen der Armee reden. Vollkommen unvermittelt. Ich spürte sofort Müdigkeit in mir hochsteigen. So ist es immer. Ich erschrecke nicht, ich werde kraftlos. Eine Art Nebel, der mich einhüllt und betäubt. – Du machst drei Jahre, oder? Er sah mich nicht mal an dabei. – Hab mich noch nicht entschieden. – Das solltest du aber, Alexander, sagte Klingsack und räumte ein Gewehr in den Schrank, wir müssen wissen, wo du stehst. – Klar, sagte ich. Nicht, dass ich auf die Frage nicht vorbereitet gewesen wäre, trotzdem fühlte ich mich unsicher. Ich überlegte, ob jetzt der Moment war. Lohnte es sich, hier und jetzt, an einem Junitag auf dem Dachboden der Schule meiner Zukunft eine bestimmte Richtung zu geben, sie zu versauen? Ich entschied mich fürs Aufschieben. Manchmal ist Hinhalten die beste Taktik. So wie im Januar, als mein Vater in die Schule kam. Eigentlich wollte die Opitz eine Unterschrift von mir, Verpflichtung für drei Jahre. Aber mein Vater schaffte es, eine Stunde mit ihr über den Fliegenden Holländer zu reden (den inszenierte er gerade), kein Wort von Armee. Mein Vater ist ein wahnsinnig guter Erzähler. Wenn er loslegt, hören alle zu, das haut mich jedes Mal um. Sogar eine Rose hatte er der Opitz mitgebracht, eine rote, mitten im Januar, in solchen Dingen ist er ein Phänomen.
– Ich glaube, ich habe ein Problem mit der Armee, sagte ich nach einer Weile. Klingsack tat verwundert: Du bist doch nicht kirchlich, oder? Währenddessen kramte er extra beiläufig in der Schachtel mit den Zielscheiben herum. – Ich will einfach nicht schießen. Klingsack sah auf: Aber du hast doch immer so gut geschossen! Das Verrückte war, dass er es nicht vorwurfsvoll sagte, er sagte es traurig. Als könne er nicht begreifen, wie man ausgerechnet ein solches Talent verkümmern lassen kann. Irgendwie hatte er sogar recht. Ich schieße gut, ich schieße sogar gern. (Wer nicht gern schießt, schießt auch nicht gut, Zitat Klingsack.) Manchmal denke ich, dass mir das Schießen irgendwann nützen wird. Ich stelle mir vor, ich ziele durch einen sehr langen dunklen Tunnel auf einen Lichtfleck. Als wäre die Entfernung noch viel weiter als nur das Ende des Dachbodens, wo die Scheiben hängen. Wenn ich treffe, habe ich das Gefühl, eine bestimmte Berechnung wäre aufgegangen. Wie wenn alles im Lot ist. Komisch, beim Zeichnen geht es mir genauso. Ich denke immer, was zählt, ist, dass die Zeichnung am Ende genau ist. In dieser Hinsicht muss sie stimmen, das ist die Hauptsache. Natürlich besteht ein Unterschied zwischen Zeichnen und Schießen: Für eine Eins in Zeichnen brauche ich mich nicht zu schämen, ich meine, wenn man bedenkt, wofür wir schießen lernen.
Klingsack wirkte immer noch ganz geknickt. Fast tat er mir leid. Einer der wenigen, die ich eigentlich in Ordnung fand. In der ersten Unterrichtsstunde hatte er die Ärmel hochgekrempelt, seine trainierten Oberarme gezeigt und verkündet: Wenn’s ein Problem gibt, melden. Bei den Strebern hier ist so was nicht unbedingt nötig, aber es machte trotzdem Eindruck. Dass er sich nicht zu schade ist, uns wegen der Armee zu löchern, nehme ich ihm krumm. Er schob seinen Hintern halb auf den Waffentisch und hatte plötzlich meine Karteikarte in der Hand. Als würde er sie in diesem Moment zum ersten Mal sehen, studierte er sie ausführlich. – Deine Antwort eben macht mich natürlich ein bisschen ratlos, sagte er nach einer Weile, das wirst du sicher verstehen. Ich meine, deine Leistungen sind ansonsten hervorragend … Er runzelte ernst die Stirn und kratzte sich den Hinterkopf. Plötzlich dachte ich, Klingsack, du gewiefter Hund. Er tat wirklich so, als würden wir zu zweit an der Lösung für mein Problem tüfteln. Immer soll es so aussehen, als gäbe es hundert Möglichkeiten und sie wären gemeinsam mit einem auf der Suche nach der besten, dabei steht das Ergebnis längst fest.